Bericht des Bundesrates zur Abschreibung der Motion 05.3232 der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerats vom 12. Mai 2005 (Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung) vom 9. Dezember 2011

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2004

M 05.3232

Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung (S 16.6.05, Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen SR; N 6.3.06)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. Dezember 2011

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2009-2244

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Übersicht Auf die Schaffung einer neuen, allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung ist zu verzichten. Hauptgrund sind die Ergebnisse der Vernehmlassung, die zu einem konkreten Entwurf einer Verfassungsbestimmung durchgeführt wurde. Die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer hat sich gegen eine neue, allgemeine Bestimmung ausgesprochen.

Für eine allfällige Überarbeitung des Entwurfs hat sich keine erkennbare Stossrichtung ergeben. Daher beantragt der Bundesrat dem Parlament, die zugrundeliegende Motion abzuschreiben.

Die Motion 05.3232 der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerats (KVF-S) beauftragt den Bundesrat, dem Parlament einen Entwurf zu einer allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung zu unterbreiten.

Der Bundesrat hatte sich gegen die Annahme der Motion ausgesprochen und sich auch im Rahmen der Vernehmlassung skeptisch geäussert. Die Motion verlangt eine offen ausgestaltete, allgemeine Bestimmung, die insbesondere die betroffenen Sachbereiche nicht abschliessend aufzählt. Die Grundversorgung ist eine äusserst vielschichtige und breite Querschnittsthematik und lässt sich auf Verfassungsebene nicht einheitlich in verbindliche Rechtssätze fassen. Zu viele verschiedene Fragestellungen und zu viele verschiedene Regulierungsinstrumente träfen aufeinander. Der in der Vernehmlassung zur Diskussion gestellte Entwurf versuchte daher, in allgemeiner Form die wichtigsten Grundsätze festzuhalten, nach denen in der Schweiz bereits heute eine bestmögliche Versorgung der Bevölkerung mit den grundlegenden Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs angestrebt wird. In der Vernehmlassung hat sich nun aber erwiesen, dass eine Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer eine neue, allgemeine Bestimmung nicht für sinnvoll und nötig hält. Zudem wurden zu allen Elementen des Entwurfs zahlreiche divergierende Änderungsanträge gestellt. Der Bundesrat sieht keine Möglichkeit, dem Parlament einen mehrheitsfähigen Entwurf zu unterbreiten, der die Vorgaben der Motion einhalten und die von verschiedenster Seite geäusserte Kritik konstruktiv aufnehmen würde. Daher beantragt er dem Parlament gemäss Artikel 122 Absatz 3 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes die Abschreibung der Motion.

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Bericht 1

Parlamentarischer Auftrag

Die parlamentarische Initiative 03.465 Maissen Theo «Service Public. Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung» verlangt, dass die Bundesverfassung (BV)1 mit einem Artikel über die «Grundversorgung (Service public)» ergänzt wird. Die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerats (KVF-S) beschloss, die Initiative zugunsten einer Motion der Kommission (05.3232 «Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung») zunächst zu sistieren. Die Motion nimmt das Anliegen der parlamentarischen Initiative ausdrücklich auf. Sie beauftragt den Bundesrat, der Bundesversammlung eine Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung vorzulegen, präzisiert aber einige Punkte. So stellt sie klar, dass eine offen ausgestaltete, allgemeine Bestimmung gewünscht ist, die insbesondere die betroffenen Sachbereiche nicht abschliessend aufzählt. Vielmehr sollen, ähnlich wie in Artikel 73 BV für die Nachhaltigkeit, allgemeine Prinzipien festgehalten werden.

Beide Räte hiessen die Motion entgegen dem Antrag des Bundesrates gut und bekräftigten dies noch einmal im Rahmen der Berichterstattung über Motionen und Postulate 2008.2 Der Bundesrat führte im Herbst 2010 eine Vernehmlassung zu einem konkreten Entwurf einer Verfassungsbestimmung durch. Nachdem er aufgrund der Vernehmlassungsergebnisse seine Absicht bekanntgegeben hatte, mit dem vorliegenden Bericht die Abschreibung der Motion 05.3232 zu beantragen, gab die KVF-S der bisher sistierten parlamentarischen Initiative Maissen 03.465 am 5. September 2011 Folge.

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Vernehmlassungsvorlage

Der in der Vernehmlassung zur Diskussion gestellte Entwurf3 versuchte, das Ziel der zugrunde liegenden parlamentarischen Vorstösse umzusetzen, wonach eine neue Verfassungsbestimmung ­ ähnlich wie Artikel 73 BV das Prinzip der Nachhaltigkeit festhält ­ die Prinzipien der Grundversorgung zusätzlich in der Verfassung verankern sollte.

Der in der Vernehmlassung zur Diskussion gestellte Entwurf hätte die neue Bestimmung im Anschluss an Artikel 41 BV eingefügt, der die Sozialziele der Bundesverfassung festhält. Dadurch wäre zum Ausdruck gebracht worden, dass keine neuen Rechte und Pflichten Privater geschaffen würden und dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen nicht berührt werden sollte. Vielmehr hätte die Bestimmung den Gemeinwesen aller Staatsebenen den Handlungsauftrag erteilt, sich für das Ziel einer möglichst guten Grundversorgung einzusetzen. Wie die Sozialzielbestimmung wäre auch der Grundversorgungsartikel keine Verfassungsgrund1 2 3

SR 101 09.017: AB 2009 S 562, AB 2009 N 909; vgl. den Bericht des Bundesrates, BBl 2009 1935 1950 Zugänglich unter www.admin.ch > Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren > Abgeschlossene Verfahren > 2010 > EJPD.

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lage gewesen, aus der unmittelbare Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden könnten.

Die Aufzählung der Sachbereiche (Abs. 2) wäre, gemäss den Vorgaben der Motion 05.3232, nicht abschliessend gewesen. Sie hätte die Bereiche Bildung, Wasser- und Energieversorgung, Abfall- und Abwasserentsorgung, öffentlicher und privater Verkehr, Post- und Fernmeldewesen sowie Gesundheit umfasst.

Der Entwurf versuchte sodann aufzuzeigen, anhand welcher Kriterien eine Optimierung der Grundversorgung anzustreben ist: Die Güter und Dienstleistungen sollen in allen Landesgegenden und für die gesamte Bevölkerung zugänglich sein, in hoher Qualität und zu Preisen angeboten werden, die nach einheitlichen Grundsätzen festgelegt werden und für alle erschwinglich sind, und sie sollen dauerhaft verfügbar sein (Abs. 3).

Das Vernehmlassung wurde am 27. August 2010 eröffnet und dauerte, nach einer Verlängerung auf Wunsch der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), bis Ende Dezember 2010.

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Ergebnisse der Vernehmlassung

3.1

Mehrheitliche Ablehnung

Wenn sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Vernehmlassung auch einig waren, dass es sich bei der Grundversorgung um ein wichtiges Thema handelt, so haben sie sich doch mehrheitlich (41 von 63) gegen die Schaffung einer neuen, allgemeinen Bestimmung zu diesem Thema ausgesprochen. Sowohl bei den Kantonen (14 von 22) als auch bei den Parteien (4 von 7) und bei den weiteren Teilnehmern (23 von 34) lehnt eine Mehrheit das Anliegen der Motion ab (Näheres in Ziffer 4.2 des Berichts über die Ergebnisse der Vernehmlassung4).

3.2

Wesentliche Kritikpunkte

Zahlreiche Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer (z.B. CVP, FDP, SVP) bestätigten den Bundesrat in seiner Einschätzung, wonach eine neue, allgemeine Verfassungsbestimmung keinen praktischen Nutzen hätte und stattdessen durchaus schädliche Auswirkungen zeitigen würde. Die wesentlichen Kritikpunkte können wie folgt zusammengefasst werden (siehe ebenfalls Ziff. 4.2 des Berichts über die Ergebnisse der Vernehmlassung): ­

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Die Grundversorgung sei heute bereits ausreichend geregelt, sei dies in der Bundesverfassung selbst (in Art. 43a BV und den einzelnen sektorspezifischen Bestimmungen), in den kantonalen Verfassungen oder in der Spezialgesetzgebung.

Zugänglich unter www.admin.ch > Vernehmlassungs- und Anhörungsverfahren > Abgeschlossene Verfahren > 2010 > EJPD.

­

Der deklaratorische und symbolische Charakter des zur Diskussion gestellten Entwurfs zeige, dass es nicht möglich sei, mit einer allgemeinen Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung praktisch relevante Verbesserungen zu erzielen.

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Gleichzeitig bestehe aber das Risiko, dass der neue Text ungewollt Rechtsansprüche schaffe oder zumindest Anspruchshaltungen fördere.

­

Eine Inflation symbolischer Bestimmungen in der Bundesverfassung schwäche die Lenkungskraft der übrigen, rechtlich greifbaren Verfassungsbestimmungen.

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Der sektorübergreifende Ansatz des Entwurfs ­ ein zentrales Anliegen der Motion ­ sei nicht sinnvoll. Die angesprochenen Bereiche seien zu verschieden, als dass sie in einer allgemeinen Bestimmung geregelt werden könnten.

Den starken geografischen und demografischen Unterschieden der verschiedenen Regionen werde nicht Rechnung getragen.

­

Eine allgemeingültige und unbefristete Definition der Grundversorgung sei nicht möglich; die Aufnahme der vorgeschlagenen Bestimmung würde die Struktur der Grundversorgung betonieren. Dies verhindere die Anpassung an den dauernden Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und gefährde damit die Qualität der Grundversorgung.

­

Die finanziellen Folgen der verschiedenen Möglichkeiten, eine Grundversorgung zu gewährleisten, könnten mit einer allgemeinen Bestimmung nicht geregelt werden. Dies sei aber ein zentraler Punkt, ohne den eine Regelung keinen Sinn ergebe.

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Schliesslich bestehe das Risiko einer Vermischung der Kompetenzen von Bund und Kantonen.

3.3

Einzelheiten durchwegs umstritten

Zu allen Elementen des Entwurfs wurden von den verschiedensten Seiten zahlreiche divergente Änderungsanträge eingebracht (siehe im Einzelnen Ziff. 5 des Berichts über die Ergebnisse der Vernehmlassung). Eine allgemeine Stossrichtung der Forderungen oder breit abgestützte Verbesserungsvorschläge sind nicht ersichtlich. In zentralen Punkten stehen sich Forderungen gewichtiger politischer Akteure diametral gegenüber. Beispielsweise soll gemäss den einen der deklaratorische, symbolische Charakter der Bestimmung klarer zum Ausdruck kommen, während die anderen handfestere, greifbarere Regeln verlangen.

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Weniger problematische Alternative: Knappe Bekenntnisnorm

Einige Vernehmlassungsteilnehmer weisen zu Recht darauf hin, dass eine sehr knappe Bestimmung über die Grundversorgung, die bloss allgemein die Wichtigkeit der Grundversorgung betonen würde, viele Nachteile des gemäss den Vorgaben der Motion ausgearbeiteten Entwurfs nicht hätte. Sie würde das offenbar gewünschte

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politische Symbol setzen, ohne dass man versuchen müsste, vielgestaltige und kaum vergleichbare Sachbereiche auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Ein solches allgemeines Bekenntnis zur Grundversorgung könnte etwa in der folgenden Form aufgenommen werden: «Art. 41a

Grundversorgung

Bund und Kantone setzen sich für die Grundversorgung ein.» Oder es könnten in einer etwas ausführlicheren Formulierung die zentralsten Elemente des Vernehmlassungsentwurfs aufgenommen werden: «Art. 41a

Grundversorgung

Bund und Kantone setzen sich dafür ein, dass die Bevölkerung Zugang zu den Gütern und Dienstleistungen der Grundversorgung hat.» Da eine solche Bestimmung aber keine Grundsätze der Grundversorgung festschreiben würde, kann der Bundesrat mit einem entsprechenden Entwurf die Motion nicht erfüllen.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine solche programmatische Bestimmung zur Grundversorgung kaum Wirkungen entfalten kann und daher ebenfalls nicht sinnvoll ist.

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Fazit

Mit der in Frage stehenden Motion soll ein Grundkonsens über die Grundversorgung in der Verfassung festgeschrieben werden. Diese Idee ist an sich keineswegs abwegig. Ausser Frage steht, dass die Grundversorgung mit verschiedenen Gütern und Dienstleistungen für unser Land äusserst wichtig ist. Viele politische Diskussionen in Bund, Kantonen und Gemeinden drehen sich in zentralen Aspekten um Grundversorgungsthemen. Man denke beispielsweise an das Poststellennetz, das Briefmonopol, den Umfang der im Fernmeldebereich anzubietenden Grundversorgungsleistungen, die Frequenz der Müllabfuhr, die Grösse von Schulklassen sowie die Schliessung oder Erhaltung peripher gelegener Schulen, das Postautonetz, den Preis der Elektrizität und den Zugang zum Elektrizitätsmarkt oder die Höhe der Erschliessungsabgaben für Grundstücke. In all diesen Bereichen muss im jeweils zuständigen Gemeinwesen politisch immer aufs Neue um konkrete Lösungen und Kompromisse gerungen werden. Die Ergebnisse dieses Ringens schlagen sich in der Regel in der sektoriellen Gesetzgebung oder in sektoriellen Verfassungsbestimmungen nieder.

Eine neue, allgemeine Verfassungsbestimmung gemäss den Vorgaben der Motion brächte jedoch keinen Fortschritt und keine bessere Gewährleistung der Grundversorgung. Wie der zur Diskussion gestellte Entwurf aufzeigt, ist es zwar möglich, Prinzipien und Bewertungskriterien für die Grundversorgung so allgemein zu formulieren, dass sie in allen Sektoren gelten können (vgl. Art. 41a Abs. 3 BV gemäss der Vernehmlassungsvorlage). Dies führt jedoch zwangsläufig dazu, dass die verschiedenen Prinzipien und Bewertungskriterien untereinander stets in einem Konfliktverhältnis stehen. So sind sich zwar alle einig, dass die Güter und Dienstleistungen der Grundversorgung der gesamten Bevölkerung in allen Landesteilen in möglichst 296

guter Qualität zur Verfügung stehen sollen. Da die Umsetzung dieser Ziele aber viel Geld kostet, entsteht ein Konflikt mit dem ebenso unumstrittenen Ziel, dass die Güter und Dienstleistungen für alle erschwinglich sein sollen. Für solche Zielkonflikte kann nur auf politischem Weg und im jeweiligen Sektor eine Lösung gefunden werden.

Auch wenn eine Verfassungsbestimmung in der Art der Vernehmlassungsvorlage geschaffen würde, so würde sie die mannigfaltigen Diskussionen über Grundversorgungsthemen in den verschiedensten Sektoren nicht weiterbringen, geschweige denn einer verfassungsrechtlichen Lösung zuführen. Die Motion kann ihr Ziel daher nicht erreichen: Vernünftige und gleichzeitig greifbare Grundsätze der Grundversorgung lassen sich in der vorgesehenen Art und Weise nicht formulieren.

Aus diesen Gründen beantragt der Bundesrat der Bundesversammlung in Anwendung von Artikel 122 Absatz 3 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20025, die Motion 05.3232 der KVF-S «Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung» abzuschreiben.

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SR 171.10

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