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Bundesblatt

Bern, den 25. April 1969

121. Jahrgang

Band I

Nr. 16 Erscheint wöchentlich. Preis : Inland Fr, 40.- im Jahr, Fr. 23.- im Halbjahr, Ausland Fr. 52.im Jahr, zuzüglich Nachnahme- und Postzustellungsgebühr. Inseratenverwaltung: Permedia, Publicîtas AG, Abteilung für Periodika, Hirschmattsträsse 42,6002 Luzern, Tel. 041/23 66 66

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die 52. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz

(Vom 16. April 1969) Herr Präsident, Hochgeehrte Herren, Gemäss den Bestimmungen der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) erstatten wir Ihnen den folgenden Bericht, in welchem - im ersten Abschnitt (I) in üblicher Weise über die 52. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz orientiert wird, - der zweite Abschnitt (II) der Empfehlung Nr. 132 betreffend die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Pächtern, Teilpächtern und ähnlichen Gruppen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften gewidmet ist, - und der dritte Abschnitt (III) im Hinblick auf das Jubiläum des fünfzigjährigen Bestehens der Internationalen Arbeitsorganisation einen Überblick über die historische Entwicklung bietet, wobei zum Schluss die Absicht zum Ausdruck kommt, in Zukunft bei der Antragstellung für die Genehmigung von internationalen Arbeitsübereinkommen etwas weiter als bisher zu gehen, I.Tagesordnung, Verhandlungen und Beschlüsse der Konferenz

1. Die 52. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz fand vom 5. bis 25. Juni 1968 im Palais des Nations in Genf statt.

Sie wurde von der IAO in den Rahmen der Feierlichkeiten für das «Jahr der Menschenrechte» gestellt.

Die Tagesordnung lautete wie folgt : 1. Bericht des Generaldirektors 2. Finanz- und Budgetfragen 3. Mitteilungen und Berichte über die Anwendung der Übereinkommen und Empfehlungen 4. Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Pächtern, Teilpächtern und ähnlichen Gruppen landwirtschaftlicher Arbeitskräfte (2. Beratung) Bundesblatt. 121.Jahrg. Bd.I

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5. Arbeitsaufsicht in der Landwirtschaft (1. Beratung) 6. Neufassung der Übereinkommen Nr. 24 und Nr. 25 über die Krankenversicherung (1. Beratung) 2. Im Hinblick auf das «Jahr der Menschenrechte» liess sich der Bundesrat an dieser Tagung durch Herrn Bundesrat Schaffner vertreten. Die Delegation war gemäss den Regeln der IAO dreigliedrig zusammengesetzt. Sie bestand aus den Herren Prof. Dr. Max Holzer, Direktor des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit, und Dr. Cristoforo Motta, Vizedirektor des Bundesamtes für Sozialversicherung, als Regierungsdelegierten, sowie Botschafter Dr. Jean Humbert, Ständiger Vertreter der Schweiz bei den internationalen Organisationen in Genf, und René Grever, Adjunkt des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit, als stellvertretenden Regierangsdelegierten.

Es gehörten ihr ferner an die Herren Rudolf Huber-Rübel, Präsident des Verwaltungsrates der Maschinenfabrik Oerlikon, als Arbeitgeberdelegierter, und Jean Möri, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, als Arbeitnehmerdelegierter. Einige technische Berater ergänzten die Delegation, 3. Die Zahl der Mitgliedstaaten ging seit der letzten Tagung von 119 auf 118 zurück, da der Beitritt von Botswana wegen Irrtums als ungültig erklärt wurde und weil überdies Albanien mit Wirkung ab August 1967 aus der IAO austrat, währenddem nur die Mongolei als neues Mitglied aufgenommen wurde. Von den 118 Mitgliedstaaten waren 109 an der 52. Tagung vertreten.

Zum Vorsitzenden der Konferenz wurde Herr San Sebastian, argentinischer Staatssekretär für Arbeitsfragen, gewählt.

4. Die Traktanden «Bericht des Generaldirektors», «Finanz- und Budgetfragen» sowie «Mitteilungen und Berichte über die Anwendung der Übereinkommen und Empfehlungen» stehen jedes Jahr auf der Tagesordnung.

Der Bericht des Generaldirektors (Teil I) war wegen des «Jahres der Menschenrechte» ausschliesslich den von der IAO unternommenen Bemühungen zur Verteidigung dieser Rechte gewidmet.

Im Rahmen einer einlässlichen Debatte zu diesem Bericht bekundete Herr Bundesrat Schaffner der IAO die Sympathie unseres Landes. Er erklärte, dass die Schweiz alle Bemühungen zur Sicherstellung der Grundrechte der arbeitenden Menschen unterstütze.

Im II, Teil seines Berichtes gab der Generaldirektor, wie üblich, einen Überblick über die Tätigkeit der IAO im Jahre
1967. Zwei Sonderberichte bezogen sich auf die Anwendung der Erklärung betreffend die Politik der Apartheid in der Republik Südafrika sowie auf das Programm und die Struktur der IAO. Wie im Vorjahr löste das zweite Problem eine lebhafte Diskussion aus.

5. Der von der Konferenz angenommene Voranschlag für 1969 (Punkt 2 der Tagesordnung) beläuft sich auf 26 612 739 Dollar (24 836 09t Dollar für 1968). Auf die Schweiz entfällt ein Beitrag von 1,24 Prozent, was 329 998 Dollar (307 967 Dollar für 1968) entspricht.

Gemäss einer von der Konferenz angenommenen Resolution werden sich das Programm und der Voranschlag der IAO inskünftig auf zwei Jahre, und

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nicht mehr nur auf ein Jahr beziehen. Dieser Zweijahreszyklus wird erstmals für die Rechnungsperiode 1970-1971 gelten. In bezug auf die Annäherung des Verteilungsschlüssels der IAO-Beiträge an denjenigen der Vereinten Nationen wurden Fortschritte erzielt. Falls der ausgearbeitete Entwurf von der nächsten Konferenz angenommen wird, beträgt für 1970 der Anteil der Schweiz wie bisher 1,24 Prozent; für 1971 wird er auf 1,20 Prozent heruntergesetzt.

6. Zu Punkt 3 der Tagesordnung betreffend die Anwendung der Übereinkommen und Empfehlungen ist für das Berichtsjahr nichts zu bemerken. Die Beschlüsse der Konferenz zu den Sachfragen (Punkt 4 bis 6 der Tagesordnung) kommentieren wir wie folgt : 7. Nach der zweiten Beratung - die erste fand 1967 statt - nahm die Konferenz eine Empfehlung über die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Pächtern, Teilpächtern und ähnlichen Gruppen landwirtschaftlicher Arbeitskräfte an (Punkt 4 der Tagesordnung). Wir kommen auf diese Empfehlung, deren Text in der Beilage I wiedergegeben ist, im Abschnitt II zurück, 8. über die Arbeitsaufsicht in der Landwirtschaft (Punkt 5 der Tagesordnung) kam es zu einer ersten Beratung. Die zweite Beratung, die im Jahre 1969 stattfindet, wird voraussichtlich zur Annahme eines mit einer Empfehlung ergänzten Übereinkommens führen.

9. Die Konferenz arbeitete einen Vorentwurf zu einem Übereinkommen und einer Empfehlung über die Krankenversicherung (Punkt 6 der Tagesordnung) aus. Die zweite und letzte Beratung wird im Jahre 1969 abgehalten.

10. Schliesslich hat die Konferenz Resolutionen über das zukünftige Wirken der IAO auf dem Gebiet der Menschenrechte, die berufliche Vorbereitung der Mädchen und Frauen, den Auszug von gelerntem Personal aus Entwicklungsländern, die Arbeitnehmer mit verminderter Leistungsfähigkeit sowie die Tätigkeiten der IAO hinsichtlich der technischen Zusammenarbeit angenommen.

11. Wie bereits in unserem Bericht über die 51. Tagung erwähnt wurde, sind die Mitgliedstaaten durch eine im Jahre 1967 angenommene Resolution aufgefordert worden, zum fünfzigjährigen Bestehen der IAO im Jahre 1969 Feierlichkeiten zu veranstalten. Die Regierungen wurden eingeladen, während des Jubiläumsjahres in den Parlamenten eine Debatte über die IAO anzuregen.

Im Sinne dieser Empfehlung geben wir in Abschnitt III dieses Berichtes
einen Überblick über die Geschichte der IAO und ihrer Beziehungen mit unserem Land.

H. Empfehlung (Nr. 132) betreffend die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Pächtern, Teilpächtern und ähnlichen Gruppen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften 1. Zielsetzung und Inhalt der Empfehlung

Die Empfehlung bezweckt die wirtschaftliche und soziale Besserstellung von Personen, die als Pächter, Teilpächter oder auf Grund eines pachtähnlichen Vertragsverhältnisses landwirtschaftlichen Boden bebauen. Sie bezieht

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sich damit auf grosse Gruppen von Bodenbewirtschaftern, denen einerseits die Grundeigentümer als Selbstbewirtschafter und anderseits die landwirtschaftlichen Lohnempfänger gegenüberstehen.

Das unmittelbare Ziel der Empfehlung besteht darin, die Wohlfahrt der geschützten Personen zu heben und ihnen die grösstmögliche Sicherheit für ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt zu gewährleisten (Ziffer 4). Diesem Zweck dienen zunächst jene Bestimmungen, die sich auf die Festsetzung des Entgelts beziehen, welches der Bodenbewirtschafter dem Grundeigentümer für die Überlassung der Nutzungsrechte zu entrichten hat, und die sich insbesondere gegen die Ansetzung überhöhter Pachtzinse richten (Ziffer 10). in den gleichen Zusammenhang sind auch die Empfehlungen über Form und Inhalt der Pachtverträge sowie über die Pachtdauer zu stellen (Ziffern 12, 14 und 15), ebenso die Bestimmungen, die das Recht des Grundeigentümers auf vorzeitige Beendigung des Vertrages einschränken und für Fälle vorzeitiger Auflösung die Entschädigungsansprüche der ändern Partei regeln (Ziffer 16). Erwähnt sei ferner die Empfehlung an die Grundeigentümer, dem Bewirtschafter, der auf dem Pachtgut wohnt, eine angemessene Wohnung zur Verfügung zu stellen (Ziffer 18). Für die Entwicklungsländer bedeutsam ist Ziffer 11, die sich gegen jeden Versuch des Grundeigentümers richtet, den Bewirtschafter zu persönlichen Dienstleistungen anzuhalten. Um dem Pächter oder Teilpächter den Erwerb des Bodens zu erleichtern, wird in Ziffer 16 Absatz 3, ein Vorkaufsrecht für den Fall der Veräusserung des Pachtgutes empfohlen.

Zur Erreichung einer rationellen Nutzung des Bodens, aber auch im Interesse einer grösseren Selbständigkeit des Bebauers wird nahegelegt, die Hauptverantwortung für die Leitung des Betriebes den Bodenbewirtschaftern zu übertragen (Ziffer 5). Die Urkunde empfiehlt überdies, jene Vorkehren zu fördern, die geeignet sind, die Pächter und Teilpächter zur rationellen Bewirt-' Schaffung ihrer Betriebe zu führen. Hierunter fallen insbesondere die Gründung von Genossenschaften, die Gewährung billiger Kredite und die Förderung der beruflichen und allgemeinen Bildung (Ziffern 21 bis 23).

2. Stellungnahme zur Empfehlung In seinem Bericht zur vorliegenden Empfehlung hebt das Internationale Arbeitsamt (IAA) hervor, dass die Verbesserung der Lage von
Pächtern, Teilpächtern und ähnlichen Gruppen landwirtschaftlicher Arbeitskräfte für viele Entwicklungsländer ein wichtiges und dringliches Anliegen sei. Abgesehen von den dort allgemein ungünstigen Verhältnissen wird die Lösung des Problems durch eine Vielfalt von Formen des Teübaues und der Teilpacht erschwert, die im Extremfall den Bauern weniger Selbständigkeit als TaglÖhnem geben. Die Empfehlung bezieht sich denn auch in erster Linie auf diese Verhältnisse.

In unserem Land sind die Interessen des Pächters durch veischiedeiie gesetzliche Bestimmungen geschützt. Die generellen vertraglichen Aspekte sind im Abschnitt des Obligationenrechts über die Pacht geregelt, wo allerdings über Form und Inhalt der Pachtverträge keine besonderen Vorschriften stehen.

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Dazu kommen die Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 12. Juni 1951 über die Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes, die für landwirtschaftliche Pachtverhältnisse Sondervorschriften enthalten (z. B über die Mindestdauer und Erneuerung der Pacht) und den Kantonen die Möglichkeit einräumen, ein Vorkaufsrecht für Pächter einzuführen. Für einzelne dieser Bestimmungen, insbesondere jene über die Pachtdauer, ist eine Revision in Vorbereitung, die die Stellung des Pächters festigen soll.

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Bundesgesetz vom 2I.Dezember 1960 über die Kontrolle der landwirtschaftlichen Pachtzinse, das eine Festsetzung des Pachtzinses nach dem Ertragswert des Pachtgutes vorschreibt und die Pachtzinse der Bewilligungspflicht unterstellt.

Im übrigen kommen den Pächtern wie den selbständigen Bauern die allgemeinen staatlichen Massnahmen zur Förderung der Landwirtschaft zugute, insbesondere was die Ausbildung und Beratung sowie die Gewährung von Beiträgen und Darlehen betrifft.

Als Schlussfolgerung darf festgestellt werden, dass die Ziele der Empfehlung Nr. 132 im Rahmen unserer Landwirtschaftspolitik bereits berücksichtigt sind. Verschiedene Bestimmungen gehen zwar etwas weiter als die schweizerische Regelung, doch sind die wesentlichen Anliegen der Empfehlung in unserem Land verwirklicht.

3. Die Schweiz und die Internationale Arbeitsorganisation

1. Die Schweiz hat in der Bewegung, aus der die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) entstand, eine entscheidende Rolle gespielt. Die Industrialisierung und die Expansion der internationalen Wirtschaftsbeziehungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts führten bei uns früh zur Erkenntnis, dass die Schaffung gerechter Konkurrenzbedingungen zwischen den Industriestaaten die internationale Zusammenarbeit in der Sozialpolitik erfordert. Schon 1876, anlässlich der Beratungen über das erste Fabrikgesetz, empfahl Oberst Frey, damaliger Nationalratspräsident, dass die Schweiz den Abschluss von internationalen Übereinkünften fordern solle, um in den Industriestaaten zu möglichst einheitlichen Arbeitsbedingungen zu gelangen. 1880 fasste er seine Gedanken in einer Motion zusammen, welche 1881 angenommen wurde. Der Bundesrat veranstaltete im gleichen Jahr eine entsprechende Umfrage bei den meisten europäischen Staaten. Sie führte vorerst zu keinem Erfolg. 1889 wurden die Sondierungen wieder aufgenommen. Sie verliefen vielversprechend, bis Kaiser Wilhelm II. 1890 der Schweiz mit der Einberufung einer Konferenz nach Berlin zuvorkam. Zu praktischen Ergebnissen führte diese Konferenz nicht.

1896 ergriff der Buiidesrat wiederum die Initiative und wandte sich insbesondere an die europäischen Staaten mit der Anregung, ein internationales Amt zum Schütze der Arbeiter zu schaffen. Die konsultierten Staaten nahmen diesen Vorschlag nicht an. Doch die Idee lebte weiter. Sie wurde 1897 von zwei

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internationalen Kongressen für den Arbeiterschutz aufgegriffen, von denen der eine in Brüssel und der andere auf Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes in Zürich tagte. 1900 beschloss ein in Paris versammelter Kongress, eine «Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz» zu schaffen und ein internationales Arbeitsamt zu gründen. Diese Organisation privaten Charakters, die sich 1901 in Basel niederliess, kann als Vorläufer des Internationalen Arbeitsamtes betrachtet werden.

1904 lud der Bundesrat neuerdings zu einer internationalen Konferenz für den Arbeiterschutz ein. Der Weg war dieses Mal besser geebnet, so dass der Vorstoss gut aufgenommen wurde. Die Konferenz fand 1906 in Bern statt. Sie verabschiedete zwei internationale Übereinkommen, das eine über das Verbot des weissen Phosphors bei der Herstellung von Zündhölzern und das andere über das Verbot der gewerblichen Nachtarbeit der Frauen. In seiner Botschaft vom 5. November 1907 erklärte der Bundesrat: «Mit der Unterzeichnung der beiden Übereinkommen haben die Staaten bewiesen, dass die internationale Regelung von Fragen des Arbeiterschutzes möglich ist... Es ist ein grosses Verdienst der beteiligten Staaten, zu Anfang des neuen Jahrhunderts ihre Solidarität in sozialer Richtung bezeugt zu haben; an den Bestrebungen, das Los der Arbeiter durch internationale Verträge zu verbessern, darf unser Land einen ehrenvollen Anteil beanspruchen.» Von 1906 bis 1914 wurden kaum Fortschritte erzielt. Nach den Umwälzungen des ersten Weltkrieges mit seinen einschneidenden Folgen in Politik und Wirtschaft kam es dann schliesslich zur Gründung der IAO, um, wie es hiess, den Arbeitnehmern angemessene und menschliche Arbeitsbedingungen zu sichern.

Teil XIII des Versailler Vertrages bildete die erste Rechtsgrundlage der neuen Organisation; erst 1934 wurden diese Bestimmungen vom Versailler Vertrag gelöst und in den offiziellen Texten als «Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation» bezeichnet.

Innerhalb des Völkerbundes nahm die IAO von Anfang an eine unabhängige Stellung ein. Sie hat es verstanden, sich durch ihre Arbeit in den Zwischen kriegsjahren derart zu festigen, dass sie den Untergang des Völkerbundes und die Wirren des zweiten Weltkrieges überlebte. Der UNO schloss sie sich als erste Sonderorganisation an, 2. Die IAO,
die - wie schon erwähnt - heute 118 Mitgliedstaaten umfasst, hat drei Organe: die Internationale Arbeitskonferenz, den Verwaltungsrat und das Internationale Arbeitsamt.

Die Konferenz ist das oberste Organ. Sie vereinigt grundsätzlich einmal im Jahr die Delegationen der Mitgliedstaaten, von denen jede aus zwei Delegierten der Regierung, einem Delegierten der Arbeitgeber und einem der Arbeitnehmer besteht, die von technischen Beratern begleitet werden können. Die Delegierten aller drei Gruppen haben dieselben Rechte und Pflichten. Diese in der Verfassung festgelegte Dreigliedrigkeit, die sich auch in der Zusammensetzung des Verwaltungsrates widerspiegelt, unterscheidet die IAO von den ändern zwischenstaatlichen Organisationen.

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Der Verwaltungsrat ist das Exekutivorgan der IAO. Er übt die Oberaufsicht über die Verwaltungstätigkeit aus, bereitet die Konferenzen vor und gibt dem IAA Anweisungen. Der Verwaltungsrat zählt 48 Mitglieder, von denen 24 die Regierungen, 12 die Arbeitgeber und 12 die Arbeitnehmer vertreten. Dazu kommen 36 Ersatzmitglieder, d.h. 12 je Gruppe. Die drei Gruppen der Konferenz (Regierungsdelegierte, Delegierte der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer) wählen ihre Vertreter alle drei Jahre.

10 der Regierungssitze sind in der Verfassung der IAO «den 10 Staaten, denen wirtschaftlich die grösste Bedeutung zukommt », vorbehalten. Die übrigen 14 Regierungssitze werden durch Wahl besetzt. An der ersten Internationalen Arbeitskonferenz wurde der Schweiz einer der «ständigen» Sitze reserviert. Dieser Sitz ist ihr wohl in Anbetracht der guten Dienste eingeräumt worden, die sie auf dem Gebiete des internationalen Arbeiterschutzes geleistet hat. Die Schweiz behielt ihren Sitz im Verwaltungsrat bis 1922. Von 1951 bis 1960 war sie als Esatzmitglied vertreten. Heute gelten die Bundesrepublik Deutschland, Kanada, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Indien, Italien, Japan, das Vereinigte Königreich und die UdSSR als «Staaten mit der grössten industriellen Bedeutung», was ihnen einen «ständigen» Sitz unter den Regierungsvertretern im Verwaltungsrat einträgt.

Vertreter der schweizerischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurden von ihren Gruppen wiederholt in den Verwaltungsrat gewählt. Zur Zeit ist Herr Mori, Delegierter des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Mitglied des Verwaltungsrates, zugleich Präsident der Gruppe der Arbeitnehmer sowie einer der zwei Vizepräsidenten des Rates.

Das dritte Organ ist das Internationale Arbeitsamt (IAA), das in Genf die vielfältigen administrativen Aufgaben der IAO erfüllt.

3. Die Zielsetzung der IAO ist in der Präambel zu ihrer Verfassung und der Erklärung von Philadelphia von 1944 umschrieben : das Stichwort lautet « soziale Gerechtigkeit»!

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die IAO ihre Anstrengungen vorerst auf die Aufstellung von internationalen Normen für den Schutz der Arbeiter gerichtet.

In letzter Zeit ist sie aber dazu übergegangen, sich auch ändern Pro blemen wie der technischen Hilfe für Entwicklungsländer, dem nationalen und internationalen Ausgleich der Arbeitskräfte
und der Förderung der Produktivität zu widmen.

Diese Entwicklung hat eine gewisse Dezentralisation zur Folge, indem die IAO begonnen hat, Konferenzen regionalen Charakters zu organisieren und in verschiedenen Ländern Zweigstellen des IAA zu schaffen.

Der Grund für die Ausweitung des Tätigkeitsgebietes liegt vor allem darin, dass die von der IAO aufgestellten Normen für viele junge Nationen als fernes Ziel erscheinen, das nur zu erreichen ist, wenn durch internationale Zusammenarbeit ihre Sozialstruktur geändert und ihre Produktion vergrössert werden kann.

Die tech nische Zusammenarbeit nimmt deshalb unter den neuen Tätigkeitsgebieten der IAO den ersten Rang ein. Sie hat sich seit der Inkraftsetzung des erweiterten Hilfsprogrammes der Vereinten Nationen im Jahre 1950 besonders stark

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entwickelt. In ihrem Rahmen hat die IAO zahlreiche Expertenaufträge übernommen. Diese sind vor allem auf die Schulung von einheimischem Lehrpersonal ausgerichtet, da der beruflichen Ausbildung entscheidende Bedeutung beigemessen wird. Mehr als die Hälfte der für die technische Zusammenarbeit reservierten Kredite sind dafür bestimmt. Hier sei auch auf das 1960 geschaffene Internationale Institut für Arbeitsfragen in Genf sowie das 1965 in Turin ins Leben gerufene Internationale Zentrum für berufliche und fachliche Fortbildung hingewiesen, deren Gründung auf unermüdliche Anstrengungen der IAO zurückgeht.

Aus Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens und gleichzeitig als Beitrag zum zweiten Jahrzehnt der Entwicklung (1970/1980) arbeitet die IAO ein weltweites Arbeitsbeschaffungsprogramm aus. Dieses wird sich vor allem auf die Entwicklungsländer beziehen, in denen die Kluft zwischen den verfügbaren Arbeitsplätzen und der schnell wachsenden Zahl von Arbeitern immer grösser wird.

4. Für unser Land bleibt die rechtsetzende Tätigkeit der IAO der wichtigste Teil ihrer Aufgaben. Das oberste Organ, die Arbeitskonferenz, arbeitet internationale Regelungen in Form von Übereinkommen und Empfehlungen aus. Der Staat, der ein Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, ihm auf seinem Territorium Geltung zu verschaffen. Die Empfehlungen und die nicht ratifizierten Übereinkommenhaben dagegen keinen verpflichtenden Charakter. Die Mitgliedstaaten sind nur gehalten zu prüfen, wie weit sie sie anwenden wollen.

Die Verfassung der IAO enthält die eigentümliche Verpflichtung, die Übereinkommen und Empfehlungen, auch wenn ihre Ratifikation oder Anwendung nicht in Erwägung gezogen wird, der zuständigen nationalen gesetzgebenden Behörde innert Jahresfrist vorzulegen. Wir erfüllen diese Pflicht, indem wir Ihnen jedes Jahr einen Bericht über die letzte Tagung der Konferenz unterbreiten und ihm den Text der Übereinkommen und Empfehlungen beilegen, die in ihrem Verlaufangenommen worden sind.

Seit der Gründung der IAO hat die Arbeitskonferenz 128 Übereinkommen und 132 Empfehlungen verabschiedet. Ohne die Bedeutung der Empfehlungen herabsetzen zu wollen, scheint es uns gegeben, hier vor allem die Haltung der Schweiz gegenüber den Übereinkommen darzulegen.

Von den erwähnten 128 Übereinkommen hat die Schweiz, wie aus dem Anhang
II ersichtlich ist, 31 ratifiziert. Diese Zahl mag auf den ersten Blick niedrig erscheinen. Indessen ist in Betracht zu ziehen, dass viele Übereinkommen, insbesondere solche für Länder mit abhängigen Gebieten, für die Schweiz belanglos sind, weshalb darauf verzichtet wurde, sie zu ratifizieren, mit Ausnahme der seltenen Fälle, wo ein Beitritt aus Solidaritätsgründen angezeigt war. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die Zahl der von unserem Land vorgenommenen Ratifikationen bemerkenswert. Nahezu zwei Drittel der Mitgliedstaaten - einschliesslich der Hälfte der grossen Industriestaaten mit « ständigem » Sitz im Verwaltungsrat - haben weniger Übereinkommen ratifiziert als die Schweiz.

Für die Genehmigung eines Übereinkommens der IAO ist in der Schweiz die Bundesversammlung zuständig, und zwar auch dann, wenn das Übereinkommen Fragen regelt, die in die kantonale Zuständigkeit fallen. Die Abkommen unterliegen gemäss konstanter Praxis zu Artikel 89 Absatz 4 der Bundesverfassung dem

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Referendum nicht, weil sie nach zehn Jahren kündbar sind. Daraus darf indessen nicht geschlossen werden, dass die Bundesversammlung, rechtlich gesehen, jedes beliebige internationale Arbeitsübereinkommen genehmigen könnte, in der Meinung, dass nach der Ratifikation der Inhalt des internationalen Übereinkommens automatisch Landesrecht wird und infolgedessen die Anwendbarkeit gesichert ist. Es müssen zwei Fälle unterschieden werden : Entweder stellt das Übereinkommen Regeln auf, diepräzis genug sind, um unmittelbar an gewendet werden zukönnen, oder es enthält nur allgemeine Grundsätze, welche für die Vertragsstaaten nicht anwendbar sind, wenn die zur Erfüllung der internationalen Verpflichtungen nötigen nationalen Ausführungsbestimmungen fehlen. Im ersten Fall wird das Übereinkommen mit der Genehmigung durch die Bundesversammlung und nach erfolgter Ratifikation durch den Bundesrat als Landesrecht direkt anwendbar. Im zweiten Fall, d. h. bei Übereinkommen, die nicht ohne zusätzliche nationale Ausführungsvorschriften angewendet werden können, muss neben dem Genehmigungsverfahren das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Platz greifen. Da sein Ausgang ungewiss ist, wäre es nicht zu verantworten, das entsprechende internationale Übereinkommen zum voraus zu ratifizieren ; die Schweiz liefe sonst Gefahr, eingegangene internationale Verpflichtungen nicht erfüllen zu können.

Bis jetzt sind wir bei der Beurteilung der Frage, ob Übereinkommen der IAO ratifiziert werden sollen, zurückhaltender gewesen, als es die vorstehend umschriebene Rechtslage erfordert hätte. Wir haben Ihnen jeweils - sowohl für die unmittel bar anwendbaren, als auch für die nicht unmittelbar anwendbaren Übereinkommen - die Genehmigung nur dann vorgeschlagen, wenn es bereits auf Grund der geltenden schweizerischen Gesetzgebung möglich war, den internationalen Verpflichtungen, die sich aus der Ratifikation ergaben, zu entsprechen.

In Zukunft beabsichtigen wir, etwas weiter zu gehen. Wenn ein unmittelbar anwendbares Übereinkommen mit der geltenden schweizerischen Gesetzgebung im grossen ganzen übereinstimmt, soll es zur Genehmigung unterbreitet werden in der Meinung, dass die Lücken in der schweizerischen Gesetzgebung automatisch durch die Bestimmungen des Übereinkommens, die nach der Ratifikation als Bundesrecht gelten, geschlossen werden. Im
gleichen Sinn wollen wir bei nicht unmittelbar anwendbaren Übereinkommen, die etwas über das geltende schweizerische Recht hinausgehen, danach trachten, die Lücken in den nationalen Bestimmungen möglichst rasch zu schliessen, jedenfalls soweit es sich um Fragen handelt, für deren Regelung der Bund zuständig ist.

Wenn wir diese Änderung ins Auge fassen, sind wir uns bewusst, dass es nicht darum gehen kann, Unterschiede von grosser Bedeutung zwischen dem internationalen und dem nationalen Recht durch die Genehmigung und Ratifikation von Übereinkommen der IAO zu beseitigen. Es handelt sich hier um eine Frage des Masses. Auf jeden Fall wollen wir in Zukunft auch jene unmittelbar anwendbaren Übereinkommen zur Genehmigung unterbreiten, bei denen eine sorgfältige Prüfung ergibt, dass sie nur in weniger wichtigen Punkten von unserer Rechtslage abweichen. Das letzte Wort darüber, ob solchen Abweichungen wesentliche Bedeutung zukommt, wird das Parlament haben, so dass die in Aussicht genommene Änderung unbedenklich ist. Auch die bereits abgeschlossenen,

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von der Schweiz noch nicht ratifizierten Übereinkommen werden wir gestützt auf diese Überlegungen in nächster Zeit prüfen lassen, um Ihnen so bald als möglich entsprechende Anträge unterbreiten zu können. Wir sind der Auffassung, dass ein solches Vorgehen besser unseren Bestrebungen zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit entspricht. Wir knüpfen damit wieder an die Pionierleistung an, die die Schweiz in der Anfangszeit der internationalen Arbeitsschutzbestrebungen vollbracht hat, was im Jahr, in dem die IAO ihr fünfzigjähriges Bestehen feiert, besonders angezeigt ist.

Wir empfehlen Ihnen, von unserem Bericht in zustimmendem Sinne Kenntnis zu nehmen, und bitten Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtungzu genehmigen.

Bern, den 16. April 1969, Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident : L. von Moos Der Bundeskanzler: Huber 0688

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die 52. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz (Vom 16. April 1969)

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