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Schweizerische Bundesversammlung.

In der Sitzung des N a t i o n a l r a t e s vom 4. Juni 1908 gab der Präsident, Herr Dr. Speiser, Kenntnis von nachfolgendem, ihm gleichen Tags zugekommenen Schreiben des Herrn Dr. Joseph Z e m p , Vizepräsidenten des Bundesrates: Hochgeehrter Herr Präsident, Hochgeehrte Herren National- und Ständeräte, ,,Der ergebenst Unterzeichnete, von Ihnen am 17. Dezember 1891 an Stelle des austretenden Herrn E. Welti zum Mitglied des Bundesrates gewählt, und bei den seitherigen Ernennungswahlen jeweilen mit demselben Amte wieder betraut, ist durch eingetretene Umstände in die Lage gedrängt, Sie um Entlassung von der Stelle eines Mitgliedes des Bundesrates zu bitten. Seit einiger Zeit werde ich von einer Herzaffektion heimgesucht. Sie zeigt sich besonders nach aufregenden Verhandlungen in Amtsgeschäften oder nach Amtsgeschäften oder nach ändern geistigen Anstrengungen und offenbart sich in einer geschwächten und unregelmässigen Herztätigkeit. Die Ärzte gaben mir den eindringlichen Hat, allen Aufregungen möglichst aus dem Wege zu gehen und während einer unbestimmten Zeitdauer körperlich und geistig auszuruhen.

Die Entschliessung hierzu fiel mir schwer, sie ist aber unumgänglich notwendig. Indem ich Sie, hochgeehrte Herren, bitte, mein Gesuch zu genehmigen, darf ich nicht unterlassen, Ihnen den tiefgefühlten Dank auszusprechen für das mir während meiner siebzehnjährigen Laufbahn als Mitglied der obersten Landesbehörde in so reichem Masse geschenkte Zutrauen und ebenso für die Nachsicht, auf welche ich oft Anspruch erheben musste und die Sie mir stets zugebilligt haben. Vertrauen und Nachsicht sind mir auch jederzeit von Seiten meiner Herren Kollegen zuteil geworden, und ich werde auch ihnen gegenüber eine hochschätzbare Erinnerung bewahren. Beim Abschied aus dem öffentlichen Leben beseelt mich der heisse Wunsch, dass unserm lieben Vaterland, unter dem Machtschutze Gottes, noch auf lange Zeiten der innere und äussere Friede und damit die vornehmste Voraussetzung der geistigen und materiellen Wohlfahrt gewahrt bleibe.

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Genehmigen Sie, hochgeehrte Herren, den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung.

Ihr ergebener Dr. J o s e p h Z e m p , Bundesrat."

Von diesem Schreiben wurde im Protokoll Vormerk genommen und dem Ständerat Mitteilung gemacht. Obschon die formelle Behandlung des Rücktrittsgesuches der vereinigten Bundesversammlung zufällt, wollte das Präsidium doch nicht unterlassen, jetzt schon dem Bedauern über diesen, dem verdienten Magistraten durch die Umstände aufgenötigten Entschluss, sowie dem Gefühle aufrichtigsten Dankes für die von ihm dem Vaterlande geleisteten Dienste Ausdruck zu geben.

Im S t ä n d e rat hielt Herr Präsident P. Scherrer, im Anschluss an die Eenntnisgabe des Demissionsgesuches, folgende Ansprache : Meine Herren Kollegen !

,,Das eben verlesene Demissionsgesuch des Herrn Bundesrat Zemp kommt uns ja gewiss nicht unerwartet. Schon seit Wochen haben wir der Tagespresse entnehmen können, dass Herr Zemp wegen seiner angegriffenen Gesundheit zurückzutreten beabsichtige, und als wir zu dieser Session zusammentraten, mussten wir leider vernehmen, dass an der Richtigkeit dieser Mitteilungen nicht zu zweifeln sei.

,,Wenn wir also auch durch die Tatsache des Rücktrittes von Herrn Bundesrat Zemp nicht eigentlich überrascht werden, so sind wir gewiss alle ohne Ausnahme schmerzlich berührt nicht nur von dem Entschlüsse des Zurücktretenden, sondern auch ganz besonders von den Verhältnissen und Umständen, die ihm diesen Entschluss nahegelegt haben.

,,Mit dem Rücktritt des Herrn Zemp verliert der schweizerische Bundesrat ein Mitglied, das unser Vertrauen und unsere Verehrung nicht nur in hohem Grade besessen, sondern auch voll und ganz verdient hat.

,,Als Herr Zemp im Jahre 1891 als erster Vertreter, und wenn ich nicht irre, als damaliger Chef der katholisch-konservativen Partei, in den schweizerischen Bundesrat gewählt wurde, da hat er bei der Feier, die von seinen Parteifreunden zu

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seinen Ehren veranstaltet wurde, jenen berühmten Ausspruch getan, dass von nun an nicht mehr seine bisherige Parteistellung, sondern einzig und allein das Interesse und das Wohl des Bundes und des gesamten Landes auf seine Tätigkeit und seine Haltung bestimmend und entscheidend wirken werden.

Diese Worte, die er an seine politischen Parteifreunde gerichtet hat, und die den Grundzug und das Wesen seines ganzen Charakters trefflich kennzeichnen, haben damals im ganzen Lande eine wohltuende und freudige Aufnahme gefunden.

,,Heute, wo Herr Zemp nach einer 17jährigen angestrengten, treuen, aber auch sehr erfolgreichen Tätigkeit seinen Rücktritt aus unserer obersten Exekutiv- und Administrativbehörde nimmt, gebührt ihm die rückhaltlose Anerkennung, dass jener Grundsatz tatsächlich stets die Richtschnur seines Handelns gebildet hat.

,,Nicht nur in seinen Departementalgeschäften, sondern in allen den zahlreichen bedeutenden gesetzgeberischen Fragen, die seit seinem Amtsantritte den Bundesrat und die Bundesversammlung beschäftigten, ist er offen und frei, mannhaft und entschieden und unbekümmert um die Gunst und Ungunst der Menschen, für alles eingetreten, was nach seiner Überzeugung geeignet war, dem Lande und der Volkswirtschaft zu frommen oder wirtschaftliche Schäden und Gefahren abzuwenden.

,,Bei den Vorlagen, die er von den eidgenössischen Räten und ihren Kommissionen zu vertreten berufen war, ist er stets als Staatsmann im vollendeten Sinne des Wortes vor uns gestanden. Konziliant und entgegenkommend in den Details und in Bezug auf die irgendwie zulässig erscheinenden Modalitäten,, zäh und konsequent festhaltend an den grossen Gesichtspunkten, die er nach allseitiger und reiflicher Prüfung als die richtigen erkannt, hat.

,,Das Prinzip ,,fortiter in re, suaviter in modo" war nicht nur eine von ihm adoptierte Devise, sondern war in seinem Charakter und in seinem ganzen Wesen recht eigentlich verkörpert. Loyalität, Herzensgüte und Anspruchslosigkeit auf der einen, männliche Kraft, Entschlossenheit und Überzeugungstreue auf der ändern Seite, das waren und sind die Grundzüge seines Wesens, mit denen er sich ebenso viel Sympathien wie Hochachtung zu erwerben wusste.

,,So war Joseph Zemp der richtige Mann, das grosse und hochwichtige Werk der Verstaatlichung der schweizerischen

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Hauptbahnen in die Wege zu leiten und zu gutem Ende zu führen. Durch Beiziehung richtiger Fachmänner hat er es verstanden, die richtigen Grundlagen für die Durchführung dieses Werkes zu schaffen, die vielfach unbekannten und dunkeln Verhältnisse für die gesetzgebenden Behörden und das Volk aufzuklären, und so diesem Werke zielbewusst und vSn langer Hand her die Wege zu ebnen.

,,Was den gewiegtesten Staatsmännern unseres Landes versagt blieb, und was man so lange für unmöglich gehalten hat, das ist ihm anscheinend leicht und mühelos gelungen, und in der Geschichte unseres Landes hat sich Herr Zemp durch diese Verstaatlichungsaktion ein Denkmal gesetzt, das um so grössere Bewunderung finden wird, je mehr die volkswirtschaftliche Bedeutung der Nationalisierung der grossen Verkehrslinien erkannt und begriffen werden wird.

,,Es darf und muss dies gerade zur gegenwärtigen Zeit mit Nachdruck betont werden, wo kleinliche Nörgelei und Kritisiersucht, sowie Unzufriedenheit über nicht befriedigte Ansprüche das Verständnis für die volkswirtschaftliche Bedeutung der Verstaatlichung und für die volkswirtschaftlichen Aufgaben der Bundesbahnen stark getrübt zu sein scheint.

,,Doch liegt es mir ferne, die Verdienste des Herrn Zemp lediglich nach seinen Erfolgen beurteilen zu wollen. Solche Erfolge werden vielfach durch die Lage der Verhältnisse, ja selbst durch Zufälle mehr beeinflusst, als durch die Macht der Menschen.

,,Nicht Erfolge dürfen wir unter allen Umständen von den obersten Magistraten unseres Landes erwarten, sondern was wir von ihnen erwarten dürfen und wonach wir sie einschätzen und beurteilen sollen, das ist ausser ihrer Tüchtigkeit, das wahre und richtige Pflichtbewusstsein in der Erfüllung ihrer grossen und verantwortungsvollen Aufgaben.

.,,Aber gerade in dieser Hinsicht steht Joseph Zemp als ein leuchtendes Beispiel eines wackeren und braven schweizerischen Staatsmannes vor uns.

,,Seine ganze Haltung und Tätigkeit war stets getragen von einer gewissenhaften und vorurteilslosen Prüfung der Verhältnisse und Bedürfnisse, die durch Rücksichten lokaler oder regionaler, parteipolitischer oder konfessioneller Natur nicht beeinflusst oder getrübt war. Das Wohl des Landes, Gerechtig-, keit und Billigkeit und Hochachtung vor Verfassung und Ge-

262 setzen, das waren die Richtungslinien, nach denen sich seine Handlungen richteten, und wenn er heute von seinem schweren und verantwortungsvollen Amte zurücktritt, so kann er dies mit der innern Befriedigung tun, dass er stets das Beste gewollt, und dass er als treuer Sohn seines Landes seinem Vaterland nicht nur seinen Geist und seine Tätigkeit gewidmet, sondern in angestrengtester Arbeit und Pflichterfüllung auch seine Gesundheit geopfert hat.

,,Wenn wir daher heute von seinem Rücktrittsgesuche mit tiefem Bedauern Kenntnis nehmen, so geschieht das gewiss allseitig mit dem Gefühle des wärmsten Dankes und der vollen Anerkennung für die dem Lande geleisteten grossen Dienste, aber auch mit dem aufrichtigen Wunsche, dass die ihm zu Teil werdende Arbeitsentlastung dazu führen möge, seine Gesundheit zu kräftigen und ihm einen wohlverdienten angenehmen Lebensabend zu bereiten.

,,Die formelle Erledigung des Rücktrittsgesuches ist selbstverständlich Sache der Wahlbehörde, d. h. der vereinigten schweizerischen Bundesversammlung. Ich zweifle nicht, dass ihm dort die gebührende Anerkennung und Ehrung zu Teil werden wird. Allein ich glaube in Ihrem Einverständnisse zu handeln, wenn ich Veranlassung nahm, auch in diesem Rate den Gefühlen des Dankes und der Anerkennung, sowie unsern Wünschen Ausdruck zu geben und den Zurücktretenden unserer allseitigen Hochachtung und Verehrung zu versichern."

Zu Beginn der am 17. Juni anberaumten Sitzung der vereinigten Bundesversammlung hielt sodann Herr Nationalratspräsident Dr. S p e i s e r folgende Ansprache : Meine Herren Nationalräte und Ständeräte!

,,Am 17. Dezember 1891 hat die Bundesversammlung Herrn Nationalrat Dr. Joseph Zemp in den Bundesrat berufen und heute, mithin genau nach 161/2Jähriger Amtstätigkeit, liegt Ihnen sein Gesuch um Entlassung aus dem Amte vor.

,,Die Gründe, die den verdienten Magistraten zu diesem Schritt geführt haben, hat er in seinem Entlassungsgesuche, das beiden Räten zur Kenntnis gebracht worden, dargelegt; sie sind zwingender Natur; Herr Bundesrat Zemp hat seine Kräfte im

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vaterländischen Dienste erschöpft; der Stand seiner Gesundheit nötigt ihn, Ruhe zu suchen, und uns bleibt nur die schmerzliche Pflicht, dem Scheidenden die Anerkennung und den Dank der eidgenössischen Behörden auszusprechen.

,,Nachdem Herr Bundesrat Zemp die Leitung des Eisenbahndepartements übernommen und sich in seinem Amte gründlich eingearbeitet, hat er bald die ganze Macht seines Willens und die Gabe wuchtiger Rede dem einen Ziele, der Verstaatlichung und Vereinheitlichung der schweizerischen Bundesbahnen zur Verfügung gestellt, und sein Name wird für immer verbunden sein mit dem grossen eidgenössischen Werke der Bundesbahnen.

Und bei seinem Rücktritte ist es sein besonderer Schmerz, dass es ihm nicht mehr vergönnt ist, den wichtigen Schluss des ganzen Rückkaufsgeschäftes noch selber zu leiten.

,,Und uns und dem ganzen Lande drängt sich beim heutigen Anlass der Gedanke auf an die mannigfaltigen Aufgaben, die auf dem Gebiet der eidgenössischen Eisenbahnpolitik noch zu lösen sind, und es tut uns weh, den frühern Führer scheiden zu sehen.

,,Es berechtigt uns aber gerade der Rückblick auf die Entwicklung unseres Landes während der Zeit, wo der heute Scheidende Mitglied des Bundesrates war, zu der Hoffnung, dass es auch inskünftig gelingen werde, durch einträchtiges Zusammenhalten grosse Schwierigkeiten zu überwinden.

,,Im letzten Jahrzehnte sind infolge des Zurücktretens der parteipolitischen Gegensätze auf allen Gebieten des Staatslebens grosse, kurz zuvor nicht erhoffte Fortschritte erzielt worden ; und dass diese glückliche Entwicklung möglich war, verdankt der Bund in hohem Masse dem Eintritt des Herrn Zemp in den Bundesrat und seiner stetigen, vom allgemeinen Vertrauen getragenen Mitarbeit an den eidgenössischen Aufgaben, aus der sich dann das Zusammenarbeiten aller Landesteile als schöne Folge ergab. Die Wirkung dieses Zusammenarbeitens war eine zu grosse, als dass es jetzt aufhören könnte.

,,Und nun hoffen wir, es sei dem Scheidenden vergönnt, ferne von den Geschäften auf den heimatlichen Fluren seine Kräfte wieder zu sammeln und der Ruhe zu geniessen.

,,Mit dieser Hoffnung und diesem Wunsche verabschieden wir Herrn Bundesrat Zemp und erklären, dass er sich um das Vaterland wohl verdient gemacht hat.

,,Ich beantrage, es sei ihm die Entlassung als Mitglied des Bundesrates begehrtermassen und unter Verdankung seiner hervor-

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ragenden Dienste zu gewähren und ihm dieser Dank durch eine besondere Urkunde zu bestätigen."

Durch Aufstehen stimmte die Versammlung diesem Antrage ·einmütig zu.

Hierauf wurde zur Neuwahl eines Mitgliedes des Bundesrates an Stelle des Demissionärs geschritten. Die Wahl fiel auf Herrn Nationalrat Dr. Joseph Anton S c h o b i n g e r , Regierungsrat, von und in Luzern, welcher mit folgenden Worten die Annahme der Wahl erklärte: ,,Ich danke Ihnen aufrichtigen Herzens für das grosse Vertrauen, das Sie mir durch meine Wahl zum Mitglied des Bundesrates soeben bekundet haben. Persönliche Umstände machen es mir nicht leicht, der Wahl Folge zu geben. Allein ich musste mir sagen, dass gegenüber dem Ruf, in so hoher Stellung für des Landes Wohl mitzuwirken, persönliche Rücksichten, wenn sie nicht zwingender Natur sind, einfach zu schweigen haben.

Und so bin ich dazu gekommen, meinen politischen Freunden, als sie mir die Kandidatur angetragen haben, zuzusagen, und ich ·erkläre auch hier der hohen Wahlbehörde gegenüber die Annahme der Wahl. Dabei bin ich mir vollkommen der ernsten und verantwortungsvollen Aufgabe bewusst, die meiner harrt, und ich habe nur den einen Wunsch, dass es mir gelingen möge, das Vertrauen, welches die Wahlbehörde mir entgegen^ gebracht hat, durch meine Arbeit zu rechtfertigen, und dass die Kraft mir dabei nicht versage. Der erste Vertreter der katholischkonservativen Partei im Bundesrat, unser allverehrter Herr Bundesrat Zemp, wird mir Vorbild sein. Ich werde trachten, die hohe Auffassung des Amtes, welcher Herr Bundesrat Zemp bei Anlass seiner Wahl Ausdruck gegeben hat und welche seine Amtsführung immer beherrschte, zu der meinigen zu machen.

Wie ihm, soll auch mir des Vaterlandes Ehre und Wohlfahrt der einzige Leitstern in meinem Handeln sein.a Hierauf wurde der Neugewählte vorschriftsgemäss beeidigt.

Sodann wurde noch zur Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrates für den Rest des Jahres 1908 geschritten und als solcher gewählt Herr Bundesrat Dr. Adolf D e u c h e r, von Steckborn, Frauenfeld und Genf.

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