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Bundesrathsbeschluß in

der Rekurssache der Munizipalität von Lugano gegen fünf Dekrete des Staatsrathes von Tessin, betreffend die Nationalrathswahlen vom 26. Oktober 1884.

(Vom 6. Februar 1885.)

Der s c h w e i z e r i s c h e Bundes r a t h hat

in der Rekurssache der Munizipalität von Lugano betreffend fünf Dekrete des Staatsrathes von Tessin vom 25. Oktober 1884 ^ auf Bericht und Antrag des eidg. Justiz- und Polizeidepartements ; gestützt auf folgenden T h a t b e s t a n d : l. Am Nachmittag des 22. Oktober 1884, also am letzten Tage, der zur Anbringung von Reklamationen in Bezug auf das Stimmregister benutzt werden konnte, welches im Hinblick auf die Gesammterneuerung des Nationalrathes am 26. gleichen Monats zu bereinigen war, verlangte Herr Paul Solari, als Präsident des liberal-konservativen Komites, von der Munizipalität von Lugano die Streichung von 113 Wählern, die er als unberechtigt eingesehrieben beanstandete, und die Eintragung von 12 Bürgern, die, ebenfalls mit Unrecht, weggelassen worden seien.

· II. Die Munizipalität von Lugano versammelte sich sofort zur Erledigung dieser Reklamationen. Sie konstatirte, daß denselben

351 theilweise bereits entsprochen worden sei ; anerkannte einige andere Bemänglungen, lehnte aber die meisten als unbegründet ab. Sodann erklärte sie das Register für geschlossen und übermittelte tags darauf dem Regierungskommissär die Liste der von ihr im Register vorgenommenen Abänderungen.

III. Herr Paul Solari wandte sich mit fünf gesonderten Rekursen gegen die von der Munizipalität am 22. Oktober Abends gefaßten Schlußnahmen an den Staatsrath von Tessin. Nach des letztern Angabe sind diese Rekurse ihm vor Beginn der für den Abschluß der Stimmregister festgesetzten drei Tage, also noch am 22. Oktober, zugekommen.

IV. Nachdem der Staatsrath diese fünf Rekurse der Munizipalität von Lugano mitgetheilt und von deren Vernehmlassung vom 23. Oktober Kenntniß genommen hatte, erklärte er dieselben für begründet und forderte durch fünf Dekrete, alle vom 25. Oktober, welche der Munizipalität noch am selben Tage, Nachmittags ein Uhr, mitgetheilt wurden, die letztere unter Androhung von fünf Bußen, jede von Fr. 500, auf, alle Namen zu streichen, deren Streichung Herr Paul Solari verlangt hatte, und dagegen alle diejenigen einzuschreiben, deren Eintragung von diesem anbegehrt worden war.

V. Die Munizipalität von Lugano rekurrirte gegen diese fünf Dekrete an den Bundesrath mit Telegramm, welches am 25. Oktober um 3. 20 in Lugano aufgegeben wurde und um 4. 05 Nachmittags in Bern anlangte.

Es lautet wie folgt : (üebersetzimg.)

,,Bundesrath, Bern.

,,Der Staatsrath hat mit fünf, heute um ein Uhr Nachmittags mitgetheilten Dekreten, ohne eine Vertheidigung der Betheiligten zuzulassen, die Streichung und beziehungsweise die Einschreibung von mehr als 117 Individuen, unter Androhung von fünf Bußen von je Fr. 500, befohlen. Wir antworten, daß das Stimmregister, gemäß dem Regieruugsdekrete vom 27. September 1884, am 22. dieß geschlossen und daß übrigens mehrere von den verlangten Aenderungen bereits vor dem Abschlüsse vorgenommen worden. Nach dem Schlüsse des Stimmregisters ist keine Abänderung mehr zuläßig und ebenso kein Rekurs, außer an die Bundesbehörden, gemäß dem kantonalen Gesetze vom 19. September 1872, Art. 7.

352 ,,Wir halten daher das Stimmregister aufrecht und verlangen, daß die morgige Abstimmung auf Grund eben desselben stattfinde, mit Vorbehalt jedes weitern Rekurses.

,,Zur Verhütung von Unordnungen ersuchen wir um Genehmigung unseres Verfahrens und entsprechende telegraphische Weisung an die Regierung, eventuell unter Protest.

Für die Munizipalität, Der Vize-Syndic :

Präsid. Vegezzi."

VI. Nach Empfang dieses Rekurses machte der Bundesrath der Regierung von Tessili folgende telegraphische Mittheilung : (Uebersetzung.)

,,Staatsrath von Tessin, Bellinzona.

,,Die Munizipalität von Lugano beschwert sich, daß, entgegen dem Dekrete vom 27. September 1884, vom Staatsrathe nach dem Schlüsse des Registers Streichungen und Eintragungen befohlen worden seien. Wollen Sie telegraphisch darüber berichten uud in jedem Falle dafür sorgen, daß die gesetzlichen Bestimmungen streng eingehalten werden.

Bundesrath."

VII. Dieses Auskunftsbegehren erwiederte der Staatsrath mit folgendem, am gleichen Tag, d. h. den 25. Oktober, um 8. 80 Abends in Bellinzona aufgegebenen Telegramm : (Uebersetzung.)

,,Bundesrath, Bern.

,,Die von uns der Munizipalität von Lugano befohlenen Streichungen und Einschreibungen im Stimmregister wurden infolge von Rekursen, welche v o r Schluß des Registers (22. dieß) eingereicht worden, und nach Anhörung der Bemerkungen der Munizipalität angeordnet, welche letztere übrigens stillschweigend unsere Kompetenz, darüber zu entscheiden, anerkannte, indem sie in ihrer Vernehmlassung keine Einsprache erhob.

,,Im Weitern werden von ihr die in den Rekursen angeführten Thatsachen nicht bestritten, und diese Thatsachen rechtfertigen die angeordneten Streichungen und Einschreibungen vollständig.

,,Unser Verfahren ist daher streng gesetzlich und wir verlangen, daß der Rekurs der Munizipalität von Lugano als unbegründet abgewiesen werde.

Regierung."

353 Vili. Ara folgenden Tage, den 26. Oktober, bestand die Munizipalität von Lugano in folgendem, um 9. 10 Uhr daselbst aufgegebenen Telegramm darauf, daß ihrem Rekurs Folge gegeben werde.

(Ueberseteung.)

,,Bundesrath, Bern.

,,Die Munizipalität ersucht um Antwort auf die gestrige Depesche gegen fünf Regierungsdekrete, welche nach Schluß der Register und nach Ablauf der gesetzlichen Fristen Streichungen in unseren Stimmlisten unter Androhung einer Buße von .Fr. 500 für Uebertretung eines jeden Dekretes verlangen. Wir werden die Listen rechtfertigen. Inzwischen wollen wir weder der Willkür weichen, noch eine Widersetzlichkeit begehen. Wir ersuchen dringend um Antwort.

Battaglini, Syndic. a IX. Da dem Bundesrathe am 26. Oktober weiter nichts vorlag, als die in diesen drei Telegrammen enthaltenen Angaben, so fand er sich in die Unmöglichkeit versetzt, vor der Abwicklung der Wahl vom 26. Oktober auf den Rekurs der Munizipalität einzutreten ; indem ihm wesentliche Dinge nicht bekannt sein konnten : weder die Motive, auf welche der Rekurs des Herrn Solari sich stützte, noch die Antwort der Munizipalität, noch die fünf Dekrete des Staatsraths, noch die nähern faktischen Verhältnisse betreffend die 125 Bürger, deren Streichung oder Aufnahme verlangt und anbefohlen worden waren. Der Bundesrath konnte daher vor der Wahl keine Antwort auf die in letzter Stunde von Lugano und Bellinzona eingelangten Telegramme ertheilen, und so kam es, daß die Munizipalität von Lugano, in Gewärtigung eines Entscheides über ihren Rekurs, die Stimmregister in dem Zustande beließ, wie sie am 22. Oktober abgeschlossen worden waren.

X. Die Munizipalität von Lugano führte ihren Rekurs mit Eingabe vom 30. Oktober weiter aus, in welcher sie verlangte, die fünf Dekrete seien aufzuheben und die Regierung anzuweisen, die Vollziehung der darin ausgesprochenen Strafen während hängendem Streite zu suspendiren. Diese Eingabe wurde, unter Anschluß verschiedener Belege und namentlich der fünf Dekrete, von der rekurrirendeu Munizipalität au den Staatsrath zu Händen des Bundesrathes übersandt.

XI. Vom Staatsrathe wurden diese Eingabe, sowie das Begehren der Munizipalität, daß die Vollziehung der Strafe bis zur

354 Entscheidung des Rekurses suspendirt werde, nicht sofort an den Bundesrath übermittelt, vielmehr schritt derselbe zur Eintreibung der fünf Bußen von je Fr. 500. Von diesen Exekutionsmalinahmen bedroht, theilte die Munizipalität dem Bundesrathe direkte, mit Telegramm und Schreiben vom 7. November, mit, daß sie ihrem Rekurse vom 25. Oktober mittelst einer- an den Bundesrath gerichteten und am 30. dem Staatsrathe zugestellten Eingabe weitere Folge gegeben habe und nun neuerdings die Einstellung des Strafvollzuges bis nach Erledigung des Rekurses verlange.

XII. Gemäß der in ähnlichen Fällen konstant eingehaltenen Praxis entsprach der Bundesrath diesem Begehren, indem er am S.November befahl, es sollen die Vollzugsmaßnahmen so lange, bis eine Schlußnahme über den Rekurs erfolgt sei, suspendivt bleiben.

Alles, was auf diesen Suspensionsbefehl, sowie auf den Widerstand Bezug hat, dem er bei der Regierung von Tessin begegnete, ist in dem über die Wahlen vom 26. Oktober erstatteten Berichte auseinandergesetzt. Hier ist nicht weiter darauf zurückzukommen.

XIII. Am 13. November hat dann der Staatsrath von Tessin, auf erneuertes Angehen des Bundesraths, dem letztern die Eingabe, der Munizipalität von Lugano, nebst seiner eigenen Vernehmlassung.

übermittelt.

XIV. Die Prüfung dieser Schriftstücke und der ihnen beigegebenen Belege ergibt, daß die hauptsächlichsten Meinungsverschiedenheiten, welche sich zwischen der Munizipalität von Lugano und dem Staatsrathe von Tessin in Bezug auf die Anwendung der kantonalen und eidgenössischen Gesetzgebung in Wahlangelegeuheiten erhoben und zu dem Rekurse vom 25. Oktober geführt haben, dahingehen: Zunächst beruft sich die Munizipalität auf Art. 6 des Bundesgesetzes von 1872 und vornehmlich auf das kantonale Gesetz gleichen Jahres, wonach die Stimmregister drei Tage vor der Abstimmung geschlossen werden müssen. Sie hält dafür, daß während dieser Frist selbst die Kautonsregierung nicht das Recht gehabt habe, Aenderungen am Register anzubefehlen, welches die Munizipalität am 22. Oktober in gesetzmäßiger Weise als geschlossen erklärt hatte; denn der Art. 7 des vorgenannten Kantonsgesetzes sage, daß während dieser dreitägigen Frist der Bundesrath allein das Stimmregister abändern lassen dürfe.

In Bezug auf die materielle Seite der Frage hält die Munizipalität dafür, daß die von ihr am 22. Oktober abgelehnten und dagegen vom Staatsrath am 25. Oktober anerkannten Begehren des

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liberal-konservativen Komites im Widerspruche mit dem Gesetze stehen, und zwar namentlich in folgenden Punkten : a. indem man unstatthafter Weise die Streichung von Bürgern verlangt habe, welche wirklich in Lugano domizilirt gewesen seien, und zwar aus dem Grunde, weil dieses Domizil nicht seit bereits drei Monaten bestanden habe; b. indem man die Streichung von Bürgern deshalb verlangt habe, weil, sie seit einem Jahr der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last gefallen seien oder seit mindestens zwei Jahren die Steuern nicht bezahlt hätten; c. indem man einigen Schweizerbürgern das Recht abgesprochen habe, in Lugano zu stimmen, trotzdem sie dort domizilirt gewesen seien ; gestützt darauf, daß sie daselbst keine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung genommen hätten.

XV. Es ist übrigens bei gegenwärtiger Aktenlage, blos auf Grund der Streitschriften der Munizipalität und der Regierung nebst beigebrachten Belegen, nicht möglich, in Bezug auf jeden einzelnen der 125 Bürger, deren Einschreibung beanstandet wurde, zu entscheiden, ob er zur Theilnahme an der Abstimmung in Lugano vom 26. Oktober berechtigt gewesen sei oder nicht. Die Erledigung der oben gestellten Fragen würde nicht genügen, um jeden der 125 streitigen Fälle zu entscheiden. Man müßte im Weitern auch noch im Stande sein, in Bezug auf jeden der beanstandeten Bürger faktisch festzustellen, ob er am 22. Oktober wirklich in Lugano domizilirt war ; w e l c h e von den betreffenden Personen seit einem Jahre der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last fielen, w e l c h e seit zwei Jahren ihre Steuern nicht bezahlt hatten, etc. etc. Für die meisten der betreffenden 125 Bürger geben die beiderseitigen Aktenstücke keine Aufschlüsse; In E r w ä g u n g : ' 1) In Bezug auf die erste der gestellten Fragen, dahingehend : ob das Bundesgesetz von 1872 über eidgeaössische Wahlen und Abstimmungen, sowie das tessinische Gesetz vom 19. September gl. J., betreffend die gleiche Materie, dem Staatsrathe gestattet haben, Aenderungen am Stimmregister nach Schluß des letztern zu verfügen, wird daran erinnert, daß der Art. 6 des Bundesgesetzes lautet wie folgt : ,,Die Stimmregister sollen während wenigstens 14 Tagen vor einer Wahl oder Abstimmung zur Einsicht der Betheiligten öffentlich aufgelegt und dürfen nicht früher als drei Tage vor der Abstimmung geschlossen werden. a

356 Das tessinische Gesetz vom 19. September 1872 spricht sich seinerseits, im zweiten Alinea von Art. 7, dahin aus : ,,Avvenuta la chiusura del catalogo civico, non è più ammesso alcun riclamo fuorché alle Autorità federali col canale del Consiglio di Stato, a norma dell' art. 20 della presente legge."

,,Nach Schluß der Stimmregister ist kein Rekurs mehr zuläßig, a u ß e r an d i e B u n d e s b e h ö r d e n, und zwar durch Vermittlung des Staatsrathes, gemäß Art. 20 des gegenwärtigen Gesetzes."

Zwischen diesen zwei Bestimmungen besteht ein Widerspruch.

Indem das Bundesgesetz den Schluß des Registers höchstens drei Tage vor der Wahl gestattet, anerkennt es implicite das Recht der Bürger, ihre Reklamationen selbst an dem Tage noch anzubringen, der dem Schlüsse vorausgeht. Dieses Recht würde zu nichte gemacht, wenn der Staatsrath solche Reklamationen nicht erledigen dürfte; wenn er nicht, trotz Schlusses des Registers, die Aenderungen vornehmen lassen könnte, die er auf Grund solcher in letzter Stunde eingelangter Begehren anzubefehlen in den Fall kommen mag. Es läßt sich in der That nicht annehmen, daß solche im letzten Augenblicke geltend gemachte Reklamationen direkt bei der Bundesbehörde sollten angebracht werden müssen.

da die letztere nur über Rekurse gegen Verfügungen der Kantonsbehörden abspricht (Gesetz von 1872, Art. 7).

Hieraus ergibt sich, daß Art. 7 des tessinischen Gesetzes, dessen Wortlaut den Rekurs der Munizipalität von Lugano an sich berechtigt erscheinen läßt, mit dem Bundesgesetze vom Jahr 1872 nicht im Einklang steht. Der Bundesrath, welcher für Vollziehung der Bundesgesetze zu sorgen hat, muß daher erklären, daß dieser Art. 7 hinfällig und somit der Rekurs der Munizipalität von Lugano in diesem Punkte nicht begründet ist.

2) Die zweite Frage, ob nämlich die Bürger, welche vor Abschluß des Stimmregisters wirklich in einer Gemeinde domizilirt sind, an eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen theilnehmen dürfen, auch wenn ihr Domizil nicht mindestens drei Monate gedauert hat, wird durch folgende Gesichtspunkte entschieden : Art. 43 der Bundesverfassung sagt: ,,Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger.

,,Als solcher kann er bei allen eidgenössischen Wahlen und ,,Abstimmungen an seinem Wohnsitze Antheil nehmen, nachdem ,,er sich über seine Stimmberechtigung gehörig ausgewiesen hat.

,,In kantonalen und Gemeindeangelegenheiten erwirbt er das ,,Stimmrecht nach einer Niederlassung von drei Monaten."

357.

Aus der Vergleichung dieser verschiedenen Alineas erhellt offenbar, daß der Schweizerbürger in eidgenössischen Angelegenheiten in seiner Wohnsitzgemeinde zu stimmen berechtigt ist, ohne daß von ihm gefordert werden darf, daß der Wohnsitz im Zeitpunkte der Abstimmung oder des Abschlusses des Stimmregistevs eine dreimonatliche Dauer gehabt habe, während diese Forderung in kantonalen oder Gemeindeangelegenheiten durchaus statthaft wäre.

In diesem Sinne ist denn auch stetsfort der Art. 43 der Bundesverfassung verstanden und angewendet und auch vom Bundesrathe ausgelegt worden, letzteres insbesondere in dem Schreiben, das er am 15. Juli 1881 an den Staatsrath von Tessin selbst richtete, lautend : ,,Sie stellen an uns die Anfrage, wie lange ein Schweizerbürger in einer Gemeinde wohnen müsse, um an einer eidgenössischen Wahl Theil zu nehmen.

Wir halten dafür, daß die Antwort sich aus den Bestimmungen der Bundesverfassung sowohl, als aus denen des Bundesgesetzes vom 19. Juli '1872, deutlich ergebe.

Weder in dem Art. 43 noch in Art. 74 der Bundesverfassung ist das Stimmrecht bei eidgenossischen Wahlen an die Bedingunggeknüpft, daß der Bürger vor der Wahl eine bestimmte Zeit lang in dem Wahlkreise gewohnt habe. Die einzige Folgerung, welche hieraus gezogen werden kann, ist die, daß jeder Schweizerbürger in demjenigen Kreise au den eidgenössischen Wahlen Antheü nehmen kann, in welchem er im Zeitpunkte der Wahl-wohnt. Im Gegensatz zu dieser Bestimmung wird in Absatz 5 des Art. 43 bestimmt, daß in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten das Stimmreuht erst nach einer Niederlassung von drei Monaten erworben werde.

Das erwähnte Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 steht mit diesen Verfassungsbestimmungen ganz im Einklang.

Nach diesem "Gesetze nehmen an einer eidgenössischen Wah!

diejenigen Schweizerbürger Theil, welche am Wahltage in das Stimmregister der Gemeinde eingetragen sind, in welcher sie entweder als Ortsbürger oder als Niedergelassene oder als Aufenthalter wohnen.

Jeder Schweizerbürger, der in einer der drei genannten Eigenschaften seinen Wohnsitz in einer Gemeinde hat, muß von Amtes wegen in das Stimmregister eingetragen werden (Art. 3 und 5 des Gesetzes). Dagegen sind die Kantone befugt, drei Tage vor der Abstimmung die Stimmregister zu schließen (Art. 6) und daher auch neue Aufnahmen in dieselben zu verweigern.

.358 Schließlich machen wir Sie darauf aufmerksam, daß der endliche Entscheid über alle Beschwerden in eidgenössischen Wahlsachen, Inbegriffen diejenigen, welche sich auf Beschlüsse des Bundesrathes beziehen, den eidgenössischen Käthen zukommt. tt Dieser Antwort glaubte der Bundesrath einige Publizität geben zu sollen, um die daherige Praxis zu fixiren.

Es geschah dies in nachfolgendem Résumé des erwähnten Schreibens im Geschäftsberichte pro 1881 : ,,Der Staatsrath des Kantons Tessin stellte die Einfrage, wie lange ein Schweizerbürger in einer Gemeinde gewohnt haben müsse, um an einer eidgenössischen Wahl Theil nehmen zu können, da weder die Bundesverfassung noch das eidgenössische Wahlgesetz vom 19. Juli 1872 (Amtl. Samml. X, 915) hierüber genaue Bestimmungen enthalten.

Am 15. Juli 1881 beschlossen wir, unter Vorbehalt des endlichen Entscheides der eidgenössischen Räthe, darauf zu erwidern, daß die Ausübung des Wahlrechts für Schweizerbürger bei eidgenössischen Wahlen nach der Bundesverfassung zeitlich keiner Beschränkung unterliege, und daß daher jeder Schweizerbürger in demjenigen Kreise an den eidgenössischen Wahlen Antheil nehmen könne, in welchem er im Zeitpunkt der Wahl wohne. Hieniit stehe das erwähnte Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 (Art. 3 und 5) im Einklang. Den Kantonen stehe nach Art. 6 desselben nur das Recht zu, drei Tage vor der Abstimmung die Stimmregister zu schließen."1 Es ist kier nicht der Ort, die Uebelstände zu erörtern, welche nach Ansicht des Staatsràthes dann eintreten müßten, wenn die Frage, ob ein Bürger, der kurz vor den Wahlen in einer Gemeinde Aufenthalt genommen hat, dort auch wirklich domizilirt sei, jeweileu nach den Verumständungen des Falles zu prüfen und zu entscheiden wäre, ohne daß die Garantie, welche in einer gewissen Dauer des Aufenthaltes liegt, als für sich allein ausschlaggebend betrachtet werden könnte. Es ist Sache des eidgenössischen Gesetzgebers, diese Uebelstände zu würdigen und ihnen abzuhelfen. In dem der Bundesversammlung unterbreiteten Entwurfe eines neuen Gesetzes über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen hat.

dei- Bundesrath bereits den Antrag gestellt, es solle von dem Bürger, der sein Stimmreeht in einer Gemeinde ausüben will, ein Wohnsitz von wenigstens 14 Tagen verlangt werden, und die nationalräthliche Kommission hat in ihrer ersten Berathung beschlossen, eine Verlängerung dieser Frist auf 30 Tage zu beantragen. Es sind dies aber bloße Entwürfe, welche einstweilen nur das Gesagte be-

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stätigen, daß nämlich unter dem gegenwärtigen Bundesgesetze von dem Bürger nur verlangt werden darf, daß er im Zeitpunkte des Abschlusses des Stimmregisters am betreffenden Orte wirklich domizilirt, nicht aber, daß sein Domizil von einer gewissen Dauer gewesen sei.

Der Staatsrath von Tessin leitet einen Beweisgrund aus dem Art. 2 des Bundesgesetzes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen ab, lautend : .,,Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat und im Uebrigen nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem er seinen Wohnsitz hat, nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist (Art. 63 der Bundesverfassung)."

Nun hat, bemerkt der Staatsrath von Tessin, das kantonale Gesetz von 1880, welches dem eben zitirten Artikel zufolge die Bedingungen feststellen durfte, an welche die Ausübung des Aktivbürgerrechts geknüpft wird, unter anderm einen dreimonatlichen Wohnsitz vorgeschrieben.

Darin liegt nun aber eine offenbare Verwechslung von zwei durchaus verschiedenen Fragen, der Frage nämlich, ob ein Bürger im BesiUe seiner politischen Rechte sei, und der andern Frage, an welchem Orte er diese Rechte ausüben dürfe. Sache des kantonalen Gesetzes ist es, zu bestimmen, aus welchen Gründen einem Bürger sein Aktivbürgerrecht entzogen werden darf; die Frage aber, an welchem Ort der Bürger sein Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten auszuüben habe, ist nicht der kantonalen Kompetenz unterstellt, sondern, wie oben gezeigt, durch die eidgenössische Gesetzgebung geregelt.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß der Staatsrath von Tessin mit Unrecht und im Widerspruche mit Art. 43 der Bundesverfassung, sowie mit Art. 2 und 5 des Bundesgesetzes vom Jahr 1872 über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen, die Munizipalität von Lugano angewiesen hat, aus dem Stimmregister die Namen von dort niedergelassenen Bürgern aus dem Grunde zu streichen, weil ihr Wohnsitz noch nicht eine Dauer von drei Monaten erlangt hatte.

3) Für die Beantwortung der dritten Frage: ob auf dem Stimmregister die Namen solcher Bürger zu belassen seien, welche seit einem Jahre aus der Gemeindekasse oder von einer öffentlichen Wohithätigkeitsanstalt Unterstützung erhielten, sowie solcher, die seit zwei Jahren nicht mehr die kantonalen und kommunalen Steuern bezahlten, -- sind maßgebend: Art. 2 des Bundesgesetzes von 1872

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und Art. 4, litt, d und e, des tessinischen Gesetzes von 1880 über die Ausübung der politischen Rechte.

Die Munizipalität von Lugano bemerkt über diesen Funkt lediglich, daß kein Bundesgesetz die Unterstützten vom Stimmrecht ausschließe. Dies ist allerdings richtig; aber in Art. 2 des Bundesgesetzes von 1872 heißt es: ,,Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der das 20. Altersjahr zurückgelegt hat und im Uebrigen u a c h d e r G e s e t z g e b u n g d e s K a n t o n s, in w e l c h e m er s ei ne u W o h n s i t z h a t , nicht vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen ist."

Dieß zeigt klar, daß selbst in eidgenössischen Angelegenheiten das kantonale Gesetz es ist, welches die Fälle bestimmt, in denen Jemand von den politischen Rechten ausgeschlossen werden kann.

Nun hat das tessinische Gesetz von 1880, von dieser Kompetenz Gebrauch machend, in Art. 4, litt, d und e, bestimmt, daß diejenigen, welche seit einem Jahre unterstützt worden sind, sowie; solche, die während zwei Jahren die Steuern nicht bezahlt haben, vom Stimmrecht ausgeschlossen seien.

In diesem Punkte ist also der Rekurs der Munizipalität unbegründet.

4") Die vierte Frage : ob es gesetzlich sei, vom Schweiwerbürger, der in einer Gemeinde stimmen will, zu verlangen, nicht nur dass er daselbst wirklich domizilirt sei, sondern daß er eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung erlangt habe, istzuM bejahen, gestützt einerseits auf Art. 3 des Bundesgesetzes von 1872, welcher sagt: ,,Das Stimmrecht wirdvona jedem Schweizerborger daaus-geübt, wo er als Ortsbürger o d e r a 1s N i ed erg e lassenì er o d o r A u f e n t h a l t e r wohnt," und anderseits auf das tessinische Polizeigesetz vom 9. Juni 1853. Die Munizipalität von Lugano hat sich darnach mit Unrecht geweigert, aus dem Stimmregister die Namen der im Rekurse Solari erwähnten fünf Schweizerbürger zu streichen, welche, wiewohl in der Gemeinde domizilirt, doch daselbst noch keine Niederlassungs- oderAufenthaltsbewilligungg erlangt hatten.

5) Was nun die Beurtheilung der materiellen Seite des vorliegenden Streitfalles betrifft, so muß sich dieselbe darauf beschränken, die oben erwähnten Fragen zu beantworten : indem, wie gesagt, die dem Bundesrathe, sei es vom Staatsrathe von tessin, sei es von der Munizipalität von Lugano, an die Hand gegebenen Aufschlüsse durchaus ungenügend sind,
um in Bezug auf jeden der 125 Bürger, denen das Recht der Stimmgabe in Lugano bestritten wurde, einen Entscheid zu ermöglichen, ob er am 22. Oktober 1884 in die Kategorie derjenigen gehörte, denen nach den obigen Auseinandersetzungen das Stimmrecht zukommt, oder aber in die Ka-

361 tegorie. derjenigen, denen es zu verweigern ist. Es wäre eine eingehende und nothwendigerweise langwierige Untersuchung nothwendig gewesen, um dem Bundesrathe das ganze hiezu erforderliche Beweismaterial zu verschaffen. Diese Untersuchung hätte ' aber nur eine retrospektive Bedeutung, da die faktischen Verhältnisse eines jeden dieser 125 Bürger seither andere geworden sein können. Deßhalb wird es hier als genügend erachtet, bloß die grundsätzlichen Fragen zu entscheiden, welche übrigens am meisten dazu beigetragen haben, den vorliegenden Konflikt hervorzurufen.

6) In Bezug auf die fünf Bußen von je Fr. 500, welche der Staatsrath der Munizipalität von Lugano wegen ihrer Weigerung auferlegt hat, die fünf Dekrete vom 25. Oktober zu vollziehen, wird in Erinnerung gebracht, daß die Munizipalität von Lugano ihren Rekurs bereits am 25. Oktober, Nachmittags 3 Uhr 20 Minuten, an den Bundesrath richtete, obschon sie von den fünf Dekreten erst am gleichen Nachmittage, um l Uhr, Mittheilung erhalten hatte, sich somit jeder wünschbaren Eile befliß; -- daß sie ihr Gesuch an den Bundesrath am folgenden Tage, den 26. Oktober, um 9 Uhr 10 Min. Morgens, telegraphisch erneuerte; -- daß sie endlich vor der Abstimmung weder eine Schlußnahme des Bundesraths noch irgend eine Antwort auf diese ihre zwei Ansuchen erhalten hatte.

In dieser Lage fand sich die Munizipalität hinlänglich zu der Annahme berechtigt, daß der Rekurs anhängig sei, und daß sie demzufolge bis nach Einlangen einer Antwort .der Rekursbehörde den rekurrirten Befehl unvollzogen lassen dürfe.

Es ist allerdings zu bedauern, daß der Bundesrath wegen der Kurze der Fristen , die ihm schlechterdings nicht gestattete, über die thatsächlichen Verhältnisse betreffend das Stimmrecht einer so großen Anzahl von Bürgern rechtzeitig zu entscheiden , nicht im Falle war, der Munizipalität eine Antwort auf ihren Rekurs zu ertheilen, bevor es zur Abstimmung kam. Von den drei Tagen, welche das Gesetz, vom Abschlüsse des Stimmregisters an gerechnet , den Rekursen an die Oberbehörde vorbehält, sind zwei und ein halber vom Staatsrathe dazu verwendet worden, seine fünf Dekrete zu erlassen und mitzutheilen, und erst gegen den Abend des dritten Tages ist eine erste Depesche nach Bern gelangt. Offenbar lag keine Möglichkeit vor, eine kontradiktorische Untersuchung in einigen
Stunden telegraphisch vorzunehmen, so daß der Bundesrath sieh darauf beschränken mußte, den Staatsrath nur im Allgemeinen einzuladen, über genaue Beobachtung des Gesetzes zu wachen.

Gleichwohl bleibt es zweifellos, daß die Munizipalität, gestützt auf ihre n Rekurs, sich für berechtigt halten durfte, einen Entscheid

362 des rekursweise angegangenen Bundesrathes abzuwarten, bevor sie den Befehl des Staatsrathes zu vollziehen habe. Sie deßhalb in eine Buße verfallen, weil sie unter solchen Umständen die Vollziehung der rekurrirten Dekrete unterließ, hieße so viel, als ihr das Rekursrecht absprechen, welches durch das Bundesgesetz sogar jedem Bürger eingeräumt ist.

Es ergibt sich hieraus, daß diese Bußen nicht eingefordert werden können.

Damit fällt die Nothwendigkeit dahin, zu untersuchen, ob ein tessinisches Gesetz bestehe, welches dem Staatsrathe gestattet, den Munizipalitäten wegen Gehorsamsverweigerung Bußen aufzuerlegen, und im Weitern zu untersuchen, ob die Handlungen der Munizipalität von Lugano, als einer Behörde, welcher die Führung des Stimmregisters obliegt, soweit es eidgenössische Abstimmungen betrifft, unter das Bundesgesetz von 1872, namentlich unter Art. 44 desselben, oder aber unter das kantonale Recht fallen; beschlossen: 1. Der Rekurs der Munizipalität von Lugano wird in Bezug auf die unter Erwägung 2 fallende Frage für begründet, dagegen in Bezug auf die in den Erwägungen l, 3 und 4 erwähnten Punkte für unbegründet erklärt.

2. Die vom Staatsrathe am 25. Oktober 1884 gegen die Munizipalität von Lugano ausgesprochenen fünf Bußen von je Fr. 500 werden kassirt.

B e r n , den 6. Februar 1885.

Im Namen des schweizerischen Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä si d e n t :

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesrathsbeschluß in

der Rekurssache der Munizipalität von Mendrisio und der Herren Joseph Otto Stocker und Genossen, gegen den Staatsrath von Tessin, betreffend die Nationalrathswahlen in Mendrisio vom 26. Oktober 1884.

(Vom 6. Februar 1885.)

Der schweizerische B u n d e s r a t h hat i n d e r Rekurssache d e r M u n i z i p a l i t ä t v o n M e n d r i s i o u n d d e r Herren J o s e p h O t t o S t o c k e r , G a s t o n P e e r und J u l i u s H a u s w i r t h gegen ein Dekret des Staatsrathes von Tessin vom 25. Oktober 1884; auf Bericht und Antrag des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements ; gestützt auf folgenden T h a t b e s t a n d : l. Anläßlich der Bereinigung des Stimmregisters, welche in der Gemeinde Mendrisio im Hinblick auf die Wahlen vorgenommen wurde, die am 26. Oktober 1884 behufs Erneuerung der Mitglieder des Nationalrathes stattfinden sollten , haben drei Tessiner Bürger am 22. Oktober beim Staatsrath von Tessin das Verlangen gestellt, er wolle die Munizipalität von Mendrisio anweisen, im Stimmregister die Namen von fünfzehn Individuen zu streichen , und zwar neun Namen deßwegen, weil die Betreffenden nicht seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde niedergelassen, -- vier, weil sie seit mehr

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Bundesrathsbeschluß in der Rekurssache der Munizipalität von Lugano gegen fünf Dekrete des Staatsrathes von Tessin, betreffend die Nationalrathswahlen vom 26. Oktober 1884. (Vom 6. Februar 1885.)

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