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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Société du Château de Valavran in Genf, betreffend Verweigerung einer Bewilligung zum Betrieb einer Privatirrenanstalt.

(Tom 5. Januar 1906.)

Der schweizerische Bundes rat

hat über die Beschwerde der S o c i é t é du C h â t e a u de Val a v r a n in Genf, betreffend Verweigerung einer Bewilligung zum Betrieb einer Privatirrenanstalt; auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluß gefaßt:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Im Oktober 1904 wurde in Genf unter dem Namen Société du Château de Valavran eine Aktiengesellschaft gegründet zum Betrieb einer Heilanstalt für verschiedene Leiden, speziell für Nerven- und Geisteskranke. Sie ging mit dem Besitzer des Schlosses Valavran einen Mietvertrag verbunden mit einem Kaufversprechen ein und erwarb von ihm das Recht, auf dem genannten Besitztum zu Anstaltszwecken Neubauten zu errichten. Nachdem sie für die Organisation, die medizinische und administrative Leitung der Anstalt den Psychiater Dr. Geiser gewonnen hatte, suchte sie beim Staatsrat am 27. Oktober und 15. Dezember 1904 um die nach

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Art. i) des genferischen Irrengesetzes vom 25. Mai 1895 nötige Betriebsbewilligung nach. Mit Schreiben vom 24. Dezember 1904 beschied der Staatsrat dio Gesellschaft dahin, er könne die Bewilligung für eine Anstalt, in der gleichzeitig Geisteskranke und andere Leidende behandelt werden sollen, nicht erteilen. Am 24. Januar 1905 hat die Gesellschaft in einer neuen Eingabe um die Bewilligung für eine reine Irrenanstalt nachgesucht. Über dieses Gesuch hat die kantonale Aufsichtsbehörde für Geistes, kranke dem Staatsrat am 13. März 1905 einen Bericht erstattetDieser Bericht stellt fest, daß gegen die Person des Anstaltsleiters nichts einzuwenden ist; daß sich die Gebäude und ihre Einrichtung für das Unternehmen eignen und auch die Lage der Anstalt günstig ist; immerhin bilde es einen Übelstand, daß die verschiedenen Anstaltsgebäude durch einen Gemeindeweg von einander getrennt sind. Die Aufsichtsbehörde für Geisteskranke hält die Vermehrung der Privatirrenanstalten im Kantonsgebiet nicht für wünschbar, weil dadurch die staatliche Kontrolle erschwert werde.

Die Aufsichtsbehörde verweist dann noch speziell darauf, daß nicht einzusehen sei, wie die Société du Château de Valavran mit ihrem Gründungskapital von Fr. 50,000 ihren vielen Verbindlichkeiten nachkommen, die Bauten nach den vorgelegten Plänen ausführen und den Kranken die versprochene Obsorge und Bequemlichkeit verschaffen könne.

Hierauf beschloß der Verwaltungsrat der Société du Château de Valavran, das Kapital der Gesellschaft auf Fr. 120,000 zu erhöhen ; sie gab hiervon dem Staatsrat mit Schreiben vom 3. April 1905 Kenntnis, in welchem sie auch darauf hinwies, daß die Gesellschaft angesichts des Vermögens und Kredits ihrer Gründer in finanzieller Hinsicht jede wünschbare Sicherheit biete.

Inzwischen hatte der Gemeinderat von Bellevue -- im Gebiet dieser Ortschaft liegt Valavran -- den Staatsrat in einer Eingabe vom 28. März 1905 ersucht, die nachgesuchte Bewilligung zu verweigern, und ebendies hatten in einer weitem Eingabe vom gleichen Datum eine -Anzahl Einwohner von Bellevue getan.

Am 25. April 1905 erließ der Staatsrat des Kantons Genf folgenden Entscheid : Der Staatsrat, nach Einsicht unter anderem des Art. 9 der Verfassung des Kantons Genf; der Art. l, 3 und 5 des Gesetzes vom 25. Mai 1895 über die Geisteskranken^ sowie eines Gutachtens der Aufsichtsbehörde für die Geisteskranken, vom 13. März 1905;

80 in Erwägung: daß der Staatsrat, vor Erteilung einer Bewilligung zum Betrieb einer Irrenanstalt an Private, sich vergewissern muß, daß daraus weder für die benachbarten Örtlichkeiten schwere Unzukömmlichkeiten, noch für die öffentliche Sicherheit eine Gefahr entstehen könne ; daß in der Tat das eine der Gebäude der Société de Vaiavran in einer zwischen 280 und 420 m. variierenden Entfernung von einer Gruppe von sechs Landhäusern und in Entfernungen von 200, 125 und sogar 95 m. von den Grenzen dreier dieser Besitzungen gelegen ist; daß das gleiche Gebäude 175 m. von der Kantonsstraße CollexBellevue entfernt liegt, und daß die Gebäude der geplanten Anstalt durch den Gemeindeweg Valavran-Collex von einander getrennt und ungefähr 60 m. von diesem Weg entfernt sind; daß unter diesen Umständen die Anstalt in Valavran für die Nachbarn und das Publikum keine genügende Sicherheit bietet; daß andererseits der Staatsrat sich mit den Maßregeln befassen muß, die zur Gewährleistung gehöriger Bewachung und gehörigen Unterhalts der in der Anstalt unterzubringenden Irren getroffen wurden; daß ihm in dieser Hinsicht keine genügenden Nachweise geleistet wurden und daß, selbst wenn neue und vollständigere Maßnahmen von der Gesellschaft ergriffen würden, die übrigen vom Staatsrat angerufenen Gründe nichtsdestoweniger bestünden, um die verlangte Bewilligung zu versagen; erkennt : Die von der Société du Château de Valavran verlangte Bewilligung zur Errichtung eines Irrenhauses in Valavran wird nicht erteilt.

II.

Gegen diesen Entscheid beschwert sich die Société du Château de Valavran mit Eingabe vom 31. Mai 1905 beim Bundesrat und stellt dabei folgendes Begehren : Der Bundesrat wolle den genannten Entscheid aufheben und aussprechen, daß der Staatsrat gehalten sei, der Rekurrentin die in ihrem Gesuch vorn 27. Oktober 1904, abgeändert durch das Gesuch vom 27. Januar 1905, anbegehrte Bewilligung zu erteilen, oder selbst sie erteilen.

81 Die Abweisungsgründe des angefochtenen Entscheids, wird ausgeführt, seien nicht stichhaltig. Der Staatsrat habe, statt unter ßeiziehung der verschiedenen Interessenten einen Augenschein vorzunehmen, einseitig den Einwendungen des Gemeinderats von Bellevae und der Villenbesitzer in Valavran Gehör geliehen.

Die gleichen gesetzlichen Bestimmungen, auf die der Staatsrat seinen abweisenden Entscheid stütze, rufe die Rekurrentin an, um der verlangten Bewilligung teilhaftig zu werden. Ihr WortJaut sei folgender: Verfassung des Kantons Genf, Art. 9 : ^Das Recht der freien Niederlassung ist allen Bürgern gewährleistet. Ebenso die Freiheit der Gewerbeausübung unter Vorbehalt der Beschränkungen, die das Gesetz im allgemeinen Interesse aufstellen kann. u Gesetz über die Geisteskranken : ,,Art. 3. Die zur Bewachung und Behandlung der Geisteskranken bestimmten Anstalten werden der Aufsicht des Staatsrates und des Staatsanwalts unterstellt; sie sind öffentlich oder privat und sowohl die einen, als die anderen sind an die Réglemente des Staatsrats gebunden.

Art. 5. Privataustalten sind solche, die von Privatpersonen «der Gesellschaften geleitet werden; keine solche Anstalt kann im Kanton Genf ohne vorgängige Bewilligung durch den Staatsrat eröffnet werden; dio besonderen Réglemente, die für solche Anstalten aufgestellt werden sollten, müssen dem Staatsrat zur Genehmigung unterbreitet werden."· Der Staatsrat kann jederzeit die Schließung einer solchen Anstalt verfügen."· Nach diesen Bestimmungen hänge die Erteilung der für Privatirrenanstalteu notwendigen Bewilligung von der Beurteilung der gegebenen Umstände durch den Staatsrat ab. Die von ihm aufzustellenden Bedingungen und Maßregeln dürften aber den Rahmen der Art. 31 und 4 der B.V. nicht überschreiten. Die Ansicht der Aufsichtsbehörde für die Geisteskranken, daß die Schaffung neuer Privatirrenanstallen nicht wünschbar sei und deren Vermehrung die staatliche Kontrolle erschwere, sei unbegründet und dürfe nicht in Rechnung fallen bei Beurteilung des Bewilligungsgesuchs einer Gesellschaft, die bereit sei, sich den Gesetzen und Reglementen und den nützlichen und zulässigen Vorschriften zu unterwerfen.

Dies selbst dann nicht, wenn das geplante Unternehmen der staatBundesblatt. 58. Jahrg. Bd. I.

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liehen Anstalt Konkurrenz machen sollte. Hier sei dies übrigens nicht der Fall ; denn es sei bekannt genug, daß die Patienten gut geführter Privatanstalten die öffentlichen Ansialten überhaupt kaum,, die kantonale Irrenanstalt Bei Air aber absolut nicht aufsuchen.

Dieser erwachse also aus dem Betrieb der Rekurrentin keinerlei Schaden. Übrigens besitze der Staat in dieser Materie kein Monopol.

Da nach Bewilligung des Unternehmens der Rekurrentin im Kanton Genf nur zwei Privatirrenanstalten bestehen wurden, so könne von einer Erschwerung der staatlichen Aufsicht im Ernst nicht die Rede sein.

Der Staatsrat habe in erster Linie den Einwand in seinem, ganzen Umfang zugelassen, daß die Anstalt sich zu nahe bei den umliegenden Landhäusern befinde und daß die Besitzung vo» Schloß Valavran von einem Gemeindeweg durchschnitten werde.

Nun sei es ja begreiflieh, daß die Besitzer von Landhäusern' in der Nähe von Valavran sich gegen die Errichtung der Anstalt wehren; dies geschehe immer, wenn in einer ruhigen Gegend eine Fabrik, ein Spital oder dergleichen errichtet werden solle. Der Staat aber müsse sich auf eine höhere Warte als diejenige solcher Privatinteressen stellen, und sich einzig angelegen sein lassen, jedem die Ausübung seiner Eigentumsrechte und der ihm garantierten Gewerbefreiheit zu erhalten. Übrigens seien die Distanzen zwischen der geplanten Anstalt und den im angefochtenen Entscheid erwähnten sechs Landhäusern in Anbetracht der verhältnismäßig bescheidenen Bedeutung und Ausdehnung der Anstalt so groß, und die Anstalt sei durch die Geländeformation oder durch, Gehölz derart isoliert, daß von einer Belästigung der Nachbarschaft keine Rede sein könne.

Der von einem Gebäude der Anstalt 60 m., von den ändern Baulichkeiten noch viel weiter entfernte Weg von Valavran nach Collex sei, was der Staatsrat übersehen habe, seit Erstellung der neuen Straße von Collex gänzlich verlassen. Keine zwei Personen begingen ihn per Tag und er sei fast ganz unbekannt. So sei er um 28. Mai 1905, einem schönen Sonntag, überhaupt von niemand benutzt worden. Der ganze Verkehr wickle sich bekanntermaßen auf der neuen Straße ab.

Für die Sicherheit des Publikums sei genügend gesorgt durch Sicherheitsvorrichtungen, wie Doppeltüren, Doppelfenster, Riegel etc, T sowie durch die Einrichtung des Wachdienstes.

Im ganzen
Kauton finde sich kein geeigneterer Ort für eine Anstalt wie die geplante. Der Staatsrat habe die seiner Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse gezogenen Schranken über-

sa schritten und einen nicht nur mit dem Grundsatz der Handels" and O'evrorbefreiheit unvereinbaren, sondern einen von Parteilichkeit nicht freien, willkürlichen Entscheid gefallt.

Die Rekurrentin ersuche um Vornahme eines Augenscheins unter Beiziehung von Experten und in Gegenwart der Parteien, wobei sich die Richtigkeit der vorstehenden Angaben sofort heraus' stellen werde.

Der Staatsrat sei früher bei Bewilligung von Privatanstalteff nicht so streng gewesen, selbst wenn eine Anstalten gleichzeitig Geisteskranke und Nervenleidende aufnahm. So habe er unter" der Herrschaft des Irrengesetzes von 1895 eine derartige Anstalt' in Lancy bewilligt, an deren Spitze nicht einmal ein Arzt stand.Das allerdings vor dem Jahr 1895 gegründete Privatirrenspita^ des Dr. Kohler in der Villa Sismondi nehme auch jetzt noclî gleichzeitig Nervenleidende und eigentliche Geisteskranke auf.

Diese inmitten der Gemeinde Chêne-ßougerie, hart an der durch starken Tramverkehr belebten großen Straße nach Annemasse gelegene Anstalt stehe hinsichtlich der innern Einrichtung und der zur Sicherheit des Publikums und der Überwachung der Kranken getroffenen Maßnahmen weit hinter dem geplanten Unternehmen der Rekurrentin zurück. Immerhin bestehe es auch heute noch in diesem ungenügenden Zustand, und angesichts dieser Tatsache bilde die Verweigerung der Bewilligung der Rekurrentin gegenüber in der Tat einen Akt rechtsungleicher Behandlung.

Die Rekurrentin bemerkt, daß im angefochtenen Entscheid die von der Aufsichtsbehörde, bemängelte Finanzierung der geplanten Anstalt nicht als Abweisungsgrund angeführt wird.

Infolge der Verweigerung der Bewilligung drohe der durch eine ganze Anzahl von onerösen Verträgen gebundenen Rekurrentin ein großer Schaden.

III.

In seiner Antwort vom 27. Juni 1905 beantragte der Staatsrat des Kantons Genf Abweisung des Rekurses aus folgenden Gründen : Die kritische Lage, in der sich die Rekurrentin zurzeit befinde, rühre einzig davon her, daß sie eine Menge von Verpflichtungen fest übernommen habe, bevor sie der verlangten Bewilligung sicher gewesen sei.

Von einer Parteilichkeit bei Prüfung des Begehrens der Rekurrentin könne nicht die Rede sein. Die Organe der Gesellschaft hätten reichlich Gelegenheit gehabt, in Unterredungen mit den Mitgliedern des Staatsrats die in Betracht kommenden Umstände

auseinanderzusetzen. Es habe im vorliegenden Fall weder eines Augenscheins noch einer kontradiktorischen Expertise bedurft, da der für die Anstalt in Aussicht genommene Platz jedem Genfer bekannt genug sei. Dem Privatinteresse der Villenbesitzer an der Erhaltung der ländlichen Ruhe der genannten Örtlichkeit siehe im vorliegenden Fall nicht etwa ein öffentliches Interesse, sondern das ebenfalls /ein private Interesse der Aktionäre der Rekurrentin an der Bewilligung des von ihnen geplanten Betriebes gegenüber.

Wenn das erste gegenüber dem ändern geschützt werde, so könne daraus niemand ein Vorwurf gemacht werden. In dieser Hinsieht habe der Staatsrat namentlich die Übelstände in Betracht ziehen müssen, die sich aus der Lage der geplanten Anstalt in der Nähe zweier Straßen ergeben.

Die bundesrechtliche Praxis habe immer anerkannt, daß im Streitfall das Interesse der öffentlichen Sicherheit der Freiheit der Gewerbeausübung vorgehe. In den Bereich des erstem fallen die, Garantien für die Sicherheit der Kranken und der Nachbarn einer Irrenanstalt, die Übelstände, die sich aus dem Geschrei der Tobsüchtigen, aus willkürlicher Internierung von Personen etc. ergeben. Es könne nun keinem Zweifel unterliegen, daß die Bestimmungen des Gesetzes über die Geisteskranken vom 25. Mai 1895 mit dem ebengenannten Grundsatz der bundesrechtlichen Praxis vereinbar seien. Da nun der Entscheid des Staatsrats vom 25. April 1905 in Anwendung eines kantonalen Gesetzes ergangen sei, so sei der Bundesrat nach seiner konstanten Rechtsprechung nicht zuständig, in zweiter Instanz die Interpretation eines kantonalen Gesetzes zu überprüfen. Der Bundesrat habe also nur zu untersuchen, ob eine Verfassungsbestimmung verletzt worden sei.

Der Staatsrat könne die Vermehrung von Privatirrenanstalten nicht begünstigen. Denn einerseits sei deren Überwachung immer viel schwieriger als diejenige öffentlicher Anstalten und anderseits widerspreche ihre Vermehrung dem öffentlichen Interesse, da sie der teueru, dem Staat schwere Lasten auferlegenden Anstalt Bei Air Konkurrenz machen.

Die von der Rekurrentin erwähnte Anstalt in Lancy bestehe schon lange nicht mehr.

"8 Was die Anstalt Kohler betreffe, so sei sie vor 1895 und lange vor Errichtung der staatlichen Irrenanstalt gegründet worden.

Als nun vor kurzer Zeit eine Gesellschaft, die diese
Anstalt übernehmen wolle, beim Staatsrat um die Betriebsbewilligung eingekommen sei, habe dieser in einem Brief vom 29. April 1905 hinsichtlich des Weiterbetriebes der Anstalt an dem Ort, wo sie sich derzeit befinde, alle Vorbehalte gemacht und die Erteilung der

85 Bewilligung vor allem an die Bedingung geknüpft, daß nicht mehr gleichzeitig Geisteskranke und Nervenleidende aufgenommen würden.

Mit dem Hinweis auf die ebengenannten Fälle habe die Rekurrentin den Nachweis nicht erbracht, daß der Staatsrat unter der Herrschaft des Gesetzes über die Geisteskranken vom Jahre 1895 und unter Verhältnissen, die denjenigen der Rekurrentin analog waren, Bewilligungen erteilt habe. Der angefochtene Entscheid stehe daher mit Art. 4 B.V. nicht im Widerspruch.

Mit Rücksicht auf die jetzt schon bestehenden Verpflichtungen der Rekurrentin sei ihr Grundkapital von Fr. 50,000 absolut ungenügend. Der Beschluß des Verwaltungsrats, wonach das Kapital auf Fr. 120,000 erhöht werden soll, habe keine Bedeutung, -solange er nicht von der Generalversammlung genehmigt sei. Diese Genehmigung könne aber erst nach einer Statutenrevision erteilt werden, da die jetzigen Gesellschaftsstatuten eine Kapitalserhöhung nicht vorsehen.

Der Staatsrat glaube, im Vorstehenden nachgewiesen zu haben, daß sein Entscheid weder mit Art. 31 noch mit Art. 4 der B.V.

im Widerspruch stehe.

IV.

Aus der Replik der Rekurrentin vom 19. Juli 1905 ist noch folgendes hervorzuheben : In der Sitzung des Großen Rats vom 24. Juni 1905 habe Staatsrat Vincent erklärt, daß die Staatsanstalt Bei Air schon jetzt dem Bedürfnis nicht mehr genüge, und daß mau mit der Regierung eines ändern Kantons Unterhandlungen wegen Unterbringung eines Teils der genferischeo Kranken habe anknüpfen müssen. Wenn nun auch das öffentliche Interesse die Schaffung von Konkurrenzanstalten zum staatlichen Irrenhaus nicht erheische, so verbiete es solche doch noch viel weniger, besonders da die Staatsanstalt den an sie gestellten Ansprüchen nicht zu genügen vermöge.

Wenn auch die geplante Anstalt ein rein auf Privatinteressen beruhendes Unternehmen darstelle, so dürfe der Staat dasselbe doch nicht ändern, ebenfalls rein privaten Interessen opfern. Zudem spiele das öffentliche Interesse an der Wahrung der Handelsund Gewerbefreiheit im vorliegenden Fall eine bedeutende Rolle.

Die zur Erhöhung des Grundkapitals nötige Statutenänderung werde sofort nach Erlangung der Bewilligung beantragt und zweifellos beschlossen werden. Die Klugheit gebiete aber, vor der Einforderung neuer Gelder den Entscheid über Sein oder Nichtsein des Unternehmens abzuwarten. Dabei könne sich der Staatsrat beruhigen, da er in Art. 5 des Gesetzes über die Geistes-

86 kranken das Mittel besitze, die erteilte Bewilligung jederzeit zu widerrufen, wenn die Rekurrentin ihren Verpflichtungen nicht nachkomme.

Gegenüber der Behauptung, der Bundesrat sei zur Überprüfung der im angefochtenen Entscheid enthaltenen Interpretation kantonalen Gesetzesrechts nicht zuständig, genüge es wohl, daran zu erinnern, daß die Rekurrentin die Aufhebung eines nach ihrer Ansicht willkürlichen Entscheids verlange.

Wenn auch eine Kantonsregierung kein Gericht sei, so unterstehe sie doch in allen den Fällen der Kontrolle durch die Bundesbehörde, wo ein durch die Verfassung gewährleistetes Recht in Frage stehe. Sie sei verpflichtet, bei der Entscheidung über die Ausübung eines solchen Rechts jede Willkür in der Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse des Falles zu vermeiden. Dies sei hier nicht geschehen, weshalb die Rekurrentin die Vornahme eines Augenscheins oder einer kontradiktorischen Expertise verlange, sofern nicht die Anbringen der Beschwerde und die beigelegten Aktenstücke ohne weiteres zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids genügen sollten.

V.

Aus der Duplik des Staatsrats vom 11. August 1905 ist noch folgendes zu erwähnen : Was die Erklärung des Staatsrats Vincent betreffe, so beziehe sie sich nur auf die unvermögliehen Kranken und auf diejenigen, die nur einen sehr kleinen Entgelt für ihre Verpflegung leisten. Dagegen sei für Kranke, die so hohe Kostgelder bezahlen können, wie sie in Privatanstalten verlangt werden, im Asyl Bei Air Platz genug vorhanden. Es liege daher in der Tat nicht im öffentlichen Interesse, Konkurrenzanstalten Privater zu bewilligen.

Die Anstalt Kohler befinde sich allein schon deshalb in einer ändern rechtlichen Lage als die Rekurrentin, weil sie vor dem Jahr 1895 gegründet wurde.

Im Mai 1905 habe eine Aktiengesellschaft die Anstalt übernehmen wollen und um Bewilligung des Weiterbetriebes nachgesucht. Über dieses Begehreu sei noch kein definitiver Beschluß gefaßt worden. Aber selbst wenn der Staatsrat diese Bewilligung erteilen würde, so könnte von einer rechtsungleichen Behandlung gegenüber der Rekurrentin nicht gesprochen werden, weil die Verhältnisse in beiden Fällen verschieden seien.

Die Versicherung der Rekurrentin, daß das Grundkapital erhöht werde, genüge nicht.

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VI.

Das Schweiz. Justiz- und Polizeidepartetnent beauftrag!o die HH. Dr. Morax, Direktor des kantonalen Gesundheitswesens, in Lausanne und Prof. v. Speyr, Direktor der Waldau, die Frage au begutachten, ob die Lage der projektierten Anstalt Inkouvenienzen mit sich bringen könnte o. betreffend die Sicherheit des Dienstbetriebes der Anstalt, b. betreffend die öffentliche Sicherheit und Belästigung der Nachbarschaft, insbesondere wegen des Umstandes, daß ein öffentlicher Weg zwischen den Anstaltsgebäuden durchführt.

Am 9. Oktober 1905 fand sodann in Gegenwart der Experten, aowie von Vertretern der Rekurrentin, des Staatsrats und des Schweiz. Justiz- und Polizeidepartements in Valavran ein Augenschein statt. Am 14. Oktober 1905 ersuchten die Vertreter der ·Rekurrentin das Schweiz. Justiz- und Polizeidepartement, mit der Prüfuna;ö der Beschwerde noch zuzuwarten,7 weil eine Einigung O O ·zwischen dem Staatsrat und der Gesellschaft in Aussicht stehe.

Mit Schreiben vom 28./30. November 1905 ersuchten sie aber ·das Justiz- und Polizeidepartement, den Entscheid des Bundesrates baldmöglichst herbeizuführen.

Am 15. November 1905 ging das Gutachten der beiden Experten ein, das sich folgendermaßen über die oben angeführten Fragen ausspricht : ,,Wir begreifen und unterstützen es vollkommen, wenn der Staatsrat des Kantons Genf auf Grund des genferischen Irrengesetzes bei der Errichtung von Privatirrenanstalten so strenge als nur möglich verfährt. Wir würden es sogar begreifen und unterstützen, wenn ein Kanton, der selber hinreichend für seine Geisteskranken sorgt, die Errichtung neuer Privatirrenanstalten gesetzlich vollkommen verböte.

Berücksichtigen wir nun aber einfach die L«ge der projektierten Anstalt in Valavran -- über die Einrichtung der Gebäude und ihre besondere Verwendung haben wir uns nicht auszusprechen -- so halten wir dafür, daß diese allen ärztlichen Anforderungen entspricht. Man könnte ihr vielleicht eher entgegenhalten, daß sie für gewisse Zwecke allzu einsam sei. Wir haben keinen Grund für die Annahme, daß die öffentliche Sicherheit dadurch auf den Straßen oder in den umliegenden Landgütern gefährdet werde.

Würden sehr lärmende Kranke verpflegt, so ließe sich denken, daß ihre Schreie die Bewohner der nächsten Landhäuser stören könnten, wenn man nur deren gerade Entfernungen mißt (geringste Distanz 286 Meter). Allein diese Landhäuser liegen gegenüber

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dem Château de Valavran derart hinter Bodensenkungen oder Baumgruppen versteckt, daß wir auch von diesen Schreien keine wesentliche Belästigung für sie befürchten. Die Aufsichtsbehörde über die Geisteskranken würde übrigens immer die Mittel in der Hand haben, um eine allfällige Belästigung des Publikums oder Beunruhigung der Nachbarn durch das Schreien der Kranken zu verhindern.

Eine einzige Schwierigkeit, das Durchschneiden des öffentlichen Weges, scheint uns für den innern Betrieb der Anstalt etwas unbequem zu sein, unbequemer jedenfalls als für diePassanten. Aber auch diese Unbequemlichkeit wird nach der ganzen Anlage des Weges kaum in Betracht kommen, zumal da er auch nach den Akten sozusagen nie mehr begangen wird.

Vom ärztlichen Standpunkte aus können wir also gegen die Errichtung einer Privatirrenanstalt in Valavran nichts einwenden.

Etwas anderes mag dagegen die öffentliche Meinung reden, die die Nachbarschaft einer Irrenanstalt noch für sehr bedenklich, ansieht, und es ist wohl denkbar, daß der Wert der umliegenden Güter dadurch beeinträchtigt wird. Darüber haben wir uns jedoch nicht auszusprechen, und wir bemerken nur noch, daß nicht soselten Luxusgebäude (Villen) neben altbekannten und fortwährend betriebenen Irrenanstalten errichtet werden.a

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1. Es darf im vorliegenden Fall füglich dahingestellt bleiben,, ob die Kantone die Irrenpflege zu einem öffentlichen Verwaltungsdienst mit Ausschluß jeder Privatanstalt machen können, da das genferische Gesetz vom 25. Mai 1905 nicht auf diesem Boden steht, sondern Privatanstalten grundsätzlich zuläßt. Da sich die Ausübung der Privatirrenpflege als ein Gewerbe im Sinne des Art. 31 B.V. darstellt, stehen diese Anstalten im Kanton Genf unter dem Schütze der Handels- und Gewerbefreiheit.

2. Die nach Art. 5 des genferischen Irrengesetzes zum Betrieb einer Privatirrenanstalt nötige Bewilligung kann vom Staatsrat nur dann verweigert werden, wenn polizeiliche Gründe gegen Errichtung und Betrieb der Anstalt, wie sie geplant ist, sprechen.

Nun erhebt der Staatsrat die Einrede, der Bundesrat habe nicht zu prüfen, ob solche Gründe in einem gegebenen Falle wirklich vorhanden seien; die Bestimmungen des genferischen Irrengesetzes, auf Grund deren der Rekurrentin die Bewilligung verweigert wurde, seien als solche mit Art. 31 der B.V. vereinbar:.

89 ihre Auslegung sei lediglich Sache der kantonalen Behördeu. Diese Einrede ist nicht stichhaltig. Die im Genfer Gesetz enthaltenen polizeilichen Normen sind allerdings, schon ihrer allgemeinen Fassung wegen, als solche nicht zu beanstanden; der Bundesrat hat auch nicht zu untersuchen, ob die einzelne Anwendung mit dem Gesetz im Einklang ist. Wohl aber hat er das Recht und die Pflicht, zu prüfen, ob die einzelne, in Anwendung des Gesetzes, getroffene Entscheidung nicht den Grundsätzen der Bundesverfassung widerspreche.

3. Es ist somit zu untersuchen, ob die vom Staatsrat zur Verweigerung der Bewilligung vorgebrachten Gründe sich im Rahmen der nach Art. 31 B.V. zulässigen Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit halten. Der Staatsrat hat gegen die Bewilligung der Anstalt in Valavran sanitäts- und sicherheitspolizeiliche Bedenken erhoben, die, sofern sie begründet wären, allerdings die Abweisung des Gesuchs der Rekurrentin gemäß Art. 3i B.V. rechtfertigen könnten. Das oben wiedergegebene Gutachten der HH. Dr. Morax und Prof. v. Speyr kommt aber zum Schluß, daß diese Bedenken nicht stichhaltig seien, daß vielmehr das geplante Unternehmen alle wünsch baren Garantien für ©inen geordneten Anstaltsdienst sowie für die Sicherheit der Nachbarn und des Publikums biete.

Auch die genferisohe Aufsichtsbehörde für Geisteskranke hatte übrigens in dieser Richtung keine Einwände erhoben. Sollten trotzdem späterhin Verbesserungen der baulichen Einrichtungen oder des Betriebs der Anstalt notwendig werden, -so könnte die Aufsichtsbehörde oder der Staaterat solche immer noch verlangen.

Die Privatinteressen der angrenzenden Villenbesitzer sind nicht in einer Weise gefährdet, welche das Einschreiten der Administrativbehörde rechtfertigen würde. Wenn sich die Nachbaren durch die Errichtung der Anstalt in ihrem Eigentumsrecht verletzt glauben, so mögen sie sich um Schutz ihrer Interessen an die Gerichte wenden.

4. Die zwei übrigen vom Staatsrat für die Verweigerung des Gesuchs der Rekurrentin geltend gemachten Gründe müssen abgewiesen werden.

a. Die Absicht, der Staatsirrenanstalt Bei Air eine Konkurrenz fernzuhalten, die ihr durch Errichtung der Heilanstalt Valavran entstehen könnte, ist unvereinbar mit dem Prinzip der Gewerbefreiheit, da^, wie oben ausgeführt, auch hier Geltung beansprucht.

ö. Ebenso unvereinbar mit Art. 8l B.V. ist der Einwand, diefinanzielle Grundlage der Gesellschaft sei ungenügend (vgL

so Salis, Bundesrecht, IL, 8. 809/810). Wenn sich in der Folge zeigen sollte, daß die Rekurrentin wegen zu geringer Mittel nicht im stände ist, ihren sanitätspolizeilichen Verpflichdirigea nachzukommen, so hat der Staatsrat jederzeit die Möglichkeit, die Bewilligung zurückzuziehen und die Anstalt zu schließen.

Aus Vorstehendem ergibt sich, daß der angefochtene Entscheid in der Tat im Widerspruch zu Art. 31 der B.V. steht.

Es braucht daher nicht mehr untersucht zu werden, ob in der Abweisung der Rekurrentin auch im Hinblick auf die Duldung der Anstalt Kohler unter der Herrschaft dea Genfer Irrengesetzes eine Verletzung der Rechtsgleichheit liegt.

Demgemäß wird erkannt: Die Beschwerde wird gutgeheißen und der Staatsrat des Kantons Genf eingeladen, der Rekurrentin die verlangte Bewilligung zürn Betrieb einer Privatirrenanstalt in Valavran nach den vorgelegten Plänen zu erteilen.

B e r n , den 5. Januar

1906.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

L. Forrer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde der Société du Château de Valavran in Genf, betreffend Verweigerung einer Bewilligung zum Betrieb einer Privatirrenanstalt. (Vom 5.

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10.01.1906

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