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Parlamentarische Initiative über die passive Sterbehilfe Bericht der Kommission des Nationalrates (Vom 27. August 1975)

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen,

Am 27. Januar 1975 reichte Herr Nationalrat Allgöwer, Basel, eine Einzelinitiative ein, die in der Form der allgemeinen Anregung die Schaffung eines «Rechtes auf passive Sterbehilfe» oder «auf den eigenen Tod» verlangte und vorschlug, es seien die Bedingungen der Zulässigkeit der passiven Sterbehilfe festzulegen.

Insbesondere sei der Entscheid über die Gewährung der Sterbehilfe einem Kollegium von 3 oder 5 Ärzten zu übertragen (vgl. den Text der Initiative in Beilage 1).

Die Kommission1) nahm am 12. Mai 1975 die Begründung des Initianten und Auskünfte des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes entgegen.

Sie liess sich gründlich dokumentieren und veranstaltete am 30. Juni und 1. Juli 1975 ein Hearing mit Ärzten, Juristen, Philosophen und Theologen. Sie zog ihre Schlussfolgerungen in der anschliessenden internen Beratung und am 27. August 1975 bei der Besprechung des beiliegenden Berichtes (Beilage 2).

Der Initiant hat das Problem aufgegriffen, weil in der Öffentlichkeit vielfach der Eindruck besteht, das bestehende Recht sei in bezug auf die Sterbehilfe unsicher und lückenhaft, weshalb auch die Ärzte im dunkeln tappten und gezwungen

D Die Kommission besteht aus : Frau L. Spreng (Präsidentin), HH Nationalräte Allgöwer, Bratschi, Copt, Dürr, Gautier, Gehler, Haller, Meier Kaspar, Pagani, Pnmborgne, Schläppy, Schurch, Stadelmann, Frau Thalmann, Frau Uchtenhagen, HH. Vollenweider, Waldvogel, Weber-Arbon (19)

1345 seien, gegen den erklaiten odei mutmasshchen Willen eines Sterbenden, diesem selbst sinnlose Qualen und den Angehörigen mit dem Ungemach nutzlose Kosten zuzumuten Er wollte auch die Aizte vor unberechtigten Zivilklagen und Strafver folgungen schützen Die Expeiten legten jedoch dar, wie sehr die Frage der sog «passiv en Sterbe hilfe» zu Abwägungen Wertungen und Entscheidungen noügt die nach bestem Wissen und Gewissen von Fall zu Fall den jeweiligen Lmstanden entspiechend voigenommen werden müssen Verbindliche Massstabe odei Fausüegeln welche die einzelne Entscheidung vereinfachen konnten wurden keine angeführt Mit emei Ausnahme eiklarten alle Experten dass eine Speziali egehmg tur die Eutha nasie gegenubei den heute geltenden Rechtsnoimen des Prnatrechts und des Strafrechts kein zusätzliches Mass an Klarheit und Sicheiheit schaffen konnte Die Kommission kam zur Ubeizeugung, dass die Giundsatze und Normen für das Verhalten des Aiztes gegenubei sterbenden Patienten und lui die Uiteilsfmdung des Richters in allfalligen Haftpflicht- und Straffallen nicht fehlen Das geltende Recht gewährt dem Patienten und dem Aizt den erfordeiliehen Schutz, ohne in Gienzsituationen einen veiantwortungsbewussten Entscheid entspiechend dem gegenwaitigen eiklaiten odei dem mutmasshchen Willen des Kranken zu hindern Ein Spezialgesetz ubei die passive Sterbehilfe ist um so weniger wünsch bai, als im Einzelfall die grosste Bedeutung den \vielfältigen tatsächlichen Umstan den zukommt Staue Detailnoimen konnten die Verantwortung schwachen und dierichtigee Entscheidung eischweien Dies schhesst nicht aus dass die heute schon geltenden grundsätzlichen Nonnen über die passive Sterbehilfe miterfasst weiden, wenn einmal das gesamte «Arztrecht», bzw die Gesamtheit dei Rechtsbeziehung zwischen Patient Aizt und Spital kodifiziert w n d Die Kommission glaubt mit ihrer Arbeit und dem beiliegenden Beucht einen nützlichen Beitrag zui Klaiung der tatsächlichen Veihaltnisse und der Rechtslage und damit zui Beruhigimg dei öffentlichen Meinung zu leisten, auch w enn sie dem Rat empfiehlt, der Initiative keine Folge zu geben und von emei Sondeiregelung der passiven Sterbehilfe abzusehen Auf den Erlass emei Detailregelung ist dort zu verzichten, w o die \ Vielfalt des Lebens sich nicht m abstiakte Regeln fassen lasst und das geltende Recht
den Bedurfnissen einer umsichtigen Praxis genügt und die Entscheidung anhand allge meiner Normen und Giundsatze unter angemessenei Abwägung dei Umstände dem Richtet ubeilassen werden darf Im Verlauf ihrer Arbeit kam die Kommission auf v ei wandte medizinischrechtliche Piobleme zu sprechen und erwog mit einem Postulat umfassende Ab klarungen undGesetzesentwürfee zu veilangen Sie sieht von einem solchen Voi stoss, der die Grenzen ihres Auftrages übersteigen vvmde voi allem deshalb ab weil sie erfahren hat dass das EJPD bereits eine Expertenkommission fui diese Fragen eingesetzt hat unddasss auch die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften A.bklartmgen unternimmt Die Kommission erwaitet dass die Expertenarbeit befoideilich voi angetrieben und das Ergebnis dem Parlament sobald als möglich bekannt gegeben wnd

1346 Die Kommission beantragt dem Rat, 1. von ihrem Bericht zustimmend Kenntnis zu nehmen; 2. der Initiative Allgöwer keine Folge zu geben und sie abzuschreiben.

Bern, den 27 August 1975 Im Namen der Kommission Die Präsidentin : L. Spreng

1347 Beilage l

Text der Initiative

Ich beantrage als allgemeine Anregung nach Artikel 21b" des Geschäftsverkehrsgesetzes : 1. Es sei das «Recht auf passive Sterbehilfe» oder gar das «Recht auf den eigenen Tod» in der Verfassung zu verankern oder mindestens im Strafgesetz positiv zu regeln.

2. Es seien die Bedingungen festzulegen, die für Ausführung und Kontrolle der passiven Sterbehilfe zu gelten haben.

3. Es sei ein ärztliches Kollegium von 3 oder 5 Vertrauensärzten vorzusehen, welches den Entscheid über die Gewährung der Sterbehilfe zu fällen hat.

1348 Beilage 2

Bericht über die Kommissionsarbeit 1. Begriffliches zur passiven Sterbehilfe Der Zugang zur Frage der passiven Sterbehilfe wird dadurch erschwert, dass m der Diskussion Begriffe verwendet werden, deren Bedeutung unklar oder umstritten ist Die folgende Darstellung der unterschiedlichen Bedeutungen der Worter «passive Euthanasie» und «künstliche Lebensverlangerung» bietet zwar noch keine praktischen Losungen des Problems an, schafft jedoch die Grundlage für die Aus emanders etzung Wie der Initiant bereits m der ersten Sitzung erklart hat, soll die sog passive Euthanasie streng vom «Gnadentod» geschieden werden Die tödliche Gnadenspritze, die von einem Teil der Presse als Aufhanger für die öffentliche Diskussion verwendet wird, ist ein Totungsmstrument, ihre Verwendung muss strafbar bleiben

Als Experten stellten sich zur Verfügung : AI zte M Allgower, Piofessor für Chirurgie, Universität Basel J Bernheim, Professor für Gerichtsmedizin Universität Genf G Condrau Privatdozent für Psychiatrie-Psychotherapie, Universität Zürich Piof F Deucher, Chefarzt der chirurgischen Klinik des Kantonsspitals Aarau O Gsell, ehern Professor für innere Medizin an der Universität Basel Prof U P Haemmerli, Chefarzt am Stadtspital Tnemli, Zmich Dr J Imfeid, Spezialarzt FMH fui praktische Medizin, Blei Prof G Weber, Chefarzt der Klinik für Neurochirmgie und Neurologie des Kantonsspi tals St Gallen

Krankenpfleger J B Baid, Freiburg Juristen J M Grossen, Professor für Zivilrecht, Universität Neuenburg H Schultz, Professor für Strafrecht, Strafprozessiecht, strafrechtliche Hilfswissenschaften und Rechtphilosophie Universität Bein G Stratenwerth, Professor für Stiafrecht und Rechtsphilosophie Universität Basel PMosophin Flau Jeanne Heisch, Professor für Philosophie, Universität Genf Theologe A Sustar, Honorarprofessor, Dozent für Moraltheologie Theologische Hochschule Chur (Herr R Leuenberger, Professor für praktische Theologie, Universität Zürich, war krankheitshalber an der Teilnahme verhindert )

1349 Zur Diskussion steht lediglich das Problem der sog. künstlichen Lebensverlängerung, auf die der Arzt unter Umständen verzichten oder die er abbrechen kann, wenn sie sich als sinnlos erwiesen hat.

Der Gnadentod wird immer als aktive Euthanasie, die Unterlassung einer künstlichen Lebensverlängerung stets als passive Euthanasie bezeichnet. Für den Abbruch der künstlichen Lebensverlängerung ist die Bezeichnung uneinheitlich.

Wird nach der Handlungsweise des Arztes unterschieden, also danach, ob der Tod durch ein aktives Tun oder durch die Unterlassung einer Handlung herbeigeführt wird, dann bedeutet das Abstellen einer Beatmungsmaschine bei einem sterbenden Patienten aktive Euthanasie, während der Verzicht darauf, den Patienten überhaupt an die Beatmungsmaschine anzuschliessen. eine passive Euthanasie darstellt. Diese vereinfachende Betrachtungsweise liegt einer verbreiteten Auffassung zugrunde, die sich gegen das Vorgehen des Arztes sträubt, der in einer Intensivstation einen Patienten von der daseinsv erlangernden Apparatur ablöst, hingegen den Entscheid des Hausarztes durchaus billigt, den bewusstlosen Patienten zu Hause sterben zu lassen, statt ihn noch ins Spital einzuweisen. In beiden Fällen ist der Entscheid des Arztes jedoch der gleiche.

Deshalb fordern Ärzte, Theologen und Philosophen, dass zur Unterscheidung auf die Beweggründe des Arztes geachtet werde. Wählt der Arzt seine Behandlungsmethode mit dem Ziel der Lebensverkürzung, so begeht er aktive Euthanasie, handelt er aber aus der Einsicht heraus, dass die Wiederherstellung einer minimalen Gesundheit oder auch nur die Verminderung des Leidens unmöglich ist, dann lässt er bloss den Prozess des Sterbens gewähren. Danach ist auch das Abbrechen einer primär zur Lebensrettung des Patienten getroffenen, aber nicht erfolgreichen Massnahme bloss passive Euthanasie.

Juristisch wird schliesslich meist ausgegangen vom relativ natürlichen unbeeinflussten Ablauf der medizinisch unheilbaren, zum Tode führenden Krankheit : Aktive Euthanasie ist danach die künstliche Beeinflussung des natürlichen Krankheitsablaufs zur Herbeiführung oder Beschleunigung des Todes; passive Euthanasie die Unterlassung oder Beendigung einer der Verzögerung des Todes dienenden künstlichen Beeinflussung des natürlichen Krankheitsablaufs.

Diese Begriffsbestimmungen
entscheiden letztlich nicht über das Problem.

Am besten würde der Begriff der passiven Euthanasie gar nicht mehr verwendet, sondern durch den Begriff «natürliches Sterbenlassen» ersetzt.

Auch der Begriff der «künstlichen Lebensverlängerung» ist kaum zu definieren und reicht weit über das hinaus, was eigentlich gemeint sein soll, nämlich der Einsatz der technischen Apparate einer Intensivstation eines modernen Spitals bei hoffnungslos Kranken. Daher ist auch schon vorgeschlagen worden, von «künstlicher Sterbensverlängerung» zu sprechen, wo die Daseinsverlängerung sinnlos geworden ist. Als für den Patienten sinnlos bezeichnen gewisse Ärzte eine künstliche Lebensverlängerung, die keine noch so geringe Aussicht auf Besserung oder Heilung bietet. Als Mindestmass für eine erstrebenswerte Besserung wird dabei etwa der Zustand der «Eupathie» bezeichnet, d. h. des relativen Wohlbefindens

1350 in der Krankheit. Dieses Wohlbefinden des Patienten gibt dem ärztlichen Bemühen auch dann noch einen Sinn, wenn die Krankheit unheilbar bleibt. Statt von Sinnlosigkeit medizinischer Massnahmen zu sprechen, wird etwa auch vorgeschlagen, abzuwägen, wann die Intensivpflege unverhältnismässig wird oder dem Patienten nicht mehr zugemutet werden darf.

Eine andere Bedeutung erhält der Begriff der künstlichen Lebensverlängerung, wenn nicht auf die künstlichen Mittel, sondern auf das künstliche Ergebnis der Behandlung abgestellt wird. Danach ist die Lebensverlängerung künstlich, wenn das Leben, das erhalten werden kann, nur noch als ein künstliches, unmenschliches erscheint. Dies wird etwa angenommen, wenn das Leiden so schwer wird, dass es der Person die menschliche Würde nimmt oder wenn dem Patienten das Bewusstsein unwiederbringlich verlorengegangen ist. Ethiker und Theologen sprechen hier vom Personentod, weil die Persönlichkeit des Menschen erlischt und nur noch das biologische Leben fortgesetzt wird.

Von künstlicher Lebensverlängerung, deren Unterlassung oder Abbrach unter Umständen zulässig oder sogar geboten sein kann, darf jedenfalls nur bei sterbenden Menschen gesprochen werden: Dem Tod geweiht sind wir alle, und die Diagnose einer tödlichen Krankheit genügt anerkanntermassen nicht, um Sterbehilfe zu rechtfertigen. Erst wenn die Beobachtung des Krankheitsverlaufes ergeben hat, dass der Patient im Sterben liegt, wird die Hilfe des Arztes vom Beistand im Leben zum Beistand im Sterben.

Wann der endgültige Prozess des Sterbens einsetzt, ist eine ebenso heikle Ermessensfrage wie die, wann der Personentod eintritt. Es handelt sich um Grenzfragen menschlicher Erkenntnis in einer fliessenden Entwicklung des menschlichen Daseins. Beginn des Sterbens und Tod der Person können mit wissenschaftlichen Methoden nicht genau festgestellt werden, sondern verlangen letztlich immer den verantwortungsbewussten ethischen Entscheid des Arztes. Die Medizin kann jedoch für beide Fragen gewisse Kriterien angeben: Als Sterbender kann ein Mensch gelten, der an einer irreversiblen tödlichen Krankheit leidet, bei dem dazu ein lebenswichtiges Organ ausfällt, so dass der Patient innert weniger Stunden oder Tage sterben würde. Und als Zeichen des Personentodes kann der irreversible Ausfall der Hirnfunktion angenommen werden.
Dieser sogenannte Hirntod ist vor einigen Jahren von der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften im Hinblick auf die Organ-Transplantationen praktisch definiert worden. Der vollständige, irreversible, zentrale Funktionsausfall des ganzen Gehirns kann danach anhand folgender Kriterien festgestellt werden : 1. irreversible, tiefe Bewusstlosigkeit, bei der der Patient auf sensorische und sensible Reize nicht anspricht, schlaffe, reflexlose Extremitäten und weite, lichtstarre Pupillen hat; 2. fehlende Spontanatmung; 3. rascher Blutdruckabfall nach Absetzen der künstlichen Stützung des Kreislaufes.

1351 Alle diese Kriterien müssen zusammen bei mehrfacher Untersuchung vorhanden sein, das Elektroencephalogramm darf nur als Hilfsmittel, nicht aber als alleiniges Kriterium gebraucht werden 2. Die Berufspflicht des Arztes aus der Sicht der Mediziner Die Zulassigkeit der passiven Sterbehüfe hangt vor allem ab von Inhalt und Grenzen der Berufspflicht des Arztes gegenüber einem sterbenden Patienten Die Pflichten des Ai:tes wurden vor der Kommission von den angefragten Ärzten wie folgt umschneben Erste Pflicht des Arztes ist Heilen, Helfen, Stabilisieren Die aiztlichen Pfhchtenlehren der Vergangenheit und der Gegenwart sehen die Hauptaufgabe des Arztes immer in der Wiederherstellung und Wahrung der Gesundheit dei anvertrauten Patienten, nicht so sehr m der Verlängerung der Lebensdauer Diese zweite Aufgabe wird erst heute m der Öffentlichkeit gegenubei dei modernen Medizin immer starker hervorgehoben Der Arzt ist jedoch nicht Hei i über Leben und Tod, sondern Helfei im Dienste der Gesundheit Zweite Pflicht des Arztes ist es, physische und psychische Schmerzen zu lindern, dem Patienten seinen Zustand erträglich zu machen Der Arzt ist aber auch verpflichtet, die Person des Patienten zu respektieren dessen geausserten oder mutmasshchen Willen zu befolgen Der Patient ist Hen über sich selber Jeder Mensch hat das Recht darauf sich nicht aiztlich behandeln zu lassen Im Zustand tiefer Depressionen kanndieserl Verzicht den Aizt freilich vor eine therapeutische Aufgabe stellen er hat die Pflicht zu veisuchen, den Patienten aus dei Verzweiflung zu heben und seinen Lebenswillen zu staiken Der klare Wille des informierten Patienten bindet jedoch den Aizt sowohl m negativer wie m positiver Hinsicht Schhesshch hat der Arzt wie jeder Burger die Pflicht die gesetzlichen Voischriften zu befolgen Solange der Patient seinen Willen aussern kann, untersteht dei Aizt dessen Auftrag die Berufspflicht des Arztes kann im Rahmen dieses Aiiftiages verhaltnismassig leicht bestimmt werden Kann der Patient seinen Willen jedoch nicht mehi kundtun, so muss der Aizt selber über die Behandlung entscheiden Eine frühere Wülenseiklaiung des Patienten (wie man sie z B m angelsachsischen Landern mit besonderen Foimularen festhalt) wird von den Ärzten als Hinweis auf den mutmasshchen heutigen Willen anerkannt nicht aber für absolut veibind
lieh angesehen Denn der Patient denkt oft un Augenblick der Todesgefahi ganz anders als vorhei Ansatzpunkte dei ärztlichen Entscheidung sind die Heilungsaussichten nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft eine allfalhge fruheie Willenserklärung des Patienten oder sein Verhalten m früheren Stadien dei Behandlung sodann die Meinung dei Angehörigen des Patienten, der Rat dei aiztlichen Kolle-

1352 gen und des Pflegepersonals, vielleicht der Spitalfürsorgerin und des Spitalpfarrers. Zuletzt wird der Arzt auch noch die Bedürfnisse anderer auf die lebenserhaltenden Apparate angewiesener Patienten und die Verhältnismässigkeit des Kostenaufwandes berücksichtigen müssen. Im Spital wird, wie Krankenpfleger betonen, die Entscheidung womöglich in der ganzen Pflegegruppe besprochen werden müssen, wenn auch der Entscheid letztlich beim verantwortlichen Arzt zu bleiben hat.

Allgemeine medizinische Kriterien, nach welchen die Unterlassung oder der Abbruch einer künstlichen Lebensverlängerung geboten erschiene, konnten die Ärzte kaum angeben. Der einzige gesicherte Fall dieser Art ist der hirntote Mensch. Am Toten endet die Aufgabe des Arztes. Aber in der fliessenden Zone zwischen dem Schwerkranken mit einem Rest von Bewusstsein und dem Toten können nur wenige Anhaltspunkte festgestellt werden. Voraussetzung der passiven Sterbehilfe wird einmal sein, dass nach dem Stand der Wissenschaft mit Sicherheit eine tödliche Krankheit vorliegt und der Patient nach ärztlichem Ermessen im Sterben liegt, ohne jede Aussicht auf Heilung oder Besserung der Grundkrankheit.

Die physischen und psychischen Schmerzen, die mit einer Verlängerung des Sterbeprozesses verbunden sind, müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Dazu kommt jedoch noch eine Vielzahl individueller Momente, die im einzelnen Fall den Entscheid des Arztes beeinflussen. Kommt der Arzt unter sorgfaltiger Anwendung aller verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden zum Schluss, dass der Patient von seiner Grundkrankheit nicht gerettet werden kann und im Sterben liegt, so muss er den Entscheid über die Art der weiteren Behandlung nach bestem Wissen und Gewissen treffen. Das Gesetz oder Dritte können ihn von der Verantwortung dafür nicht entbinden.

Der Arzt muss in dieser Situation, wie bei der Wahl der Behandlungsmethode im allgemeinen, einen Ermessensspielraum haben, der nicht gesetzlich normiert werden kann. Auch kann vom Arzt nicht verlangt werden, dass er jeden schwerwiegenden Entscheid über die Behandlungsmethode bei todkranken Patienten einem Kollegium von Vertrauensärzten unterbreitet. Die beigezogenen Ärzte wären kaum rechtzeitig zur Stelle und müssten auch dann auf die Angaben des behandelnden Arztes und des Pflegepersonals abstellen,
die den Krankheitsverlauf beobachtet haben. Kaum denkbar wäre der Beizug eines Ärztegremiums beim Entscheid des Hausarztes, einen Patienten nicht ins Spital einzuweisen. Der Arzt würde immer dort gelähmt, wo er am schnellsten zu handeln hat. In Spitälern ist dagegen die Konsultation von Kollegen heute schon üblich.

Aus diesen Gründen haben sich - mit einer Ausnahme - alle angehörten medizinischen Experten gegen eine gesetzliche Regelung der passiven Sterbehilfe ausgesprochen. Der Schutz des Arztes vor ungerechtfertigten Vorwürfen könne nur im Einzelfall, notfalls durch Urteil des Gerichts gewährt werden. Die geltende gesetzliche Regelung erlaube eine angemessene Beurteilung der passiven Sterbehilfe.

1353 3. Philosophische und theologische Gesichtspunkte Frau Professor J. Hersch, Genf, wies die Kommission darauf hin, dass der Gesetzgeber bei der Regelung einer anscheinend bloss arztrechtlichen Frage auch die Auswirkungen seines Entscheides auf andere Lebensbereiche im Auge behalten muss. Die Antwort auf die Frage der passiven Euthanasie hat Auswirkungen auf Einstellungen in der ganzen Gesellschaft. Vor allem erscheint es als gefährlich, Gesetze zu erlassen, die sich auf Extremfälle stützen. Extremfälle sollten auch rechtlich als Ausnahmen behandelt und nicht zur Regel erhoben werden.

Frau Professor Hersch wandte sich ferner gegen eine wachsende Tendenz, dem Menschen einen Anspruch auf schmerzloses Dasein (droit à la non-souffrance) zuzubilligen. Das Leiden gehört zu den Bedingungen menschlicher Existenz. Die Unfähigkeit zu leiden führt auch zur Unfähigkeit, glücklich zu leben.

Wir dürfen dem menschlichen Leiden seinen Sinn nicht absprechen. Leiden kann sinnvoll sein, solange der Mensch noch bewusst ist und im Leiden seine eigene Unabhängigkeit erleben kann. Der Leidende kann nämlich eine innere Freiheit entfalten, die er diesem seinem Leiden entgegenstellt. Solange diese Freiheit im Leiden noch möglich ist. und solange das menschliche Bewusstsein nicht gewichen ist, darf der Mensch nicht wie ein Tier aus Mitleid getötet werden. Freiheit bedeutet aber auch nicht das Recht des Menschen, über seinen Körper wie über eine Sache zu verfügen. Die menschliche Freiheit ist zwar das höchste Gut, aber immer beschränkt. Über seinen Tod darf der Mensch nicht frei bestimmen.

Wenn der Verlust des Bewusstseins als Ende der menschlichen Person bezeichnet wird, dann muss eingestanden werden, dass es keine scharfe Grenze zwischen Bewusstheit und endgültigem Bewusstseinsverlust gibt. Die Grenze lässt sich nicht feststellen, der Arzt muss sie setzen.

Professor A. Susrar, CIntr. vermittelte der Kommission aus der Sicht der christlichen Ethik vier Grundsätze zum Fragekreis der passiven Sterbehilfe : 1. Das Leben ist unantastbar und unverfügbar. Es liegt weder in der Hand des Patienten noch des Arztes.

2. Jedermann hat ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben und auf einen menschenwürdigen Tod.

3. Daher besteht weder für den Patienten noch für den Arzt eine Pflicht zur künstlichen Lebensverlängerung, wenn kein
menschenwürdiges Leben mehr erhalten werden kann.

4. Beim Entscheid über die passive Sterbehilfe obliegt dem Arzt jedoch die grösste Sorgfaltspflicht, da der Entscheid nicht wieder rückgängig zu machen ist.

Als Kriterium hat der Verlust des «personal-menschlichen Lebens» zu dienen. Dieses liegt so lange vor, als beim Patienten die ph> sischen Voraussetzungen für das Urteilen und Entscheiden, auch wenn sehr beschränkt, noch gegeben sind.

Wichtiger als eine gesetzliche Regelung erscheint aus dieser Sicht die Stärkung des ärztlichen Ethos. Die Wirkung strafrechtlicher Regelungen dürfte in

1354 diesem Bereich ohnehin 'bescheiden sein. Auch besteht die Gefahr, dass eine Spezialregehmg erst recht Anlass zu Missbräuchen bietet, da sie notwendigerweise unbestimmt und auslegungsbedürftig wäre.

4. Die rechtliche Beurteilung der passiven Sterbehilfe

Die juristischen Experten der Kommission beurteilten aus zivil- und strafrechtlicher Sicht die Rechtslage einheitlich als genügend deutlich, um die Gerichte zu befähigen, dem Patienten wie dem Arzt den angemessenen Rechtsschutz zu gewähren. Die Vielfalt der Gesichtspunkte des Einzelfalles können dagegen nicht in der abstrakten Regel des Gesetzes eingefangen werden.

Nach einhelliger Ansicht fällt die aktive Sterbehilfe unter das Tötungsverbot von Artikel 111 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches (vgl. Beilage 3). Auch die Tötung auf ernstliches und dringendes Verlangen des Kranken ist untersagt (Art. 114 StGB). Der Arzt, der den Krankheitsverlauf so beeinflusst, dass der Tod herbeigeführt oder beschleunigt wird, macht sich strafbar. Diese Strafbarkeit wird nur durch die einzige, deutlich abgrenzbare Ausnahme eingeschränkt: die sog. indirekte Euthanasie. Eine solche begeht der Arzt, der, um unerträgliches Leiden zu mildern, die erforderliche Dosis schmerzstillender Mittel verabreicht, obwohl, als Nebenfolge, möglicherweise das Leben verkürzt wird. Diese Schmerzlinderung ist zulässig.

Das Anwendungsgebiet der passiven Sterbehilfe wird von der sog. Garantenstellung des Arztes für das ihm anvertraute Leben des Patienten bestimmt. Der Arzt, der die Behandlung des Patienten übernimmt, hat die Pflicht, alles in seinen Kräften Stehende zu unternehmen, um Gesundheit und Leben des Kranken zu stützen und zu wahren. Während das Rechtsgut Leben gegenüber Dritten normalerweise nur gegen negative Eingriffe, d.h. Schädigungen geschützt ist, verleiht die Garantenpflicht des Arztes dem Patienten einen Anspruch auf positive Unterstützung. Passive Sterbehilfe ist die Unterlassung oder der Abbruch einer möglichen Form solcher Unterstützung. Strafbarkeit oder Straflösigkeit dieses Vorgehens hängen davon ab, ob die Garantenpflicrrt verletzt wird oder nicht.

Strafbar ist der Arzt somit nicht nur, wenn er das Leben des Patienten aktiv verkürzt, sondern auch, wenn er es unterlässt, das Leben seiner Garantenpflicht entsprechend zu schützen. Bei der pflichtwidrigen Unterlassung kommt es jedoch nicht darauf an, ob sie durch ein aktives oder ein passives Verhalten begangen wird. Juristisch kann nämlich auch die Handlung, die im Loslösen des Patienten von der daseinserhaltenden Apparatur besteht, als Unterlassung gewertet
werden, obwohl sie durch bestimmte Handgriffe vorgenommen wird. Entscheidend ist nicht die technische Ausführung des ärztlichen Entscheides, sonst wäre das Abstellen der Flüssigkeitszufuhr bei der künstlichen Ernährung anders zu beurteilen als der Verzicht darauf, den leeren Flüssigkeitsbehälter durch einen vollen zu ersetzen. Vielmehr ist der Sinn des Verhaltens im Blick auf die Wirkung zu bestimmen, die es auf das zu schützende Rechtsgut Leben hat : Aktives Handeln

1355 ist dann die schädigende störende Einwirkung auf lebenserhaltende Korperprozesse, eine Unterlassung ist es, solche Prozesse, wenn sie gefährdet sind, nicht zu stutzen oder zu ersetzen Dei Abbruch dasemsverlangernder Massnahmen hat daher als Unterlassung zu gelten Da die Strafbaikeit der passiven Sterbehilfe m der Verletzung der Garantenpflicht liegt, muss für die weitere Beurteilung bestimmt werden wo diese Pflicht beginnt und wo sie endet Darüber entscheidet der Rechtsgrund der Behandlung d h dei Auftrag des Patienten an Arzt oder Spital zur medizinischen Behandlung Nach dem schweizerischen Zivilrecht entscheidet dei Wille des Patienten darüber, ob eine medizinische Behandlung eingeleitet bzw fortgesetzt werden soll oder nicht Lm das Wohl des Patienten darf sich der Arzt erst und nur so lange - kummern als er dazu rechtlich eimachtigt ist Dei Wille des urteilsfähigen und ubei die Erkiankung, die Behandlung sowie deren Risiken gehörig aufgeklarten Patienten bindet den Arzt Wurde man diese Regel verlassen, so wurde man den Patienten vom Subjekt zum Objekt entwerten Von diesem Grundsatz ist freilich dort eine Ausnahme zu machen, wo öffentlich-rechtliche Bestimmungen der Kantone den Arzt verpflichten, lebensiettende Behandlungen nötigenfalls gegen den Willen des Patienten vorzunehmen Der Wille des Patienten dei zivilrechtlich den Auftrag des Arztes begründet, stellt strafrechtlich die Einwilligung des Veiletzten dar Da nach schweizerischem Strafrecht medizinische Eingriffe grundsatzlich den Tatbestand der Korperverletzung erfüllen bedarf jede Heilbehandlung der Einwilligung des Patienten Die arztliche Behandlung ist nur im Rahmen dieser Einwilligung gerechtfertigt So darf der Patient z B nicht gegen seinen Willen kunstlich ernährt oder mit Bluttransfusionen oder operata en Eingriffen am Leben erhalten weiden Wenn der Patient dem Arzt den Behandlungsauftrag entzieht erlischt die Garantenpflicht des Arztes Der Arzt, der auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten eine das Leben und die Leiden hinausziehende Behandlung beendet, bleibt daher straflos Denn es fehlt dann gerade die unabdingbare Voraussetzung einer strafbaren Unterlassung die Gaiantenpflicht Der Arzt ist dann sogar v erpflichtet, die Behandlung zu beenden Nimmt er entgegen dem Willen des Patienten weitere medizinische Eingriffe vor, so
macht er sich der Korperverletzung schuldig Der Wille des Patienten kann somit zwar die aktne Sterbehilfe die dem absoluten Totungsverbot unserer Rechtsordnung untersteht nicht rechtfertigen Wohl aber kann er durch Widerruf des Behandlungsauftrages die Gaiantenpflicht aufheben und die passive Steibehilfe (das naturliche Sterbenlassen) ei zwingen, die dann nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht des Arztes ist Ist der Patient nicht mein m dei Lage, seinen Willen zu aussein so wird die Pflicht des Arztes zivilrechtlich nach den Regeln der Geschäftsführung ohne Auftiag bestimmt Strafrechtlich gilt für die Heilbemuhungen des Aiztes der Rechtfertigungsgrund des Notstandes odei des Handelns im Interesse und entsprechend dem mutmasslichen Willen des Patienten

1356 Die Berufung auf Notstand versagt jedoch dann, wenn der mutmassliche Wille des Patienten der Behandlung entgegensteht oder wenn es nur um eine höchst problematische Daseinsverlängerung geht. Jedenfalls hat der Respekt vor der eigenverantwortlichen Entscheidung des Patienten den Vorrang vor der Erhaltung eines fragwürdigen Lebensrestes.

Die Handlung des Arztes muss im Interesse des Patienten liegen und dessen mutmasslichem Willen entsprechen. Eine Einwilligung ist jedoch nicht anzunehmen für eine blosse Verlängerung von Leiden und Schmerzen.

Das Vetorecht des Patienten gebietet daher, auch wenn er seine Urteilsfähigkeit verloren hat, künstliche Lebensverlängerung zu unterlassen, wenn anzunehmen ist, dass der Patient, könnte er sich äussern, den Verlängerungsmassnahmen seine Zustimmung verweigern würde.

Eine frühere schriftliche Erklärung, worin der Patient auf jede künstliche Lebensverlängerung verzichtet, kann für die Ermittlung seines Willens ein gewichtiges Indiz abgeben. Entscheidend ist jedoch der gegenwärtige mutmassliche Wille, der nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung aller Umstände des Falles gefunden werden kann. Verbindlich ist die frühere Erklärung schon deshalb nicht, weil sie jederzeit rückgängig gemacht werden kann. Somit muss stets danach gefragt werden, ob der Patient die Erklärung im gegenwärtigen Augenblick vernünftigerweise widerrufen würde oder nicht.

In allen jenen Fällen, in denen der ausdrückliche gegenwärtige Wille des Patienten oder dessen mutmasslicher Wille die Garantenstellung des Arztes aufhebt, steht die passive Sterbehilfe völlig im Einklang mit dem geltenden Recht. Je mehr man sich jedoch dem Kernbereich der passiven Sterbehilfe nähert, den Fällen nämlich, bei denen der Patient darüber selbst nicht entschieden hat und nicht mehr entscheiden kann, desto grösser werden die Abwägungsprobleme beim Entscheid des Arztes.

Dort wo der Arzt notgedrungen selber entscheiden muss, ob seine Garantenpflicht fortbesteht, muss er seine ärztlichen Berufspflichten gegeneinander abwägen.

Der Pflicht zur Lebenserhaltung können entgegenstehen die Pflicht, die Persönlichkeit des Patienten zu respektieren und ihn nicht als blosses Objekt zu behandeln, aber auch die Pflicht, seine Bemühungen auf die Therapie, das Heilen, zu beschränken.

Für den Entscheid des Arztes wird in
erster Linie der Zustand des Patienten, aber auch der Stand der verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten ausschlaggebend sein: Eine erste Entscheidungshilfe bildet das Kriterium des spezifisch menschlichen Lebens. Hier gibt es eine klare Grenze : den Hirntod. Nach Eintritt des Hirntodes kann nicht mehr von menschlichem Leben gesprochen werden. Alle ärztlichen Behandlungspflichten fallen in diesem Zeitpunkt dahin. Diesseits des Hirntodes darf der Entscheid darüber, ob noch menschliches Leben vorhanden ist, jedenfalls nicht aufgrund einer zweifelhaften Meinung über «lebensunwertes Leben» getroffen werden. Menschliches Leben ist sicher immer dann anzunehmen, wenn noch

1357 irgendeine Form menschlicher Kommunikation aufrechterhalten werden kann.

Häufig aber zeigen sich fliessende Übergänge, so z. B. der teilweise Gehirnausfall mit Bewusstseinsverlust, das Koma oder skierotisch bedingte senile Dämmerzustände. Es gibt Patienten, die aus dem Koma erwachen und erzählen, wie sehr sie während des Komas psychisch darunter gelitten hätten, dass man sie als hoffnungslosen Fall abgeschrieben habe. Und es gibt alte Leute, die aus ihrem senilen Dämmerzustand, in dem sie völlig «unansprechbar» sind, wieder herausgeholt werden können, wenn eine Krankenschwester in intensivstem, persönlichem Einsatz den Menschen in ihnen anzusprechen versucht. Diese Patienten haben zweifellos noch ein menschliches Leben, andere jedoch, die sich äusserlich wenig von ihnen unterscheiden, vielleicht schon nicht mehr. - Was ein spezifisch menschliches Leben ist, kann also nicht abstrakt definiert v. erden.

Ehi zweiter Gesichtspunkt ist das subjektive Leiden des Patienten. Unerträgliches Leiden kann künstlich erhaltenen Lebensrest in Frage stellen und den Arzt berechtigen, den Patienten sterben zu lassen. Doch muss auch dieses Kriterium von Fall zu Fall gewichtet werden. Unterschiedliche Grade des Leidens können sich mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen verbinden. Auch bleibt abzuwä' gen, welche Erfolge die Behandlung noch verspricht.

Ein drittes Kriterium sucht man etwa in einer Unterscheidung der Behandlungsgrade. Es wird unterschieden zwischen «normaler» Pflege und «aussergewöhnlichen Massnahmen» oder «künstlicher Lebensverlängenmg». Diese Begriffe lassen sich jedoch nicht scharf voneinander abgrenzen. Es gibt für uns. besonders im Spital, kaum noch einen «natürlichen» Tod. Jede medizinische Pflege am todkranken oder sterbenden Menschen bedeutet eine «künstliche» Lebensverlängerung.

Es bleibt auch hier eine Abwägungsfrage, wann die Behandlung im Einzelfall unverhältnismässig wird, zu einem sinnlosen Aufwand führt und eine absurde Verlängerung vegetativen Lebens mittels medizinischer Techniken und Apparaturen darstellt.

Die Gesichtspunkte, die bei der ärztlichen Entscheidung darüber massgebend sind, inwieweit eine Verlängerung menschlichen Lebens noch als sinnvoll erscheint, lassen sich nicht in exakte Massstäbe umsetzen. Der Arzt wird die Kriterien seiner Entscheidung den Umständen
des Falles entnehmen müssen, ohne dass das Recht in der Lage wäre, ihm genaue Anweisungen zu geben. Die Begriffe, mit denen der Gesetzgeber allenfalls versuchen könnte, diese Kriterien zu umschreiben, sind äusserst unbestimmt: schwere, tödliche Krankheit, Persönlichkeitszerfall, aussergewöhnlich schmerzvolles Leiden, unmittelbare Todesnähe, tiefe, unaufhebbare Bewusstlosigkeit. aussergewöhnliche Massnahme, künstliche Lebensverlängerung. Diese Begriffe sind Leerformeln. die weder für den Arzt noch für den Patienten Klarheit und Sicherheit im Einzelfall zu schaffen vermögen. Massgebend bleiben die von den Umständen des Einzelfalles abhängigen ärztlichen Erwägungen. Diese entziehen sich aber einer auch nur emigermassen bestimmten rechtlichen Regelung.

1358 Der Richter, der angerufen wird, über den Entscheid des Arztes zu urteilen, muss die in der medizinischen Wissenschaft geltenden Kriterien, wie sie vor der Kommission von den Ärzten dargestellt worden sind, anerkennen. Der Arzt, der sich darauf berufen kann, dass er dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechend und in sorgfältiger Prüfung des Einzelfalles gehandelt und seinen Entscheid, unter Würdigung der genannten Gesichtspunkte gefällt hat, ist freizusprechen. Begründen diese Gesichtspunkte nämlich den Entscheid, eine Verlängerung des Daseins des Patienten sei nicht mehr sinnvoll, dann erlischt die zivilrechtliche Behandlungspflicht und die strafrechtliche Garantenpflicht des Arztes.

Die von der Kommission befragten Juristen kommen demnach zum Schluss, dass die bestehende gesetzliche Regelung das leistet, was von der abstrakten Norm verlangt werden kann. Der Gesetzgeber muss den Entscheid im Einzelfall den Gerichten überlassen. Denn es ist nicht möglich, Regeln aufzustellen, die einerseits deutlich genug wären, um eine klare Handlungsanweisung zu vermitteln, und anderseits dem notwendigen Ermessen im Einzelfall einen genügenden Spielraum belassen würden. Eine Spezialregelung würde nur die Illusion grösserer Rechtssicherheit schaffen. Ein zusätzliches Mass an Klarheit in der gesetzlichen Regelung lässt sich zur Zeit nicht erreichen.

Zum gleichen Schluss kam schon die Expertenkommission für die Revision des Strafgesetzbuches, die im Herbst 1973 die Frage einer gesetzlichen Regelung der Euthanasie einlässlich geprüft hat. Die Sachverständigen haben sich damals mit 19 zu 0 Stimmen, bei 2 Enthaltungen, gegen eine Regelung der Sterbehilfe ausgesprochen (Protokoll der Sitzungen vom 23. August und 26. Oktober 1973).

Die Möglichkeit von Strafverfolgungen und Zivilprozessen gegen Ärzte kann nach dem Grundgehalt unserer Rechtsordnung nicht als solche aufgehoben werden. Das Klagerecht des Patienten und seiner Angehörigen muss uneingeschränkt erhalten bleiben. Es ist Sache der Justizorgane, über die Berechtigung der Ansprüche gegen die Ärzte zu befinden.

5. Erwägungen der Kommission

Der Initiant wollte vor allem den Schutz der Ärzte vor unberechtigten Zivilklagen und Strafverfolgungen sicherstellen, um zu verhindern, dass die Ärzte aus Angst davor, zur Verantwortung gezogen zu werden, das Leben und das Leiden sterbender Patienten sinnlos in die Länge ziehen oder aber sich weigern, in Notfällen nach eigenem Ermessen Hilfe zu leisten, wie dies in anderen Ländern, vor allem in den USA, aber zum Teil auch in Deutschland und Frankreich vorkommt.

Um den Arzt wegen der Entscheidung über die Behandlung sterbender Patienten vor Klagen zu bewahren, schlug Nationalrat Allgöwer vor, den Arzt unter bestimmten Voraussetzungen von der Pflicht zur künstlichen Lebensverlängerung zu befreien. Dazu unterbreitete er der Kommission folgende Richtlinie: «Der Arzt richtet seine Massnahmen nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft. Ergibt die Prognose des Patienten keinerlei Wiederherstel-

1359 lungsmoglichkeit, erscheint der Fall aussichtslos, so ist der Arzt nicht zur kunstlichen Lebensverlangerung veipflichtet Im Zweifelsfall zieht er zwei fachkundige Arzte bei, die ihre Beurteilung m einem Protokoll festlegen » Die Kommission unterbreitete diesen Text den Experten, die ihn mehrheitlich ablehnten Die Begriffe der Wiedeiherstellungsmoghchkeit, dei Aussichtslosigkeit und der künstlichEN Lebensv erlangerung sind unbestimmt Sie bringen keine Eingienzung des ärztlichen Ermessens gegenüber der heute geltenden und oben dargestellten Regelung Das Handeln nach dem Stande dei medizinischen Wissenschaft und der Beizug von Kollegen im Zweifelsfall sind Selbsheistandlichkerten die auch ohne gesetzliche Regelung gelten Zudem schafft jede solche Spezialregelung auch die Möglichkeit des Missbrauchs Es besteht die Gefahr dass auf diese Weise Leben und Wuide des Menschen schlechter geschützt waren als bisher Die Erfahrungen und Überlegungen der Experten haben gezeigt dass nicht nur dem Arzt ein \ ernunftigei Spielraum fui seme Entscheidung zu sichern ist, sondern auch die angemessene personliche Freiheit und ~S\ urde des Patienten gewahrt werden muss Beide Fordemngen sind, wie sich ei geben hat, fui die heutigen Verhaltnisse duich das geltende Recht grundsätzlich ei füllt Der Patient ist fier im Entscheid ubei die Einleitung und die Fortsetzung einer medizinischen Behandlung Der Aizt darf am Patienten nur jene Eingriffe vornehmen, die dieser billigt Dei Kranke, der noch bei Bewusstsem ist, braucht also nicht zu furchten dem Aizt ausgeliefert zu sein Auch im Zustand der Bewusstlosigkeit gilt dei eikennbare mutmasshche Wille des Patienten weiter Und schhesslich ist dei Aizt gehalten, den Patienten sterben zu lassen, wenn die Achtung voi dessen peisonhcher Wurde es gebietet Der Patient ist abei auch fui die Erhaltung seines Lebens geschützt Der Arzt hat alles zu unternehmen um den Kianken zu retten solange dieser es wünscht Und solange die Persönlichkeit des Menschen fortbesteht hat dei Arzt auch jenen Patienten zu pflegen dei nicht mehi in der Lage ist ubei sich selber zu bestimmen Erst wenn uneitiaghches Leiden oder der unwiederbringliche Verlust des Bewusstsems dem Menschen die personliche Wurde raubt darf dei Aizt die Pflege beenden und das Sterben gewahien lassen Auf der ändern Seite ist auch
dei Arzt m dei Ausübung seines Berufes geschützt Solange dei Patient urteilsfähig ist, kann der Aizt sich an dessen Willen halten und braucht die Verantwortung nicht allein zu tragen Sobald diese ihm jedoch \oll ubeitiagen ist, steht ihm auch die notwendige Entscheidungsfieiheit zu Wenn ei nach bestem Wissen und Gewissen handelt, d h nach dem Stande seiner Wissenschaft und aus Achtung für die Peison des Kianken, und wenn er in Würdigung aller Umstände den Entscheid fallt den Patienten sterben zu lassen, dann gew ahrt ihm das Recht seinen Schutz Dem Grundsatz nach -vermag die geltende Regelung zur passn en Sterbehilfe somit zu befnedigen Wohl wäre es wünschenswert dass auch die Einzelfiagen

1360 gesetzlich klar geregelt werden könnten. Doch entzieht sich die Vielfalt des Lebens hier - wie auch in anderen Bereichen - der genauen rechtlichen Ordnung. Der Gesetzgeber muss sich damit begnügen, den Grundsatz auszusprechen und die fallweise Ausgestaltung dem Richter zu überlassen. Dieser ist aufgrund des geltenden Rechts durchaus in der Lage, nach menschlichem Ermessen richtig zu entscheiden.

Die Kommission kommt daher einstimmig, bei Stimmenthaltung des Initianten, zum Schluss, dass der Initiative von Herrn Allgöwer keine Folge zu geben ist.

6. Verwandte Probleme

Die Kommission ist in der Dokumentation und in der Diskussion auf weitere Probleme des modernen Gesundheitswesens gestossen, die zu Diskussionen unter Fachleuten und in der Öffentlichkeit, zu wissenschaftlichen Erörterungen sowie vereinzelt im Ausland zum Erlass von Gesetzen und auf internationaler Ebene zur Aufstellung von Empfehlungen Anlass gaben. Der Europarat in Strassburg bemüht sich um eine Abklärung der Euthanasieprobleme und erarbeitet eine Empfehlung für den Rechtsschutz von Patient und Arzt.

Die Fortschritte der Biologie und Biochemie, die Entwicklung der Medizinaltechnik, der pharmazeutischen Industrie und des Spitalbetriebes haben starken Einfluss auf die Stellung der Patienten, Ärzte und der übrigen Beteiligten. Es zeigen sich wirtschaftliche Auswirkungen (Kostenexplosion im Gesundheitswesen, Diskussion um die Heilmittelpreise), aber auch Rechtsprobleme z. B. im medizinischen Versuchswesen und bei der Organtransplantation. Gelegentlich besteht der Eindruck, dass die zum Wohl des Menschen erzielten Fortschritte ihn ängstigen und seine Freiheit und Würde bedrohen könnten.

In der Kommission herrscht der Eindruck vor, dass die Probleme noch an Scharfe und Schwere zunehmen werden, weil Forschung und wissenschaftlichtechnische Fortschritte weitergehen und keine Anzeichen für eine Umkehr der Entwicklung vorliegen. Die Mehrheit der Kommission ist der Auffassung, dass über verschiedene Punkte aus diesem Fragenkreis eine gesetzliche Regelung schon heute angezeigt wäre und in absehbarer Zeit unvermeidbar wird.

Die Kommission erwog, ein Postulat einzureichen, um den Bundesrat zur Klärung des ganzen Fragenkomplexes und allenfalls zur Vorlage eines Gesetzesentwurfes einzuladen. Sie hat schliesslich auf einen solchen Vorstoss verzichtet, weil er die Grenzen ihres eigentlichen Auftrages übersteigen würde, und vor allem weil sie erfahren hat, dass sich diese Fragen bereits im Studium befinden. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat eine Expertenkommission eingesetzt, und die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften unternimmt ebenfalls Abklärungen. Die Kommission erachtet es als wichtig, dass diese Arbeiten beförderlich durchgeführt werden und dass das Parlament möglichst bald über das Ergebnis informiert wird.

1361 Beilage 3

Wichtigste einschlägige Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches ^

Art. 111 Vorsatzliche Tötimg Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, ohne dass eine der besonderen Voraussetzungen der nachfolgenden Artikel zutrifft, wird mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.

Art 114

Tötung auf Vei langen Wer einen Menschen auf sein ernstliches und dringendes Verlangen tötet, wird mit Gefängnis bestraft.

Art. 115 Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft.

Art. 117 Fahrlässige Tötung Wer fahl-lässig den Tod eines Menschen -\ erursacht, wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft.

Art. 127 Aussetzung 1. Wer einen Hilflosen, der unter seiner Obhut steht oder für den er zu sorgen hat. einer Gefahr für das Leben oder einer schweren unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit aussetzt.

u SR 311.0

1362 wer einen Hilflosen, der unter seiner Obhut steht oder für den er zu sorgen hat, in einer Gefahr für das Leben oder m einer schweren unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit im Stiche lässt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestraft.

2. Hat die Aussetzung den Tod des Ausgesetzten zur Folge gehabt und konnte der Täter dies voraussetzen, so wird er mit Zuchthaus bestraft.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Parlamentarische Initiative über die passive Sterbehilfe Bericht der Kommission des Nationalrates (Vom 27. August 1975)

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29.09.1975

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