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Bundesblatt

87. Jahrgang.

Bern, den 27. Dezember 1935.

Band II.

Erscheint wöchentlich. Preis 2O Franken im Jahr, IO Franken im Halbjahr, sazügltch Nachnahme- and Posttestellungsgebühr.

EinrücJmngsgelühr : 60 Rappen die Petitzeile oder deren Raum. -- Inserate franko an Stämpfli & de. in Bern.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über sein Vorgehen vor dem Völkerbund in der Angelegenheit der von Schweizerbürgern im Weltkrieg erlittenen Kriegsschäden.

(Vom 20. Dezember 1935.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Die eidgenössischen Kammern haben bei der Behandlung der Motion Duft x ) vom 19. Dezember 1928 auf Grund unserer beiden Berichte a) vom 80. September 1929 und 24. Mai 1982 folgenden Beschluss gefasst, und zwar der Nationalrat am 6. Dezember 1933, der Ständerat am 15. gleichen Monats: «Die Bundesversammlung nimmt Kenntnis von den Berichten des Bundesrates. Sie ladet jedoch den Bundesrat ein, seine bisherigen Bemühungen zur Lösung der Kriegsschädenfrage fortzusetzen und auch die vermittelnde Tätigkeit des Völkerbundes oder den Ständigen Internationalen Gerichtshof anzurufen.» Obwohl der Bundesrat seine Zweifel darüber geäussert hatte, dass es möglich sein werde, zur Eegelung einer Angelegenheit dieser Art beim Völkerbund eine nützliche Hilfe zu finden, hat er sich dem Beschluss des Parlaments gefügt und es sich zur Pflicht gemacht, vor dem Genfer Forum alle Mittel, die unsern vom Schicksal hart geprüften Landsleuten Gerechtigkeit hätten ver*) Diese Motion lautete: «Der Bundesrat wird eingeladen: 1. Die Wiedergutmachung der Schäden zu verlangen, welche Schweizerbürger zufolge des Weltkrieges durch Beschlagnahmung und Zerstörung erlitten haben, soweit dies auf Grund des Volkerrechts und der Staatsverträge geschehen kann; 2. sofern über die Schadenersatzpflicht mit den beteiligten Staaten keine Einigung zustande kommen sollte, diese Kriegsschädenfrage zur schiedsgerichtlichen Austragung zu bringen suchen.» 3 ) Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Postulat des Nationalrats betreffend die Frage der Wiedergutmachung der von Schweizerbürgern im Weltkrieg erlittenen Kriegsschäden, vom 30. September 1929 (Bundesbl. 1929, Bd. III, S. 37 ff.); Ergänzungsbericht vom 24. Mai 1932 (Bundesbl. 1932, Bd. I, S. 845 ff.).

Bundesblatt. 87. Jahrg Bd. II.

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1010 schaffen sollen, zu erschöpfen. Das Politische Departement hat in zahlreichen Unterredungen mit dem Völkerbundssekretariat alle Verfahrensfragen, die sich bei dem Auftreten der Schweiz vor dem Völkerbundsrat stellten, sorgfältig erwogen. Das Komitee der Kriegsgeschädigten ist über diese Schritte regelmässig unterrichtet worden und hat sich in seinen Besprechungen beim Politischen Departement bestandig über die Massnahmen mit uns einverstanden erklärt, die jeweils ergriffen wurden, um das schweizerische Begehren in Genf mit möglichst viel Aussicht auf Erfolg vorzubringen.

Das Vorgehen ist übrigens im Einvernehmen mit dem Komitee der Kriegsgeschädigten festgesetzt worden. Es wurde beiderseits anerkannt, dass ein Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs am ehesten zu einem Ergebnis führen würde. Um dieses Gutachten zu erhalten, bedurfte es jedoch der Zustimmung des Völkerbundsrats, der auf Grund des Artikels 14 des Völkerbundsvertrags ausser der Versammlung allein befugt ist, den Gerichtshof zur Abgabe eines Gutachtens zu veranlassen. Wir mussten somit an den Eat gelangen, um ihn davon zu überzeugen, dass die Streitigkeit am zweckmässigsten dem Gerichtshof unterbreitet werde, woraufhin dann das eigentliche Klagebegehren gegebenenfalls spater Im Haag zu vertreten gewesen wäre.

Es wurde anderseits, wiederum im vollen Einvernehmen mit dem Komitee der Geschädigten, beschlossen, dass der Vorsteher des Politischen Departements selber unser Anliegen vor dem Eat vorbringen, der ehemalige Chef des Rechtsbureaus beim Politischen Departement, Herr Professor Sauser-Hall von der Universität Genf, dagegen die Schriftsätze zur rechtlichen Begründung unseres Vorgehens vorbereiten sollte. Die Beteiligten haben zugegeben, dass sich der dem Vorsteher des Politischen Departements zugedachte Auftrag sehr wohl mit der bisherigen Haltung des Bundesrates vereinbaren liess. In der Tat konnte der Bundesrat, ohne sich im geringsten zu widerrufen, in aller Aufrichtigkeit darlegen, dass auch dem Volkerbund daran gelegen sein müsse, einen Streitfall, der allen seit dein Kriegsende unternommenen diplomatischen Bemühungen getrotzt hatte, in ein Verfahren friedlicher Beilegung überzuführen. Dass in der Sache selbst, d. h. über die Frage, ob die Geschädigten nach dem derzeitigen Stand des Völkerrechts einen
Eechtsanspruch auf die Wiedergutmachung der infolge der Kriegsereignisse erlittenen Verluste haben, die Meinungen geteilt sind, war zwar offenkundig; da sich aber beide einander gegenüberstehenden Auffassungen auf Gründe berufen konnten, die der Prüfung Tvert waren, so handelte es sich für den Völkerbundsrat eben gerade darum, durch ein im Völkerbundsvertrag vorgesehenes Verfahren die über eine Eechtsfrage bestehende Meinungsverschiedenheit zu beseitigen, weil sie, wenn sie andauerte, mit der Zeit die guten Beziehungen zwischen Mitgliedern des Völkerbundes nur störend beeinflussen konnte.

Die Begründung des schweizerischen Begehrens wurde in einer Denkschrift, die wir am 13. Juli 1934 dem Generalsekretär des Völkerbundes zustellten, sowie in einem von Herrn Professor Sauser-Hall ausgearbeiteten «juristischen Exposé» dargelegt.

1011 Die Denkschrift unterschied zunächst die verschiedenen Arten von Schäden, die unsere Landsleute erlitten haben, erinnerte sodann in aller Kürze an die Bemühungen des Bundesrats, die Wiedergutmachung zu erlangen, um schliesslich die Erwägungen zu übernehmen, die man in guten Treuen zugunsten der schweizerischen Ansprüche vorbringen konnte. Sie schloss mit folgenden Worten : «Die kriegsgeschädigten Schweizer haben im Laufe der Feindseligkeiten ausserordentlich schwere Schäden erlitten. Diese Schädigungen sind nicht wiedergutgemacht worden. IQ der Verteidigung ihrer Eechte sind die Geschädigten auf beständig neu auftauchende Schwierigkeiten gestoss'en. Ihre gerechtesten Ansprüche sind mit allen Gründen, die das Rüstzeug der Rechtswissenschaft liefern musste, abgewiesen worden. Als Opfer von Kriegsereignissen sind sie auch noch das Opfer der Unbestimmtheit geworden, die vielen Sätzen des .Völkerrechts anhaftet. Sie können diese doppelte Unbilligkeit nicht hinnehmen. Ist das Recht unbestimmt, so setzen sie ihre ganze Hoffnung darauf, dass die internationalen Instanzen, denen dafür besondere Eignung zukommt und die von anerkannter Sachlichkeit sind, das Recht finden und verkünden werden. Sie verstehen nicht, wie es möglich sein sollte, dass ein so billiges und massvolles Begehren wie das ihrige verworfen würde. Ungeachtet der Rechtstheorien, die vergänglich sind, wissen sie, dass der Rechtsgelehrte, der Staatsmann eine wesentliche, lebendige, ausgesprochen menschliche Sendung zu erfüllen hat: diejenige, die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Sie können nicht glauben, dass ihnen diese Gerechtigkeit versagt wird, ohne dass ihr Anliegen geprüft worden wäre.

Unter der Herrschaft des Völkerbundsvertrags sind die organisatorischen Möglichkeiten vorhanden, ihre Sache zu prüfen. Die vertragschliessenden Teile haben feierlich anerkannt, wie wichtig es ist, dass die internationalen Beziehungen auf die Grundlage der Gerechtigkeit und Ehre gestellt und in voller Öffentlichkeit gepflegt werden, dass die Satzungen des Völkerrechts, die fortan als tatsächliche Richtlinien für die Regierungen anerkannt sein sollen, genau beobachtet werden und dass im Verkehr der Staaten untereinander Gerechtigkeit walte.

In Ausübung ihres Rechtes, ihre Angehörigen zu schützen, und gestützt auf die Bestimmungen des Völkerbundsvertrags
wendet sich die eidgenössische Regierung an den Völkerbundsrat, damit er den Ständigen Internationalen Gerichtshof um die Erstattung eines Gutachtens über die Rechtsfragen, die Gegenstand der vorliegenden Denkschrift sind, ersuche, weil einzig ein solches Gutachten festzustellen ermöglicht, ob die Ansprüche der schweizerischen Kriegsgeschädigten rechtlich begründet sind.» Was das «juristische Expose» anbelangt, so hatte es den nämlichen Charakter wie jede Schrift dieser Art und entsprach vollständig den Anschauungen der Geschädigten. Der Bundesrat hat diese Arbeit, die zweifellos die bestgefügte und vollständigste Beweisführung zugunsten der vor den Völkerbund

1012 gebrachten Sache darstellte, sehr gewürdigt. Herr Professor Sauser-Hall hat die Frage nach allen Seiten hin geprüft und igt nach gründlicher Überlegung und Untersuchung dazu gelangt, ungern Landsleuten einen Angpruch auf eine gerechte Entschädigung ihrer Verluste zuzuerkennen. Sein Exposé schloss mit der Formulierung der Fragen, die dem Haager Gerichtshof zur Begutachtung hätten vorgelegt werden können, was an und für sich schon ein genügender Beweis wäre für die bis ins einzelne gehende Sorgfalt, mit der wir uns vorbereitet hatten, bevor wir an den Völkerbundsrat herantraten.

Das Begehren der Schweiz wurde auf die Tagesordnung der Eatssession vom September 1934 gesetzt. Es richtete sich gegen die vier Länder, wo die von unsern Landgleuten erlittenen Verluste besonders schwer gewesen waren: gegen Deutschland, England, Prankreich und Italien. Belgien glaubten wir nicht ins Eecht fassen zu sollen, weil dieses Land, das das erste unschuldige Opfer des Krieges gewesen war, nicht wohl noch für die Schäden aus dem Angriff, unter dem es gelitten hat, einstehen konnte.

Die schweizerische Delegation bestand aus Herrn Bundesrat Motta, aus Herrn Professor Sauser-Hall als Spezialdelegierten und aus den Herren Nationalrat Dr. Duft, Eechtsanwalt Dr. Zellweger und Legationsrat Gorgé als Experten. Am 25. September hatte Herr Bundesrat Motta das schweizerische Begehren vor dem Eat zu vertreten. Er tat es mit einem Exposé, aus dem wir einige wesentliche Stellen hier wiedergeben: «Werden die Schweizerbürger, welche Kriegsschäden erlitten haben, für die ihnen bis jetzt überhaupt keine oder doch nur eine ungenügende Entschädigung geworden ist, es erleben, dass eine Gerichtsbehörde, die über den Parteien steht, wenigstens ein Eechtsgutachten über die Begründetheit ihrer Forderung abgibt ? . . . Die Schweiz hat beschlossen, vor den Völkerbund zu treten, nachdem die Bundesregierung, auf den gewöhnlichen diplomatischen Wegen zum Ziele zu gelangen, d. h. von den kriegführenden Ländern die Wiedergutmachung zu erreichen, versucht hatte... Sie hat bei den einen wie bei den andern unzählige Schritte unternommen. Heute wäre jeder neue Versuch mit den gewöhnlichen diplomatischen Mitteln vergeblich. Der Bundesrat würde damit nur auf Abweisungen stossen, und neue Schritte könnten sogar als unfreundlich oder zum mindesten
unerwünscht aufgefasst werden. Die Schweiz ist nicht leichten Herzens vor den Völkerbund getreten. Sie war sich dabei bewusst, dass die Ansprüche der kriegsgeschädigten Schweizer nach Billigkeitsrecht vollauf begründet sind... Sie war sich aber gleichzeitig auch bewusst, dass die Gründe, die sie anrufen muss... vielleicht im strengen Eecht eine weniger feste Grundlage finden...» Über das, was Eechtens sei, sind hervorragende Eechtsgelehrte befragt worden, aber das Ergebnis dieser Gutachten war nicht ermutigend. Die schweizerische öffentliche Meinung liess sich jedoch nicht überzeugen. Der Anblick so vieler Kriegsopfer, die ihre Notschreie erhoben, ... die ihre Eegierung jeden Tag zu neuen Schritten aufforderten und die sich zurückgewiesen sahen, haben die öffentliche Meinung

1013 aufgewühlt. Die Bundesversammlung begann sich ihrerseits über einen Zustand aufzuhalten, den sie ungerecht fand, und der Bundesrat sah sich infolge einer parlamentarischen Motion veranlagst, die Sache vor den Völkerbund zu bringen.

Die wesentliche Präge ist dabei: «Wenn die Staaten ihren Angehörigen gegenüber eine Eechtspfh'cht zur Wiedergutmachung der erlittenen Schäden anerkennen, können sie dann die fremden Staatsangehörigen, die mitten unter den Staatsbürgern gelebt haben, die Anteil an der Volkswirtschaft ihres Aufenthaltslandes hatten, von dem Anspruch auf Wiedergutmachung ausschliessen ?

Darf der Fremde anders behandelt werden als der eigene Staatsangehörige ?» Die Frage ist allerdings streitig, aber es ist nicht minder Tatsache, dass hervorragende Bechtsgelehrte aller Länder den Grundsatz der Gleichbehandlung der Landeskinder und der Fremden verkündet haben. Es wäre deshalb Pflicht des Eates, dafür besorgt zu sein, dass ein Streitfall, der rund 50 Millionen Goldfranken zum Gegenstande hat und der die völkerrechtlichen Beziehungen wie auch die Grundlagen der Eechtsordnung berührt, nicht andauert. Der Völkerbundsvertrag selber muss seinem Geiste, seinem Wesen und seiner Zielsetzung nach dem Völkerbund gebieten, sich nicht von einer Streitfrage dieser Tragweite abzuwenden. Deshalb ersucht die schweizerische Eegierung den Bat, vom Ständigen Internationalen Gerichtshof ein Gutachten über die Eechtsfrage einzuholen. Vielleicht wird der Gerichtshof sich nicht mit der Feststellung begnügen, was Eechtens sei, sondern auch die richtunggebenden Grundsätze des künftigen Eechts aufzeigen ; es wäre dies schon ein sehr bedeutendes Ergebnis, wenn es auch der Eidgenossenschaft nicht volle Befriedigung verschaffen würde, weil sie nunmehr die Hilfe des Eats anbegehrt, um die den Geschädigten zugefügten Verluste ersetzt zu erhalten... Entweder ist die Sache, die die Schweiz vertritt, rechtlich begründet: dann dürfen die Kriegsgeschädigten Gehör beanspruchen; dann drängt sich aber auch das Gutachten unabweislich auf, weil aus ihm die notwendigen praktischen Folgerungen sich ergeben müssen.

Oder die Ansprüche der Schweiz mögen zwar an und für sich der Billigkeit entsprechen, finden aber keine hinlängliche Begründung im positiven Eecht; welche Bedenken hegt man dann, die Frage vor den Ständigen Internationalen
Gerichtshof zu bringen?... «Sollte der Gerichtshof in seinem Gutachten erklären, dass der Anspruch im positiven Eecht der Begründung entbehrt, so würden sich die Eidgenossenschaft und die Geschädigten der Auffassung der Mehrheit im Gerichtshof mit aller Achtung, die ihm gebührt, fugen.» Die Vertreter der drei Länder, die unser Begehren anging -- Deutschland war aus bekannten Gründen im Eate nicht vertreten --, ergriffen nun das Wort, um unsere Begründung zurückzuweisen. Der britische Delegierte Eden brachte vor, dass im vorliegenden Falle der Artikel 13 des Völkerbundsvertrags allein anwendbar wäre. Diese Bestimmung habe aber nicht zwingenden Charakter, d. h. sie begründe keine Eechtspflicht, einen bestimmten Streitfall einem gerichtlichen oder schiedsgerichtlichen Verfahren zu unterwerfen. Dem schweizerischen Begehren Folge leisten, bedeute nichts anderes als den fakultativen

1014 Charakter dea Artikels 13 durch die Anwendung des Artikels 11, Absatz 2, zu umgehen. Die Eegierung Seiner Majestät sei der Ansicht, dass der Artikel 11, wenn er nach seinem Wortlaut und nach der Praxis des Eats in den Fällen, in denen er angerufen worden ist, ausgelegt werde, nur in ernsten Fällen mit politischem Einschlag, oder in Fällen, wo politische Fragen auf dem Spiele stehen, die den Frieden gefährden könnten, zur Anwendung gelangen sollte, nicht aber auf alte finanzielle Forderungen, die auf Ereignisse zurückgehen, welche zeitlich vor der Schaffung des Völkerbundes liegen und keineswegs den nämlichen Charakter haben. Er würde es als eine verderbliche Neuerung betrachten, wenn der Eat es als seine Pflicht auffassen wollte, auf Ansprüche dieser Art den Artikel 11 anzuwenden; es werde dies fast unvermeidlich zur Belastung der Tagesordnung des Eates mit Geldforderungen, die aus weit zurückliegenden Ereignissen hergeleitet würden, führen. Tatsächlich seien die schweizerischen Ansprüche gegen die Eegierung Seiner Majestät aus den Kriegsereignissen an und für sich weder der Zahl noch der Summe nach bedeutend. Gleichwohl erachte es die Eegierung Seiner Majestät als ihre bestimmte Pflicht, sich dem Antrage, der in der schweizerischen Denkschrift enthalten sei, mit Entschiedenheit zu widersetzen; denn sie lege grösstes Gewicht auf die grundsätzliche Frage, die mit der Anrufung des Artikels 11 in Angelegenheiten der vorliegenden Art verbunden sei. Die Eegierung Seiner Majestät spreche sich somit dahin aus, dass der Eat aus den eben dargelegten Gründen dem schweizerischen Begehren keine Folge geben sollte. Zu der materiellen Frage der Wiedergutmachungspflicht brachte Herr Eden die ausdrücklichsten Vorbehalte an. Er bestritt in aller Form, dass es einen völkerrechtlichen Satz gebe, wie ihn die schweizerische Eegierung behaupte.

Als Vertreter Frankreichs erhob sich der verstorbene Minister Barthou ebenfalls mit Nachdruck gegen den Anspruch der schweizerischen Geschädigten.

Der schweizerischen öffentlichen Meinung hielt er die französische öffentliche Meinung entgegen, die nicht verstehen würde, dass Frankreich die Schäden eines Krieges, an dem es keine Schuld habe, wiedergutzumachen hätte. «Kann man dem Lande, in das der Feind eingebrochen ist, das er besetzt und verwüstet hat, das anderthalb
Millionen seiner Söhne verloren hat, dessen Verluste sich auf eine unbenennbare Zahl von Milliarden belaufen, kann man ihm wirklich einen unbestimmten, auf keinen geschriebenen Eechtssatz begründeten Schadenersatzanspruch entgegenhalten?» Der Aussenminister Frankreichs ging sogar so weit, der Schweiz das Eecht zu bestreiten, den Fall vor den Völkerbund zu bringen, weil man im schweizerisch-französischen Schiedsvertrag von 1925 die vor dem Abschluss dieses Vertrags liegenden Streitigkeiten ausdrücklich von dessen Anwendung ausgenommen hat.

Was den Vertreter Italiens anbelangt, so verneinte er seinerseits die Zuständigkeit des Eates, weil die Angelegenheit nicht geeignet sei, im Sinne des Artikels 11 des Völkerbundsvertrags die internationalen Beziehungen zu beeinträchtigen. Er brachte ausserdem vor, der Bundesrat habe seinerzeit der italienischen Eegierung den Abschluss einer besondern Vereinbarung auf der

1015 Grundlage einer Kompensation vorgeschlagen und es bestehe demnach zwischen beiden Landern keine Streitigkeit mehr über eine Bechtsfrage, sondern bloss noch ein Abkommensentwurf, den anzunehmen oder abzulehnen jeder Partei völlig freistehe. Er schloss mit dem Ersuchen an den Eat, die schweizerische Eegierung mit ihrem Begehren abzuweisen.

Dagegen legte der spanische Delegierte eine Lanze für die Sache der Kriegsgeschädigten ein. Er bejahte die 'Kompetenz des Eates gestützt auf den Artikel 11, Absatz 2, des Völkerbundsvertrags und beantragte, die Frage «aus der ausschliesslich politischen Atmosphäre des Eates auszuscheiden, um sie in die richterliche Atmosphäre nach Dem Haag zu versetzen»; auf diese Weise werde man von den Bichtern erfahren können, ob der Eechtssatz der Wiedergutmachungspflicht bestehe, und, wenn dies nicht der Fall sein sollte, sich die Erfahrung der Eichter zunutze machen können, indem diese einen solchen Eechtssatz aufstellen könnten.

Nachdem sich auch noch der australische Delegierte für die Unzuständigkeit des Eats ausgesprochen hatte, replizierte Herr Bundesrat Motta. Er griff nochmals auf den Widerspruch zurück, auf den er schon vorher hingewiesen hatte. Besteht jenes Eecht, das die Schweiz anruft? Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Besteht es, so muss man es definieren und anwenden. Besteht es nicht, so muss auch, nachdem nun einmal Zweifel darüber herrschen, gesagt werden, dass es nicht besteht. Der Vorsteher des Politischen Departements wies sodann den Einwand zurück, den Herr Barthou aus dem schweizerischfranzösischen Schiedsvertre.g von 1925 abgeleitet hatte. Eichtig sei, dass dieser Vertrag auf die Streitigkeit über die Kriegsschäden nicht anwendbar ist, aber das schliesse keineswegs aus, dass die Eidgenossenschaft nicht gleichwohl die vermittelnde Tätigkeit des Eats anrufen könne; denn es bestehe ein grundlegender Unterschied zwischen einem Schiedsverfahren und einem Bechtsgutachten des Gerichtshofs: der Schiedsspruch sei verbindlich, das Gutachten beschränke sich auf eine Empfehlung. Dem italienischen Delegierten, endlich, antwortete Herr Bundesrat Motta, indem er bemerkte, dass die Haltung Italiens auch eine andere hätte sein können, denn es hange von der Eidgenossenschaft ab, ob sie dieses Land gestützt auf unsern Vergleichs- und Gerichtsvertrag vom 20. September
1924 vor den Haager Gerichtshof laden wolle. Die Eidgenossenschaft habe es nicht getan, weil es ihr widerstrebe, für eine Frage, die über den Eahmen der schweizerisch-italienischen Beziehungen hinausreicht, Italien allein vor die Gerichtsschranken zu rufen.

Nach einer neuen Erwiderung des Herrn Barthou erklärte sich der Eat mit Zustimmung der Parteien damit einverstanden, das Geschäft an einen Berichterstatter zu weisen, der -- wie der französische Delegierte feststellte -- den Auftrag erhielt, dem Eat «unparteiisch darzulegen, ob es angezeigt sei, vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu gehen». Die Auffassung des Berichterstatters sollte übrigens nach Herrn Barthou zu nichts verpflichten; der Eat könne die Frage in voller Freiheit in allen ihren Beziehungen wieder aufnehmen.

1016 Herr Cantilo, argentinischer Botschafter in Eom, wurde zum Berichterstatter bestimmt.

Das Geschäft kam zum zweitenmal am 17. Januar vor den Bat. Der Bericht, der erstattet wurde, hätte in seiner rechtlichen Begründung allen Parteien zu ernstlichen Einwendungen Anlass geben können. Nach ihm wäre der Haager Gerichtshof nicht befugt gewesen, das Gewohnheitsrecht anzuwenden.

Wenn sich der Berichterstatter einerseits deutlich gegen unser Begehren um Einholung eines Gutachtens aussprach, so hielt er doch anderseits dafür, dass der Eat im vorliegenden Palle sehr wohl im Bahmen des Artikels 11, Absatz 2, des Völkerbundsvertrags eine vermittelnde Tätigkeit hätte ausüben können.

Auf die Einrede derjenigen Batsmitglieder, welche die Anwendung des Artikels 11, Absatz 2, mit der Begründung ablehnten, dass zwischen der Schweiz und den ins Becht gefassten Staaten ausgezeichnete Beziehungen beständen, erwiderte Herr Cantilo: «Es scheint mir in der Tat keinem Zweifel zu unterliegen, dass keine völkerrechtliche Streitigkeit, die die Schweiz betrifft, eine Kriegsdrohung in sich schliessen könnte. Kann man aber vernünftigerweise annehmen, es entspreche dem Geiste des Völkerbundsvertrags und den in seiner Präambel enthaltenen allgemeinen Grundsätzen, dass ein Staat im Falle der Schweiz, der sich gewissermassen dem Frieden verschrieben hat, aus diesem Grunde nicht an den Bat gelangen könne und so weniger günstig gestellt sei als die andern Staaten, was die Tätigkeit des Völkerbundes auf dem Gebiete der Vermittlung und der Gerichtsbarkeit anbelangt, die für den Völkerbund gerade wesentlich ist?» Der Vorsteher des Politischen Departements erklärte, sich den Schlussfolgerungen des Berichts nicht anschliessen zu können, wenngleich uns der Berichterstatter bezüglich der Kompetenz des Bates volle Befriedigung verschafft habe. Da indessen auch über diesen Punkt tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten fortbestanden, glaubte Herr Bundesrat Motta das Problem noch deutlicher stellen zu sollen. Während wir bei unserm ersten Auftreten vor dem Bat von der Anrufung eines bestimmten Artikels des Völkerbundsvertrags abgesehen hatten, um dem Bat die Aufgabe zu erleichtern, schien es uns diesmal notwendig, in dieser Beziehung keine I ngewissheit fortbestehen zu lassen. Wir betonten, dass wir uns in unserm Vorgehen auf den Artikel
11, Absatz 2, des Völkerbundsvertrags stützten. Es handelte sich somit darum, ob die fragliche Streitigkeit im Sinne dieses Artikels ein Umstand sei, «der geeignet ist. die internationalen Beziehungen zu beeinflussen und in der Folge den Frieden oder das gute Einvernehmen unter den Nationen, von dem der Frieden abhängt, zu stören droht». Herr Bundesrat Motta erklärte, dass es schwer sein würde, den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen. Er führte hierüber aus: «Ist die Angelegenheit der von der Schweiz erlittenen Kriegsschäden wichtig? Sie ist es nach den Grundsätzen, die sie zur Erörterung stellt, nach der Zahl der betroffenen Familien -- viele Hunderte--, nach den auf dem Spiele stehenden Summen -- ein Vielfach von zehn Millionen. Aber noch mehr : die Frage ist ernst ; sie ist folgenschwer ; sie geht die ganze Völkerrechts-

1017 gemeinschaft an, die Kriegführenden so gut wie die Neutralen, solange die Kriegsgeissel nicht von der Erde vertilgt ist. Zudem beeinträchtigt sie die zwischenstaatlichen Beziehungen, denn sie bleibt auf diese nicht ohne Einfluss, und dadurch ist sie geeignet, das gute Einvernehmen unter befreundeten Nationen zu trüben.» Unser Vertreter führte im übrigen aus, dass die Zuständigkeit des Völkerbundes nicht unbedingt erst begründet sei, wenn der Streit schon eine bedrohliche Wendung genommen habe. In einer andern Angelegenheit *) hat der Bat im Jahre 1924 anerkannt, dass der Artikel 11, Absatz 2, «nicht notwendigerweise einen Konflikt zwischen zwei Staaten voraussetzt, wohl aber eine Lage, aus der später ein Konflikt seinen Ursprung nehmen kann». Zur Unterstützung unseres Begehrens zitierte Herr Bundesrat Motta auch noch die 1927 durchgeführte Untersuchung über die Auslegung des Artikels 11, ebenso wie einen dem Bat von den Vertretern Spaniens, Italiens und Norwegens vorgelegten Bericht über die britisch-finnländische Streitigkeit wegen der während des Krieges requirierten Schiffe. In jenem Bericht stand zu lesen: «Im vorliegenden Falle sind die Streitparteien durch keine von ihnen eingegangene Verpflichtungen zu einer gerichtlichen oder schiedsgerichtlichen Beilegung verhalten.

Nichts hindert jedoch den Bat, eine vermittelnde Tätigkeit auszuüben. Der Ausschuss ist demnach der Ansicht, dass der Bat auf Grund des Artikels 11, Absatz 2, zuständig sei.» Wenn der Bat aber zuständig ist, wenn er es nicht ablehnen kann, sich mit der Streitigkeit zu befassen, fuhr Herr Bundesrat Motta fort, wäre es dann nicht völlig angezeigt, dass er als politisches Organ den Gerichtshof um ein Gutachten über eine Frage so wesentlich rechtlicher Natur ersuchen würde? Wie soll er aber Beschluss fassen, dieses Gutachten einzuholen, einstimmig oder mit blossem Stimmenmehr ? Die Frage ist äusserst kontrovers, und dies seit Jahren; man hat allen Anlass anzunehmen, dass der Bat gegenwärtig nicht anders als mit Einstimmigkeit beschliessen will. Der Bat kann tun, was er will, aber etwas kann er nicht: Ist er zuständig, so kann er es nicht ablehnen, auf die Sache einzutreten. Es ist notwendig, dass er sich bemüht, die Streitigkeit beizulegen.

In Ermangelung eines Gutachtens, das der Bat wohl kaum ohne Zustimmung aller beteiligten
Parteien vom Gerichtshof einverlangen wolle, könne er an andere Methoden der Beilegung denken. Drei solche Methoden seien im besondern in Betracht zu ziehen : die Wiederaufnahme der unmittelbaren Verhandlungen, die Zurückweisung des Geschäftes an einen vom Bat eingesetzten Ausschuss von unvoreingenommenen Bechtskundigen und die Bildung einer Vergleichskommission. Der Bat habe also die Wahl. Eines aber, wiederholte Herr Bundesrat Motta, erscheine nach seiner Meinung nicht angängig : dass der Bat sich sogar weigere, seine Vergleichs- und Vermittlungsaufgabe zu erfüllen.

Die drei mitbeteiligten Begierungen nahmen die gleiche negative Haltung ein wie im September. Der französische Delegierte Basdevant erwies sich als *) Frage der in Griechenland niedergelassenen Muselmanen albanischen Ursprungs.

1018 unnachgiebig. Nach seiner Meinung war der Rat nicht zuständig; denn es lag keine Bedrohung zwischenstaatlicher Beziehungen vor. Er verwarf gleicher massen jeden Gedanken an die Einholung eines Gutachtens des Gerichtshofs, an die Einsetzung eines Juristenkomitees oder an die Durchführung eines Vergleichsverfahrens. Ebensowenig wollte er den Gedanken an neue Verhandlungen aufkommen lassen, und er sagte es unumwunden : «Es bedarf nicht des Nachdrucks, um dem Eat vor Augen zu füllten, dass keine französische Eegierung zur gegenwärtigen Stunde diese Last der Kriegsschäden auf sich nehmen könnte. Frankreich könnte es noch viel weniger jetzt als in der Vergangenheit.

Die französische Regierung versteht zwar die Besorgnis der Bundesregierung wegen des Schicksals der schweizerischen Kriegsgeschädigten vollauf, und sie wäre gerne für diese, wie übrigens für andere, zu günstigeren Lösungen gelangt.

Aber Frankreich, das der Schauplatz von Feindseligkeiten gewesen ist, die ihm aufgezwungen worden sind, Frankreich, das au Gut und Blut gelitten hat ...

kann die Last nicht übernehmen, Schäden wiedergutzumachen, für die gerechterweise die Verantwortung nicht ihm zufällt.» Der britische und der italienische Delegierte äusserten sich nicht minder entschieden. Sie stellten sich beide auf den Standpunkt, dass der Frieden und das gute Einvernehmen unter den Nationen, von dem der Frieden abhängt, keineswegs bedroht seien und dass dem Eat deshalb nichts anderes übrig bleibe, als auf die Sache nicht einzutreten.

Bevor der Eat Beschluss fasste, erachtete er es auf Antrag des dänischen Delegierten Munch für nützlich, auf die Beratung der Angelegenheit der finnländischen Schiffe einzutreten. Dieser Fall hatte, wenigstens was das Verfahren anbelangt, grosse Ähnlichkeit mit dem unsrigen. Die Beratung endigte mit der Einsetzung eines Ausschusses von drei Mitgliedern (Argentinien, Spanien, Tschechoslowakei), der prüfen sollte, ob es für den Bat angezeigt sei, nachdem er gestützt auf den Artikel 11, Absatz 2, ordnungsgemäss mit der Streitigkeit befasst worden sei, unter Berücksichtigung aller in der Erörterung zur Sprache gebrachten Umstände «die Anwendung des Artikels 11, Absatz 2, auf das von der finnländischen Eegierung gestellte Begehren fortzusetzen».

Zu beantworten war somit nicht mehr eine Rechts- oder eine
Zuständigkeitsfrage im engeren Sinn, sondern bloss noch eine solche der Zweckrnässigkeit.

Die Beratung über den schweizerischen Streitfall wurde daraufhin wieder aufgenommen. Herr Bundesrat Motta verlangte von vornherein, dass der Eat uns gegenüber einen entsprechenden Beschluss fasse wie gegenüber Finnland.

Er bedauerte es, dass die Idee des Gutachtens nicht den Sieg davongetragen habe. Immerhin sprach er seine Befriedigung darüber aus, dass der Eat in der finnländischen Angelegenheit -- trotzdem die finnländisch-britischen Beziehungen in keiner Weise getrübt waren -- schliesslich doch seine Zuständigkeit auf Grund des Artikels 11, Absatz 2, bejaht hatte, allerdings unbeschadet der späteren Entscheidung über die Opportunität, den Fall weiter zu verfolgen.

Wenn es auch natürlich sei, dass der Eat, nachdem seine Zuständigkeit einmal

1019 feststelle, selber über die erwähnte Opportunitätsfrage befinde, so sei es doch unerlässlioh, dass er, um ein richtiges Bild über den Streitgegenstand zu gewinnen, die materielle Frage wenigstens einer oberflächlichen Prüfung unterziehe. Diese Prüfung könne dem Ausschuss anvertraut werden, der schon für die finnländische Angelegenheit bestellt sei. Der Rat beschloss schliesslich in diesem Sinn, nicht ohne vorher den Widerstand des französischen Delegierten, der uns lieber auf der Stelle abgewiesen hätte, überwinden zu müssen.

Die Kriegsschädenfrage wurde damit dem für die finnländische Angelegenheit bestellten «Dreierausschuss» überwiesen.

Am 23. Mai wurde die Schweiz nochmals eingeladen, im Eat Platz zu nehmen, diesmal, um über den Bericht des «Dreierausschusses » zu beraten.

Herr Cantilo war Berichterstatter des Ausschusses. Sein Bericht ist so wesentlich, dass wir ihn hier ungekürzt (in Übersetzung) wiedergeben: «Mit Schreiben vom 13. Juli 1934 ist der Schweizerische Bundesrat wegen einer Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und den Eegierungen des Vereinigten Königreichs, Prankreichs, Deutschlands und Italiens über die Wiedergutmachung der im Weltkrieg von Schweizerbürgern erlittenen Schäden an den Völkerbundsrat gelangt. Nach dem Wortlaut einer Denkschrift der Bundesregierung sind diese Schäden in drei Kategorien einzuteilen: unmittelbar durch militärische Operationen verursachte Schäden; im Laufe der militärischen Besetzung rechtmässiger- oder unrechtmässigerweise verursachte Schäden; Schäden aus rechtmässigen oder unrechtmassigen Eequisitionen auf dem eigenen Gebiet des requirierenden Staates.

Laut einer Erklärung, die der Vertreter der Schweiz, Herr Motta, am 21. Januar 1935 vor dem Eat abgegeben hat, handelt es sich hauptsächlich um die Frage, ob ein Staat, welcher die Wiedergutmachung der von seinen Angehörigen erlittenen Kriegsschäden übernimmt, die Pflicht hat, die nämlichen Schäden auch den auf seinem Gebiet niedergelassenen Neutralen zu ersetzen. Es ist dargelegt worden, dass der Bundesrat durch einen in der Überzeugung der rechtlichen Begründetheit der Ansprüche der Geschädigten und angesichts des tiefen Mitgefühls des Schweizervolkes für diese letztern vom Nationalrat und vom Ständerat einstimmig gefassten Beschluss veranlasst worden ist, den Völkerbundsrat mit der Sache
zu befassen.

Der Völkerbundsrat hat sich in seinen Tagungen vom September 1934 und Januar 1935 mit der Angelegenheit beschäftigt.

Der schweizerische Vertreter hat zuallererst beantragt, der Ständige Internationale Gerichtshof möge zur Abgabe eines Gutachtens über die zur Erörterung gestellten Eechtsfragen angegangen werden. Als der Eat sich diesem Antrag nicht anzuschliessen vermochte, regte Herr Motta an, ein beratendes Juristenkomitee zu bestellen oder die Angelegenheit einer Vergleichskommission zu überweisen oder wahlweise die Parteien durch

1020 den Eat auffordern zu lassen, die diplomatischen Verhandlungen wieder aufzunehmen.

Die Vertreter des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Italiens Hessen es sich angelegen sein, die Ansprüche der Geschädigten als unbegründet zu bestreiten, und beantragten aus verschiedenen Erwägungen, dass der Eat nicht eintreten solle.

Dieser Fall ist dem Ausschuss ,, unter den gleichen Bedingungen wie die finnländische Angelegenheit" überwiesen worden. Der Ausschuss hat somit folgende Frage zu beantworten: ,,Soll der Eat unter Berücksichtigung aller in der Erörterung zur Sprache gebrachten Umstände die Anwendung des Artikels 11, Absatz 2, auf das von der Eegierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft gestellte Begehren fortsetzen? a Der Ausschuss stellt fest, dass die aus dem Artikel 11, Absatz 2, des Völkerbundsvertrags abgeleitete Zuständigkeit des Eates nicht bestritten ist. Er ist weiter der Auffassung, dass, nachdem der Bundesrat es für angebracht erachtet hat, auf Verlangen des Parlaments die Aufmerksamkeit des Völkerbundsrats auf die Angelegenheit hinzulenken, die Anwendung des Artikels 11, Absatz 2, nicht von vornherein aus dem Grund ausgeschlossen werden sollte, weil nach der Meinung der Parteien selbst der Frieden und das gute Einvernehmen unter ihnen keineswegs bedroht sind.

Dieser letztere Umstand setzt immerhin der Aktion des Eates Schranken.

In xinbetracht dessen, dass die Artikel 12 und 13 des Völkerbundsvertrags davon abgesehen haben, die schiedsgerichtliche und gerichtliche Erledigung zwingend vorzuschreiben, kann man nicht annehmen, dass es die Absicht des Völkerbundsvertrags gewesen sei, im Artikel 11, Absatz 2, ein Verfahren einzusetzen, das die Mitgliedstaaten zu dem einzigen Zwecke befolgen könnten, die schiedsgerichtliche oder gerichtliche Erledigung von Streitigkeiten zu erlangen, wenn die Gegenpartei nicht verpflichtet ist, sie diesen Methoden der Beilegung zu unterwerfen. Anderseits könnte der Eat weder nach Eecht (vorausgesetzt, dass dies beim gegenwärtigen Stand des Völkerrechts möglich wäre) noch nach Billigkeit über die von der Schweiz vorgebrachte Schwierigkeit befinden, ohne sich die Eolle eines Schiedsrichters anzumassen, was ihm der Artikel 11, Absatz 2, nicht gestattet. In einer Streitigkeit der vorliegenden Art, die keine unmittelbare Bedrohung des Friedens
darstellt und keinen Konflikt politischer Interessen bildet, dem vielmehr bloss ein seiner rechtlichen Begründung nach bestrittener finanzieller Anspruch zugrunde liegt, darf nach dem Dafürhalten des Komitees die Aktion des Eates nicht über die Schranken eines Versuchs zur Herbeiführung eines Vergleichs hinausgehen.

Der Ausschuss hat in den Verhandlungen mit den Parteien die Aussichten einer Vergleichslösung erkundet. Unter Vorbehalt der unmittelbaren Besprechungen, die der Ausschuss bei den Beziehungen, welche

1021 zwischen den Parteien bestehen, immer für möglich hält, ist seines Erachtens die Wahrscheinlichkeit eines Vergleichs nicht derart, dass sie es rechtfertigen würde, die Frage auf der Tagesordnung des Eates beizubehalten.» Herr Bundesrat Motta verhehlte seine grosse Enttäuschung über diesen Bericht nicht. Er könne die Schlussfolgerungen des Berichts nicht annehmen. Der Bat habe die Pflicht gehabt, seine Bemühungen zur Herbeiführung eines Vergleichs bis zu den letzten Möglichkeiten auszuschöpfen.

Er habe das nicht getan, er habe nicht einmal den Parteien empfehlen wollen -- hiefür hat sieh unsere Delegation ausserhalb des Eates vergeblich eingesetzt --, die unmittelbaren Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die schweizerische Delegation bedaure dies ausserordentlich. Bei den schweizerischen Geschädigten werde ein Gefühl der Bitterkeit zurückbleiben. Soweit sie infolge dieser Kriegsschäden in Not geraten seien, sei ihnen die Heimat zwar mit mehrmals zehn Millionen zu Hilfe gekommen; aber die Heimat habe nicht selber die Pflicht zur Wiedergutmachung dieser Schäden auf sich nehmen können, lag doch nach ihrer Ansicht diese Pflicht andern ob. Die Geschädigten würden aber das Gefühl haben, das Opfer einer wenig billigen Behandlung geworden zu sein.

Der Bundesrat sehe sich genötigt, schloss Herr Bundesrat Motta, alle Vorbehalte anzubringen. Er hätte es begrüsst, wenn zunächst der Ausschuss des Eates, dann der Eat selber von der Aufgabe des Völkerbundes eine höhere, schönere und, wenn der Ausdruck erlaubt sei, edlere Auffassung gehabt hätte.

Der Völkerbund habe einen Hauptanteil an der Fortentwicklung des Völkerrechts. Er hätte sich einen Ehrentitel errungen, wenn er versucht hätte, diese Frage, die sich unter befreundeten Staaten stellte, zu lösen. Er habe es nicht gewollt.

Nachdem noch mehrere Delegationen in der Frage der Zuständigkeit, wie sie anscheinend von der Mehrheit aufgefasst worden war, alle Vorbehalte erhoben hatten, ging der Eat zur endgültigen Beschlussfassung über. Er beschloss mit allen Stimmen gegen die der Schweiz, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen.

Die Schweiz war abgewiesen. Wir haben es tief bedauert, aber wir hatten die Haltung des Völkerbundsrats mehr oder weniger vorausgesehen. Auf so grosse Unnachgiebigkeit waren wir allerdings nicht gefasst gewesen. Noch heute ist
es für uns erstaunlich, dass im Eat kein einziges Mitglied zu finden war, um zum mindesten die Parteien einzuladen, einen letzten Verhandlungsversuch zu unternehmen. Eine solche Aufforderung hätte den Eat in seiner Handlungsfreiheit für die Zukunft kaum eingeengt. Sie hätte allerdings auch nicht zu viel verpflichtet. Aber der Eat ist ein politisches Organ, und die Grossmächte üben in ihm einen massgebenden Einfluss aus. Wie hätten wir in Genf je erhalten können, was man uns in Paris und Born seit Jahren mit Beharrlichkeit verweigert hatte ? Aus diesem Grunde hatten wir auf das Vorgehen vor dem Völkerbund nie grosse Hoffnungen gesetzt, und wir hatten auch das Parlament vor jeder Illusion in dieser Beziehung gewarnt.

1022 Wir haben darum nicht minder unsere Sache mit Festigkeit verteidigt, -wobei wir gleichwohl und trotz allem die Hoffnung bewahrt hatten, dass sich im Laufe der Erörterungen schliesslich doch vielleicht noch eine, wenn nicht voll befriedigende, so doch annehmbare Methode des Ausgleichs aufdrängen werde. Die schweizerische Delegation hat denn auch nichts versäumt, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Ihre Bemühungen haben sich nicht auf die offiziellen Sitzungen des Bates beschränkt. Sie hat mit den in Betracht kommenden Delegationen einen regen Meinungsaustausch unterhalten und war dabei immer wieder bestrebt, sie von dem im voraus bezogenen Standpunkt abzubringen.

Alle diese Bemühungen sind fruchtlos geblieben, aber sie sind unternommen worden, und zwar, wir wiederholen es, mit aller Überzeugungskraft, über die wir aus dem Gefühl heraus verfügten, wie erwünscht es gewesen wäre, an das sachliche Urteil einer über den Parteien stehenden Instanz zu appellieren, um eine juristische Kontroverse von dieser Tragweite ein für allemal zu beendigen.

Niemand kann in eigener Sache Eichter sein, und wir bedauern es nochmals, dass man sich in einer Zeit, in der für die Verfahren zur friedlichen Beilegung so grosse Fortschritte verwirklicht, worden sind, allerseits entschieden geweigert hat, die Berechtigung von Ansprüchen, die bis dahin immer nur vom einseitigen Parteistandpunkt aus bestritten worden sind, nachprüfen zu lassen.

Wir bedauern diesen Misserfolg um so tiefer, als uns der Weg zu neuen Verhandlungen nun versperrt ist. Die Eegierungen, gegen die wir unsere Sache führten, haben uns mit der grössten Deutlichkeit erklärt, dass sie keine Möglichkeit mehr sähen, die Diskussion fortzusetzen. Es bliebe zwar noch in unserem Belieben, gegen Italien zu klagen, weil uns der Vertrag vom 20. September 1924 die Mittel gibt, ein Vergleichs- und gegebenenfalls ein Gerichtsverfahren einzuschlagen. Aber wir befürchten, dass uns ein solches Vorgehen neue Enttäuschungen einbrächte. Wir haben einen einstimmigen Rat gegen uns gehabt.

Darf man vernünftigerweise hoffen, je die Mehrheit des Haager Gerichtshofs auf die These unserer Geschädigten zu vereinigen?

Die Sache unserer Landsleute ist vom Billigkeitstandpunkt aus völlig begründet. Wir wiederholen damit nur. was wir schon gesagt haben. Die rechtliche Grundlage ist aber
nicht sicher. Hervorragende Eechtsgelehrte haben es verkündet. Dürfen wir uns nach dem Misserfolg in Genf einem neuen Misserfolg Im Haag aussetzen ? So lebhaft unser Mitgefühl ist für alle Wunden, die der Krieg geschlagen hat, so erscheint es uns doch unmöglich, diesen Fall ins Auge zu fassen. Wir haben für die Nöte unserer unglücklichen Landsleute ebensoviel Verständnis wie irgend jemand; wir haben während Jahren ihre Sache mit Beharrlichkeit verfochten und wissen deshalb nur zu gut, was sie gelitten haben. Unsere Akten sind angefüllt mit Zeugnissen schreiender Ungerechtigkeiten; es fehlt aber darin leider der sichere Beweis für die Wiedergutmachungspflicht nach positivem Völkerrecht. Das Völkerrecht ist unvollkommen. Es weist viele Lücken auf. Aber die Eidgenossenschaft ist dafür nicht verantwortlich. Sie muss diesen Eechtszustand bedauern, aber Eecht und Billigkeit sind eben zweierlei, und wenn diejenigen, an die wir uns gewandt

1023 haben, um die notwendige Wiedergutmachung zu erhalten, allen Billigkeitserwägungen verschlossen bleiben -- gezwungenermassen, wie man annehmen muss --, so könnte kein Bichter sie verhalten, etwas zu tun, wozu sie nach strengem Eecht nicht verpflichtet sind.

Es bleibt uns unter diesen Umstanden nichts übrig, als ein besonders betrübliches Blatt in der Geschichte der Nachkriegszeit zu wenden. Es ist uns schmerzlich, dies tun zu müssen, aber wir tun es doch auch mit dem ruhigen Gewissen, alles getan zu haben, was von uns abhing, um den Kriegsgeschädigten, denen gegenüber wir weder mit unserer Sympathie noch mit unserem Interesse gekargt haben, eine gerechte Entschädigung zu verschaffen.

Wir sind gewiss, dass sich die eidgenössischen Kammern ihrerseits mit diesem Ausgang der Sache, den zu verhindern nicht von uns abhing, abfinden werden. In dieser Überzeugung bitten wir Sie, den vorliegenden Bericht zur Kenntnis zu nehmen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 20. Dezember 1935.

Ini Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : ß. Miiiger.

Der Bundeskanzler:

6. Bovet

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über sein Vorgehen vor dem Völkerbund in der Angelegenheit der von Schweizerbürgern im Weltkrieg erlittenen Kriegsschäden. (Vom 20. Dezember 1935.)

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1935

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27.12.1935

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