Evaluation der Anhörungs- und Vernehmlassungspraxis des Bundes Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 7. September 2011

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Bericht 1

Hintergrund und Gegenstand der Evaluation

Das Vernehmlassungsverfahren ist für die schweizerische Rechtsetzung von zentraler Bedeutung und hat eine lange Tradition, die bis in die Anfänge des Bundesstaates zurückreicht. Mit der Vernehmlassung sollen in der vorparlamentarischen Phase die Kantone, politischen Parteien und interessierten Kreise in die Gestaltung der Bundespolitik einbezogen und die Akzeptanz und Vollzugstauglichkeit von Bundesmassnahmen verbessert werden. Nachdem die Vernehmlassungen in den Neunzigerjahren merklich zugenommen hatten, regelte der Gesetzgeber diese Praxis im Jahre 2005 erstmals formell in einem Gesetz1 mit dem Ziel, das Verfahren zu straffen und zu verwesentlichen.2 Die neue Regelung führte u.a. die Unterscheidung ein zwischen Vernehmlassungen, die der Bundesrat oder das Parlament bei wichtigen Vorhaben wie Verfassungsänderungen eröffnet, und Anhörungen, welche Departemente oder die Bundeskanzlei bei weniger wichtigen Vorhaben von sich aus durchführen.

Obschon sämtliche politischen Akteure die Vernehmlassung als sinnvoll erachten, wurden mit der Reform von 2005 nicht die erwarteten Ergebnisse erzielt. In den vergangenen Jahren wurde wiederholt Kritik laut, was längerfristig die Legitimität des Instruments schwächen könnte. Die Anhörungs- und Vernehmlassungsteilnehmenden beanstanden insbesondere zu kurze Fristen, fehlende Transparenz bei der Adressatenauswahl und bei der Verwertung der Stellungnahmen sowie das konferenzielle Verfahren.

Angesichts der genannten Probleme beschlossen die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte am 21. Januar 2010, die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) mit einer Evaluation der Anhörungs- und Vernehmlassungspraxis des Bundes zu beauftragen. Die zuständige Subkommission EJPD/BK der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) entschied am 30. Juni 2010 auf der Grundlage der Vorschläge der PVK, den Fokus der Evaluation auf die Anhörungspraxis der Bundesverwaltung zu richten. Untersucht werden sollte insbesondere, nach welchen Kriterien sich die Bundesverwaltung für eine Vernehmlassung oder für eine Anhörung entscheidet, welche rechtlichen Bestimmungen für das Anhörungsverfahren relevant sind und wie diese angewendet werden, sowie unter welchen Bedingungen das Verfahren abläuft und wie seine Ergebnisse kommuniziert werden.

Die PVK hat ihre Evaluation
inzwischen abgeschlossen und die Ergebnisse in ihrem Bericht «Evaluation der Anhörungs- und Vernehmlassungspraxis des Bundes» vom 9. Juni 2011 (siehe Anhang) festgehalten. Die Subkommission EJPD/BK hat von diesem Bericht an ihrer Sitzung vom 22. Juni 2011 Kenntnis genommen. Sie übermittelte ihre Schlussfolgerungen und Anträge der GPK-N, die den vorliegenden Bericht und die darin enthaltenen Empfehlungen an ihrer Sitzung vom 7. September

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Bundesgesetz vom 18. März 2005 über das Vernehmlassungsverfahren (Vernehmlassungsgesetz, VlG), SR 172.061.

Vgl. Botschaft vom 21. Januar 2004 zum Bundesgesetz über das Vernehmlassungsverfahren, BBl 2004 533.

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2011 verabschiedet und dem Bundesrat übermittelt hat. Die Kommission hat den Bericht zusammen mit der Evaluation der PVK zur Veröffentlichung freigegeben.

Der vorliegende Bericht der GPK-N stützt sich auf die Beurteilung des Evaluationsberichts der PVK. Er ist somit komplementär zum Bericht der PVK vom 9. Juni 2011 und führt dessen Ergebnisse nur dort auf, wo es zum Verständnis notwendig ist.

Das nachfolgende Hauptkapitel dieses Berichts befasst sich zum einen mit dem Optimierungspotenzial bei Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren im Allgemeinen (Ziff. 2.1). Die GPK-N ist der Ansicht, dass unabhängig vom angewendeten Verfahren verschiedene Bestimmungen geändert oder präzisiert werden müssen, um die Erfüllung der Zwecke von Artikel 2 VlG3 zu erleichtern. Zum anderen wird die Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung behandelt (Ziff. 2.2). Mit dieser Differenzierung bezweckte der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des VlG im Jahr 2005, die Zahl der Vernehmlassungen zu verringern und das Verfahren qualitativ zu verbessern. Die GPK-N sieht in dieser Unterscheidung den problematischsten Teil der aktuellen Praxis und fordert den Bundesrat auf, zu prüfen, ob es zweckmässig ist, weiterhin an zwei verschiedenen Verfahren festzuhalten.

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Schlussfolgerungen der Geschäftsprüfungskommission

Die GPK-N stellt mit Genugtuung fest, dass die Evaluation punkto Akzeptanz des Instruments keine grösseren Probleme zutage gebracht hat. Offenbar erachten sowohl die durchführenden Stellen innerhalb der Bundesverwaltung als auch die Adressaten eine Konsultation im Vernehmlassungs- oder Anhörungsverfahren im Grossen und Ganzen als sinnvoll und nützlich. Letztere begrüssen es, an der Entscheidungsfindung des Bundes teilhaben und ihr Fachwissen in den politischen Prozess einbringen zu können. Die Evaluation der PVK zeigt jedoch auf, dass die vom Gesetzgeber mit der Einführung des VlG im Jahr 2005 verfolgten Ziele nicht erreicht worden sind und in verschiedenen Bereichen des Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahrens Optimierungspotenzial besteht.

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Der Artikel definiert den Zweck des Verfahrens wie folgt: «Das Vernehmlassungsverfahren bezweckt die Beteiligung der Kantone, der politischen Parteien und der interessierten Kreise an der Meinungsbildung und Entscheidfindung des Bundes. Es soll Aufschluss geben über die sachliche Richtigkeit, die Vollzugstauglichkeit und die Akzeptanz eines Vorhabens des Bundes.»

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2.1

Optimierungspotenzial beim Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren

2.1.1

Rolle und Kompetenzen der Bundeskanzlei

Die Bundeskanzlei ist gemäss Artikel 5 Absatz 3 des VlG und Artikel 4 der VlV4 zuständig für die Koordination und Planung der Vernehmlassungen und berät die Departemente bei der Frage, welche Art von Konsultationsverfahren durchzuführen ist. In der Praxis kommt es jedoch selten vor, dass die Bundeskanzlei ihre Rolle tatsächlich wahrnimmt und beispielsweise Einwände gegenüber einem Departement äussert oder die verschiedenen Verfahren zeitlich koordiniert. Dies liegt auch daran, dass die Bundeskanzlei nicht über die nötigen Kompetenzen und Instrumente verfügt, um sich durchzusetzen, obwohl ihr von Rechts wegen in diesem Bereich entsprechende Aufgaben zukommen.

Die GPK-N ist zudem über den Mangel an Ressourcen, die der Bundeskanzlei für ihre Koordinationstätigkeit zur Verfügung stehen, besorgt. Aufgrund der Ressourcensituation scheinen der Entscheid zur Durchführung und die konkrete Ausgestaltung des jeweiligen Anhörungsverfahrens weniger kontrolliert zu werden als bei in der Regel politisch bedeutsameren Vernehmlassungsverfahren.

Aus Sicht der Kommission ist die Koordinationsaufgabe der Bundeskanzlei aber von Bedeutung, da nur sie den Entscheid eines Departements oder eines Amts, eine (oder eben keine) Anhörung durchzuführen, in Frage stellen könnte. Eine Zustimmung des Bundesrates zu diesem Entscheid ist nicht erforderlich.5 Die Bundeskanzlei ist als einziges Organ damit beauftragt, die Durchführung von Anhörungen und damit den Einbezug verwaltungsexterner Interessen auch bei Vorlagen von weniger grosser Tragweite (vgl. Art. 147 BV) einer gewissen Kontrolle zu unterziehen.6 Empfehlung 1: Rolle und Kompetenzen der Bundeskanzlei Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, dafür zu sorgen, dass die Rolle, die Aufgaben und die Kompetenzen der Bundeskanzlei hinsichtlich der Koordination der Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren, auch solcher, die von anderen Gesetzen als dem VlG geregelt werden, klar definiert sind. Er erarbeitet einen Vorschlag zur Erweiterung der Kompetenzen und des Instrumentariums der Bundeskanzlei in diesem Bereich und sorgt dafür, dass dieser die zur Erfüllung ihres Auftrags notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen.

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Verordnung vom 17. August 2005 über das Vernehmlassungsverfahren (Vernehmlassungsverordnung, VlV), SR 172.061.1.

Über die Eröffnung eines Anhörungsverfahren entscheidet in der Regel nicht der Bundesrat (vgl. Art. 10 VlG).

Bei den meisten Erlassentwürfen, zu denen Anhörungen durchgeführt werden, handelt es sich zudem um solche auf Verordnungsebene; sie werden folglich auch im weiteren Verfahren nicht im Parlament behandelt.

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2.1.2

Transparenz bei der Ergebniskommunikation

Abgesehen von der Bestimmung, dass die Stellungnahmen der Kantone besonders berücksichtigt werden sollen, «wenn es um Fragen der Umsetzung oder des Vollzugs von Bundesrecht geht» (Art. 18 VlV), enthält das Gesetz keine Vorgaben zur Art und Weise der Berücksichtigung bzw. zur Gewichtung der Stellungnahmen.

Entgegen der Forderung einiger Adressaten, im Gesetz klare Kriterien für die Gewichtung der Stellungnahmen festzulegen, ist es nach Auffassung der GPK-N klar nicht zweckmässig, den Einfluss bestimmter Akteure rechtlich festzuschreiben. Die Bewertung der Stellungnahmen der interessierten Kreise muss die Aufgabe des Bundesrates oder der verfahrensführenden Behörde bleiben, wobei sich diese an den Zwecken des Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahrens gemäss Artikel 2 VlG zu orientieren haben.

Die Evaluation der PVK zeigt jedoch, dass eine grössere Transparenz bei der Ergebniskommunikation die Legitimität des Instruments stärken würde. Die Teilnehmenden wünschen, namentlich bei Anhörungsverfahren7, über die Verwertung der Stellungnahmen und über eine allfällige Änderung der ursprünglichen Vorlage aktiv informiert zu werden. Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, zu prüfen, wie diesem berechtigten Wunsch nach einer transparenteren Ergebniskommunikation in der Praxis Rechnung getragen werden kann. Bundesrat und Bundesverwaltung sind aufgerufen, unter Bezugnahme auf die Verfahrenszwecke von Artikel 2 VlG deutlicher zu vermitteln, warum gewissen Stellungnahmen mehr Gewicht verliehen wird als anderen.

Empfehlung 2: Transparenz der Ergebniskommunikation Die GPK-N empfiehlt dem Bundesrat, zu prüfen, wie die Ergebnisse von Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren transparenter kommuniziert werden können. Er sorgt dafür, dass die Adressaten von Anhörungen aktiv und innert angemessener Frist über die Verfahrensergebnisse informiert werden.

2.1.3

Abschaffung der konferenziellen Verfahren und Einführung einer Begründungspflicht bei Fristverkürzungen

Das Gesetz sieht vor, dass das Verfahren bei Dringlichkeit ausnahmsweise ganz oder teilweise konferenziell das heisst mit Verzicht auf die grundsätzlich vorgeschriebene Schriftlichkeit des Verfahrens­ durchgeführt werden kann (Art. 7 VlG).

Aus der Evaluation der PVK geht hervor, dass diese Verfahrensart durchwegs kritisiert wird. Konferenzielle Verfahren sind mindestens ebenso kostspielig und auf7

Bei Vernehmlassungen informiert die Bundeskanzlei die Medien nach dem Beschluss des Bundesrates über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens und macht den Ergebnisbericht elektronisch zugänglich. Die federführende Verwaltungseinheit ist zudem verpflichtet, die Vernehmlassungsteilnehmer über die Veröffentlichung des Ergebnisberichts zu informieren (Art. 9 Abs. 1 Bst. c VIG sowie Art. 21 VIV). Die bundesrätliche Botschaft zum Erlassentwurf enthält einen Vernehmlassungsbericht und informiert über allfällige Änderungen der ursprünglichen Vorlage. Dies gilt im Regelfall nicht für die Entwürfe auf Verordnungsebene, zu denen ein Anhörungsverfahren durchgeführt wurde.

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wändig wie schriftliche Verfahren, dies umso mehr, als die Adressaten in der Praxis auch eine schriftliche Stellungnahme einreichen.

Die GPK-N ist sich bewusst, dass es in Ausnahmefällen zuweilen unumgänglich ist, von der gesetzlich vorgesehenen Frist abzuweichen, um die Verfahrenszwecke gemäss Artikel 2 VlG erfüllen zu können. Werden diese Fälle jedoch nicht begründet, schwächt dies die Legitimität des Instruments und es entsteht der Eindruck, es werde ein reines «Alibiverfahren» durchgeführt.

Aus diesen Gründen ist die GPK-N der Ansicht, dass es sinnvoller wäre, bei Dringlichkeit als einzige Möglichkeit der Verfahrensänderung die Verkürzung der gesetzlichen Konsultationsfristen vorzusehen, wobei diese Fristverkürzung von der verfahrensführenden Behörde zu begründen wäre.

Empfehlung 3: Abschaffung des konferenziellen Verfahrens Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, dem Parlament einen Vorschlag zur Abschaffung des konferenziellen Verfahrens für Anhörungen und Vernehmlassungen vorzulegen.

Empfehlung 4: Begründungspflicht bei einer Fristverkürzung Die GPK-N fordert den Bundesrat dazu auf, zuhanden des Parlaments einen Vorschlag zu erarbeiten, wonach die verfahrensführende Behörde im VlG verpflichtet wird, aus Dringlichkeitsgründen verkürzte Konsultationsfristen zu begründen.

2.2

Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung

Das Hauptziel des Gesetzgebers bei der Einführung des VlG im Jahr 2005 bestand darin, das Verfahren zu straffen und zu verwesentlichen. Durch die Unterscheidung zwischen Vernehmlassungen, die nur vom Bundesrat und nur bei wichtigen Vorhaben eröffnet werden können, und Anhörungen sollte die Zahl der Verfahren verringert und die Qualität des Instruments verbessert werden. Die Botschaft zum Bundesgesetz präzisierte: «Das Vernehmlassungsverfahren wird qualitativ gestärkt, indem es [...] nur zu wichtigen Erlassen [...] eröffnet wird. Nicht nur die Regierung, sondern auch die Vernehmlassungsadressaten werden damit von Vernehmlassungen zu untergeordneten Belangen entlastet und können sich verstärkt auf das Wesentliche konzentrieren.»8 Tatsache ist aber, dass die Unterscheidung zwischen Anhörung und Vernehmlassung ungenügend geregelt und den Adressaten von Konsultationsverfahren weitgehend unbekannt ist. Das Ziel des Gesetzgebers konnte darum nicht erreicht werden.

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Botschaft vom 21. Januar 2004 zum Bundesgesetz über das Vernehmlassungsverfahren, BBl 2004 533, S. 536 f.

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Die GPK-N ist deshalb der Auffassung, dass erneut geprüft werden muss, ob es zweckmässig ist, an zwei verschiedenen Verfahren festzuhalten. Sie fordert den Bundesrat auf, diese Prüfung vorzunehmen. Je nachdem, ob der Bundesrat sich entscheidet, diese Unterscheidung beizubehalten oder abzuschaffen, hat die GPK-N weitergehende Empfehlungen formuliert (siehe Ziff. 2.2.1 und 2.2.2).

Empfehlung 5: Zweckmässigkeit der Unterscheidung von Vernehmlassung und Anhörung Die GPK-N erwartet vom Bundesrat eine Prüfung der Frage, ob es zweckmässig ist, weiterhin an zwei verschiedenen Verfahren festzuhalten, oder ob die Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung abgeschafft werden sollte.

2.2.1

Variante: Abschaffung der Unterscheidung

Kommt der Bundesrat zum Schluss, dass die Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung nicht zweckmässig und nur noch eine Art von Konsultationsverfahren vorzusehen ist, empfiehlt die GPK-N, die Bestimmungen über den Gegenstand des Vernehmlassungsverfahrens, wonach ein solches zu Vorhaben einer gewissen Normstufe oder von grosser Bedeutung durchzuführen ist (Art. 3 VlG), zu streichen. Nach Ansicht der Kommission soll sich die zuständige Behörde beim Entscheid, ob die Eröffnung eines Vernehmlassungsverfahrens zweckmässig ist, einzig an den Verfahrenszwecken von Artikel 2 VlG orientieren.

Die GPK-N ist zudem der Ansicht, dass die Zuständigkeiten klar geregelt und analog zu Empfehlung 4 eine Begründungspflicht eingeführt werden sollte. Das Gesetz sollte die Zuständigkeiten für die Verfahrenseröffnung festlegen und die verfahrensführende Behörde verpflichten, ihren Entscheid, ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen, unter Bezugnahme auf die Zwecke des Verfahrens zu begründen.

Letzteres deshalb, weil die Eröffnung eines Vernehmlassungsverfahrens nur angebracht ist, wenn damit die Zwecke gemäss Artikel 2 VlG verfolgt werden können.

Empfehlung 5a: Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen und Einführung einer Begründungspflicht Beschliesst der Bundesrat, die Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung abschaffen zu wollen, fordert die GPK-N, dass er dem Parlament eine entsprechende Rechtsänderung vorschlägt. Dabei ist zu regeln, wer für die Durchführung des Verfahrens zuständig ist. Zudem prüft der Bundesrat die Einführung einer Pflicht für die verfahrensführende Behörde, ihren Eröffnungsentscheid unter Bezugnahme auf die Verfahrenszwecke von Artikel 2 VlG zu begründen.

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2.2.2

Variante: Beibehaltung der beiden Verfahrensarten

Kommt der Bundesrat zum Schluss, dass die Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung für die Erreichung der gesetzgeberischen Ziele zweckmässig ist und beibehalten werden sollte, so ist es nach Ansicht der GPK-N unabdingbar, das Anhörungsverfahren klarer und umfassender zu regeln. Die Evaluation der PVK zeigt, dass viele Adressaten von Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren und teilweise selbst die Verwaltung die Differenzierung zwischen den beiden Verfahrensarten nicht kennen oder dass diese für sie nicht relevant ist. Die unterschiedliche Handhabung der Verfahren, die dadurch zustande kommt, dass das Anhörungsverfahren im Gesetz und in der Verordnung nur marginal geregelt ist, kann bei den Teilnehmenden den Eindruck erwecken, dass sich die Bundesverwaltung über die Vorgaben zum Vernehmlassungsverfahren hinwegsetzt, was längerfristig die Legitimität des Instruments schwächt. Die GPK-N erachtet es deshalb für notwendig, umfassende Rahmenbedingungen für das Anhörungsverfahren festzulegen und die Kommunikation mit den Adressaten zu verbessern. Es versteht sich von selbst, dass der Bundesrat zudem alles daran setzen muss, dass die Vorgaben (auch die bereits bestehenden) befolgt werden.

In den Augen der GPK-N sind in den folgenden Bereichen Änderungen oder Präzisierungen notwendig: ­

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Unterscheidungskriterien. Das Gesetz nennt zwei wesentliche Kriterien dafür, wann ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen ist: die Normstufe und die Tragweite des Vorhabens (Art. 3 VlG). Es ist jedoch nicht festgelegt, ob eines dieser Kriterien Vorrang vor dem anderen hat, und in der Praxis wird die Tragweite eines Vorhabens selten abgeklärt. Gemäss dem Kriterium der Normstufe findet bei Verfassungsänderungen, wichtigen Gesetzen und völkerrechtlichen Verträgen, die dem Referendum unterliegen (Art. 3 Abs. 1 VlG), zwingend ein Vernehmlassungsverfahren statt. Die formelle Stufe einer Norm ist zweifelsohne ein wichtiger Indikator für deren Tragweite, spiegelt aber nicht zwangsläufig deren materielle Bedeutung wider.

Ist die Normstufe ein zwingendes Kriterium, so führt dies zu einer unnötigen Anhäufung von Verfahren, welche zudem ­ wie die Evaluation der PVK zeigt ­ die Zwecke von Artikel 2 VlG oftmals gar nicht erfüllen können.

Dies ist zum Beispiel bei den völkerrechtlichen Verträgen der Fall, die auf nationaler Ebene nicht änderbar sind. Die Tragweite eines Vorhabens (Art. 3 Abs. 2 VlG) sollte folglich das einzige Unterscheidungskriterium sein9. Sie sollte jedoch nicht als zwingendes Kriterium im Gesetz verankert werden, da sie hauptsächlich von einer politischen Beurteilung abhängt, die von Fall zu Fall erfolgen muss. Es scheint dagegen sinnvoll, dass die Bundesbehörde, die eine Vernehmlassung eröffnet, ihren Entscheid begründet und ihre Beurteilung der «Tragweite» des Vorhabens bekannt gibt (vgl. unten). Es obliegt dem Bundesrat im Rahmen seiner Verwaltungsführung, mit entsprechenden Richtlinien oder Indikatoren dafür zu sorgen, dass das Kriterium der «Tragweite» von den zuständigen Bundesstellen verstanden und einheitlich angewendet wird. Aus Sicht der GPK-N könnte auf diese Weise die derzeit uneinheitliche Praxis in der Bundesverwaltung harmonisiert werden. Mit einem solchen Katalog von Indikatoren, der wie bereits erwähnt nicht Der Begriff der «Vorhaben von grosser Tragweite» wird übrigens auch in der Verfassung verwendet (Art. 147 BV).

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rechtsverbindlich sein sollte, könnte auch die Bundeskanzlei ihre koordinierende Rolle einfacher wahrnehmen (vgl. Empfehlung 1).

­

Begründungspflicht. Die zuständigen Bundesstellen sollten immer begründen, warum ein Vernehmlassungs- oder Anhörungsverfahren durchzuführen ist und weshalb sie sich für das eine oder für das andere Verfahren entschieden haben (vgl. oben). Mit anderen Worten sollte die durchführende Behörde offen erläutern, inwiefern das Vernehmlassungs- oder Anhörungsverfahren dem gesetzlichen Verfahrenszweck dient und inwiefern die gewählte Verfahrensart ­ Vernehmlassung oder Anhörung ­ der Tragweite des fraglichen Vorhabens gerecht wird.

­

Zuständigkeit für den Entscheid. Die Evaluation der PVK zeigt, dass die Wahl der Verfahrensart ­ Vernehmlassung oder Anhörung ­ regelmässig auf Amtsebene getroffen wird und der Entscheid, ein Anhörungsverfahren zu eröffnen, selten vom Generalsekretariat des zuständigen Departements oder der Bundeskanzlei (oder sogar dem Bundesrat) in Frage gestellt wird. Während das Gesetz klar bestimmt, dass Vernehmlassungsverfahren vom Bundesrat (oder von einer parlamentarischen Kommission) eröffnet werden, gibt es diesbezüglich keine Regelung für Anhörungen. Der Bundesrat sollte deshalb klar bestimmen, wem unter welchen Voraussetzungen die Kompetenz zur Festlegung der Verfahrensart zusteht.

­

Bezeichnung. Der Begriff der «Anhörung» sorgt offenbar bei vielen Adressaten für Verwirrung, da er eher mit einer mündlichen, oft informellen Besprechung in der frühen Phase der Gesetzgebung assoziiert wird. Er sollte deshalb geändert werden.

­

Bessere Bekanntmachung der Verfahrensunterschiede. Wie die Evaluation der PVK zeigt, ist die Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung bei den meisten Adressaten nur wenig oder gar nicht bekannt. Es dürfte daher unerlässlich sein, die Kommunikation mit den Adressaten (zumindest mit den in Art. 4 Abs. 2 VlG genannten, ständigen Vernehmlassungsteilnehmern wie Kantone, Parteien und Dachverbände der Wirtschaft) und der Bundesverwaltung zu verbessern. Der Bundesrat sollte insbesondere dafür sorgen, dass die Art des gewählten Verfahrens immer klar genannt wird und die Rahmenbedingungen der beiden Verfahren den betroffenen Kreisen besser bekannt sind.

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Zusätzliche Regelung des Anhörungsverfahrens. Die nur rudimentäre Regulierung des Anhörungsverfahrens sorgt regelmässig für Unklarheiten. Der Bundesrat sollte deshalb prüfen, inwieweit sich die bestehenden Vorgaben für das Vernehmlassungsverfahren auch auf das Anhörungsverfahren anwenden lassen. Nach Auffassung der GPK-N könnte der Bundesrat entweder den Geltungsbereich der Bestimmungen zum Vernehmlassungsverfahren auf das Anhörungsverfahren ausdehnen, verbunden mit der Möglichkeit von diesen in begründeten Fällen abzuweichen (vgl. Empfehlung 4), oder neue Bestimmungen eigens für das Anhörungsverfahren vorsehen. Auf jeden Fall fordert die Kommission den Bundesrat auf, klare Bestimmungen zu den Antwortfristen, zum Adressatenkreis und zur Verwertung der Stellungnahmen festzulegen (und dafür zu sorgen, dass diese Bestimmungen auch eingehalten werden).

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Empfehlung 5b: Konkretisierung des Anhörungsverfahrens Beschliesst der Bundesrat, an der Unterscheidung zwischen Vernehmlassung und Anhörung festzuhalten, fordert die GPK-N von ihm, dass er klare Vorgaben für das Anhörungsverfahren vorsieht. Im Rahmen der Neukonzipierung der gesetzlichen Grundlagen beachtet er folgende Elemente: 5b.1

Er beantragt dem Parlament die Aufhebung des zwingenden Charakters des Kriteriums der Normstufe (Art. 3 Abs. 1 VlG) und sorgt für eine transparente Auslegung des Kriteriums der Tragweite eines Vorhabens. Er leitet die notwendigen Schritte zur Harmonisierung der Verwaltungspraxis ein.

5b.2

Er sorgt dafür, dass die zuständige Behörde ihren Entscheid, ein Vernehmlassungs- oder Anhörungsverfahren zu eröffnen, unter Bezugnahme auf die Zwecke des Gesetzes begründet.

5b.3

Er legt dem Parlament einen Entwurf zur Anpassung des VlG vor, worin die Zuständigkeit für den Entscheid über die Eröffnung eines Anhörungsverfahrens geregelt wird.

5b.4

Er leitet eine Umbenennung des Anhörungsverfahrens ein.

5b.5

Er sorgt dafür, dass den Adressaten und der Bundesverwaltung die einschlägigen Regeln und die Unterschiede zwischen den beiden Verfahrensarten bekannt sind.

5b.6

Er sorgt dafür, dass das neu bezeichnete Verfahren klarer geregelt ist.

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Weiteres Vorgehen

Die GPK-N ersucht den Bundesrat, bis spätestens am 29. Februar 2012 zu ihren Schlussfolgerungen und Empfehlungen sowie zur Evaluation der PVK Stellung zu nehmen. Zudem bittet sie ihn, aufzuzeigen, wie und bis wann er die Empfehlungen der Kommission umzusetzen gedenkt.

7. September 2011

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Die Präsidentin: Maria Roth-Bernasconi, Nationalrätin Die Sekretärin: Beatrice Meli Andres Die Präsidentin der Subkommission EJPD/BK: Brigit Wyss, Nationalrätin Der Sekretär der Subkommission EJPD/BK: Philipp Mäder

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