12.077 Botschaft über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Glarus, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf vom 10. Oktober 2012

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen hiermit den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der geänderten Verfassungen der Kantone Glarus, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

10. Oktober 2012

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Eveline Widmer-Schlumpf Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2012-1930

8513

Übersicht Der Bundesversammlung wird beantragt, mit einfachem Bundesbeschluss Änderungen in den Kantonsverfassungen der Kantone Glarus, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf zu gewährleisten. Die Verfassungsänderungen betreffen ganz unterschiedliche Themen. Sie sind alle bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann somit erteilt werden.

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Steht eine kantonale Verfassungsbestimmung im Einklang mit dem Bundesrecht, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt sie diese Voraussetzung nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die vorliegenden Verfassungsänderungen haben zum Gegenstand: im Kanton Glarus: ­

Reduktion der Anzahl der Mitglieder des Landrates;

im Kanton Appenzell Innerrhoden: ­

Wechsel der Zuständigkeit für den Vollzug richterlicher Urteile;

­

Änderung der Sitzverteilung für den Grossen Rat;

im Kanton Aargau: ­

Zusammenlegung der kantonalen Amts- und Rechnungsjahre auf den 1. Januar;

im Kanton Thurgau: ­

Förderung der Energieeffizienz;

­

Abschaffung der Volkswahlen für die Grundbuchämter und Notariate;

im Kanton Waadt: ­

Wahl des Gemeinderates im Verhältniswahlverfahren in Gemeinden mit 3000 und mehr Einwohnerinnen und Einwohnern;

im Kanton Neuenburg: ­

Einführung eines kantonalen Mindestlohns;

im Kanton Genf: ­

Obligatorisches Referendum für Änderungen gewisser Gesetze und anderer Bestimmungen im Bereich des Wohnungswesens sowie des Schutzes der Mieterinnen und Mieter und der Bewohnerinnen und Bewohner.

Sämtliche Änderungen stehen im Einklang mit dem Bundesrecht; sie sind deshalb zu gewährleisten.

8514

Botschaft 1

Die einzelnen Revisionen

1.1

Verfassung des Kantons Glarus (KV-GL)

1.1.1

Kantonale Volksabstimmung vom 4. Mai 2008

Die Stimmberechtigten des Kantons Glarus haben an der Landsgemeinde vom 4. Mai 2008 der Änderung von Artikel 82 Absatz 1 KV-GL1 (Reduktion der Anzahl der Mitglieder des Landrats) zugestimmt.

Anlässlich einer Nachkontrolle in der Systematischen Rechtssammlung des Bundes wurde festgestellt, dass diese Änderung der Bundesversammlung bisher nicht zur Gewährleistung unterbreitet worden ist.

Mit Schreiben vom 22. November 2011 ersucht der Regierungsrat des Kantons Glarus um die eidgenössische Gewährleistung.

1.1.2

Reduktion der Anzahl der Mitglieder des Landrats

Bisheriger Text Art. 82 Abs. 1 1 Der Landrat ist das Parlament des Kantons. Er zählt 80 Mitglieder.

Neuer Text Art. 82 Abs. 1 1 Der Landrat ist das Parlament des Kantons. Er zählt 60 Mitglieder.

Der Landrat des Kantons Glarus zählte vor der Amtsdauer 2010­2014 insgesamt 80 Mitglieder. An der Landsgemeinde vom 4. Mai 2008 wurde ein Antrag auf Reduktion angenommen.

Die Änderung der KV-GL ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.2

Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden (KV-AI)

1.2.1

Kantonale Volksabstimmungen vom 25. April 2010 und vom 1. Mai 2011

Die Stimmberechtigten des Kantons Appenzell Innerrhoden haben an der Landsgemeinde vom 25. April 2010 der Änderung von Artikel 30 Absatz 3 KV-AI2 (Wechsel der Zuständigkeit für den Vollzug richterlicher Urteile) zugestimmt. Die 1 2

SR 131.217 SR 131.224.2

8515

Verfassungsänderung wurde dem Bund nach ihrer Annahme versehentlich nicht zur Gewährleistung unterbreitet; in der Zwischenzeit wurde dies aber nachgeholt.

An der Landsgemeinde vom 1. Mai 2011 haben die Stimmberechtigten ferner einer Änderung von Artikel 22 KV-AI sowie einem geänderten Artikel 2 der Übergangsbestimmungen (Änderung der Sitzverteilung für den Grossen Rat) zugestimmt.

Mit zwei Schreiben vom 5. Mai 2011 sowie vom 3. Januar 2012 ersuchen der Landammann und die Standeskommission des Kantons Appenzell Innerrhoden um die eidgenössische Gewährleistung.

1.2.2

Wechsel der Zuständigkeit für den Vollzug richterlicher Urteile

Bisheriger Text Art. 30 Abs. 3 3 Sie [die Standeskommission] vollzieht die Gesetze und Beschlüsse der Landsgemeinde, ebenso wie die Verordnungen und Beschlüsse des Grossen Rates und die richterlichen Urteile; letztere nach Massgabe der Gesetzgebung.

Neuer Text Art. 30 Abs. 3 3 Sie [die Standeskommission] vollzieht die Gesetze und Beschlüsse der Landsgemeinde sowie die Verordnungen und Beschlüsse des Grossen Rates.

Bisher war die Standeskommission des Kantons Appenzell Innerrhoden für den Vollzug gerichtlicher Urteile verantwortlich. Mit der Inkraftsetzung der Schweizerischen Zivilprozessordnung3 (ZPO) wird dies hinfällig, weil die ZPO diese Kompetenz neu vollständig den Gerichtsbehörden zuweist. Der Standeskommission verbleibt damit namentlich noch die Vollzugskompetenz für die eigenen Entscheide.

Die Änderung der KV-AI ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.2.3

Änderung der Sitzverteilung für den Grossen Rat

Bisheriger Text Art. 22 1 Jeder Bezirk wählt aus den in seinem Gebiet wohnhaften Stimmberechtigten je ein Mitglied auf 300 Bezirkseinwohner. Eine Bruchzahl von mehr als 150 Bezirkseinwohnern berechtigt den Bezirk ebenfalls zu einem Vertreter.

2 Massgebend für das Wahlberechtigungsverhältnis der Bezirke ist stets das Ergebnis der vorangegangenen eidgenössischen Volkszählung.

3

SR 272

8516

Neuer Text Art. 22 1 Der Grosse Rat hat 50 Sitze.

2 Jedem der sechs Bezirke werden zunächst vier Sitze zugewiesen, unter jeweiliger Anrechnung von 4/50 der Gesamteinwohnerzahl. Die restlichen 26 Sitze werden proportional zu den Restbevölkerungszahlen zugewiesen, unter Abrundung von Bruchteilen. Restmandate werden den Bezirken der Grösse der abgerundeten Bruchteile nach zugewiesen, bei Gleichheit entscheidet das Los.

3 Grundlage für die Zuweisung bildet die Bevölkerungszahl gemäss kantonaler Einwohnerkontrolle am letzten Tag des Vorjahres zum Erneuerungswahljahr.

4 Die Standeskommission weist den Bezirken die Sitze zu. Über Anstände entscheidet der Grosse Rat endgültig.

Übergangsbestimmung zur vorliegenden Änderung vom 1. Mai 2011 1 Die ersten Neuwahlen nach Artikel 22 Absätze 1 und 2 werden 2015 vorgenommen. Für die Neuwahl 2011 sowie für die Ergänzungswahlen bis 2015 gilt ein Anspruch auf Wahl eines Mitgliedes pro 300 Bezirkseinwohner und auf ein weiteres Mitglied, wenn die restlichen Bezirkseinwohner mehr als 150 ausmachen; massgebend ist das Ergebnis der eidgenössischen Volkszählung 2000.

2 Die Standeskommission hebt Artikel 2 der Übergangsbestimmungen nach Vollzug von Absatz 1 auf.

Heute wird den Bezirken des Kantons Appenzell Innerrhoden die Anzahl Sitze für die Wahl in den Grossen Rat auf der Basis der eidgenössischen Volkszählung zugewiesen, die nur alle zehn Jahre durchgeführt wird. Künftig soll statt auf die Volkszählung neu auf die Daten des kantonalen Einwohnerregisters abgestellt werden.

Ausserdem soll die Zahl der Sitze im Grossen Rat künftig nicht mehr variabel sein, sondern sie wird neu auf 50 Sitze festgelegt. Mit der bisherigen bevölkerungszahlabhängigen Regelung waren in bestimmten zeitlichen Abständen immer wieder Korrekturen notwendig geworden.

Die Änderung der KV-AI ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.3

Verfassung des Kantons Aargau (KV-AG)

1.3.1

Kantonale Volksabstimmung vom 27. November 2011

Die Stimmberechtigten des Kantons Aargau haben in der Volksabstimmung vom 27. November 2011 der Änderung von § 132 Absätze 4 und 5 sowie der Aufhebung von § 132 Absätze 1­3 KV-AG4 (Zusammenlegung der kantonalen Amts- und Rechnungsjahre auf den 1. Januar) mit 127 833 Ja gegen 16 666 Nein zugestimmt.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2011 ersucht die Staatskanzlei des Kantons Aargau um die eidgenössische Gewährleistung.

4

SR 131.227

8517

1.3.2

Zusammenlegung der kantonalen Amts- und Rechnungsjahre auf den 1. Januar

Bisheriger Text § 132 Abs. 1­3 1 Die Behörden und die Beamten beenden die bei Inkrafttreten dieser Verfassung laufende Amtsperiode nach bisherigem Recht.

2 Bis zum Erlass der Gesetzgebung gemäss § 69 Absätze 3 und 4 sowie § 130 Absatz 2 dieser Verfassung gelten für den Verwandtenausschluss in Behörden und für die Wählbarkeit in den Grossen Rat die Bestimmungen der bisherigen Verfassung.

3 Die Bezirksamtmann-Stellvertreter, die beim Inkrafttreten dieser Verfassung bereits im Amte stehen, unterliegen für ihre Wiederwahlen nicht § 61 Absatz 1 Buchstabe g dieser Verfassung.

Neuer Text § 132 Abs. 1­3 Aufgehoben § 132 Abs. 4 und 5 (neu) 4 Das Amtsjahr 2013 der in § 61 Absatz 1 Buchstaben a, c, e und f genannten Behördenmitglieder sowie der Arbeitsgerichtspräsidentinnen und Arbeitsgerichtspräsidenten, deren Stellvertretung und der Schulrätinnen und Schulräte wird um drei Monate verkürzt. Die Amtsperiode endet am 31. Dezember 2016. Die nachfolgende vierjährige Amtsperiode beginnt am 1. Januar 2017.

5 Die am 1. Oktober 2013 beginnende Amtsperiode der vom Grossen Rat gewählten Behörden und Mitarbeitenden des Kantons wird um 15 Monate bis 31. Dezember 2018 verlängert. Die nachfolgende vierjährige Amtsperiode beginnt am 1. Januar 2019.

Mit der Zusammenlegung des Beginns der kantonalen Amts- und Rechnungsjahre auf den 1. Januar wird eine Kongruenz zwischen den finanziellen Verantwortlichkeiten und den Amtstätigkeiten hergestellt. Ausserdem bringen die gleichzeitige Durchführung der Grossrats- und Regierungsratswahlen und das Führen eines gemeinsamen Wahlkampfes eine organisatorische und finanzielle Entlastung der Parteien.

Die Änderung der KV-AG ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.4

Verfassung des Kantons Thurgau (KV-TG)

1.4.1

Kantonale Volksabstimmungen vom 15. Mai 2011 und vom 23. Oktober 2011

Die Stimmberechtigten des Kantons Thurgau haben in der Volksabstimmung vom 15. Mai 2011 der Änderung von § 82 Absatz 3 KV-TG5 (Förderung der Energieeffizienz) mit 35 386 Ja gegen 6633 Nein zugestimmt. Ferner haben die Stimmberechtigten des Kantons Thurgau in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 2011 der Änderung von § 20 Absatz 1 Ziffer 6 KV-TG (Abschaffung der Volkswahlen für die Grundbuchämter und Notariate) mit 47 306 Ja gegen 21 968 Nein zugestimmt.

5

SR 131.228

8518

Mit zwei Schreiben vom 7. und 11. November 2011 ersucht die Staatskanzlei des Kantons Thurgau um die eidgenössische Gewährleistung.

1.4.2

Förderung der Energieeffizienz

Bisheriger Text Randtitel zu § 82: Wasser, Energie

Neuer Text Randtitel zu § 82: Wasser, Energie, Förderung Energieeffizienz § 82 Abs. 3 (neu) 3 Sie [Kanton und Gemeinden] fördern Massnahmen zur Nutzung umweltverträglicher erneuerbarer Energien und schaffen Anreize für eine sparsame und effiziente Energieverwendung im Kanton.

Die Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz soll ausdrücklich als Staatsaufgabe neu in der KV-TG verankert werden.

Die Änderung der KV-TG ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.4.3

Abschaffung der Volkswahlen für die Grundbuchämter und Notariate

Bisheriger Text § 20 Abs. 1 Ziff. 6 1 [Das Volk wählt:] 6. die Friedensrichter, Grundbuchverwalter und Notare.

Neuer Text § 20 Abs. 1 Ziff. 6 1 [Das Volk wählt:] 6. die Friedensrichter.

Die Verfassung des Kantons Thurgau schreibt in § 20 Absatz 1 Ziffer 6 die Volkswahl der Grundbuchverwalterinnen und Grundbuchverwalter und der Notarinnen und Notare vor. Nachdem heute für die Übernahme eines solchen Amtes wie bei den Leiterinnen und Leitern der Grundbuchämter ein Fähigkeitsausweis benötigt wird, soll die Volkswahl durch ein modernes, flexibles und transparent ausgestaltetes Auswahl- beziehungsweise Anstellungsverfahren des Regierungsrats ersetzt werden.

Damit soll gewährleistet werden, dass für das Grundbuch- und Notariatsamt die persönlich und fachlich am besten geeigneten Personen ausgewählt werden.

Die Änderung der KV-TG ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

8519

1.5

Verfassung des Kantons Waadt (KV-VD)

1.5.1

Kantonale Volksabstimmung vom 4. September 2011

Die Stimmberechtigten des Kantons Waadt haben in der Volksabstimmung vom 4. September 2011 der Änderung von Artikel 144 Absatz 3 KV-VD6 (Wahl des Gemeinderates im Verhältniswahlverfahren in Gemeinden mit 3000 und mehr Einwohnerinnen und Einwohnern) mit 89 357 Ja gegen 57 541 Nein zugestimmt.

Mit Schreiben vom 30. November 2011 ersucht der Staatsrat des Kantons Waadt um die eidgenössische Gewährleistung.

1.5.2

Wahl des Gemeinderates im Verhältniswahlverfahren in Gemeinden mit 3000 und mehr Einwohnerinnen und Einwohnern

Bisheriger Text Art. 144 Abs. 3 3 Das Gemeindereglement kann die Mehrheitswahl vorsehen.

Neuer Text Art. 144 Abs. 3 3 In Gemeinden von weniger als 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern kann das Gemeindereglement die Mehrheitswahl vorsehen.

Nach Artikel 144 Absatz 2 KV-VD werden die Mitglieder des Gemeinderates grundsätzlich nach dem Verhältniswahlverfahren (Proporz) gewählt. Gemäss dem bisherigen Artikel 144 Absatz 3 KV-VD kann das Gemeindereglement auch das Mehrheitswahlverfahren (Majorz) vorsehen. Der neue Artikel 144 Absatz 3 KV-VD sieht nun vor, dass nur noch Gemeinden mit weniger als 3000 Einwohnerinnen und Einwohner das Mehrheitswahlverfahren wählen können. In allen anderen Gemeinden ist der Gemeinderat nach dem Verhältniswahlverfahren zu wählen.

Die Änderung der KV-VD ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.6

Verfassung des Kantons Neuenburg (KV-NE)

1.6.1

Kantonale Volksabstimmung vom 27. November 2011

Die Stimmberechtigten des Kantons Neuenburg haben in der Volksabstimmung vom 27. November 2011 der Änderung von Artikel 34a KV-NE7 (Einführung eines kantonalen Mindestlohns) mit 24 624 Ja gegen 20 439 Nein zugestimmt.

6 7

SR 131.231 SR 131.233

8520

Mit Schreiben vom 9. Dezember 2011 ersucht die Staatskanzlei des Kantons Neuenburg um die eidgenössische Gewährleistung.

1.6.2

Einführung eines kantonalen Mindestlohns

Neuer Text Art. 34a (neu) Mindestlohn Der Staat führt in allen Bereichen wirtschaftlichen Handelns einen kantonalen Mindestlohn ein.

Er trägt dabei den verschiedenen Wirtschaftsbereichen sowie den in den Gesamtarbeitsverträgen festgelegten Löhnen Rechnung, damit jede Person, die eine entlöhnte Tätigkeit ausübt, über einen Lohn verfügt, der ihr eine würdige Lebensführung garantiert.

Die Frage des Mindestlohns betrifft das Arbeitsrecht. Der Bund hat von seinen verfassungsmässigen Kompetenzen (Art. 110 und 122 der Bundesverfassung8, BV) sowohl auf dem Gebiet des Privatrechts als auch auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in weitem Umfang Gebrauch gemacht. Er hat namentlich die folgende Regelungen erlassen: ­

die Artikel 319 ff. des Obligationenrechts9 (OR),

­

das Arbeitsgesetz vom 13. März 196410 (ArG),

­

das Bundesgesetz vom 28. September 195611 über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG),

­

das Bundesgesetz vom 8. Oktober 199912 über die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,

­

das Heimarbeitsgesetz vom 20. März 198113 (HArG),

­

Artikel 22 des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 200514 (AuG),

­

Artikel 22 der Verordnung vom 24. Oktober 200715 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE).

Mit dem Erlass der vorgenannten Gesetze und Bestimmungen hat der Bund die Frage der Mindestlöhne nicht vollständig und abschliessend geregelt. Eine kantonale Kompetenz, einen Mindestlohn aus polizeilichen oder sozialpolitischen Gründen festzulegen, kann daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Unter dem Gesichtspunkt der Grundrechte respektiert Artikel 34a KV-NE die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Der Artikel ermöglicht die Einschränkung dieses Grundrechts in einer formellen gesetzlichen Grundlage, ist in einem öffentlichen sozialpolitischen Interesse und er ist auch verhältnismässig, zumal er den Mindestlohn nicht selber bestimmt, sondern dessen Festlegung dem kantonalen Gesetzgeber überlässt. Dieser hat den verschiedenen Wirtschaftsbereichen und den in den Gesamtarbeitsverträgen

8 9 10 11 12 13 14 15

SR 101 SR 220 SR 822.11 SR 221.215.311 SR 823.20 SR 822.31 SR 142.20 SR 142.201

8521

festgelegten Löhnen Rechnung zu tragen16. Auch die Koalitionsfreiheit (Art. 28 BV) erscheint gewahrt, verlangt doch die Verfassungsbestimmung, dass den in den Gesamtarbeitsverträgen festgelegten Löhnen Rechnung getragen wird.

Daraus folgt, dass Artikel 34a KV-NE nicht bundesrechtswidrig ist. Es wird Sache des kantonalen Gesetzgebers sein, diese Bestimmung korrekt umzusetzen.

Die Änderung der KV-NE ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

1.7

Verfassung des Kantons Genf (KV- GE)

1.7.1

Kantonale Volksabstimmung vom 15. Mai 2011

Die Stimmberechtigten des Kantons Genf haben in der Volksabstimmung vom 15. Mai 2011 der Änderung von Artikel 160F Buchstaben a, b und f KV-GE17 (Obligatorisches Referendum für Änderungen gewisser Gesetze und anderer Bestimmungen im Bereich des Wohnungswesens sowie des Schutzes der Mieterinnen und Mieter und der Bewohnerinnen und Bewohner) mit 78 435 Ja gegen 7535 Nein zugestimmt.

Mit Schreiben vom 21. September 2011 ersucht der Staatsrat des Kantons Genf um die eidgenössische Gewährleistung.

1.7.2

Obligatorisches Referendum für Änderungen gewisser Gesetze und anderer Bestimmungen im Bereich des Wohnungswesens sowie des Schutzes der Mieterinnen und Mieter und der Bewohnerinnen und Bewohner

Bisheriger Text Art. 160F, Bst. a und b [Zur Durchsetzung des Volkswillens und zur Gewährleistung der Wirkungen des in der Vergangenheit ausgeübten Initiativrechts muss jede Änderung der nachstehenden Gesetze, die vom Volk aufgrund einer Volksinitiative angenommen oder vom Grossen Rat im Gefolge des Rückzugs einer Volksinitiative erlassen worden sind, obligatorisch dem Volk zur Abstimmung unterbreitet werden. Es handelt sich um die folgenden Gesetze in der Fassung am Tage der Einreichung der Volksinitiative, die dem vorliegenden Artikel zugrunde liegt:] a. das Gesetz vom 4. Dezember 1977 zur Änderung verschiedener Gesetze betreffend das Mietgericht, nämlich die Artikel 29, 30, 35 B sowie 56 M­56 P des Gerichtsorganisationsgesetzes und die Artikel 426­448 der Zivilprozessordnung; b. das Gesetz vom 4. Dezember 1977 über die Einrichtung einer Schlichtungsstelle in Mietsachen;

16 17

Vgl. dazu den Entscheid des Bundesgerichtes 1C_357/2009 vom 8. April 2010, E. 3.3 betreffend die genferische Initiative «Für das Recht auf einen Mindestlohn».

SR 131.234

8522

Neuer Text Art. 160F, Bst. a und b sowie f (neu) [Zur Durchsetzung des Volkswillens und zur Gewährleistung der Wirkungen des in der Vergangenheit ausgeübten Initiativrechts muss jede Änderung der nachstehenden Gesetze, die vom Volk aufgrund einer Volksinitiative angenommen oder vom Grossen Rat im Gefolge des Rückzugs einer Volksinitiative erlassen worden sind, obligatorisch dem Volk zur Abstimmung unterbreitet werden. Es handelt sich um die folgenden Gesetze in der Fassung am Tage der Einreichung der Volksinitiative, die dem vorliegenden Artikel zugrunde liegt:] a. das Gerichtsorganisationsgesetz vom 26. September 2010, soweit es die Schlichtungsstelle in Mietsachen oder die Kompetenzen und die Zusammensetzung des Mietgerichtes betrifft, nämlich die Artikel 1 Buchstabe b, Ziffern 2 und 3, 83 Absätze 3 und 4, 88­90, 117 Absatz 3, 121 und 122; b. das Gesetz vom 28. November 2010 betreffend die Organisation der Schlichtungsstelle in Mietsachen; f. die Artikel 10, 17 Absatz 1 und 26 des Einführungsgesetzes vom 28. November 2010 zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch und anderer Bundesgesetze in Zivilsachen.

Artikel 160F KV-GE unterstellt die Änderung verschiedener genferischer Gesetze und Bestimmungen im Bereich des Wohnungswesens sowie des Schutzes der Mieterinnen und Mieter und der Bewohnerinnen und Bewohner dem obligatorischen Referendum. Das Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordung18 (ZPO) hat die Aufhebung, Vereinigung oder Änderung zahlreicher Gesetzestexte und Bestimmungen des genferischen Rechts in diesem Bereich nach sich gezogen. Die Revision hat zum Ziel, Artikel 160F KV-GE an diese Änderungen anzupassen.

Die Änderung der KV-GE ist bundesrechtskonform; die Gewährleistung kann demnach erteilt werden.

2

Verfassungsmässigkeit

2.1

Bundesrechtskonformität

Die Prüfung hat ergeben, dass die geänderten Bestimmungen der Verfassungen der Kantone Glarus, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Thurgau, Waadt, Neuenburg und Genf die Anforderungen von Artikel 51 der Bundesverfassung erfüllen. Somit ist ihnen die Gewährleistung zu erteilen.

2.2

Zuständigkeit der Bundesversammlung

Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 und 172 Absatz 2 BV für die Gewährleistung der Kantonsverfassungen zuständig.

18

SR 272

8523

8524