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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs von Susanna Wyssa und andern Mitgliedern der Heilsarmee, betreffend das im Kanton Neuenburg erlassene Verbot von Versammlungen dieser Verbindung.

(Vom 3. Juni 1885.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s ra t h , nach Einsicht des an ihn unterm 10. Mai 1884 von Susanna W y s s a , als ,,capitaine de l'armée du salut", und von 33 andern Mitgliedern dieser Armee eingereichten Rekurses; nach Einsicht des Gutachtens des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements ;

in E r w ä g ung: 1) Mit Eingabe, datirt Neuenburg, 10. Mai 1084, haben Susanna Wyssa und 33 andere Mitglieder der Heilsarmee an den Bundesrath rekurrirt : a. gegen Beschluß des Staatsraths von Neuenburg vom 22. Mai 1883, welcher die Versammlungen der Heilsarmee verbietet; b. gegen Dekret des Großen Rathes von Neuenburg vom 15. Juni 1883, womit dieses Verbot gutgeheißen wird; c. gegen die Ausweisung von Fräulein Catherine Booth, Fräulein Elisabeth Clarck, Hrn. Eduard Becquet, englische Unterthanen, und Hrn. Alfred Zitzer, deutscher Unterthan ; d. gegen Verletzungen des Hausrechts, welche seit dem 20. April 1884 von Seite der Gendarmerie gegenüber von Versammlungen, selbst privaten, der Heilsarmee verübt worden;

409 e. gegen das Verfahren, Personen, die sich dei1 Theilnahme an Versammlungen der Heilsarmee schuldig gemacht, vor die Gerichte zu ziehen.

Ihre Rechtsgründe stützen die Rekurrenten auf Art. 5, 49 und 50 der Bundesverfassung und Art. 7, 11 , 13 und 14 der Verfassung des Kantons Neuenburg.

2) Die Regierung von Neuen bürg hat diesen Rekurs mit Vernehmlassung vom 12. August 1884 beantwortet. Sie stützt die im Kanton Neuenburg gegen die Heilsarmee getroffenen Maßnahmen hauptsächlich auf Art. 50 der Bundesverfassung, welcher die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen nur innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und dei- öffentlichen Ordnung gewährleistet, und anderseits die Kantone wie den Bund ermächtigt, zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften die geeigneten Maßnahmen zu treffen.

3") Bei Prüfung dieses Rekurses ist Alles bei Seite zu lassen, was sich auf Art. 5 der Bundesverfassung, sowie auf die Art. 7, 11, 13 und 14 der Verfassung von Neuenburg bezieht, indem der Bundesrath nicht kompetent ist, hierüber abzuurtheilen. Die Prüfung des Rekurses wird sich auf die Frage zu beschränken haben, ob die Verfügungen der Neuenburg'er Behörde eine Mißachtung der durch die Art. 49 und 50 der Bundesverfassung gewährleisteten Rechte in sich schließen 4) Die Gewährleistung freier Ausübung aller gottesdienstlichen Handlungen, welche der genannte Art. 50 ausspricht, ist an zwei Vorbehalte geknüpft. Zunächst hat diese Ausübung innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung zu geschehen. Zweitens ist den Kautonen wie dem Bunde das Recht gewahrt, die geeigneten Maßnahmen zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften zu treffen.

Indem die Verfassung den Kantonen das Recht -- welches für sie zugleich eine Pflicht ist -- zuerkennt, jederzeit die erforderlichen Maßnahmen zur Herstellung der gestörten öffentlichen Ordnung zu ergreifen, unterläßt sie es im Uebrigen, anzugeben, welcher Art und wie weit gehend diese Maßnahmen sein dürfen. Anderseits steht es aber dem Bundesrathe -- gestützt auf seine Aufgabe, für die Handhabung der Bundesverfassung zu sorgen, und gestützt auf Art. 50 selbst -- zu, jederzeit zu prüfen, ob die von den Kantonen in Einschränkung der freien Ausübung des Gottesdienstes getroffenen Maßnahmen hinlänglich durch die Rücksicht auf die öffent-

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liehe Ordnung gerechtfertigt erscheinen. Dies ist es nun, was hier zu untersuchen ist, um einen Enlscheid über die vorliegenden Rekurse zu fällen.

5) Es ist notorisch, daß die Heilsarmee überall, wo sie sieh niederzulassen suchte, Anlaß zu Ruhestörungen gab, selbst in Gegenden, wo die Bevölkerung sonst die völligste Religionsfreiheit respektirte und wo religiöse Sekten sich ungestört vermehren und entwickelt!

konnten. Es ist dies ohne Zweifel dem seltsamen Auftreten der Heilsarmee zuzuschreiben, welches dieselbe bei ihren Uebungen und ihrer Propaganda zeigt, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie zu lenken und jene Aufregung hervorzurufen, welche, wie ernstliche Schriftsteller behaupten und die Thatsachen zu beweisen scheinen, zu den planmäßigen Aktionsmitteln der Heilsarmee gehört.

6) Die Ruhestörungen, welche die Uebungen der Heilsarmee in allen Ländern, wo sie auftrat, insbesondere in den schweizerischen Kantonen, wo sie sich niederließ, hervorrief, wiederholten sich auch im Kanton Neuenburg. Die Rektirrenten anerkennen mit der dortigen Kantonsregieruug, daß es sich da um bedeutendere Unruhen handelte.

7) Es hat jedoch der Staatsrath von Neuenburg gleich im Anfang, in einer dringenden Proklamation, die er am 30. Januar 1883an die Bevölkerung des Kantons richtete, derselben angelegentlich empfohlen, das Versammlungsrecht und die Kultusfreiheit zu respektiren, und in eindringlicher Weise an ihre Gefühle der Gerechtigkeit und Toleranz appellirt.

Diesem Appell itum Trotze nahmen die Wirren eher au, und zwar in beunruhigender Weise. Zwischen die Alternative gestellt,0 entweder Truppen aufzubieten, oder einstweilen solche Zusammenkünfte der Heilsarmee zu verbieten, welche Ruhestörungen veranlaßen könnten, wählte der Staatsruth den letztern Ausweg, indem er provisorisch die Abendversammlungen der Heilsarmee verbot.

Mit diesem im Anfange respektirten Verbote nahm der Skandal zunächst ein Ende. Wenige Monate später aber, nachdem Fräulein Catherine Booth, ausgerüstet mit dem Titel einer ,,Marschallin der Armee", selbst nach Neuenburg gekommen war, um sich an die Spitze ihrer Anhänger zu stellen, fanden neuerdings, dem staatsräthlichen Verbote zum Trotze, Abendversammlungen und daherige weitere Ruhestörungen statt.

Auf dieses hin faßte der Staatsrath, am 14. April 1883, eine neue Schlußnahme, welche nicht bloß die öffentlichen Abendversammlungen, sondern auch diejenigen von Sonntag Nachmittags ver-

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bot. Aber auch dies fand keine größere Beachtung als die frühern Verbote, so daß die Regierung die Ausweisung derjenigen ausländischen Salutisten anordnen zu sollen glaubte, welche an verbotenen Zusammenkünften Theil nahmen. Gleichzeitig hielt sie an dein Verfahren fest, sowohl solche Individuen, welche Gewalttätigkeiten gegen Salutisten begangen oder .die Öffentliche Ordnung gestört, als auch Salutisten selbst, wenn sie das Versammlungsverbot übertreten hatten, den Gerichten zu überweisen.

In diesen Zeitpunkt fällt die Abfassung des Rekurses der Susanna Wyssa.

Schon damals hatte das eidg. Justiz- und Polizeidepartement von der Regierung von Neuenburg wie von derjenigen von Bern Aufschlüsse verlangt über die Angritie, welche die Salutisten in diesen Kantonen zu erdulden hatten (29. März 1883). Bald nachher hatte der Bundesrath sein Justiz- und Polizeidepartement beauftragt, ihm Bericht zu erstatten über die in der Schweiz anläßlich der Uebungen der Heilsarmee stattgehabten Störungen und über die diesfalls gefaßten Beschlüsse. Das Departement seinerseits verlangte bezügliche Berichte von den Kantonen mit Kreisschreiben vom 5. Mai 1884; Sodann hatte dasselbe mehrmals die Vorsteher der Polizeidepartemente der betheiligten Kantone zusammenberufen, um von ihnen Auskunft zu erhalten über die Ergebnisse der getroffenen Verfügungen, sowie über die Dauer, für welche diese Verfügungen gelten sollten, und um sich mit der Frage zu befassen, was inskünftig zu thun sein möchte, um die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung mit der freien Ausübung aller Kulte, wie die Bundesverfassung sie gewährleistet, in Einklang zu bringen.

Infolge dieser Konferenzen kam folgendes, am 9. Juli 1884 von den Vorstehern der Polizeidepartemente von Bern, Waadt und Neuenburg unterzeichnetes Protokoll zu Stande : Die Vorsteher der Justiz- und Polizeidepartemente der Kantone Bern, Waadt und Neuenburg sind in Bern zar Berathung der Frage zusammengetreten , wie sich die in diesen Kautonen in Bezug auf die Heilsarmee gefaßten Schlußnahmen bewährt haben und welche Abänderungen an denselben die Umstände allfäljig gestatten dürften.

Sie haben sich damit einverstanden erklärt, daß die in Einschränkung der Kultusfreiheit erlassenen Verfügungen, welche in mehreren Kantonen durch das Auftreten der Heilsarmee veranlaßt worden sind, angesichts
des Art. 50 der Bundesverfassung nur eine vorübergehende oder einstweilige Geltung haben können und daß ihre Beibehaltung nur soweit gerechtfertigt sei, als die Sicherung der öffentlichen Ordnung sie nöthig erscheinen lasse.

Wenn einerseits der Augenblick noch nicht gekommen zu sein scheint, wo diese Schlußnahmen, durch welche die .Versammlungen der Heilsarmee verboten werden, aufgehoben werden können, so haben die Konferenztheilnehmer anderseits immerhin gefunden, daß sich doch wenigstens die Trag-

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weite oder die Anwendung jener Beschlüsse durch eine gleichmäßige Auslegung etwas einschränken lasse.

Demgemäß wurde beschlossen, die gegen die Heilsarmee ausgesprochenen Verbote auf solche Zusammenkünfte zu beschränken, welche einen öffentlichen Charakter haben.

als solche haben zu gelten : Diejenigen Zusammenkünfte, welche in Lokalen stattfinden, die öffentlich sind oder gewöhnlieh zu öffentlichen Versammlungen benutzt werden ; diejenigen, welche im Freien, wo das Publikum Zutritt hat, stattfinden; diejenigen, welche durch Anschlag oder durch Anzeige in den öffentlichen Blättern veranstaltet werden.

Ferner hat die Heilsarmee sich zu enthalten, Prozessionen in Städten, Dörfern oder Weilern vorzunehmen, sich nach 10 Uhr Abends zu versammeln und bei ihren Zusammenkünften Trompeten oder andere Musikinstrumente zu gebrauchen, welche bei religiösen Versammlungen nicht üblich sind und deren Verwendung Ruhestörungen herbeiführen könnte.

Dagegen sollen Zusammenkünfte der Heilsarmee, welche diesen Vorschriften nicht zuwiderlaufen, des gleichen Schutzes theilhaftig sein, wie er andern Religionsvereinigungen gewährt ist.

Die Unterzeichneten werden gegenwärtiges Protokoll ihren Regierungen zur Ratifikation unterbreiten und sodann, mit letzterer versehen, dem eidg.

Justiz- und Polizeidepartement mittheilen.

,, (Folgen die Unterschriften.)

Dieses Protokoll erhielt am 11. Juli die Genehmigung des Staatsraths des Kantons Neuenburg und ist noch jetzt für die dortigen Versammlungen der Heilsarmee maßgebend.

Seither haben solche Versammlungen in diesem Kanton fortgedauert und sind neue Unordnungen nicht vorgekommen.

8) Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß die in provisorischer Einschränkung der freien Ausübung des Gottesdienstes der Heilsarmee erlassenen Verfügungen der Neuenburger Behörden den Zweck hatten, die schwer gestörte öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Es erhellt ferner, daß diese Verfügungen heute nur öffentliche Versammlungen treffen und dagegen den Mitgliedern der Heilsarmee unbenommen lassen, in Privatlokalen zusammenzukommen und daselbst, unter staatlichem Schütze, ihren Gottesdienst auszuüben. Und endlich ergibt sich daraus, daß das Verbot öffentlicher Versammlungen der Heilsarmee übrigens nur ein provisorisches ist, wie dies im Protokoll vom 9. Juni 1884 ausdrücklich anerkannt wird ; beschließt: l. Per Rekurs von Susanna Wyssa und der 33 andern Mitglieder der Heilsarmee, die sich ihr anschlössen, wird abgewiesen,

413 2. Die Regierung von Neuenburg ist eingeladen, dem Bundesrathe mitzutheilen, ob sie die ausnah ms weisen Maßnahmen, die sie am 11. Juli 1884 gegen die Heilsarmee getroffen, indem sie das Berner Protokoll vom 9. gl. Mts. genehmigte, noch länger fortdauern zu lassen gedenke, und bejahendenfalls die Gründe anzugeben, welche ihr den weitern Fortbestand dieser Maßnahmen als nothwendig erscheinen lassen.

3. Dieser Beschluß ist der Regierung von Neueuburg und den Rekurrenten mitzutheilen.

B e r n , den 3. Juni 1885.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

Note. Am 3. Juni 1885 hat der Schweiz. Bundesrath des Ferneren eine von Wittwe M a r i e F a r d e l in S a u g e s , Kanton Neuenburg, mittelst Eingabe vom 10. Mai 1884 gegen den Beschluß des Staatsrathes von Neuenbarg vom 22. Mai und das Dekret des neuenburgischen Großen Rathes vom 15. Juni 1883 in Sachen der H e i l s a r m e e erhobene Beschwerde, unter Hinweis auf die beim Rekurs Wyssa angeführten Entscheidungsgründe, als unbegründet abgewiesen.

Bundesblatt. 37. Jahrg. Bd. III.

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27.06.1885

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