12.014 Aussenpolitischer Bericht 2011 vom 18. Januar 2012

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen den Aussenpolitischen Bericht 2011 und ersuchen Sie, davon Kenntnis zu nehmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

18. Januar 2012

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Eveline Widmer-Schlumpf Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2011-2517

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Übersicht Der aussenpolitische Bericht 2011 gibt einen Gesamtüberblick über die Schweizer Aussenpolitik im Berichtsjahr. Er richtet sich in seiner Form und Ausgestaltung nach dem Beschluss des Bundesrates vom 3. Mai 2011, der das EDA beauftragt, dem Bundesrat einen Rechenschaftsbericht zu den aussenpolitischen Aktivitäten der Schweiz über den Zeitraum des jeweiligen Kalenderjahres zu unterbreiten. Der Bericht ist gemäss Auftrag des Bundesrates ergänzt durch ein Schwerpunktthema, das dieses Jahr den Umwälzungen in der arabischen Welt gewidmet ist.

Entsprechend dem Postulat der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates (06.3417), das eine Zusammenfassung aller periodisch erscheinenden Berichte zur Aussenpolitik fordert, umfasst der Bericht einen Anhang zu den Aktivitäten der Schweiz im Europarat. Weiter behandelt er, entsprechend dem Postulat der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates (11.3760), in der Ziffer 2.6. Fragen zum Aussennetz.

Schwerpunkt-Thema: Umwälzungen in der arabischen Welt ­ Herausforderungen und Chancen (Ziff. 1) Eines der wichtigsten Ereignisse, die das Berichtsjahr geprägt haben, ist der «arabische Frühling». Die Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten schaffen nicht nur Herausforderungen im Zusammenhang mit der politischen Transition in den betroffenen Ländern, sondern führen auch zu regionalen Machtverschiebungen und Veränderungen in den traditionellen Allianzen. Welche langfristigen Konsequenzen diese Entwicklungen auf den israelisch-arabischen Konflikt und die Palästina-Frage haben, bleibt zu sehen. Nordafrika sowie der Nahe und der Mittlere Osten sind für die Schweiz in mancher Hinsicht von Bedeutung, insbesondere aus wirtschafts-, finanz-, energie-, sicherheits- und migrationspolitischen Gründen. Die Schweiz hat daher ein Interesse daran, dass in dieser Region stabile Demokratien heranwachsen. Um diese Transition zu unterstützen, hat sie ihr Engagement im Berichtsjahr substanziell ausgebaut und konzentriert sich auf die Leistung humanitärer Hilfe, die Unterstützung der Demokratisierung, die wirtschaftliche Entwicklung und die Zusammenarbeit im Bereich Migration.

Geografische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik (Ziff. 2.1) Die Schweiz verfolgt in ihren diplomatischen Beziehungen eine Politik der Universalität: Sie bemüht sich um enge Kontakte mit
allen Staaten. Dieser seit Jahrzehnten praktizierte Ansatz erlaubt es der Schweiz, die weder der Europäischen Union noch einem Militärbündnis angehört, in der ganzen Welt und in allen Themenbereichen ihre Interessen zu wahren. Universalität bedeutet allerdings nicht, dass die Schweiz keine Prioritäten hätte. Sie misst vielmehr ihren strategischen Partnern und ihren Nachbarländern besondere Bedeutung bei. Des Weiteren berücksichtigt die Schweiz die derzeitigen globalen Veränderungen, namentlich die zunehmende Bedeutung der Schwellenländer, indem sie ihre Aussenpolitik entsprechend ausrichtet und die Verteilung ihrer personellen und finanziellen Ressourcen dieser Ausrichtung anpasst.

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Europa Als Land, das geografisch im Zentrum des europäischen Kontinents liegt, ist die Schweiz aufs Engste mit den Entwicklungen Europas verbunden. Die Europäische Union (EU) sah sich im Berichtsjahr mit ernsthaften Herausforderungen wie der Verschuldungskrise im Euroraum und Spannungen bezüglich einer gemeinsamen Migrationspolitik konfrontiert ­ Herausforderungen, welche auch Auswirkungen auf die Schweiz hatten. Unter diesen erschwerten Umständen sind die Integrationsbemühungen der EU stetig weitergeführt worden. Die EU hat ihre Kapazitäten in den Bereichen Aussenpolitik, Sicherheit und Verteidigung weiter ausgebaut. Zudem bleibt sie bestrebt, mit der Entwicklung neuer und allgemein akzeptierter Rechtsnormen international Massstäbe zu setzen.

Angesichts ihrer engen Vernetzung mit der EU muss die Schweiz die integrationspolitische Dynamik der Union genau verfolgen und sich entsprechend positionieren.

Gleichzeitig muss sie das ihr zusätzlich zur Verfügung stehende aussenpolitische Instrumentarium nutzen. Dazu dienen ihr Organisationen wie der Europarat, die OSZE oder die EFTA, in denen sie Mitglied ist, aber auch die engen und gut ausgebauten bilateralen Beziehungen zu den europäischen Ländern und namentlich zu den Nachbarstaaten. Von zunehmender Bedeutung sind zudem die Beziehungen zu Osteuropa, wobei Russland eine Priorität zukommt.

Die übrigen Weltregionen Vor dem Hintergrund der Veränderungen in den globalen Kräfteverhältnissen und des wachsenden Selbstbewusstseins aufstrebender Schwellenländer erhalten die Beziehungen der Schweiz zu aussereuropäischen Staaten künftig noch zusätzlichen Stellenwert. Auf der Basis der Leitlinien, die der Bundesrat 2005 verabschiedet hat, wurden die Beziehungen zu wichtigen aussereuropäischen Partnerländern auch im Berichtsjahr weiter intensiviert. Dabei stand namentlich die Zusammenarbeit mit den USA und Brasilien auf dem amerikanischen Kontinent, mit China, Indien und Japan in Asien sowie mit Südafrika im Vordergrund. Es ist im Interesse der Schweiz, auch künftig intensive und universell ausgerichtete bilaterale Beziehungen zu pflegen. Ein wichtiges Instrument dafür ist das Vertretungsnetz, über das die schweizerische Aussenpolitik verfügt. Dieses muss den unterschiedlichen Ansprüchen der für das Land wichtigen Politikbereiche genügen. Es muss daher entsprechend
flexibel ausgestaltet sein, um an Veränderungen des internationalen Umfeldes angepasst werden zu können.

Multilaterale Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik (Ziff. 2.2) Im Zuge der Globalisierung haben sich multilaterale Organisationen zunehmend zu Foren entwickelt, in denen Lösungsansätze für globale Herausforderungen formuliert und diskutiert werden. Dabei hat das UNO-System bei politischen Fragen in der Regel die Themenhoheit, während für finanzielle und wirtschaftliche Angelegenheiten die Impulse im Wesentlichen von der G-20 ausgehen.

Vor diesem Hintergrund sind multilaterale Organisationen wichtige Instrumente der schweizerischen Aussenpolitik. Sie erlauben es der Schweiz, in einem strukturierten Umfeld die Diskussion zu Themen von globalem und regionalem Interesse mitzuge-

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stalten und dazu beizutragen, Lösungen zu finden, die von einer grösstmöglichen Anzahl von Ländern mitgetragen werden. Es ist wichtig, dass die Schweiz die internationalen Diskussionen mitverfolgt und sich in den multilateralen Dialog einbringt, besonders in Foren, die der internationalen Meinungsbildung dienen. Dadurch schafft sie sich zusätzliche Optionen der Einflussnahme in Bereichen, die für ihre Aussenpolitik von Bedeutung sind.

Unter dem Eindruck der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der finanzpolitischen Instabilitäten und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, welche das Berichtsjahr prägten, zeigt sich die Wichtigkeit internationaler Gremien, die sich mit globalen Wirtschafts-, Finanz- und Währungsfragen befassen. In diesem Bereich hat die Schweiz ein besonderes Interesse, sich einzubringen und Entwicklungen mitzubestimmen. Ebenso wichtig ist die Einflussnahme in den Organisationen des UNOSystems, wo Entscheide getroffen werden, die die Schweiz und ihre aussenpolitischen Interessen massgeblich betreffen. Daneben gilt es, durch die Mitwirkung in Organisationen regionaler und thematischer Ausrichtung spezifischen Anliegen der Schweiz Geltung zu verschaffen und das aussenpolitische Kontaktnetz zu erweitern.

Thematische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik (Ziff. 2.3) Die zunehmende Internationalisierung und Verknüpfung thematischer Politikfelder macht es nötig, die zahlreichen sektoriellen Politikbereiche aussenpolitisch eng aufeinander abzustimmen. Auch sind die meisten aussenpolitischen Probleme in der heutigen Zeit globaler Natur und können nur gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft wirksam angegangen werden. Der vorliegende Bericht zeigt in den verschiedenen Themenbereichen die Herausforderungen und Lösungsbeiträge der Schweizer Aussenpolitik auf.

Internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik Während sich die Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren zu erholen begonnen hatte, war das Berichtsjahr von neuen Schwierigkeiten geprägt, insbesondere von Staatsverschuldungskrisen und einer generellen konjunkturellen Abschwächung. Die Verunsicherung der globalen Finanzmärkte traf die Schweiz hauptsächlich insofern, als sie den Schweizerfranken weiter in die Höhe trieb. Auch hielt der internationale Druck auf das schweizerische Bankgeheimnis an. Schliesslich sind
international substanzielle Finanzsektor-Reformen vorangetrieben worden, welche auch Auswirkungen auf die Schweiz haben. Die Schweiz hat sich bei der Überwindung der Krisen und mit der Umsetzung bedeutender regulatorischer Reformen für die Stärkung der Finanzmarktstabilität engagiert, ihre Weissgeldstrategie weiter umgesetzt und sich gegen Missbräuche ihres Finanzplatzes eingesetzt.

Menschliche Sicherheit und Migration Die Förderung der menschlichen Sicherheit bleibt ein Kernstück der schweizerischen Aussenpolitik. Das Konzept «Menschliche Sicherheit» stellt die Sicherheit des Individuums und dessen Schutz vor politischer Gewalt, Krieg und Willkür in den Mittelpunkt. Die Schweiz engagiert sich in diesem Rahmen unter anderem mit ihren guten Diensten, durch die Vermittlung in Konflikten, mittels Konfliktprävention und

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durch die Stärkung der Menschenrechte. Die Herausforderungen in diesem Zusammenhang haben sich in den letzten Jahren vervielfacht und globale Dimensionen angenommen. Dies gilt auch für das Thema Migration, das heute weltweit zu den politischen und gesellschaftlichen Schlüsselfragen zählt. Die Schweiz setzt eine kohärente Politik um, damit die Chancen der Migration vermehrt genutzt und ihre Risiken gemildert werden können.

Entwicklungszusammenarbeit Als stark globalisiertes Land ist für die Schweiz eine stabile und prosperierende Welt wichtig. Zudem liegt es im Interesse der Schweiz, zur Lösung von globalen Problemen wie Klimawandel, unkontrollierte Migration, Wasserknappheit und Wirtschaftsstabilität beizutragen. Insbesondere vor dem Hintergrund der stockenden weltwirtschaftlichen Erholung seit der Finanz- und Wirtschafskrise und deren Folgen für die Entwicklungsländer ist ein verstärktes Engagement gegenüber den Entwicklungsländern wichtig. Aufgrund der Zunahme von Krisen und Katastrophen im Berichtsjahr, namentlich in Nordafrika und Japan, blieb auch die humanitäre Hilfe stark gefordert. Die Entwicklungspolitik der Schweiz verfolgte eine einheitliche entwicklungspolitische Strategie aller involvierten Bundesstellen. Der vorliegende Bericht zeigt in diesem Zusammenhang den Beitrag der Schweiz zur Lösung globaler entwicklungspolitischer Probleme auf.

Weitere thematische Schwerpunkte Der Bericht behandelt überdies eine Reihe zusätzlicher Themen, die für die Schweiz aussenpolitisch wichtig sind und deren internationale Dimension von zunehmender Bedeutung ist. Dazu gehören die Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und NonProliferationspolitik und das aussenpolitische Engagement der Schweiz in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, Umwelt, Verkehr, Energie, Gesundheit sowie Bildung, Forschung und Innovation. Das Kapitel wird abgerundet durch einen Absatz zur Neutralität als Instrument der Schweizer Aussenpolitik.

Service public (Ziff. 2.4) Die konsularischen Dienstleistungen, die durch die schweizerischen Aussenvertretungen erbracht werden, sind insgesamt volumenmässig weiter im Zunehmen begriffen. Seit 2010 haben die Visa-Anträge substanziell zugenommen, und die Verfahrensabläufe wurden komplexer. Im Bereich des konsularischen Schutzes, d.h. bei der Hilfeleistung für Schweizerinnen und Schweizer, die im
Ausland in Notlagen geraten, stieg aufgrund verschiedener Krisen die Unterstützungsleistung der Aussenvertretungen 2010 und 2011 verglichen mit den Vorjahren signifikant an. Die Herausforderung besteht hierbei in der Sicherstellung von Hilfeleistungen weltweit und rund um die Uhr. Um den Service public auszubauen und neuen Herausforderungen anzupassen, wurde im Berichtsjahr die Konsularische Direktion geschaffen. Im Bereich des Krisenmanagements hat das EDA in den letzten Jahren sein Dispositiv modernisiert und professionalisiert: Es wurde namentlich ein KrisenmanagementZentrum geschaffen, dessen Mandat die Krisenprävention, die Vorbereitung der Aussenposten auf Krisensituationen sowie die Bewältigung von Krisen ist.

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Aussenpolitik und Öffentlichkeit (Ziff. 2.5) In der globalen Informationsgesellschaft spielt die Kommunikation im Ausland eine immer grössere Rolle für die Interessenwahrung eines Landes. Aus diesem Grund enthält der vorliegende Bericht ein eigenes Kapitel zu Fragen der aussenpolitischen Kommunikation. Die Schweiz erreicht eine im Verhältnis zu ihrer Grösse beachtliche Medienpräsenz, welche mit einer hohen Exponiertheit einhergeht. Medial ereignisreich erwiesen sich im Berichtsjahr besonders die Steuer- und die Finanzpolitik, insbesondere die Neuauflage des Steuerstreits mit den USA, die Quellensteuerabkommen mit Deutschland und dem Vereinigten Königreich sowie die Blockierung von Potentatengeldern im Rahmen des arabischen Frühlings. Auch wenn vor allem bei der Finanzmarktpolitik kritische Berichterstattung überwog, verfügt die Schweiz generell international über ein gutes und stabiles Image. Dafür verantwortlich sind nicht zuletzt die Bemühungen um mediale Vermittlung auch von kontroversen Themen.

Führungsunterstützung für die Aussenpolitik (Ziff. 2.6) Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Globalisierung verändern die Rahmenbedingungen für die Aussenpolitik. Die internationalen Herausforderungen sind von zunehmender Komplexität und gegenseitiger Interdependenz geprägt. In diesem Umfeld ist es wichtig, dass die Schweiz beim Einsatz ihrer Mittel kohärente Strategien entwickelt, um bestmögliche Wirkung zu erzielen. Das EDA ist daher bestrebt, die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen effizient einzusetzen und seine Strukturen regelmässig den wechselnden Gegebenheiten anzupassen.

In den letzen Jahren fand eine umfassende Reorganisation des EDA statt, die auf eine verstärkt wirkungsorientierte Verwaltungsführung hinzielt. Im Berichtsjahr wurden diese Bemühungen insbesondere im Ausland weitergeführt. Ein wichtiger Schritt war die Schaffung regionaler Konsularzentren, von denen aus Konsulardienstleistungen für mehrere Länder wahrgenommen werden.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Schwerpunkt-Thema: Umwälzungen in der arabischen Welt ­ Herausforderungen und Chancen für die Politik der Schweiz

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2 Aussenpolitische Aktivitäten im Berichtsjahr 2.1 Geografische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik 2.1.1 Europapolitik 2.1.1.1 Europäische Union 2.1.1.2 Europarat und OSZE 2.1.1.3 Beziehungen zu ausgewählten europäischen Staaten 2.1.2 Politik gegenüber dem amerikanischen Kontinent 2.1.3 Politik gegenüber Asien und Ozeanien 2.1.4 Politik gegenüber Subsahara-Afrika 2.2 Multilaterale Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik 2.2.1 UNO und internationale Strafjustiz 2.2.2 Schweizer Vorsitz des Frankophoniegipfels 2.2.3 Wirtschaftspolitischer Multilateralismus (G-20, FSB, OECD, IWF) 2.2.4 Multilateralismus kulturellen und wissenschaftlichen Charakters 2.2.5 Sicherheitspolitischer Multilateralismus 2.3 Thematische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik 2.3.1 Internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik 2.3.2 Menschliche Sicherheit und humanitäres Völkerrecht 2.3.3 Migrationsaussenpolitik 2.3.4 Armutsreduktion und humanitäre Hilfe 2.3.5 Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik 2.3.6 Aussenpolitik im Bereich nachhaltige Entwicklung 2.3.7 Aussenpolitik in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Energie und Gesundheit 2.3.8 Aussenpolitik in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation 2.3.9 Neutralität 2.4 Service public 2.5 Aussenpolitik und Öffentlichkeit 2.6 Führungsunterstützung für die Aussenpolitik Anhang: Ergänzende Angaben zum Europarat (Juni 2010­2011)

2923 2923 2923 2924 2932 2934 2938 2943 2950 2955 2955 2963 2964 2968 2970 2971 2972 2977 2996 2999 3012 3016 3018 3024 3025 3027 3032 3036 3040

2903

Abkürzungsverzeichnis 3G

Global-Governance-Gruppe

APK

Aussenpolitische Kommission(en)

ASEAN

Association of Southeast Asian Nations

ASEM

Asien-Europa-Treffen

ASO

Auslandschweizerorganisation

AU

Afrikanische Union

BAKOM

Bundesamt für Kommunikation

BFM

Bundesamt für Migration

BLW

Bundesamt für Landwirtschaft

BRIC

Gruppe der folgenden vier grossen Schwellenländer: Brasilien, Russland, Indien und China

CERN

Europäische Organisation für kernphysikalische Forschung (Organisation européenne pour la recherche nucléaire)

COPUOS

Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums Committee on the Peaceful Uses of Outer Space)

DCAF

Genfer Zentrum für demokratische Kontrolle von Streitkräften (Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces)

DEZA

Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit

EBRD

Europäische Entwicklungsbank (European Bank for Reconstruction and Development)

ECOSOC

Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (Economic and Social Council)

ECOWAS

Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Economic Community of West African States)

EDA

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten

EDI

Eidgenössisches Departement des Innern

EAPC

Euro-atlantischer Partnerschaftsrat

EFD

Eidgenössisches Finanzdepartement

EFTA

Europäische Freihandelsassoziation (European Free Trade Association)

EG

Europäische Gemeinschaft

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

ESA

Europäische Weltraumorganisation (European Space Agency)

2904

EU

Europäische Union

EUFOR

European Union Force

EULEX

Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union

EVD

Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

FAO

Nahrung- und Landwirtschaftsprogramm der UNO (Food and Agriculture Programme)

FIPOI

Immobilienstiftung für die internationalen Organisationen (Fondation des immeubles pour les organisations internationales)

FSB

Financial Stability Board

G-8

Gruppe der 8 (USA, Deutschland, Japan, Grossbritannien, Kanada, Frankreich und Italien (G-7) + Russland)

G-20

Gruppe der 20 (USA, Japan, Deutschland, China, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, Brasilien, Russland, Indien, Südkorea, Australien, Mexiko, Türkei, Indonesien, Saudi-Arabien, Südafrika, Argentinien, Europäische Union)

G-24

Gruppe der 24 zu internationalen Finanzangelegenheiten (Algerien, Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Demokratische Volksrepublik Kongo, Elfenbeinküste, Ägypten, Äthiopien, Gabon, Ghana, Guatemala, Indien, Iran, Libanon, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Peru, Philippinen, Südafrika, Sri Lanka, Syrien, Trinidad & Tobago, Venezuela)

GCSP

Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (Geneva Centre for Security Policy)

GCTF

Global Counter-Terrorisme Forum

GRECO

Staatengruppe gegen Korruption (Groupe d'États contre la corruption)

HCHR

Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen (High Commissioner for Human Rights)

HCR

UNO-Menschenrechtsrat (Human Rights Council)

IAEA

Internationale Atomenergiebehörde (International Atomic Energy Agency)

ICC

Internationaler Strafgerichtshof (International Criminal Court)

ICTR

Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda

ICTY

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

IDA

Internationale Entwicklungsassoziation (International Development Association)

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IEA

Internationale Energie-Agentur

IEF

Internationales Energieforum

IGH

Internationaler Gerichtshof in Den Haag (auch ICJ International Court of Justice)

IKRK

Internationales Komitee vom Roten Kreuz

ILO

Internationale Arbeitsorganisation

IWF

Internationaler Währungsfonds (auch IMF International Monetary Fund)

KFOR

Kosovo Force

KSZE

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

MDG

Millenniumentwicklungsziele (Millennium Development Goals)

MERCOSUR Gemeinsamer Markt Südamerikas (Mercado Común del Sur) MoU

Absichtserklärung (Memorandum of Understanding)

NATO

Nordatlantisches Bündnis (North Atlantic Treaty Organisation)

NGO

Nichtregierungsorganisation (Non-Governmental Organisation)

NPT

Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons)

NSG

Gruppe der Nuklearlieferländer (Nuclear Suppliers Group)

OAS

Organisation Amerikanischer Staaten (Organisation of American States)

OCHA

UNO-Büro für die Koordination der humanitären Hilfe (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs)

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development)

OIF

Internationale Organisation der Frankophonie (Organisation internationale de la Francophonie)

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PfP

Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace)

SADC

Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft

SCOPES

Scientific co-operation between Eastern Europe and Switzerland

SECO

Staatssekretariat für Wirtschaft

SNB

Schweizerische Nationalbank

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TIPH

Internationale Beobachtermission in Hebron (Temporary International Presence in the City of Hebron)

TAP

Transadriatische Pipeline

UNASUR

Union Südamerikanischer Nationen

UNCAC

Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (United Nations Convention against Corruption)

UNDP

Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Program)

UNEP

Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Program)

UNESCO

Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization)

UNFCCC

United Nations Framework Convention on Climate Change

UNFPA

Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund)

UNICEF

Kinderhilfsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund)

UNO

Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organisation)

UPR

Universal Periodic Review

VBS

Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport

WFP

Welternährungsprogramm (World Food Programme)

WHO

Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation)

WTO

Welthandelsorganisation (World Trade Organisation)

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Bericht 1

Schwerpunkt-Thema: Umwälzungen in der arabischen Welt ­ Herausforderungen und Chancen für die Politik der Schweiz

Kontext Der «arabische Frühling» überraschte alle Expertinnen und Experten. Zwar hatte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) bereits 2002 darauf hingewiesen, dass die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens vor allem in den Bereichen Grundfreiheiten und gute Regierungsführung schwerwiegende Defizite aufwiesen. Doch diese Einschätzung der Lage in der Region, die vor allem von einem Interesse an Stabilität und Sicherheit geleitet war, beschränkte sich lange Zeit auf den Aspekt der Bedrohung plötzlicher und unkontrollierbarer politischer Veränderungen, welche von den islamistischen Bewegungen ausging. Die Demonstrationen wurden jedoch von allen gesellschaftlichen Schichten und allen Bevölkerungsgruppen getragen, und zwar in den meisten Fällen ohne Bezugnahme auf die Religion. Gefordert wurden insbesondere sozioökonomische Reformen.

Die Protestbewegungen gingen im Wesentlichen von jungen Menschen aus. Die Bevölkerung der Region ist sehr jung: Die unter 25-Jährigen stellen je nach Land zwischen 45 und 55 % der Gesamtbevölkerung. Ihr Bildungsniveau ist hoch, viele sind arbeitslos, und sie sind namentlich dank Internet und sozialen Netzwerken in der Lage, sich schnell zu mobilisieren. Alle diese Elemente waren, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und in unterschiedlichen Kontexten, zu Beginn praktisch aller Aufstände in der Region vorhanden. Angeheizt wurden die Unruhen durch die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise, die 2008 eingesetzt hatte. Diese führte in der Region zwar nur zu einer Verlangsamung des Wachstums, doch ihre Auswirkungen verschärften die schon zuvor höchst schwierige Situation, insbesondere in den nichterdölproduzierenden Ländern. Die exportorientierten Sektoren wie etwa die Textilindustrie sind schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Überdies hatte die Finanzkrise die Heimkehr abgewanderter Arbeitskräfte und damit auch erhebliche Liquiditätsverluste für die betreffenden Länder zur Folge.

Es ist noch zu früh, um alle Dimensionen der Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten analysieren und verstehen zu können. Begonnen hatte alles im Dezember 2010 in einer ländlichen Kleinstadt Tunesiens. Von hier breitete sich eine Welle von Massenprotesten über das ganze Land aus und erfasste dann die gesamte Region von Marokko bis Jemen. Die Proteste haben diesen Teil
der arabischen Welt bereits jetzt zutiefst verändert und werden schliesslich für alle Entscheidungsträger und Akteure der regionalen Politik Anpassungen zur Folge haben.

Die arabische Welt wurde von jeher nicht einfach als Nebeneinander benachbarter Staaten betrachtet, sondern als ein zusammenhängendes Ganzes, das alle Merkmale eines Subsystems der internationalen Gemeinschaft aufwies, und sie galt seit langer Zeit als erstarrt und unempfänglich für Vorgänge in der übrigen Welt. Ihre Grundlage war ein Gefüge von Kräften und Strömungen (namentlich panarabischer und panislamischer Prägung), das diese Staaten miteinander verband und sie auf gemeinsame Ziele verpflichtete, und ihr Mittelpunkt war der israelisch-arabische Konflikt, der sie strukturierte und zusammenhielt. Jede Erschütterung in einem dieser Länder 2908

hatte ein Echo in anderen Teilen des Subsystems, stellte jedoch den Fortbestand des Ganzen nicht wirklich infrage. Mit dem arabischen Frühling vollzieht sich nun ein Paradigmenwechsel, welcher mit dem Ende der sogenannten «exception arabe» einhergeht.

Bestandesaufnahme Auch mehrere Monate nach dem tunesischen Beginn der Proteste in Nordafrika und dem Nahen Osten ist die Übergangszeit noch nicht beendet. Vereinfachend können heute vier Situationstypen unterschieden werden.

Politische Transition Tunesien und Ägypten, deren Staatsoberhäupter zum Rücktritt gezwungen wurden, befinden sich in einer Demokratisierungsphase. In Tunesien ist der Transitionsprozess eingeleitet worden; er umfasst namentlich die Auflösung der früheren Einheitspartei und die Ersetzung derjenigen Führungskräfte in der Verwaltung, die dem ehemaligen Staatschef nahe standen. Die unmittelbar nach der Revolution eingesetzte Hohe Instanz einigte sich auf einen Zeitplan für die Wahlen, auf das Wahlverfahren (Verhältniswahl) und auf eine ausgewogene Vertretung von Männern und Frauen bei den Kandidaturen für die Wahlen. Die Anzahl der registrierten Parteien ­ nahezu 100, die in den meisten Fällen nicht über etablierte Strukturen verfügen ­ lässt befürchten, dass diese erst im Entstehen begriffene Demokratie eine chaotische Entwicklung nehmen wird. Am 23. Oktober 2011 fanden Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung statt. Sie verliefen ohne grössere Zwischenfälle und verzeichneten eine Wahlbeteiligung von mehr als 90 %. Die Versammlung ist am 22. November zum ersten Mal zusammengetreten. Dies ist als Erfolg für die Demokratie zu werten.

In Ägypten ist die Entwicklung anders verlaufen. Präsident Mubarak trat zurück, und die Verfassung wurde ausser Kraft gesetzt, während alle Vollmachten dem Obersten Militärrat übertragen wurden. Die in kleinem Kreis ausgearbeitete Verfassungsrevision beschränkte sich auf wenige Änderungen, wurde jedoch per Referendum angenommen. Die Parlamentswahlen haben am 28. November 2011 begonnen.

Das Wahlsystem ist höchst komplex: Das mit 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt wurde in drei Wahlregionen aufgeteilt. Die Wahlen zur Volksversammlung werden bis am 11. Januar 2012 abgeschlossen sein und die Ergebnisse zwei Tage später bekannt gegeben. Es folgen die
Wahlen zur Schura, dem Oberhaus mit beratender Funktion, die vom 29. Januar bis zum 11. März 2012 dauern werden. Dennoch ist die Lage im Land auch weiterhin instabil.

Die Unruhen halten an, und so kam es namentlich im Oktober 2011 zu schweren Zusammenstössen zwischen Kopten und Sicherheitskräften. Vermittels des Obersten Militärrats spielt die Armee eine diskrete, aber wichtige Rolle im Staatsapparat, und sie entscheidet auch weiterhin in letzter Instanz. Nun sieht es zwar so aus, als wolle sie sich aus der derzeitigen Übergangssituation zurückziehen, doch zugleich erklärt sie, sie sei entschlossen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und die von ihr vertretenen Grundsätze zu wahren. Bei der Gestaltung der künftigen Institutionen wird sie wahrscheinlich eine wichtige Rolle spielen.

Die bevorstehenden Wahlen werden deutlich machen, welches Gewicht die verschiedenen Gruppierungen haben. Es ist nicht auszuschliessen, dass aus den Relikten der alten Parteien eine Partei der Ordnung entsteht oder dass die verschiedenen 2909

islamistischen Bewegungen ihren Einfluss konsolidieren, wie zum Beispiel die Wahlsiege der Ennahda in Tunesien und der Muslimbruderschaft in Ägypten gezeigt haben. Die entscheidende Frage ist, inwieweit die Parteien in der Lage sind, sich so zu organisieren, dass sie Regierungsverantwortung übernehmen können. Dies ist zurzeit noch völlig offen und könnte zum Aufschub einiger Wahltermine führen.

Zudem darf nicht vergessen gehen, dass wirtschaftliche Faktoren von ausschlaggebender Bedeutung für die politische Zukunft der beiden Länder sind.

Reformen In Marokko ist Mohammed VI. im Vollbesitz sowohl der politischen als auch der religiösen Legitimität. Daher gilt die bisher geäusserte Kritik ausschliesslich der herrschenden Bürokratie. In der Rede des Königs vom 17. Juni 2011 gab es Anzeichen für eine politische Öffnung. Der Entwurf einer Verfassungsreform, deren Schwerpunkte Mohammed VI. vorgestellt hat, sieht die Einführung einer parlamentarischen Ordnung vor (mit einem Premierminister, den die Mehrheitspartei stellt und der mit grösseren Vollmachten ausgestattet ist). Das Referendum vom 1. Juli 2011 ergab eine überwältigende Mehrheit für die Verfassungsreform und wurde damit zu einem Plebiszit für den König. Aus den Parlamentswahlen am 25. November 2011 gingen die gemässigten Islamisten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) als Sieger hervor. Erstmals in der neueren Geschichte des Königreichs wird diese Partei den Ministerpräsidenten stellen.

In Jordanien kommen die Forderungen nach Reformen sowohl von der palästinensischen Bevölkerung als auch von den Stämmen, die die haschemitische Monarchie traditionell unterstützen. Die vom König am 13. Juni 2011 in einer Rede angekündigten Massnahmen vermögen den jordanischen Zweig der Muslimbruderschaft, der dem haschemitischen Regime gegenüber sehr kritisch eingestellt ist, nicht zu überzeugen. Es ist festzuhalten, dass die Bemühungen sowohl in Jordanien als auch in Marokko darauf abzielen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu verringern. Sollte die Reformagenda jedoch ins Stocken geraten, könnte der Druck der Strasse wieder zunehmen.

Auseinandersetzungen und bewaffnete Gewalt In mehreren Ländern ist es zu vielfach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Reformanhängern und der Staatsmacht gekommen. In Libyen mündeten sie in einen
Bürgerkrieg, in dessen Verlauf die NATO intervenierte, um die Zivilbevölkerung zu schützen. In Jemen und Syrien werden Kundgebungen von den Machthabern blutig niedergeschlagen.

In Libyen hat der Nationale Übergangsrat (CNT) einen Fahrplan für den Aufbau demokratischer Institutionen vorgelegt. Letztlich wird die weitere Entwicklung der Situation davon abhängen, ob die libyschen Übergangsbehörden in der Lage sind, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen und die verschiedenen Rebellengruppen auf gemeinsame Ziele zu verpflichten. Gelingt dies nicht, könnte es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen. Schon in der Gaddafi-Ära waren die staatlichen Institutionen schwach und sehr bürokratisch, sofern sie überhaupt existierten. Der Wiederaufbau Libyens ist eine gewaltige Aufgabe. Die internationale Gemeinschaft, die die libysche Bevölkerung unterstützt hat, wird koordiniert auf den Bedarf und die Ersuchen der neuen politischen Behörden eingehen müssen.

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Die Lage in Syrien ist komplex. Das Regime, das sich auf die alawitische Minderheit und insbesondere den Familienclan der Assad stützt, ist in der Defensive. Die Repression wird nicht schwächer, die Opposition organisiert sich. Die internationale Gemeinschaft übt zunehmend Druck auf das Regime aus, damit es die Repression einstellt: Es wurden insbesondere von der Arabischen Liga und der Türkei Sanktionen verhängt, die Präsident Assad isolieren sollen. Das Regime wurde gezwungen, einen nationalen Dialog vorzuschlagen, der jedoch kaum glaubwürdig ist. Die syrische Führung ist zwar angeschlagen, wird sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach noch eine Weile halten können, denn die Lage im Land wird von manchen seiner Nachbarn sowie auch von westlichen Ländern toleriert. Im Sicherheitsrat der UNO wird Damaskus von Russland und China unterstützt, die gegen jegliche Einmischung sind. Viele befürchten, das Ende des Alawiten-Regimes werde das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Überdies würde sein Ende die Machtkonstellation im Nahen und Mittleren Osten dadurch grundlegend verändern, dass Iran seinen Alliierten in der Region und folglich auch die libanesische Hisbollah verliert.

Jemen, das ärmste Land der arabischen Halbinsel, gerät immer tiefer in die Krise.

Die Protestbewegung, die den Rücktritt von Präsident Ali Abdallah Saleh und das Ende seines Regimes forderte, hat dazu geführt, dass das Land nun am Rande eines Bürgerkriegs steht. Eine neue Regierung wird sicherlich Schwierigkeiten haben, sich durchzusetzen und die politischen und wirtschaftlichen Reformen vorzubereiten, die das Land vor Chaos und Gewalt sowie vor terroristischen Bewegungen, die von Al-Qaida inspiriert sind, schützen sollen.

Fortbestehen oder Stärkung der alten Ordnung Fortbestand und Stärkung der alten Ordnung finden sich in den Mitgliedstaaten des Golf-Kooperationsrates sowie ­ aus anderen Gründen ­ auch in Algerien. Auf der arabischen Halbinsel haben die einzigen grossen Demonstrationen in Bahrain stattgefunden. Dort traf die Schockwelle des arabischen Frühlings auf eine bereits seit vielen Jahren schwierige innenpolitische Situation. Die Tatsache, dass die Bevölkerungsmehrheit schiitischen Glaubens ist, sowie die Weigerung des Premierministers, der seit vierzig Jahren an der Macht ist, eine Reihe von Reformen umzusetzen, haben
zu schweren Unruhen geführt. Die Opposition radikalisierte sich und wurde hierbei vom iranischen Nachbarn unterstützt, der häufig als Beschützer schiitischer Bevölkerungsgruppen auftritt. In der Folge wurde der Aufstand mit Hilfe von Truppen aus Saudi-Arabien und den Emiraten rücksichtslos niedergeschlagen. Heute finden weniger Demonstrationen statt, doch die Hauptprobleme sind nicht gelöst. In den anderen Golfstaaten ist es den Regierungen gelungen, die Unruhen durch verschiedene Massnahmen einzudämmen, darunter eine massive Erhöhung der Beamtengehälter sowie umfangreiche öffentliche Arbeiten. Doch die Unzufriedenheit schwelt weiter.

In Algerien hat es zahlreiche ­ allerdings kleinere ­ Demonstrationen gegeben.

Doch auch dort verband das Regime Repressalien mit dem Kauf des sozialen Friedens, den es sich dank der steigenden Erdölpreise leisten kann. Überdies ist die Erinnerung an den Bürgerkrieg der 1990er-Jahre noch sehr lebendig und verhindert ein Umschlagen in Gewalt, selbst wenn das derzeitige politische System von einem Teil der Bevölkerung kritisiert wird.

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Probleme der Transition Der arabische Frühling ähnelt einer mächtigen Welle. Sie weckt in den Menschen, die sie in Gang gesetzt haben, immense Hoffnungen auf Veränderung und Fortschritt, doch sie stellt die betroffenen Länder, die Subsahara-Region und auch die internationale Gemeinschaft vor gewaltige Herausforderungen. Heute geht es vor allem um die Frage, wie es diesen Protestbewegungen gelingen kann, sich den verschiedensten Arten von Vereinnahmung zu entziehen. Wenn alles gut geht, werden schrittweise demokratische Ordnungen oder zumindest Ordnungen mit demokratischen Elementen eingeführt, und in dieser Hinsicht dürften die Erfahrungen in Tunesien und Ägypten Massstäbe setzen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Demokratie im Chaos versinkt und die Akteure der Umwälzungen die Kontrolle über den Transitionsprozess verlieren. Demagogie und Zersplitterung der politischen Kräfte könnten den Aufbau und die Tätigkeit der neuen Institutionen gefährden.

Nicht auszuschliessen ist auch ein Fortbestehen oder eine Stärkung der autokratischen Regime, die nach einigen Konzessionen und Öffnungen versuchen werden, jegliche Opposition mundtot zu machen und damit eine Demokratisierung zu unterbinden.

Des Weiteren ist nicht auszuschliessen, dass Regierungen gebildet werden, in denen Islamisten vertreten sind. Manche Islamisten haben angekündigt, dass sie sich im Rahmen eines säkularen Staates am politischen Leben beteiligen werden. Ihre Äusserungen sind bislang gemässigt. Es sollte nicht vergessen werden, dass die «Islamisten» keineswegs eine einheitliche Gruppe sind, sondern verschiedenen Strömungen oder Bewegungen angehören, welche aufgrund interner Spannungen teilweise handlungsunfähig werden können. Solche Spannungen sind häufig Ausdruck von Generationenkonflikten und unterschiedlichen Vorstellungen von der Rolle islamischer Bewegungen, die nach Ansicht mancher ausschliesslich religiösen und karitativen Zwecken dienen sollten. Meinungsverschiedenheiten bestehen selbst hinsichtlich des zu verfolgenden Ziels ­ es gibt unter den Islamisten Gegner und Befürworter der Errichtung einer islamischen Republik. Im Übrigen haben diese Bewegungen Lehren aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart gezogen. Sie haben nicht vergessen, dass sie sowohl in Algerien als auch in Syrien brutaler Repression ausgesetzt waren;
sie wissen, dass manche ihrer Vorstellungen von grossen Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden, und sie sind sich schliesslich der Tatsache bewusst, dass sie nicht zu den Initiatoren des arabischen Frühlings gehören, sondern sich damit begnügt haben, ihn zu begleiten und ihn später ­ ebenso wie andere auch ­ für sich zu nutzen.

Ein weiterer entscheidender Faktor, der sich zugunsten oder auch zuungunsten der Forderungen nach politischen Reformen auswirken kann, wird die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder und ihre Fähigkeit sein, die notwendigen Reformen durchzuführen. Die neuen Regierungen müssen die Volkswirtschaften, die schon vor den Unruhen sehr anfällig waren und heute noch schwächer sind, wieder ankurbeln.

Die Entwicklung der Reformbewegungen könnte durch eine Ausnutzung der in dieser Region sehr ausgeprägten interethnischen und interreligiösen Spannungen erschwert werden. So könnten etwa manche politischen Behörden versucht sein, diese Spannungen auszunutzen, indem sie behaupten, hinter den demokratischen Forderungen der Bevölkerung stecke eine einzelne Bevölkerungsgruppe oder sogar eine ausländische Macht. Schliesslich und endlich können auch die Folgen der Umwälzungen für die Staaten südlich der Sahara, die von jeher geopolitische Beziehungen zu den grossen Nachbarn im Norden unterhalten, nicht ausgeblendet werden.

2912

Neue geopolitische Gegebenheiten Bei den derzeitigen Unruhen sind drei Zonen auszumachen, die sich überlagern und gegenseitig beeinflussen und auf die wir im Folgenden näher eingehen: Die erste ist die «arabische Zone», deren Zentrum seit langem der «Knoten» des israelischarabischen Konflikts ist, die sich heute jedoch auf die schwere Krise in Syrien konzentriert, deren Ausgang die Neuformation der regionalen Akteure erheblich beeinflussen wird. Die zweite Zone sind die sogenannten Randmächte des «arabischen Systems», darunter die Türkei, Iran und Israel, die versuchen, sich angesichts des auch für sie überraschenden arabischen Frühlings neu zu positionieren. Die dritte Zone ist globaler Natur: Sie umfasst die US-amerikanische und die europäische Politik sowie wichtige neue Akteure wie Russland, China und Indien.

Die «arabische Zone» Der im arabischen Frühling wahrscheinlich wichtigste Faktor für Veränderungen ist die potenzielle Renaissance einer vom US-amerikanischen Geldgeber weniger abhängigen Führungsmacht Ägypten. Die panarabische Rolle Ägyptens war im Anschluss an die Abkommen von Camp David schwächer geworden. Die derzeitigen Umwälzungen bieten Ägypten die Chance, wieder zur Regionalmacht aufzusteigen, und zwar namentlich an der Seite von Ländern wie Katar, das seine diplomatischen Aktivitäten in der ganzen Region intensiviert, und Saudi-Arabien, das sich in den letzten Monaten offenkundig dem US-amerikanischen Einfluss entzogen hat, indem es zunächst in Bahrain militärisch intervenierte und dann die Aufnahme Palästinas in die UNO mündlich unterstützte.

Die gegenwärtige Krise in Syrien kann insbesondere für den Libanon und Jordanien sehr gefährlich werden. Der Ausgang des politischen Seilziehens in Damaskus wird den Umbau der «Hierarchie» der Staaten in der Region massgeblich beeinflussen: Das syrische Regime stand immer im Mittelpunkt der Kämpfe um Einflussbereiche in der arabischen Welt. Der Irak ist die zweite zentrale Grösse im Nahen Osten: Der Abzug der US-Truppen hat die Rivalitäten zwischen Iranern, Saudis, Syrern und Türken erneut angefacht.

Und schliesslich ist die arabische Welt nicht vor einer Implosion gefeit. Eine Teilung des Jemen wäre die schlimmstmögliche Botschaft an die arabische Welt und insbesondere an die Regionen, die ähnliche Voraussetzungen aufweisen, welche im
Anschluss an Gewaltakte namentlich in Syrien, Libyen oder im Libanon «aktiviert» werden könnten.

Die sogenannten Randmächte des arabischen Systems Die strategische Neuheit im Nahen Osten, die sich aus den Aufständen ergeben hat, ist die veränderte geopolitische Positionierung Israels. Die Grenze zu Ägypten, die bisher als Inbegriff der Stabilität galt, könnte in Zukunft beweglich werden. Wie wird sich die nächste ägyptische Regierung verhalten? Wird das gleiche Vertrauen herrschen? Die Abkommen von Camp David hatten die Südwestflanke Israels für lange Zeit gesichert. An der Grenze zu Syrien und dem Libanon gibt es ebenfalls ein Sicherheitsproblem, und dies wird grösser, je schwächer Jordanien wird. Überdies muss sich Israel über den Fortbestand seiner Verbindung mit den USA sowie auch über die Zukunft des palästinensischen Staates Gedanken machen.

Der Iran dürfte die Ereignisse mit Sorge verfolgen und insbesondere fürchten, dass die arabischen Unruhen die «grüne» Reformbewegung in Iran ermutigen. Teheran wird sicherlich versuchen, seine Hauptinteressen in der Region ­ seine atomare 2913

Unabhängigkeit und die Stärkung seines Einflusses im Nahen Osten ­ zu wahren.

Ein Sturz des syrischen Regimes würde dem Iran die Möglichkeit nehmen, den libanesischen Hisbollah und der Hamas militärische und finanzielle Hilfe zu liefern.

Zudem wäre der Iran dann noch isolierter und sähe sich gezwungen, schwierige Anpassungsmassnahmen zu ergreifen.

Seit die AKP an der Macht ist, hat die Türkei ihre wirtschaftliche Präsenz in der arabischen Welt um ein Vielfaches verstärkt und tritt politisch immer selbstbewusster auf. Der Wendepunkt ihrer Aussenpolitik fiel zeitlich zusammen mit ihrem Eintritt in den Club der aufstrebenden Mächte. Der arabische Frühling hat ihre ehrgeizigen Pläne gestört, und sie muss nun die Destabilisierung eines ihrer unmittelbaren Nachbarn befürchten: Die offenkundige Unschlüssigkeit der türkischen Regierung angesichts der Repression in Syrien, die sie schliesslich mit Nachdruck verurteilte, hat deutlich gemacht, dass ihr Einfluss begrenzt ist. Ankara ist heute in einer schwierigen Lage, die eine Anpassung seiner Aussenpolitik erforderlich macht.

Das verstärkte diplomatische Engagement der Türkei, das namentlich durch die jüngsten Besuche von Premierminister Erdogan in Ägypten, Tunesien und Libyen zum Ausdruck kam, zeigt zumindest seine Entschlossenheit, aktiv an der Bewältigung der derzeitigen Ereignisse in der arabischen Welt mitzuarbeiten.

Die Spekulationen über die gegenwärtigen geopolitischen Prozesse sind mit grosser Vorsicht zu geniessen. Diese Prozesse sind noch nicht stabilisiert, und zwar namentlich deshalb, weil in ihnen ein neuer Akteur der internationalen Beziehungen mitwirkt, nämlich die Völker. Sie werden die künftige strategische Positionierung ihrer Länder immer mehr mitbestimmen.

Die globale Ebene Die geostrategische Bedeutung des «arabischen Raums» ist längst unter Beweis gestellt. Mit den gegenwärtigen Ereignissen hat sich einigen Spezialistinnen und Spezialisten zufolge ein strategischer Bruch vollzogen, der letztlich dazu führen könnte, dass die aus der Zeit der Dekolonisation stammende regionale Ordnung neu gestaltet wird.

Bisher hatten die USA ein Quasi-Monopol in der gesamten Region. Ihre Strategie bestand im Wesentlichen darin, einen Grossteil der dortigen Krisenherde im Bereich der «geringen Intensität» zu halten. Aufgrund der derzeitigen
Entwicklungen in der arabischen Welt kann sich Washington eine solche Politik, die namentlich auf der von Powell und Bush vertretenen Doktrin der «overwhelming force» basiert, nicht mehr leisten. Die amerikanische Ordnung ist also nicht mehr gewährleistet, und auch ihre traditionellen Anlaufstellen in der Region sind es nicht mehr. Den Hintergrund dazu bilden der Abzug aus Irak und Afghanistan, die Schuldenkrise und die geringer werdende Abhängigkeit der USA von den Erdölvorkommen, namentlich der Golfstaaten und des Irak. All dies verringert das Bestreben der USA, dem arabischen Frühling ihren Stempel aufzudrücken. Es erscheint durchaus denkbar, dass sich Washington weitgehend aus der Region zurückzieht und seine Aktivitäten auf die beiden Hauptanliegen konzentriert: die Unterstützung Israels und der Staaten des Persischen Golfs.

Auch Europa bemüht sich um Präsenz in der arabischen Welt. Ebenso wie die Schweiz wird sich auch die EU durch die jüngsten Ereignisse veranlasst sehen, ihre Beziehungen zu den Ländern des südlichen und östlichen Mittelmeerraums neu zu gestalten. Der Umgang mit der libyschen Krise hat die Widersprüche der EU-Aussen- und Sicherheitspolitik deutlich gemacht: Die Tatsache, dass Deutschland der 2914

Resolution 1973, die die Voraussetzungen für eine internationale Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung schuf, seine Zustimmung verweigerte, und auch die entscheidende Rolle Frankreichs und Grossbritanniens veränderten die Gleichgewichte auf europäischer Ebene. Unter diesen Umständen dürften der Nahe Osten und der Maghreb zu einer neuen Herausforderung und zu einem Experimentierfeld für die europäische Aussenpolitik werden.

Russland hat den arabischen Frühling trotz der geografischen Entfernung schon früh sehr ernst genommen, und zwar vor allem wegen der Präsenz des Islam innerhalb seiner Grenzen und wegen der Möglichkeiten einer Ansteckung. China fürchtet ebenfalls den Vorbildcharakter der arabischen Aufstände. Es bestehen zwar erhebliche Unterschiede zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und den gestürzten Regimes von Tunesien, Ägypten und Libyen, doch die Forderungen der Demonstrierenden in den arabischen Ländern finden ein gewisses Echo bei den Chinesen. Die chinesischen Interessen im Ausland sind durch die Protestbewegung unmittelbar berührt. In Libyen erfolgte eine Massenevakuierung chinesischer Arbeitskräfte, und mehr als die Hälfte der von chinesischen Firmen entwickelten Projekte ist angegriffen und geplündert worden. Die Situation könnte für China noch unvorteilhafter werden, sollten die Unruhen auf den Iran übergreifen. China hat massive wirtschaftliche und energiepolitische Interessen in diesem Land, und sein Image ist bei einem Teil der Bevölkerung sehr schlecht, weil es das Regime unterstützt. Somit besteht die Gefahr, dass die gesamte Investitionspolitik Chinas, die vor allem im Bereich der Erdölproduktion auf einer engen Zusammenarbeit mit autoritären Regimes basiert, durch die Protestbewegung geschwächt wird.

Alle diese Elemente, die sich im Zusammenhang mit den arabischen Aufständen entwickelt haben, sind zurzeit zu beobachten, ohne dass klare Perspektiven zu erkennen sind. Doch diese Elemente werden für die Zukunft nicht nur des südlichen und östlichen Mittelmeerraums, sondern auch der weltweiten internationalen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielen.

Palästina Die Palästina-Frage war und ist die zentrale Frage im Nahen Osten. Das bewies erneut die Initiative von Präsident Mahmud Abbas, am 23. September 2011 vor der UNO-Vollversammlung eine Rede zu halten und
unmittelbar im Anschluss daran dem UNO-Generalsekretär das Gesuch Palästinas um Aufnahme als 194. UNOMitgliedstaat zu überreichen. Das Gesuch ist vom Sicherheitsrat abgelehnt worden, doch es konnte immerhin deutlich zu machen, wie verzweifelt die Palästinenserinnen und Palästinenser 64 Jahre nach der Annahme der Resolution 181 der UNOVollversammlung sind, die eine Teilung Palästinas in zwei Staaten vorsah. Auch andere, eher konjunkturabhängige Motive bieten Erklärungen für die Wahl des Zeitpunkts dieser Initiative: ­

Der arabische Frühling machte der bleiernen Zeit ein Ende, die auf der Region gelastet hatte, und heute haben die Völker die Möglichkeit, Forderungen zu erheben. Die Palästinenser wollen diese Öffnung nutzen.

­

Die palästinensische Behörde und insbesondere Mahmud Abbas wollen sich Glaubwürdigkeit verschaffen, denn viele Palästinenser glauben nicht mehr an eine Verhandlungslösung; gelänge es der palästinensischen Behörde, in der UNO einen ­ wenn auch nur symbolischen ­ Status zu erhalten, würde sie nicht erneut als Spielball US-amerikanischer Interessen dastehen; 2915

­

Die palästinensische Behörde und die Fatah (die stärkste Fraktion innerhalb der PLO) müssen mit der Hamas konkurrieren. Ein diplomatischer Erfolg in der UNO könnte die palästinensische Führung in der Auseinandersetzung mit der islamistischen Partei, die im Gazastreifen an der Macht ist, stärken (Hamas und Fatah haben im Frühjahr 2011 ein Versöhnungsabkommen geschlossen, das bisher jedoch noch nicht zur Anwendung gelangt ist).

­

Die Palästinenser haben die Grundlagen ihres Staates geschaffen; im August 2009 lancierte die Regierung Salam Fayad den Zweijahresplan «Building Palestine», doch die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsmassnahmen erzielten keine spürbaren Erfolge, und daher wuchs die Enttäuschung.

­

In seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung im September 2010 hatte der US-Präsident von der Möglichkeit gesprochen, ein Jahr später einen neuen Staat, nämlich Palästina, in die Weltorganisation aufzunehmen; die Palästinenser haben diese Worte nicht vergessen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Palästinenser mit der Initiative eine möglichst breite internationale Unterstützung in der UNO anstrebten (was ihnen im Sicherheitsrat allerdings nicht gelang), dass sie aber offen bleiben für direkte Verhandlungen mit Israel. Mahmud Abbas geht es heute vor allem darum, das Kräfteverhältnis gegenüber Israel zugunsten der Palästinenser zu verändern. Der arabische Frühling ist einer der Faktoren, die zu dieser neuen Strategie geführt haben.

Implikationen für die Schweiz Die Schweiz hat in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens im Allgemeinen einen sehr guten Ruf, den sie namentlich ihrer Neutralitätspolitik verdankt. Sie gilt als unparteiisch und hat keine koloniale Vergangenheit, und daher verfügt sie in einem weitgehend polarisierten Umfeld über ein besonderes Profil und besondere Aktionsmöglichkeiten. Da sie eine Politik der Universalität verfolgt, unterhält sie Kontakte zu den meisten Akteuren in der Region. Diese Kontakte ­ etwa zum Iran, zur Hamas und zur Hisbollah ­ haben andere Staaten nicht, und so hat die Schweiz einen gewissen komparativen Vorteil insbesondere dann, wenn gute Dienste zu leisten sind.

Die Transition in der arabischen Welt wirft heute die Frage auf, ob die Schweiz ihre Politik gegebenenfalls anpassen sollte. Neben ihrem Interesse an Demokratie und Stabilität (die den Zugang zum Energiemarkt gewährleistet), das sie mit den anderen europäischen Staaten teilt, muss der Schweiz auch daran gelegen sein, ihren Ruf als neutrales Land zu wahren, das sich für die Einhaltung des Völkerrechts einsetzt und seine guten Dienste anbietet. Das Engagement der Schweiz in der Region basiert auf den Grundsätzen, die der Bundesrat am 11. März 2011 in seiner Nordafrikastrategie formuliert hat: Partnerschaft mit den Ländern der Region, Relevanz des Engagements, departementsübergreifender Ansatz in der Bundesverwaltung, Management der Risiken demokratischer Transition.

Schweizer Interessen in der Region Die Schweizer Interessen in der geografisch nahe gelegenen Region Nordafrika und Naher Osten sind in erster Linie politischer und sicherheitspolitischer Natur. Die Schweiz hat grosses Interesse daran, dass dort stabile und dynamische Demokratien entstehen ­ nicht zuletzt auch deshalb, um zu vermeiden, dass sich neue Krisenherde oder extremistische Bewegungen entwickeln. Um den Prozess der politischen Tran2916

sition zu begleiten, hat der Bundesrat am 11. März und am 6. April 2011 zwei Strategien angenommen, die Leitlinien für das Handeln der Schweiz in der Region festlegen. Die Schweiz ist bereit, Unterstützung namentlich in den Bereichen humanitäre Hilfe, Strukturreformen, wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung bereitzustellen. Das EDA organisierte zwei regionale Botschafterkonferenzen am 1. Mai 2011 in Tunis und am 19. Juni 2011 in Doha, an denen die Umsetzung dieser Strategien erörtert wurde. Bislang konzentriert die Schweiz ihre Bemühungen auf Nordafrika (63 Mio. CHF für 2011/2012).

Im Hinblick auf diese Region und insbesondere auf die nordafrikanischen Länder ist die Migration ein Thema, das für die Länder im Norden des Mittelmeers Gegenstand ernster Besorgnis ist. In den arabischen Ländern hat es praktisch keine Auswanderung gegeben, eine Ausnahme bilden lediglich die folgenden Länder: ­

Der umfangreichste der durch den arabischen Frühling ausgelösten Migrationsströme kam aus Libyen. 765 000 Personen verliessen das Land zwischen dem Beginn des Aufstands im Februar und seinem Ende im Oktober 2011.

Nahezu 450 000 von ihnen kehrten in ihre Heimatländer (Ägypten, Algerien, Niger, Tschad und Tunesien) zurück, 27 500 versuchten, über das Meer nach Italien (26 000) oder Malta (1500) zu gelangen, die übrigen konnten Libyen ­ häufig mit Hilfe der Internationalen Organisation für Migration ­ auf dem Landweg verlassen und in ihre Heimat zurückkehren. Mehrere Tausend Personen halten sich jedoch noch in Flüchtlingslagern auf, die an der libyschen Grenze eingerichtet wurden und vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge verwaltet werden.

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Rund 27 500 Personen aus Tunesien sind nach der Revolution vom Januar 2011 auf die italienische Insel Lampedusa gelangt. Insgesamt sind 2011 auf der Insel Lampedusa 53 326 Flüchtlinge angelandet.

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Rund 13 000 Personen haben Syrien seit Beginn der Unruhen im März verlassen; die meisten gingen in die Türkei oder den Libanon.

Italien ist von allen europäischen Ländern am stärksten von dem Flüchtlingsstrom aus Nordafrika betroffen. Am 6. April 2011 schloss Italien mit Tunesien einen Vertrag, in dem es sich verpflichtete, allen Personen, die vor Abschluss des Vertrages italienischen Boden betreten hatten, ein auf sechs Monate befristetes humanitäres Visum auszustellen. Tunesien verpflichtete sich zur Rückübernahme seiner nach diesem Datum in Italien eingetroffenen Staatsangehörigen. Rund 12 000 Visa wurden ausgestellt und im Oktober 2011 um sechs Monate verlängert. Die Anzahl der in Italien gestellten Asylanträge ist von 7350 im Jahre 2010 auf 29 552 im Jahre 2011 gestiegen. Ein Teil dieser Flüchtlinge reiste illegal nach Frankreich weiter, wo eine grosse tunesische Diaspora lebt.

Im Asylbereich ist die Schweiz in erster Linie Zielland der Migration aus Drittländern. Im Jahr 2011 haben 2574 tunesische Staatsangehörige, die überwiegend zunächst nach Italien gegangen waren, in der Schweiz Asyl beantragt; 2010 waren es 358 gewesen. Ein Anstieg ist auch bei Asylanträgen eritreischer Staatsangehöriger (3356, gegenüber 1799 im Jahre 2010), somalischer Staatsangehöriger (636, 337) und nigerianischer Staatsangehöriger zu verzeichnen, die teilweise aus Italien in die Schweiz gekommen sind. Gemäss dem Abkommen von Dublin kann die Schweiz diese Asylsuchenden nach Italien wegweisen.

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In den anderen Ländern der Europäischen Union sind von tunesischen oder libyschen Staatsangehörigen, die aus Italien angereist waren, sehr wenige Asylanträge gestellt worden. Die Anzahl der Asylanträge syrischer Staatsangehöriger hingegen hat in den meisten europäischen Ländern, darunter auch der Schweiz, zugenommen, allerdings in unterschiedlichem Ausmass.

Was die Energievorräte betrifft, so ist das Gebiet zwischen Algerien und dem Persischen Golf eines der Zentren der Weltwirtschaft. Die Schweiz importiert 80 % ihres Energiebedarfs, grösstenteils in Form von Erdöl und Erdgas. Der internationale Rohölmarkt ist sehr flexibel; da sein Management in den Händen privater Akteure liegt, ist er für staatliche Interventionen praktisch nicht zugänglich. Gegenwärtig spielen Nordafrika und der Nahe Osten nur eine geringe Rolle im Energieimport der Schweiz. So kam etwa das im Laufe des Jahres 2010 in der Schweiz verbrauchte Erdöl vor allem aus Kasachstan (33,3 %), Aserbaidschan (31,5 %) und Libyen (17,4 %). Erdgas deckt lediglich rund 12 % des Schweizer Energiebedarfs, und dieses Erdgas kommt fast ausschliesslich durch den ersten Versorgungskorridor in der Nordsee. Die Schweiz importiert auch russisches Erdgas durch Deutschland (zweiter Korridor). Das algerische Erdgas aus dem dritten Korridor spielt nur eine marginale Rolle (2,2 % der Gasversorgung 2009). Dank der Flexibilität des Erdölmarktes sowie der Diversifizierung der Quellen und der Versorgungswege sind für die Schweiz keine Engpässe zu befürchten. Da jedoch nicht abzusehen ist, wie lange die Unruhen in den arabischen Ländern anhalten werden, und angesichts der gegen Iran verhängten Sanktionen besteht die Gefahr einer anhaltenden Volatilität der Erdölimportmärkte. Diese Gefahr wird noch verstärkt durch die Bedenken der Investoren hinsichtlich der Lage in Bahrain (wichtiger Ausfuhrhafen), in Oman (gewährleistet die sichere Durchfahrt durch die Meerenge von Hormus), in Ägypten (Suezkanal) und in Saudi-Arabien. Sie wird ausserdem verstärkt durch die Tendenz der Unternehmen, die Erdölvorräte zu vergrössern, und durch die fast vollständige Einstellung der hochwertigen libyschen Produktion (kaum Substitutionsmöglichkeiten). Alle diese Faktoren tragen zu Instabilität und zum Anstieg des Rohölpreises bei.

In wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht ist
die Golfregion ein Schwerpunkt der Schweizer Interessen. Ihre Investitionen sind jedoch relativ bescheiden. Die wichtigsten Destinationen sind die Arabischen Emirate (Stand Ende 2008: 7,83 Mrd.

CHF, also rund 0,9 % der gesamten Schweizer Auslandsinvestitionen) und SaudiArabien (Stand Ende 2008: 662 Mio. CHF, also rund 0,1 %). Diese beiden Länder verzeichneten in den letzten drei Jahren dank der gewaltigen Infrastrukturprojekte den stärksten Kapitalzufluss in der Golfregion. In anderen Ländern der Region, so etwa Oman und Katar, nehmen die Schweizer Investitionen tendenziell zu. Sie fliessen in die Industrie und den Dienstleistungssektor, und hier insbesondere in Finanzdienstleistungen, Hotellerie, Tourismus und Logistikdienstleistungen.

Die Schweizer Investitionen in den Golfstaaten könnten von der Konjunkturschwäche der jeweiligen Länder unmittelbar betroffen sein. Die Attraktivität dieser Länder geht aufgrund des Klimas der Unsicherheit infolge der arabischen Aufstände momentan zurück. Obwohl die Banken in einigen Bereichen Dynamik zeigen (Investmentbanking, Handels- und Immobilienfinanzierung), haben sie in der Vermögensverwaltung bislang nicht viel Erfolg. Die Kunden werden häufig vor Ort beraten, doch die Mittel werden anderswo ausgewiesen (in Europa, Singapur usw.).

Diese Aufteilung könnte sich akzentuieren. Sollte die Lage in den Emiraten und Katar, den beiden wichtigsten Finanzplätzen der Region, unsicher werden, ist mit 2918

einer massiven Abwanderung der dortigen internationalen Klientel sowie einer zunehmenden Kapitalflucht der arabischen Familien zu rechnen.

Die Investitionen der Golfstaaten in der Schweiz sind komplex und nicht leicht zu ermitteln. Das liegt zum Teil daran, dass die Statistiken nur Direktinvestitionen eines Landes in einem anderen Land erfassen, nicht jedoch Investitionen, die beispielsweise durch Unternehmens- oder Finanzstrukturen getätigt werden, deren Sitz sich in einem Drittland befindet. Unseres Wissens konzentrieren sich die in der Schweiz getätigten Investitionen speziell auf den Immobiliensektor, die Hotellerie und das Bankwesen und stammen vorwiegend aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Katar. Viele der in der Schweiz getätigten Investitionen sind Eigentum von Staatsfonds, von staatlichen Unternehmen oder von Unternehmen, die von Mitgliedern der Herrscherfamilien geleitet werden. Beispiele hierfür sind die Qatar Investment Authority, die rund 6,2 % der Anteile der Crédit Suisse hält, und ein Konsortium von Staatsfonds aus Dubai und Abu Dhabi, das 90 % der Anteile von SR Technics besitzt. In diesem Zusammenhang ist auf die in dieser Region häufigen hybriden Leitungsstrukturen hinzuweisen, die darauf zurückzuführen sind, dass nicht immer klar zwischen Privateigentum und Gemeineigentum unterschieden wird.

Was den Handel anbetrifft, so nahmen die Schweizer Exporte in die Golfregion von 2000 bis 2008 konstant zu, und zwar vor allem bei Maschinen, Uhren, pharmazeutischen Produkten und Schmuck. Im gleichen Zeitraum importierte die Schweiz Edelmetalle und Schmuck im Wert von 700 Millionen Franken. Seit 2009 gehen die Schweizer Exporte aufgrund der weltweiten Finanzkrise zurück. Die Schweiz hat mit allen Mitgliedern des Golf-Kooperationsrates (ausser Bahrain) Investitionsschutzabkommen geschlossen. 2009 unterzeichneten der Golf-Kooperationsrat und die EFTA ein Freihandelsabkommen, das noch nicht in Kraft getreten ist.

Nordafrika Nach den Volksaufständen, die in Tunis und Kairo zu Regimewechseln führten, sperrte der Bundesrat am 19. Januar 2011 allfällige in der Schweiz deponierte Vermögenswerte des früheren tunesischen Präsidenten Ben Ali und seines Umfeldes, und am 2. Februar 2011 sperrte er die Vermögenswerte des ehemaligen Präsidenten Mubarak und seines Umfeldes. Ägypten
und Tunesien übermittelten der Schweiz umgehend Rechtshilfeersuchen.

Unmittelbar nach den ersten Gewaltakten, die das Gaddafi-Regime gegen die protestierende libysche Bevölkerung beging, sperrte der Bundesrat am 24. Februar 2011 die Vermögenswerte von Oberst Gaddafi und Mitgliedern seiner Entourage. Die Sperrung der Vermögenswerte stützt sich seit Ende März 2011 auf das Embargogesetz, da der Bundesrat seit dem 31. März 2011 die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängten Sanktionen sowie die weiter gehenden Massnahmen der Europäischen Union anwendet. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass die in der Schweiz gesperrten Vermögenswerte rasch dem libyschen Volk zurückgegeben werden. Ein grosser Teil der in der Schweiz gesperrten Vermögenswerte wurde freigegeben, nachdem der UNO-Sicherheitsrat die Sanktionen aufgehoben hatte.

Das Engagement der Schweiz, das dank der mehr als drei Jahrzehnte dauernden Entwicklungs- und Wirtschaftszusammenarbeit eine solide Grundlage hat, wurde in der Strategie vom 11. März 2011 definiert. Es geht von einem optimistischen Szenario aus und stützt sich auf die folgenden vier Grundsätze: Partnerschaft mit den Ländern der Region, Relevanz des Engagements, departementsübergreifender 2919

Ansatz in der Bundesverwaltung, Management der Risiken demokratischer Transition. Die Leitlinien für das Handeln der Schweiz in der Region konzentrieren sich auf drei zentrale Bereiche: ­

Unterstützung der demokratischen Transition: Ziel ist die Schaffung von transparenten und partizipativen Strukturen, die mit dem Rechtsstaat vereinbar sind. Zu den Prioritäten zählen die Unterstützung von Wahlen, der Schutz der Menschenrechte, die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Reform des Sicherheitssystems sowie die Hilfe bei der raschen Rückgabe von in der Schweiz befindlichen, unrechtmässig erworbenen Vermögenswerten politisch exponierter Personen.

­

Wirtschaftliche Entwicklung: Ziel ist die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen namentlich für Jugendliche in wirtschaftlich schwachen Regionen sowie die Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftsbedingungen. Hinzu kommen Infrastrukturprojekte im Wassersektor und Aktivitäten zum Schutz der natürlichen Ressourcen.

­

Zusammenarbeit im Migrationsbereich: Ziel ist ein nachhaltiges Migrationsmanagement, das in erster Linie die Rückkehr und Wiedereingliederung der Migrantinnen und Migranten, eine engere Zusammenarbeit mit der Diaspora und den Schutz der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen anstrebt.

Zurzeit gilt die Unterstützung vor allem der Demokratisierung und der Organisation von Wahlen.

Der politische Dialog ist nach wie vor eine der wesentlichen Komponenten der Schweizer Nordafrikapolitik. Die Schweiz führte im April 2011 vor Ort einen Dialog mit Tunesien und Ägypten und im Juni 2011 in Bern mit Marokko. Die Beziehungen zu Libyen haben sich seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes nach und nach normalisiert. Nachdem die Schweiz im Februar 2011 ihre Botschaft in Tripolis aus Sicherheitsgründen geschlossen hatte, eröffnete sie als eines der ersten Länder im März 2011 in Benghazi ein Büro für humanitäre Hilfe. Im Juni 2011 folgte die Eröffnung eines Verbindungsbüros in Benghazi, das von einem Sondergesandten geleitet wird. Seit März 2011 fanden mehrere hochrangige Treffen mit Vertretern des Nationalen Übergangsrates (CNT) statt. Erstmals seit zwölf Jahren ist ein Botschafter Libyens in der Schweiz akkreditiert. Die Schweizer Botschaft in Tripolis ist seit dem 15. Oktober 2011 wieder geöffnet. Die Schweiz ist bereit, sich im Rahmen der zivilen Friedensförderung mit der Entsendung von Expertinnen und Experten an einer integrierten Mission der UNO zu beteiligen, die den Prozess der politischen Transition begleiten soll. Die Schweiz kann ihre Dienste in drei Bereichen anbieten: bei der Entwaffnung, der Reform der Sicherheitskräfte (Streitkräfte, Polizei, Grenzschutz) und der humanitären Minenräumung. Sie ist auch bereit, ihr Fachwissen in den Bereichen Transitionsjustiz und Vergangenheitsarbeit zur Verfügung zu stellen.

Naher und Mittlerer Osten Im Nahen Osten konzentriert sich die Schweiz im Rahmen ihrer multilateralen Politik sowie ihrer Unterstützung für staatliche oder zivilgesellschaftliche Initiativen oder Initiativen lokaler Hochschulen auf die Förderung der Menschenrechte, des allgemeinen Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts. Sie trägt im Rahmen der Förderung der Genfer Initiative auch zu den Bemühungen um einen dauerhaften Frieden bei, indem sie in enger Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen 2920

Akteuren ohne Ausschliesslichkeit Debatten und Treffen auf regionaler Ebene unterstützt. Die Schweiz beteiligt sich also aktiv an der Suche nach Lösungen für den israelisch-palästinensischen Konflikt, und sie nimmt auch aktiv am Dialog zwischen den verschiedenen Gemeinschaften im Libanon teil. Schliesslich unterstützt die Schweiz einen regionalen Prozess mehrerer Staaten, bei dem es um nachhaltige Wasserbewirtschaftung als Instrument der Entwicklung und der Friedensförderung geht. Sie nimmt zudem an der «Temporary International Presence in Hebron» (TIPH) teil, einer Beobachtungsmission in Hebron im Westjordanland, wo es häufig zu kleineren Zusammenstössen zwischen Palästinensern und israelischen Siedlern kommt. Die Schweiz unterstützt im Übrigen die «Multinational Force and Observers», die die Einhaltung des israelisch-ägyptischen Friedensvertrags von Zivilpersonen verifizieren lässt. Darüber hinaus engagiert sie sich sehr aktiv in Projekten für Versöhnung und Vergangenheitsarbeit.

Die Schweiz unterstützt Projekte, die dazu beitragen sollen, dass die Gesellschaften inklusiver werden und dass die Fähigkeit der Staaten, ihre Hauptaufgaben zu erfüllen und nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu sichern, gefördert wird. Sie engagiert sich im besetzten palästinensischen Gebiet (Westjordanland einschliesslich Ostjerusalem, Gaza), weil sie zum Aufbau eines lebensfähigen und demokratischen palästinensischen Staates beitragen und die Voraussetzungen für einen Friedensschluss schaffen will. Schwerpunkt ihrer Bemühungen sind die Förderung und Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, der Zugang aller Palästinenserinnen und Palästinenser zu Grundversorgung (einschliesslich Nothilfe), die langfristige Schaffung von Arbeitsplätzen und stabilen Einkommen, vor allem in der Landwirtschaft, und der Aufbau eines marktgerechten Berufsbildungssystems. Um diese Politik umzusetzen, arbeitet die Schweiz eng zusammen mit der UNO, dem IKRK, in- und ausländischen NGO sowie auch mit den staatlichen Behörden der Partnerländer. Die Schweiz führt einen umfassenden politischen Dialog mit Israel. Das jüngste Treffen fand im Oktober 2010 in Israel statt.

Die Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern sind seit nahezu einem Jahr unterbrochen, doch die Palästinenser bemühen sich weiterhin
um die Anerkennung ihres Staates durch möglichst viele Länder (bislang 126) und die Aufnahme Palästinas in die Vereinten Nationen. Verschiedene Initiativen, die teils aus Ländern der Region kommen, teils vom Nahost-Quartett (UNO, USA, EU, Russland) ergriffen wurden, sollen die Verhandlungen wieder in Gang bringen. Die Schweiz befürwortet eine Verhandlungslösung, die die Schaffung eines lebensfähigen Staates Palästina vorsieht, welcher in sicheren und anerkannten Grenzen Seite an Seite mit Israel existieren kann.

Seit Beginn der Unruhen in Syrien am 18. März 2011 halten die repressiven Massnahmen des Regimes an. Am 18. Mai 2011 verabschiedete der Bundesrat eine Verordnung mit Massnahmen gegenüber Syrien1. Damit schloss sich die Schweiz in Übereinstimmung mit dem Embargogesetz vom 22. März 20022 den von der Europäischen Union am 9. Mai 2011 gegen Damaskus verhängten Sanktionen an. Diese Sanktionen sehen ein Embargo für militärisches Material, die Sperrung von Vermögenswerten, Reisebeschränkungen sowie eine Reihe anderer Massnahmen vor, darunter zum Beispiel Verbote betreffend Erdöl und Erdölprodukte. Im August 2011 rief das EDA den Schweizer Botschafter in Syrien zu Konsultationen nach Bern 1 2

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zurück und protestierte damit gegen die systematischen Verletzungen der Menschenrechte der Demonstrierenden. Die Schweizer Botschaft in Damaskus und das Programmbüro sind weiterhin geöffnet und in Betrieb. Die Schweiz intervenierte mehrmals im UNO-Menschenrechtsrat, um Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Syrien und mehreren anderen Ländern der Region zu üben.

Jemen ist das einzige Land der arabischen Halbinsel, dem die Schweiz seit 2008 humanitäre Hilfe im klassischen Sinne zur Verfügung stellt. Die Schweiz unterstützt namentlich multilaterale Partner wie das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge, das IKRK und gelegentlich auch die Internationale Organisation für Migration und das Welternährungsprogramm. Im Januar 2011 wurde in Sanaa ein Programmbüro eröffnet.

Nach der Annahme der Resolution 1929 des Sicherheitsrats im Juni 2010 entschieden sich die USA, die EU und alle westlichen Länder bereits im Sommer 2010 für eine Verstärkung der unilateralen Sanktionen gegenüber Iran, um dieses Land zur Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Nuklearfrage zu veranlassen. Die Treffen der E3+3-Länder3 mit dem Iran, die das EDA im Dezember 2010 in Genf und die Türkei im Januar 2011 in Istanbul organisierten, erzielten keine nennenswerten Fortschritte. Seit Anfang 2011 hat die IAEO drei Berichte veröffentlicht. Im dritten dieser Berichte, der im November erschien, heisst es, Iran arbeite an der Entwicklung einer Atomwaffe. Dieser Bericht ist nach achtjährigen Ermittlungen die bislang rigoroseste Stellungnahme der Organisation. Der jüngste politische Dialog mit Iran fand im Januar 2011 in Teheran statt. Am 19. Januar 2011 beschloss der Bundesrat, seine Sanktionen gegen Iran zu verstärken4 und dem EU-Sanktionsregime anzupassen. Im Rahmen des Mandats der Schweiz, die Interessen der USA in Iran zu vertreten, unterstützte das EDA die beiden Parteien auch weiterhin bei der Lösung konsularischer Fälle der USA in Iran.

Katar blieb von der Welle der Protestbewegungen verschont, die die arabische Welt im Berichtszeitraum erfasste, und gewann in der ganzen Region an Prestige. Dies ist nicht nur auf die Berichterstattung des katarischen Fernsehsenders Al Jazeera über die Ereignisse in den arabischen Ländern zurückzuführen, sondern auch auf sein Engagement in Libyen und seine Unterstützung für die jemenitische
Opposition. Im August 2011 beschloss der Bundesrat, in Doha eine Botschaft zu eröffnen. Hochrangige politische Konsultationen fanden im Januar 2011 in Maskat (Oman), im Juni in Doha (Katar) und mit Kuwait im September in Bern statt.

Herausforderungen und Perspektiven Es ist zwar noch zu früh, um die regionalen Auswirkungen des arabischen Frühlings einschätzen zu können, doch ist bereits jetzt deutlich, dass die strategischen Bündnisse in Bewegung geraten sind. Ägypten zum Beispiel versucht, sich als Führungsmacht der arabischen Welt zu positionieren: Das zeigen unter anderem die Aushandlung des Abkommens zwischen Fatah und Hamas, das im Mai 2011 unter der Schirmherrschaft Ägyptens geschlossen wurde, und die Wiedereröffnung des Grenzübergangs Rafah zwischen Ägypten und Gaza. Die Verbindungen zwischen Iran, Syrien, Hisbollah und Hamas sind durch die Ereignisse in Syrien gefährdet.

Syrien ist strategischer Partner des Iran, der sich nach dem Abzug der US-Truppen 3 4

China, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Russland, USA Verordnung vom 19. Januar 2011 über Massnahmen gegenüber der Islamischen Republik Iran, SR 946.231.143.6

2922

dem Irak zuwenden könnte. Die Türkei ist auf Distanz zu Syrien gegangen und präsentiert sich nun als Fürsprecherin der Palästinenser; infolgedessen wird Israel noch isolierter sein. In den Ländern, die ihre Machthaber gestürzt haben, wird die Transition lange dauern. Mit der Niederschlagung des Aufstands in Bahrain hat Saudi-Arabien deutlich gemacht, dass es ein Übergreifen des arabischen Frühlings auf die Golfstaaten nicht dulden wird. Die Golfmonarchien werden Reformen allerdings nicht umgehen können, wenn sie vermeiden wollen, erneut mit Unruhen konfrontiert zu sein, die unabsehbare Folgen für die Weltwirtschaft hätten.

Die Schweiz stellt sich diesen Herausforderungen, indem sie sich aktiv für die Förderung des Friedens und der Stabilität in der Region einsetzt. Die beiden diesbezüglichen Strategien, die der Bundesrat angenommen hat, versetzen sie in die Lage, sich erforderlichenfalls noch stärker zu engagieren.

2

Aussenpolitische Aktivitäten im Berichtsjahr

2.1

Geografische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik

Die Schweiz verfolgt in ihren diplomatischen Beziehungen eine Politik der Universalität: Sie bemüht sich um enge Beziehungen zu allen Staaten und allen internationalen Organisationen ungeachtet der politischen Positionen und Orientierungen, die sie vertreten. Dieser seit Jahrzehnten praktizierte Ansatz erlaubt es der Schweiz, die weder der Europäischen Union noch einem Militärbündnis angehört, in der ganzen Welt und in allen Bereichen ihre Interessen zu vertreten.

Universalität bedeutet allerdings nicht, dass die Schweiz keine Prioritäten hätte. Sie misst vielmehr ihren strategischen Partnern und ihren Nachbarländern besondere Bedeutung bei. Des Weiteren reagiert die Schweiz auf die derzeitigen globalen Umschichtungen, insbesondere die zunehmende Bedeutung der Schwellenländer und das Entstehen einer neuen Weltordnung, indem sie sich durch die Ausrichtung ihrer internationalen Aktivitäten im veränderten Umfeld bestmöglich positioniert.

Im Folgenden werden nicht unbedingt alle Staaten und internationalen Organisationen erwähnt. Dennoch sind alle von ihnen wichtig für die Schweiz, und die einen oder anderen können je nach der Problemlage oder den Umständen Priorität erhalten. Auch werden die einzelnen Länder und Regionen nicht zwingend proportional zur Intensität der Beziehungen mit der Schweiz abgehandelt. Die Ausführungen orientieren sich vielmehr an den Schwerpunkten des Engagements, die die schweizerische Aussenpolitik im Berichtsjahr dominiert haben.

2.1.1

Europapolitik

Die Verstärkung der europäischen Integration im Rahmen der Europäischen Union (EU) hat sich 2011 weiter entwickelt ­ wenngleich nicht ganz ohne Reibungen und Schwierigkeiten. Die Fortsetzung des EU-Erweiterungsprozesses, darunter insbesondere der Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, erfolgte vor dem Hintergrund der schweren Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzkrise, die mehrere Länder der Eurozone im Berichtsjahr erschütterte, sowie der durch die migrationspolitischen Folgen des arabischen Frühlings verursachten Spannungen im Schengen2923

Dublin-System und in der gemeinsamen Asylpolitik der EU. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert ist, stellt die EU mit ihren Mitgliedstaaten die weltgrösste Wirtschaftsmacht und zudem die dominierende Macht auf diesem Kontinent dar.

In diesem wenig günstigen Umfeld bemühte sich die EU, ihre Kapazitäten in den Bereichen Aussenpolitik, Sicherheit und Verteidigung auszubauen. In diesem Zusammenhang konkretisierte sich 2011 allmählich der Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), dessen Hauptauftrag die bessere Koordination der Aussen- und Sicherheitspolitik der Union und ihrer Mitgliedstaaten ist. Zudem ist die EU bestrebt, mit der Entwicklung neuer und allgemein akzeptierter Rechtsnormen international Massstäbe zu setzen und hiermit auf europäischer Ebene zu beginnen. Dies äussert sich in der Entschlossenheit, die Disziplin der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu stärken, um durch ein koordiniertes Vorgehen Einfluss in anderen internationalen und insbesondere in europäischen Organisationen wie der OSZE und dem Europarat auszuüben, auch wenn dies in der Praxis nicht immer gelingt. Der bevorstehende Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention stellt in dieser Hinsicht einen Schritt von nicht zu unterschätzender Bedeutung dar.

Ein Land wie die Schweiz, das geografisch im Herzen des Kontinents liegt, ohne dessen wichtigster Organisation, der EU, anzugehören, muss diese Entwicklungen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen, ist sie doch direkt oder indirekt davon betroffen, wie die jüngsten Beispiele des Erstarkens des Frankens aufgrund der Eurokrise oder auch die Spannungen im Migrationsbereich im Zuge des arabischen Frühlings im Laufe des Jahres 2011 gezeigt haben. Angesichts ihrer ausserordentlich engen Vernetzung mit der EU ist es entscheidend, dass die Schweiz die integrationspolitische Dynamik der Union eng verfolgt und ihre Politik im Sinne einer optimalen Interessenwahrung wenn nötig anpasst. Gleichzeitig muss sie das ihr zusätzlich zur Verfügung stehende aussenpolitische Instrumentarium nutzen. Dazu dienen ihr Organisationen wie der Europarat, die OSZE oder die EFTA, in denen sie Mitglied ist. Dazu dienen ihr auch die engen und gut ausgebauten bilateralen Beziehungen zu den europäischen Ländern.

2.1.1.1

Europäische Union

Im Folgenden werden die aus der Sicht der Schweiz wichtigsten Entwicklungen in der europäischen Politik seit 2010 untersucht und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Schweiz und ihre Europapolitik evaluiert. Dieses Kapitel befasst sich auch mit der Entwicklung der Beziehungen der Schweiz zur EU. Des Weiteren werden die Ausrichtungen der Europapolitik erörtert, die der Bundesrat im Laufe des Jahres 2011 präzisiert hat.

Konsequenzen der Entwicklungen innerhalb der EU für die Schweiz Die EU und die schwere Wirtschafts-, Finanz-, und Haushaltskrise in mehreren Ländern der Euro-Zone: Seit dem Frühjahr 2010 befindet sich die gemeinsame Währung der siebzehn EU-Mitgliedstaaten, die den Euro-Raum bilden, in einer Krise, die eine stärkere Solidarität erfordert und viele Fragen bezüglich der Zukunft des vor elf Jahren eingeführten Euro aufwirft. Die Verwerfungen der globalen Finanzkrise von 2007 und 2008 schärften das Risikobewusstsein der Kapitalmärkte und den Blick für interne Spannungszonen der Währungsunion, die mit der komple2924

xen Aufgabe befasst ist, eine stabilitätsorientierte Geldpolitik für nach wie vor heterogene Volkswirtschaften durchzusetzen. Denn divergierende Wettbewerbsfähigkeiten, Realzinsen und Verhaltensweisen bezüglich der Haushaltsdisziplin hatten zu Ungleichgewichten innerhalb der Zahlungsbilanzen der Euro-Zone und einer hohen Verschuldung in der Euro-Zone geführt. Nachdem das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Zahlungsfähigkeit einiger Euro-Staaten geschwunden war, schnürte die EU beispiellose Rettungspakete, um gemeinsam mit dem IWF die Anpassung der hoch verschuldeten Staaten zu unterstützen.

Gleichzeitig lancierte die EU eine Diskussion über längerfristige Reformen, die über die eilends vereinbarten Rettungsmassnahmen hinausgehen würden. Die bisher eingebrachten Vorschläge zielen vor allem auf eine stringentere Durchsetzung der Haushaltsdisziplin, aber auch auf strukturelle Reformen und eine stärkere wirtschaftspolitische Konvergenz der Mitglieder der Währungsunion sowie auf die Schaffung eines ständigen Rettungsmechanismus. Zurzeit ist offen, inwiefern die Ideen konkrete Änderungen für die Euro-Zone und gegebenenfalls die gesamte EU nach sich ziehen werden. Unabhängig von den währungspolitischen Gegebenheiten bleibt die gemeinsame Währung ein politisches Vorhaben und ein wichtiger Schritt zur weiteren Vertiefung der europäischen Integration. Ein Scheitern der Stabilisierung des Euro oder gar der Währungsunion könnte schlimmstenfalls das bisher erfolgreiche Projekt der europäischen Einigung in seinen Grundfesten erschüttern.

Die Schweiz hat kaum Einfluss auf die EU-interne Problematik der gefährdeten Währungsunion. Die schweizerische Exportwirtschaft wird jedoch mit zusätzlichen Unsicherheiten konfrontiert, die vor allem den Wechselkurs des Schweizerfrankens gegenüber dem Euro und die wirtschaftliche Dynamik eines ihrer wichtigsten Absatzmärkte betreffen. Die von der EU zu bewältigende Aufgabe dürfte einiges an politischem Einsatz absorbieren und den Blick der EU vermehrt nach innen richten.

Disharmonien unter den Mitgliedstaaten sind nicht auszuschliessen, selbst wenn die EU-internen Diskussionen schlussendlich zu einer noch enger zusammenarbeitenden Union führen könnten.

Einige Indizien für die zukünftige EU bot möglicherweise der Eurokrisen-Gipfel vom 8. und 9. Dezember 2011. In der Hoffnung,
das Vertrauen der Märkte in die Staatsanleihen aus dem Euro-Raum wiederherzustellen, verabschiedeten die EuroStaaten unter anderem eine Absichtserklärung, die vor allem auf die längerfristige Schaffung einer «fiskalen Stabilitätsunion» abzielt: Ein neuer intergouvernementaler Vertrag soll ­ ausserhalb des Vertrags von Lissabon ­ eine bessere Durchsetzbarkeit der Haushaltsdisziplin in speziellem Primärrecht verankern. Mit Ausnahme von Grossbritannien werden sich die meisten oder gar alle Nicht-Euro-Staaten an diesem Vertrag beteiligen5. Diese Situation hätte die EU wohl gerne vermieden. Sie erinnert an die Schaffung des Schengen-Raumes, der bis heute noch nicht alle EU-Mitglieder umschliesst, und sie könnte darauf hindeuten, dass sich die EU in Zukunft vermehrt in Richtung einer «géométrie variable» entwickelt. Denn zusätzlich zu einer neuen Rechtsgrundlage für eine bessere Haushaltsdisziplin fassen die Euro-Staaten und die übrigen EU-Mitglieder auch eine engere Kooperation im Bereich der Wirtschaftspolitik ins Auge. Sollte eine Volkswirtschaft von der Grösse Grossbritanniens dabei 5

Dabei geht es insbesondere um die Einführung von nationalen Schuldenbremsen und einen verschärften Automatismus bei der Ahndung von Regelverletzungen, der zuvor bereits mehrheitlich im Sekundärrecht verankert worden war (Sanktionen bei Defizit über 3 % des BIP oder Ausbleiben eines Reduzierungsprogramms bezüglich der Gesamtverschuldung in Richtung 60 % des BIP).

2925

tatsächlich nicht mitmachen, dürfte dies nicht ohne Konsequenzen für den europäischen Binnenmarkt bleiben. Denn unterschiedliche ordnungspolitische Rahmenbedingungen können zu Wettbewerbsverzerrungen und damit zu EU-internen Spannungen führen. Die damit verbundenen Unwägbarkeiten könnten die Schweiz in ihrem engen Verhältnis zur EU vor neue Herausforderungen stellen.

Je intensiver die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind, desto stärker wird die schweizerische Wirtschaft von den Konjunkturschwankungen ihres wichtigsten Partners betroffen sein, einschliesslich der Wechselkursschwankungen. Die SNB hat bekanntlich eine Mindestgrenze für den EuroFranken-Kurs von 1.20 festgelegt, um den anhaltenden Aufwertungsdruck auf den Schweizerfranken zu verringern. Wichtig ist in erster Linie, dass die Verantwortlichen für die aktuelle Situation die Problematik der Verschuldung in den Griff bekommen, damit das Vertrauen wiederhergestellt wird.

Andererseits setzt die ernste Lage der öffentlichen Finanzen in der EU und in etlichen ihrer Mitgliedsländer die betreffenden Staaten unter erhöhten Druck, ihre Haushaltsituation durch Erhöhung der Steuereinnahmen zu stabilisieren. In diesem Zusammenhang könnten Quellensteuerabkommen, wie sie die Schweiz kürzlich mit Deutschland und Grossbritannien abgeschlossen hat, einen sinnvollen Beitrag zu deren Stabilisierungsanstrengungen leisten (vgl. Ziff. 2.3.1).

Migrations- und Asylpolitik: Die durch die Revolutionen des arabischen Frühlings in Nordafrika ausgelösten Migrationsströme nach Europa ­ hauptsächlich via Malta und Italien ­ erweisen sich zwar als Belastungsprobe für den Schengen-Raum, dem die Schweiz angehört, stellen die Zusammenarbeit allerdings nicht als solche in Frage. Vielmehr haben diese Entwicklungen zu einer verstärkten Diskussion geführt, wie das System an neue Herausforderungen besser angepasst werden kann. In diesem Zusammenhang sind etwa die Vorschläge der EU-Kommission vom 16. September 2011 zur Stärkung der Verwaltung des Schengen-Raums, die insbesondere der EU-Kommission mehr Einfluss bezüglich einer temporären Wiedereinführung von Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen geben sollen, zu sehen. Im Bereich Dublin wird ferner über eine Modernisierung des Dublin-Verfahrens diskutiert, das die Zuständigkeit für die
Behandlung von Asylanträgen regelt. Unabhängig von Schengen/Dublin setzt sich die EU schliesslich verstärkt dafür ein, dass die Einführung einer einheitlichen europäischen Asylpolitik möglichst bis Ende 2012 abgeschlossen werden kann. Ziel ist die Vereinheitlichung der Gesuchsprüfung, der Unterbringungsstandards und des Umgangs mit besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden sowie die Schaffung eines Mechanismus zur Unterstützung von Staaten, die einen starken Zustrom von Asylsuchenden bewältigen müssen. Eine effizientere Abwicklung der Asylverfahren auf europäischer Ebene durch die Einführung einheitlicher Schutzstandards liegt auch im Interesse der Schweiz, weil damit letztlich auch die Dublin-Mechanismen gestärkt werden dürften.

Perspektiven im Bereich Erweiterung: Trotz der Schwierigkeiten der jüngsten Zeit ist die Anziehungskraft der EU auf Drittstaaten in Europa ungebrochen: Über zehn Staaten möchten mittel- bis längerfristig der EU beitreten. Angesichts der Erfahrungen mit den Erweiterungsrunden von 2004 und 2007 will die EU allerdings der Erfüllung der Beitrittskriterien durch die Bewerberstaaten konsequentere Beachtung schenken, und zwar vor deren Beitritt. Die Verhandlungen mit der Türkei kommen nur schleppend voran. Sie könnten sogar zum Stillstand kommen, weil die Aufnahme von Verhandlungen in zahlreichen Bereichen entweder wegen des türkischzypriotischen Konflikts oder wegen des Widerstands wichtiger EU-Mitgliedstaaten 2926

blockiert ist. Im Falle von Island ist ein Beitritt 2014 oder 2015 durchaus denkbar, gehört der Inselstaat doch bereits dem EWR und dem Schengen-Raum an. Allerdings liegt der Beitrittsentscheid bei den Isländern selbst, und der Ausgang eines solchen Referendums scheint derzeit sehr ungewiss. Die Länder des westlichen Balkans verfügen über eine offizielle Beitrittsperspektive, was gewisse Reformen sowie die Stabilisierungs- und Kooperationsbestrebungen auf regionaler Ebene begünstigt. Weitere Länder, beispielsweise die Ukraine oder Moldawien, haben den EU-Beitritt zu einem aussenpolitischen Fernziel erklärt.

Am 9. Dezember 2011 unterzeichnete Kroatien den Beitrittsvertrag zur EU. Ein positives kroatisches Referendum sowie die Ratifikation durch die aktuellen EUMitgliedstaaten vorausgesetzt, wird Kroatien erwartungsgemäss am 1. Juli 2013 das 28. Mitglied der Europäischen Union. Der kroatische EU-Beitritt könnte zu einem Markstein werden nicht nur für den jungen Balkanstaat, sondern auch für die zukünftige EU-Erweiterungspolitik. Mit Kroatien wurden erstmals «Justiz und Grundrechte» als zentrales Kapitel verhandelt und damit eine eindrückliche AntiKorruptionskampagne ausgelöst. Dieser Prozess setzt neue Massstäbe für zukünftige EU-Kandidaten. Für die Region Westbalkan wird eine positive, da stabilisierende und integrative Wirkung erwartet. Für die Schweiz bedeutet der kroatische EUBeitritt die Anpassung ihrer bilateralen Vertragsbeziehungen, inkl. Personenfreizügigkeit (die dem fakultativen Referendum unterliegt) und allenfalls einen Erweiterungsbeitrag. Bei den entsprechenden Verhandlungen über ein neues Protokoll zum Freizügigkeitsabkommen6 dürfte es im Wesentlichen um die Festlegung der zeitlichen Dauer des Übergangsregimes (normalerweise sieben Jahre), die Kontingente während der Übergangsphase sowie die Dauer der spezifischen Schutzklausel (Ventilklausel) gehen.

Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP): Die ENP wurde 2004 festgelegt, um nach dem EU-Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern das Aufkommen neuer Trennungslinien auf dem europäischen Kontinent zu verhindern. Die ENP bietet den 16 betroffenen Ländern eine weitgehende Zusammenarbeit auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, aber unterhalb der Schwelle zum EU-Beitritt.

Auf längere Sicht stellt sich allerdings die Frage,
ob diese Drittstaatenpolitik die Erwartungen der Partnerländer zu erfüllen vermag. Es ist nicht auszuschliessen, dass neue Formen der Kooperation mit Drittstaaten geschaffen werden, die unterhalb des Beitritts bleiben, aber eine engere Integration namentlich in den EU-Binnenmarkt bringen. Seit Beginn der Protestbewegungen in der arabischen Welt im Dezember 2010 sind die Anrainerstaaten am Südufer des Mittelmeers in den Fokus der EU gerückt: In einer ersten Phase ging es darum, Staatsangehörige der EU und weiterer Länder zu evakuieren, humanitäre Hilfe zu leisten und gezielte Sanktionen zu verhängen und durchzusetzen (im Visums-, Handels- und Finanzbereich). Eine weitere sofortige Priorität war die Verhütung und die Steuerung der Migrationsströme nach Europa. In diesem Zusammenhang unterbreitete die EU-Kommission im Mai 2011 ihre Vorschläge für eine Reform der ENP. Mit einem von 5,7 auf nahezu 7 Milliarden Euro aufgestockten Budget für den Zeitraum 2011­2013 soll diese Politik einen Beitrag leisten zur Unterstützung von freien und fairen Wahlen, zur Stärkung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, zur Korruptionsbekämpfung, zur Justizreform sowie zu einem besseren Zugang zum europäischen Binnen6

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, SR 0.142.112.681

2927

markt der 27 (durch Handels- und Reiseerleichterungen). Die lokalen Zivilgesellschaften sollen besser in diesen Prozess einbezogen und die Staaten nach Massgabe ihrer Reformbereitschaft unterstützt werden (Differenzierung und Konditionalität).

Obschon die ENP-Zielländer, die gleichzeitig Teil der «Östlichen Partnerschaft (ÖP)» sind, Befürchtungen hegen, im Zuge des arabischen Frühling könnte sich die Aufmerksamkeit der EU ihnen gegenüber verringern, scheint eine Wiederbelebung des bislang wenig erfolgreichen Projekts der (nicht formell in die ENP integrierten) Union für den Mittelmeerraum (UfM) ungewiss. Für die Schweiz gilt es, die Aktivitäten der EU im Bereich der ENP weiterhin aufmerksam zu verfolgen und punktuelle Kooperationsmöglichkeiten zu prüfen.

Energieaussenpolitik: Die Ereignisse von Fukushima veranlassten die Europäische Union, alle Kernkraftwerke in der EU einem Stresstest zu unterziehen. Gleichzeitig wurden die Nachbarstaaten eingeladen, sich an diesen Sicherheitsüberprüfungen zu beteiligen. Die Schweiz misst der Erhöhung der weltweiten Nuklearsicherheit einen hohen Stellenwert bei. Sie hat in diesem Zusammenhang an verschiedenen hochrangigen Treffen mit der EU teilgenommen und ­ parallel zu den nationalen Sicherheitsüberprüfungen ­ die Stresstests der EU durchgeführt. Im September 2011 veröffentlichte die EU-Kommission eine Mitteilung über die Energieaussenpolitik7, welche die Verbesserung der Kohärenz der Gemeinschaftsmassnahmen im Hinblick auf eine sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energieversorgung zum Ziel hat. Die Mitteilung unterstreicht die Bedeutung des Abschlusses eines Abkommens mit der Schweiz im Strombereich, das anschliessend auf andere Gebiete der Zusammenarbeit ausgedehnt werden könnte.

Der bilaterale Weg vor neuen Herausforderungen Institutionelle Fragen: Zahlreiche und enge hochrangige Kontakte zwischen der Schweiz und der EU8 haben gezeigt, dass die EU die Beziehungen zur Schweiz weiterhin für gut und eng hält. Gleichwohl weisen die Vertreterinnen und Vertreter der EU-Institutionen (Kommission, Rat und Parlament) und eine gewisse Anzahl Mitgliedstaaten mit zunehmender Deutlichkeit darauf hin, dass der von der Schweiz verfolgte bilaterale Weg ihrer Meinung nach an seine Grenzen stösst und dass neue institutionelle Lösungen gefunden werden müssen, namentlich
was die Modalitäten der Anpassung der Abkommen an Weiterentwicklungen des relevanten EU-Rechtsbestands, die Auslegung der bilateralen Abkommen, die Überwachung von deren Umsetzung und die Beilegung von Streitigkeiten betrifft.

Diese Grundsatzhaltung vertreten die Repräsentantinnen und Repräsentanten der EU auch im Rahmen der laufenden sektoriellen Verhandlungen in diversen Bereichen.

Es zeigt sich, dass die Verhandlungen mindestens zum Teil aufgrund der institutionellen Fragen ins Stocken geraten bzw. in gewissen Fällen gänzlich blockiert sind.

In den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktesicherheit und öffentliche Gesundheit sind die Verhandlungen seit mehreren Monaten festgefahren.

7

8

Mitteilung der Kommission zur Energieversorgungssicherheit und internationalen Zusammenarbeit ­ «Die EU-Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern ausserhalb der EU»; COM (2011).

Als Beispiele genannt seien das Arbeitstreffen der Bundespräsidentin mit dem EU-Kommissionspräsidenten in Brüssel am 8. Februar 2011, der Arbeitsbesuch des EVD-Vorstehers in Brüssel am 17. Mai 2011 sowie der offizielle Besuch des Präsidenten des Europäischen Parlaments in der Schweiz am 9. Juni 2011 und jener der Bundespräsidentin auf Einladung des Vorsitzenden der Aussenpolitischen Kommission des Europäischen Parlaments am 11. Oktober 2011.

2928

Die Verhandlungen im Strombereich schreiten nur langsam voran. Bei der Chemikaliensicherheit (REACH) hat die EU wegen der institutionellen Fragen kein Verhandlungsmandat beschlossen.

Trotz des schwierigen Umfelds konnten die bestehenden Abkommen 2011 in verschiedenen Bereichen weiterentwickelt werden: So notifizierte die EU der Schweiz 2011 im Rahmen der schweizerischen Schengen-/Dublin-Assoziierung 16 Weiterentwicklungen des Schengen-Bestandes. Es handelt es im Wesentlichen um administrative und fachtechnische Belange, deren Genehmigung in die Zuständigkeit des Bundesrats fällt.

Im Migrationsbereich hat die Schweiz ­ wie Norwegen, Island und Liechtenstein ­ beschlossen, Verhandlungen im Hinblick auf eine Beteiligung am Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) aufzunehmen. Zu den wichtigsten Aufgaben des EASO gehören die Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten, deren Asylund Aufnahmesysteme besonderem Druck ausgesetzt sind, und die Koordination der Aktivitäten der Mitgliedstaaten im Bereich der Herkunftsländerinformationen. Bei einer Beteiligung am EASO könnte sich die Schweiz an solchen Massnahmen zur Unterstützung einzelner Staaten beteiligen und würde dadurch zur Stärkung des Schengen-Dublin-Systems beitragen. Andererseits könnte sie angesichts der Migrationsströme selbst von der vermehrten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten profitieren. Der Bundesrat verabschiedete am 6. Juli 2011 ein entsprechendes Verhandlungsmandat und unterbreitete es den Aussenpolitischen Kommissionen der eidgenössischen Räte zur Stellungnahme, die es genehmigten. Die Verhandlungen mit der EU können Anfang 2012 aufgenommen werden.

Am 17. Mai 2011 unterzeichnete der Vorsteher des EVD in Brüssel das Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung der geschützten Ursprungsbezeichnungen (GUB) und der geschützten geografischen Angaben (GGA) von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln. Dieses bildet einen neuen Anhang zum bereits bestehenden Agrarabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union9. Mit dem neuen Anhang, der am 1. Dezember 2011 in Kraft trat, wird der Rechtsschutz der einschlägigen geografischen Angaben gegenseitig anerkannt. Damit werden die bereits engen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU im Landwirtschaftsbereich um einen weiteren wichtigen Schritt ergänzt. Im Bereich
der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen haben sich die Schweiz und die EU nach langen Verhandlungen auf die dafür notwendige Anpassung des Anhangs III des Freizügigkeitsabkommensgeeinigt. Der entsprechende Beschluss des Gemischten Ausschusses wurde am 30. September 2011 gefasst. Nach vorgängiger Konsultation der zuständigen parlamentarischen Kommissionen beschloss der Bundesrat, den Teil, der keiner Gesetzesänderung in der Schweiz bedarf, ab dem 1. November 2011 provisorisch anzuwenden. Zum übrigen Teil soll den eidgenössischen Räten im Februar 2012 eine Botschaft unterbreitet werden. Die Revision umfasst neben der Ausdehnung des Geltungsbereichs des Anhangs III auf Rumänien und Bulgarien im Wesentlichen die Übernahme der Richtlinie 2005/3610, durch die das bisher geltende System der Diplomanerkennung konsolidiert wird.

9

10

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, SR 0.916.026.81 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255 vom 30.9.2005, S. 22.

2929

Im Luftverkehrsbereich beschloss der Bundesrat im Juni 2011 ein Mandat für Verhandlungen über die Liberalisierung von Inlandflügen («Kabotage»). Die Verhandlungen konnten im November 2011 rasch in Form eines Entwurfs eines Änderungsprotokolls zum Luftverkehrsabkommen11 abgeschlossen werden. Die Kommission betonte jedoch ausdrücklich, dass sie den Entwurf erst fertigstellen kann, wenn die Schweiz einerseits einer funktionellen Verknüpfung zwischen dem schweizerischen und dem europäischen Emissionshandelssystem (ETS) im Luftverkehrsbereich und andererseits der Stärkung der institutionellen Mechanismen bei den Abkommen im Bereich des Binnenmarktes zugestimmt hat.

Des Weiteren wurden Verhandlungen im Hinblick auf eine Verknüpfung der Handelssysteme der Schweiz und der EU für CO2-Emissionsrechte aufgenommen. Die Delegationen unterstrichen bei den beiden Sitzungen im März und September 2011, dass ein künftiges Abkommen sowohl die CO2-Emissionen stationärer Anlagen als auch die durch den internationalen Luftverkehr verursachten Emissionen umfassen soll.

Die auf der Grundlage des 2010 erteilten Mandats des Bundesrats eingeleiteten Verhandlungen über ein Abkommen für eine engere Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden kamen gut voran. Nach einem ersten Treffen im März 2011 in Brüssel fand im Juli 2011 ein zweites Treffen in Zürich statt, bei dem vor allem die Frage des Informationsaustauschs zwischen den Behörden vertieft werden konnte.

Das angestrebte bilaterale Kooperationsabkommen soll insbesondere die Bekämpfung grenzüberschreitender Wettbewerbsbeschränkungen ermöglichen. Dieser Punkt ist aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen der Schweiz mit der EU von zentraler Bedeutung. Das Abkommen soll ­ von wenigen Ausnahmen abgesehen ­ die Grundlage schaffen für eine formelle Zusammenarbeit in diesem Bereich, wodurch die Effizienz der Aktion der Behörden auf beiden Seiten gestärkt wird und Doppelspurigkeiten vermieden werden sollen.

Eine Kooperation mit der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA) soll der Schweiz die Teilnahme an ausgewählten Rüstungsprojekten und -programmen in den Bereichen Forschung, Beschaffung und Instandhaltung ermöglichen. Eine Zusammenarbeit mit der EVA ist daher für den Forschungs-, Technologie- und Wirtschaftsstandort Schweiz von grossem Nutzen und wird von der
exportabhängigen Schweizer Rüstungsindustrie entsprechend unterstützt. Eine Kooperationspflicht mit der EVA besteht jedoch nicht; die Schweiz entscheidet eigenständig, an welchen Projekten und Programmen der Agentur sie teilnehmen will. Die Zusammenarbeitsgrundlage ist fertig ausgehandelt und muss von beiden Seiten genehmigt werden, bevor sie in Kraft treten kann. Die Zustimmung durch den EU-Rat erfolgte am 30. November 2011. Schweizerischerseits wird eine möglichst baldige Genehmigung durch den Bundesrat angestrebt. Die Interessanlage in diesem Geschäft ist ausgewogen, und es stellen sich keine institutionellen Herausforderungen.

Ein Grossteil des Schweizer Erweiterungsbeitrags in der Höhe von 1,257 Milliarden Franken ist für spezifische Projekte bestimmt, die jetzt in die Realisierung gehen.

Die EU-Kommission, die halbjährlich über die genehmigten Projektvorhaben in Kenntnis gesetzt wird, erklärte sich zufrieden mit dem Umsetzungsprozess. Schon jetzt zeigt sich, dass der Erweiterungsbeitrag bei den Behörden der neuen Mitgliedstaaten Anerkennung für die Schweiz generiert und durch die vielen unterstützten 11

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr, SR 0.748.127.192.68

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institutionellen Partnerschaften die bilateralen Beziehungen mit den betreffenden Staaten fördert. Der Erweiterungsbeitrag ist Teil der generellen Bestrebungen der Schweiz zur Förderung der Stabilität in Europa und damit ein wichtiges europapolitisches Instrument.

Ausrichtung der Europapolitik: Die obigen Ausführungen scheinen die Analyse des Bundesrates im Bericht vom 17. September 201012 über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik zu bestätigen, wonach eine Weiterführung des bilateralen Weges schwieriger geworden ist. Noch unklar ist, inwiefern die strukturellen Veränderungen innerhalb der EU im Zusammenhang mit der Eurokrise die Politik der Union gegenüber Drittstaaten wie der Schweiz verändern werden. Eine weitere Differenzierung der EU-Integration (z.B. aufgrund von Opt-out-Politiken ihrer Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Grossbritannien) könnte die EU-Politik gegenüber unserem Land flexibilisieren. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass die EU mehr denn je auf eine Homogenität ihres Rechtsraums (v.a. den Binnenmarkt betreffend) achten wird.

Dennoch bleibt der bilaterale Weg zum aktuellen Zeitpunkt das geeignetste Instrument für die Europapolitik der Schweiz. Der Bundesrat bekräftigte deshalb an seiner Klausur vom 18. August 2010, dass er an der Strategie des bilateralen Weges festhalten will. Er beschloss am 26. Januar und am 4. Mai 2011, bei den Verhandlungen mit der EU einen gesamtheitlichen und koordinierten Ansatz zu verfolgen. So sollen einerseits die Sondierungsgespräche mit der EU über die institutionellen Fragen weitergeführt und andererseits mögliche Lösungen für diese Fragen eigenständig geprüft werden. Gleichzeitig unterhielt der Bundesrat einen regelmässigen Austausch mit den Kantonen ­ über die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) ­ und den wichtigsten interessierten Kreisen, insbesondere den Sozialpartnern und den Wirtschaftsdachverbänden. Auf dieser Grundlage präzisierte der Bundesrat am 31. August 2011 das Vorgehen und nahm eine Standortbestimmung bezüglich der Sondierungsgespräche mit der EU über die institutionellen Fragen im Hinblick auf mögliche Verhandlungen in diesem Bereich vor. Das Ziel bleibt in einer ersten Phase die Konkretisierung des gesamtheitlichen und koordinierten Ansatzes. Dieser soll gewährleisten, dass für beide Seiten befriedigende Abkommen
in den verschiedenen Verhandlungsdossiers erzielt werden können, die einen verbesserten gegenseitigen Marktzugang und gleichzeitig eine Konsolidierung des bilateralen Weges ermöglichen.

Wie der Bundesrat anlässlich seiner Klausur vom 4. Mai 2011 festhielt, spielen die institutionellen Fragen für die EU eine wichtige Rolle. Es müssen daher Lösungen zur Weiterführung und Konsolidierung des bilateralen Weges gefunden werden. Die 2011 unternommenen Anstrengungen zur Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen werden daher fortgesetzt und konkretisiert.

12

Bericht des Bundesrates vom 17. September 2010 über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik (in Beantwortung des Postulats Markwalder [09.3560] «Europapolitik. Evaluation, Prioritäten, Sofortmassnahmen und nächste Integrationsschritte»), BBl 2010 7239

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2.1.1.2

Europarat und OSZE

Europarat Die Mitgliedschaft im Europarat, der sich prioritär um die Wahrung und Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bemüht ­ Grundsätze, die auch in der Bundesverfassung verankert sind ­, erlaubt es der Schweiz, zur Verwirklichung dieser Ziele in Europa beizutragen. Eine wichtige Rolle spielen dabei insbesondere die Parlamentarische Versammlung, die den Europarat demokratisch legitimiert, sowie der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas. Mit dem Ziel, neuen Herausforderungen für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat zu begegnen, gestaltet die Schweiz im Europarat die Entwicklung verbindlicher Rechtsnormen mit. Beispiele sind das von der Schweiz im September 2011 ratifizierte Übereinkommen des Europarates vom 23. November 200113 über die Cyberkriminalität und die im Oktober 2011 von der Schweiz unterzeichnete Konvention gegen Medikamentenfälschung14. Die Schweiz war massgeblich an der Ausarbeitung beider Konventionen beteiligt.

Die Schweiz setzt sich intensiv für die Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein, der durch die über 160 000 hängigen Beschwerden chronisch überlastetet ist. Sie spielt in den relevanten Arbeiten eine wichtige Rolle und hat mit der Konferenz von Interlaken im Februar 2010 den Reformprozess wesentlich mitgeprägt. Dieser wurde seither von den Vorsitzstaaten Türkei, Ukraine und Grossbritannien weitergeführt. Im April 2011 wählte die Parlamentarische Versammlung die Schweizerin Helen Keller als Nachfolgerin des abtretenden Schweizer Richters Giorgio Malinverni an den EGMR.

Die vom Generalsekretär des Europarats unter Schweizer Vorsitz eingeleiteten Reformen, welche den Europarat insgesamt handlungsorientierter und politisch relevanter machen sollen, sind seit Mitte 2011 im Wesentlichen abgeschlossen.

Ansätze für eine stärkere politische Rolle der Organisation zeigen sich im Umgang mit den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten, denen der Europarat seine Expertise und seine Instrumente zur Verfügung stellt, sowie anhand von Initiativen zum Schutz der Roma oder zum Thema Migration und Asyl. Mit dem Bericht über das Zusammenleben im Europa des 21. Jahrhunderts, der an der Session des Ministerkomitees in Istanbul im Mai 2011 besprochen wurde, leistete der Europarat zudem einen beachtenswerten Beitrag zu einer zentralen
gesellschaftspolitischen Debatte.

Ein Thema sind mittlerweile auch Reformen bei der Entwicklungsbank des Europarats. In diesem Zusammenhang setzt sich die Schweiz mit Nachdruck für eine breiter abgestützte Gouvernanz ein.

Mit dem bevorstehenden Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention können auch Handlungen und Unterlassungen der EU-Behörden beim EGMR eingeklagt werden. Die Diskussionen über den Entwurf des Beitrittsvertrags waren in der zweiten Jahreshälfte 2011 ein wichtiges Thema im Europarat.

13 14

SR 0.311.43 Konventionn des Europarats über die Fälschung von Arzneimittelprodukten und ähnliche Verbrechen, die eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit darstellen; http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CM=8&CL=GER

2932

OSZE Am Gipfeltreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Astana (Kasachstan) im Dezember 2010 ­ dem ersten OSZE-Gipfeltreffen seit elf Jahren ­ konnten lediglich die bisher eingegangenen Verpflichtungen bekräftigt werden. Ein Aktionsplan mit konkreten Massnahmen scheiterte an unüberbrückbaren Differenzen hinsichtlich der langanhaltenden Konflikte im OSZERaum. Obwohl sich das Verhandlungsklima seit dem Gipfel verbessert hat, sind sich die westlichen Staaten auf der einen Seite und Russland sowie andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf der anderen Seite weder im Bereich der Rüstungskontrolle noch bei der Umsetzung der Verpflichtungen der menschlichen Dimension wesentlich näher gekommen. Nachdem die USA und vierzehn weitere NATOStaaten angekündigt haben, dass sie Russland nicht mehr über Bewaffnung, Zustand und Stationierung ihrer konventionellen Streitkräfte informieren werden (Russland hat den Vertrag vom 19. November 1990 über Konventionelle Streitkräfte in Europe (KSE) 2007 suspendiert), könnte Bewegung in die Frage zur europäischen Rüstungskontrolle kommen. Da Entscheidungen im Konsens getroffen werden, kann die OSZE das Potenzial ihres multidimensionalen Sicherheitskonzepts nicht immer zur Geltung zu bringen.

Die Sicherheit der Schweiz hängt wesentlich von einer stabilen Friedensordnung in Europa und von der Fähigkeit der europäischen Staatengemeinschaft zur Verhinderung und Lösung von inner- und zwischenstaatlichen Konflikten ab. Die Schweiz hat damit ein eminentes Interesse an einer Stärkung der OSZE als sicherheitspolitische Organisation mit umfassender Mitgliedschaft und breitem Sicherheitsverständnis. Als neutraler und nicht gebundener Staat bemüht sich die Schweiz, den Dialog zwischen den nach wie vor existierenden Staatenblöcken zu fördern und Vertrauen zu schaffen. Folgende drei Bereiche stehen im Zentrum dieses Engagements: ­

Seit Anfang 2011 präsidiert die Schweiz das «Komitee der menschlichen Dimension». In diesem Rahmen gestaltet sie in enger Zusammenarbeit mit den ausführenden Organen die Arbeiten der OSZE im Bereich Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit und trägt zur besseren Umsetzung von OSZE-Verpflichtungen durch die Teilnehmerstaaten bei.

Mittels organisatorischer Neuerungen sowie der Einführung der Möglichkeit für Teilnehmerstaaten, freiwillig über die Umsetzung von OSZE-Verpflichtungen zu berichten, hat der Schweizer Vorsitz die Arbeiten im Bereich der menschlichen Dimension belebt. Die Schweiz unterstützt zudem aktiv die Debatte über die Wirksamkeit der zahlreichen Workshops, Seminare und Konferenzen im Menschenrechtsbereich.

­

Im politisch-militärischen Bereich koordiniert die Schweiz die informellen Konsultationen zur in Astana (Kasachstan) beschlossen Modernisierung des Wiener Dokuments 1999 über vertrauens- und sicherheitsbildenden Massnahmen. Damit soll das Wiener Dokument an die seit 1999 stark veränderte Sicherheitslage in Europa angepasst werden.

­

Mit dem Ziel, zukünftige Konflikte zu verhindern und bestehende Krisen friedlich zu lösen, engagiert sich die Schweiz zudem konzeptionell und finanziell für den Ausbau der Mediationskapazitäten der OSZE.

Im Übrigen hat das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) 2011 zum zweiten Mal eine Evaluierung der eidgenössischen Wahlen durchgeführt. Im November 2011 haben die drei Toleranzbeauftragten des 2933

OSZE-Vorsitzenden die Schweiz besucht, um sich ein Bild über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung in der Schweizer Gesellschaft, inkl. gegenüber verschiedenen Religionsgemeinschaften, zu machen.

Am 2. Dezember 2011 hat sich die Schweiz gemeinsam mit Serbien für den OSZEVorsitz 2014 (Schweiz) und 2015 (Serbien) beworben. Der OSZE-Ministerrat hat diesen Kandidaturen zugestimmt, und der Entscheid sollte nach Ablauf eines Schweigeverfahrens im Februar 2012 wirksam werden.

2.1.1.3

Beziehungen zu ausgewählten europäischen Staaten

Die engen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen der Schweiz in Europa erfordern einen intensiven aussenpolitischen Austausch mit den europäischen Staaten generell und mit den Nachbarstaaten im Besonderen. Die meisten dieser Länder sind Mitglied der EU und an der Ausarbeitung von EU-weiten rechtlichen Rahmenbedingungen und Politiken beteiligt, welche oftmals auch Auswirkungen auf die Schweiz haben. Eine Reihe anderer Staaten gehört der EU zwar (noch) nicht an, orientiert sich jedoch stark an deren Politik und Gesetzgebung. Dies gilt insbesondere für die Staaten auf dem Balkan sowie einige Staaten Osteuropas. Wie die EU und ihre Mitgliedstaaten ist auch die Schweiz bestrebt, zur politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung und Entwicklung dieser Länder beizutragen. Russland und die Türkei schliesslich spielen nicht nur in Europa, sondern global eine wichtige Rolle und sind deshalb als Partner in vielen Bereichen auch für die Schweiz von entsprechender Bedeutung.

Als Nicht-EU-Mitglied ist die Schweiz besonders gefordert, wenn sie Einfluss auf die auch für sie relevanten Rahmenbedingungen in Europa nehmen will. Sie bemüht sich deshalb stark um eine Intensivierung der Beziehungen zu möglichst allen europäischen Staaten.

Nachbarstaaten Die Beziehungen zu den Nachbarstaaten wurden entsprechend ihrer herausragenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedeutung im Jahre 2011 weiter intensiviert. Die Bundespräsidentin traf 2011 die Staatsoberhäupter und Regierungschefs Deutschlands, Italiens, Österreichs und Liechtensteins und führte auch auf Aussenministerebene Gespräche mit diesen Staaten. Gegenstand der Gespräche waren sowohl bilaterale Fragen wie auch die europäischen und internationalen Herausforderungen. Der intensive Dialog auf allen Ebenen ermöglicht eine gezielte Einflussnahme, verschafft der Schweiz Gehör für ihre Anliegen und erlaubt die Identifizierung von Kooperationsmöglichkeiten im multilateralen Bereich.

Im bilateralen Kontext standen die Umsetzung des Freizügigkeitsabkommens (flankierende Massnahmen), Fiskalfragen, Energie- und Verkehrsfragen im Zentrum: Fiskalfragen: Die revidierten Doppelbesteuerungsabkommen gemäss dem OECDAmtshilfestandard sind mit Frankreich 2010, mit Österreich per 1. März 2011 und mit Deutschland per 21. Dezember
2011 in Kraft getreten. Mit Italien bemüht sich die Schweiz seit Längerem intensiv, einen Dialog über sämtliche offenen Steuerfragen zu führen. Mit Deutschland konnte 2011 ein zusätzliches Abkommen abgeschlossen werden, das eine Regularisierung von bisher unversteuerten Vermögens-

2934

werten sowie eine abgeltende Quellensteuer auf künftigen Kapitalerträgen und -gewinnen vorsieht.

Energiefragen: Nach den Ereignissen von Fukushima tauschten sich die Nachbarstaaten mit der Schweiz besonders zu Fragen der Sicherheit von Atomanlagen und zu Energiepolitiken aus (siehe Ziff. 2.3.7).

Verkehrsfragen: Es fanden Gespräche mit Deutschland und Italien über die fristgerechte Realisierung der Nord- resp. Südanschlüsse der NEAT und mit Frankreich zum Anschluss an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz sowie den Nahverkehr statt.

Bildung und Forschung: Die Schweiz unterhält im Bereich Bildung und Forschung privilegierte und intensive Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Mit den zuständigen Behörden Frankreichs, Deutschlands, Österreichs und Italiens finden regelmässig formelle bilaterale Treffen auf Minister- und Verwaltungsebene statt. An diesen Treffen kann die Schweiz Themen ansprechen, etwa das Rahmenprogramm der EU im Bereich Bildung, Forschung und Innovation, die multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der grossen Forschungsgremien (CERN, ITER, X-Fel usw.) oder auch Fragen aufgreifen, die die Kooperation in der Berufsbildung betreffen.

Die regionale grenzüberschreitende Zusammenarbeit bildet einen weiteren wichtigen Pfeiler der Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Diese Zusammenarbeit liegt in erster Linie in der Zuständigkeit der Kantone. Aufgabe des Bundes ist es, optimale Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Wirtschafts- und Lebensräumen in der Grenzregion zu schaffen. Das Protokoll Nr. 3 vom 16. November 2009 zum Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften oder Behörden betreffend Verbünde für die euroregionale Zusammenarbeit (VEZ) wurde vom Parlament genehmigt15. Die trinationale Region Oberrhein bleibt mit dem schweizerischen Vorsitz der Deutsch-FranzösischSchweizerischen Regierungskommission des Oberrheins von Dezember 2010 bis Mai 2012 wichtiger Schwerpunkt der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Im Vordergrund stehen dabei der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, die Verbesserung des Marktzugangs, die Förderung des Bevölkerungsschutzes sowie der Austausch zwischen den verschiedenen Gremien der Region.

Unsere Flughäfen tragen massgeblich zur Entwicklung der Regionen bei. Die Schweiz setzt sich gegenüber Frankreich
und Deutschland dafür ein, dass deren Attraktivität bestehen bleibt.

EuroAirport Basel-Mühlhausen-Freiburg: Diskussionen mit Frankreich sind im Gange, um eine Lösung im Bereich Arbeits- und Sozialrecht für Unternehmen im Schweizer Zollsektor zu finden, welche der besonderen Situation dieses bi-nationalen Flughafens Rechnung trägt. Sie zielen auf die Wahrung der Attraktivität des Flughafens und der Arbeitsplätze der dort ansässigen Unternehmen ab.

Flughafen Zürich-Kloten: Der Flughafen Zürich ist ein wichtiger Standortfaktor sowohl für die Schweiz als auch für den südbadischen Raum. Die deutschen Anflugbeschränkungen belasten die Beziehungen mit Deutschland seit Jahren. Die von den zuständigen Verkehrsministern eingesetzte gemeinsame Arbeitsgruppe unter Leitung der jeweiligen Luftfahrtbehörden bemüht sich, Eckpunkte einer neuen

15

BBl 2011 4929

2935

Vereinbarung auf der Grundlage der gemeinsam durchgeführten Lärmanalyse zu definieren.

West- und Zentraleuropa Fiskalfragen: 2011 konnte auch mit Grossbritannien ein Abkommen abgeschlossen werden, das eine Regularisierung von bisher unversteuerten Vermögenswerten sowie eine abgeltende Quellensteuer auf künftigen Kapitalerträgen und ­gewinnen vorsieht. Mit Luxemburg und Österreich, zwei Staaten, welche betreffend Bankkundengeheimnis ähnliche Interessen wie die Schweiz vertreten, findet ein intensiver Austausch über die Fiskalpolitik statt.

Erweiterungsbeitrag: Mit dem Erweiterungsbeitrag beteiligt sich die Schweiz am Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU.

Empfänger sind die zwölf Staaten, die seit 2004 der Europäischen Union beigetreten sind (siehe Ziff. 2.1.1.1 und Ziff. 2.3.4).

Spanien: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und Spanien sind herzlich und intensiv und werden seit mehreren Jahren durch regelmässige hochrangige Treffen geprägt. Der Staatsbesuch von König Juan Carlos I. und Königin Sofia von Spanien im Mai 2011 zeugte von dieser Freundschaft und der gegenseitigen Achtung.

Südosteuropa Westbalkan: Die Länder des westlichen Balkans (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien und Albanien) bleiben eine Schwerpunktregion für die schweizerische Aussenpolitik. Aufgrund enger persönlicher Bindungen ­ fast 400 000 in dieser Region geborene Menschen leben in unserem Land ­ hat die Schweiz ein grosses Interesse an Frieden, Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität auf dem Balkan. Gemäss der 2005 genehmigten SüdosteuropaStrategie des Bundesrates fokussiert sich die Schweiz auf vier Bereiche.

­

Stabilität und Konfliktprävention: Die Schweiz beteiligt sich an internationalen Friedensmissionen der Region. Im Jahre 2011 waren rund zwanzig Schweizerinnen und Schweizer bei den EU-Missionen Internationales Zivilbüro (ICO) und Europäische Rechtsstaatlichkeit (EULEX) sowie der OSZE im Einsatz. Damit konnte beispielsweise zur besseren Integration der serbischen Minderheit im Kosovo sowie zur Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit beigetragen werden. In Bosnien und Herzegowina hat die Schweiz, mit Beteiligung des Kantons Zürich, eine Zusammenarbeit zur Stärkung der nationalen Staatsanwaltschaft aufgenommen.

­

Sicherheit: Die Schweiz beteiligte sich an militärischen Missionen (KFOR in Kosovo, EUFOR in Bosnien-Herzegowina). Rund 250 Armeeangehörige waren vor Ort im Einsatz.

­

Wirtschaftliche Entwicklung: Die Schweiz unterstütze Projekte in den Bereichen soziale Entwicklung (Bildung, Gesundheit, Berufsausbildung), Infrastruktur (Wasser, Elektrizität), Schaffung von Einkommen und Entwicklung kleiner Unternehmen.

­

Migration: Die Schweiz führte die Migrationspartnerschaften mit Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo fort.

2936

Die Türkei: Die Schweiz hat in den letzten Jahren ihre bilateralen Beziehungen zur Türkei gezielt vertieft und verbessert. Regelmässige Konsultationen auf hohem Niveau ­ ins Berichtsjahr fielen Kontakte zwischen den Aussenministern, ein Besuch der EVD-Vorsteherin in der Türkei und ein Besuch des türkischen AussenStaatssekretärs ­ erlauben zahlreiche Themen kontinuierlich und konstruktiv anzugehen. Fragen der Meinungsäusserungsfreiheit, der Rechtshilfe und der polizeilichen Zusammenarbeit wurden 2011 ebenso besprochen wie die Zusammenarbeit in Migrationsfragen. Seit 2009 regelt ein Memorandum of Understanding die Zusammenarbeit in Energiefragen.

Osteuropa und Zentralasien Russland: Der Bundesrat hat auch 2011 Beziehungen mit Russland weiter vertieft.

Die intensiven, oft hochrangigen Kontakte involvierten alle Departemente. Es kam zum dritten Treffen der Staatschefs in drei Jahren. Der politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Dialog mit Russland ist institutionalisiert. Die vertraglichen Bindungen und die Rechtssicherheit wurden gestärkt mit der Inkraftsetzung des Visaerleichterungs- und Rückübernahmeabkommens, des Abkommens über militärische Ausbildungszusammenarbeit, des an OECD-Standards angepassten Doppelbesteuerungsabkommens, der Memoranda of Understanding in den Bereichen Finanz und Energie sowie der Zusammenarbeitsvereinbarung zur Wirtschaftsmodernisierung. Weitere Fortschritte sind auch in der Zusammenarbeit betreffend Finanzfragen, Energie, WTO, Freihandel und Investitionsschutz absehbar.

Andere osteuropäische und zentralasiatische Länder: Die Zusammenarbeit mit anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion konnte weiter ausgebaut werden. Diese Länder sind aufgrund ihrer wachsenden politischen, wirtschaftlichen Bedeutung, ihrer Ressourcen sowie aufgrund von Sicherheits- und Migrationsfragen und ihrer Mitgliedschaft in internationalen Organisationen von zunehmender Bedeutung für die Schweiz. Das Engagement der DEZA und des SECO u.a. in den Bereichen der Wasserversorgung, der Gesundheit, der Förderung der Privatwirtschaft sowie der humanitären Hilfe ist in einigen Ländern besonders hervorzuheben. Im Bereich der Energiesicherheit gewinnt der kaspische Raum auch für die Schweiz an Bedeutung.

Friedenspolitisches Engagement, gute Dienste, Vermittlung der Schweiz Die 2011
erfolgten Treffen der Bundespräsidentin mit den Staatschefs von Georgien, Aserbaidschan und Armenien sind Ausdruck der guten Beziehungen mit diesen Ländern. Neben der politischen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit steht das friedenspolitische Engagement in dieser konfliktreichen Region im Vordergrund. Mit der Botschaftseröffnung in Jerewan am 31. März 2011 ist die Schweiz nun in allen drei Hauptstädten im Südkaukasus mit diplomatischen Missionen vertreten.

Im März 2009 wurde der Schweiz die Vertretung der Interessen Russlands in Georgien und jene Georgiens in Russland anvertraut. Diese Schutzmachtmandate gewährleisten die diplomatische Kommunikation zwischen den beiden Staaten, die ihre offiziellen Beziehungen abgebrochen haben. Die offiziellen Vertretungen der beiden Länder in Moskau und Tiflis wurden in sogenannte Interessensektionen umgewandelt und unterstehen seither dem Schutz der Schweizer Botschaften vor Ort. Ende 2010 wurde die Schweiz von Moskau und Tiflis auch mit der Vermittlung in der Frage des russischen WTO-Beitritts betraut. Der Verhandlungsprozess, der 2937

fast ein Jahr gedauert hatte, fand mit der Unterzeichnung eines georgisch-russischen Abkommens über die Zollverwaltung und die Überwachung von Handelsgütern am 9. November 2011 in Genf seinen erfolgreichen Abschluss. Das Abkommen ebnete den Weg für den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO).

Was die Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei betrifft, steht in beiden Ländern die parlamentarische Ratifizierung der dank Vermittlung der Schweiz 2009 unterzeichneten Zürcher Protokolle noch aus. 2011 hat die Schweiz verschiedene vertrauensbildende Massnahmen zwischen der Türkei und Armenien unterstützt. Im Rahmen der Allianz der Zivilisationen setzen sich beide Länder für ein konstruktives Verhältnis zwischen christlich und muslimisch geprägten Ländern ein.

Im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um Berg-Karabach ist die Schweiz nach wie vor in regelmässigem Kontakt mit den Ko-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der OSZE, welcher die Hauptrolle bei den Lösungsbemühungen zukommt.

Auch in Kirgisistan trägt die Schweiz durch technische Zusammenarbeit, Dialogförderung und den Einsatz eines Schweizer Leiters der OSZE- Polizeiberatungstruppe zur zivilen Friedensförderung bei.

2.1.2

Politik gegenüber dem amerikanischen Kontinent

Aktuelle Tendenzen in der Region Auf dem amerikanischen Kontinent bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika weiterhin die mit Abstand dominierende Macht, deren Wirken auf die gesamte Region ausstrahlt, wenn auch tendenziell mit abnehmender Intensität. Im Süden des Doppelkontinentes entwickelt sich Brasilien von einer Regionalmacht zu einem zunehmend selbstbewussten globalen Akteur, der den klaren Willen zur Einflussnahme auf geostrategische Entwicklungen bekundet.

Die USA waren im Berichtsjahr mit intensiven innenpolitischen Debatten über die Rolle des Staates und das Haushaltsdefizit beschäftigt, dies vor dem Hintergrund der nur teilweisen Erholung von der Rezession der Jahre 2008/09 und im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2012. Die Staatsverschuldung überschritt die Grenze von 100 % des Bruttosozialprodukts, und die Märkte liessen sich vom Kompromiss bezüglich Staatshaushalt, der im Kongress im Sommer 2011 getroffen wurde, kaum beruhigen. Aussenpolitisch waren die USA 2011 wie in den Jahren zuvor geostrategisch stark auf den Nahen und Mittleren Osten fokussiert.

In Lateinamerika blieb die politische Lage auch im Berichtsjahr polarisiert. Die Länder, die sich zum Modell der freien Marktwirtschaft bekennen, profitieren seit Längerem von solidem Wirtschaftswachstum, weisen mehrheitlich makroökonomische Stabilität auf und waren gut gerüstet, um die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise aufzufangen. Einzelne Länder haben die Schwelle zum industrialisierten Staat überschritten: Chile beispielsweise wurde 2010 in die OECD aufgenommen, in der es das zweite lateinamerikanische Land nach Mexiko ist. Gleichzeitig bleiben die weiterhin grossen sozialen Unterschiede in vielen Ländern ein Problem, das sich namentlich in der teils endemischen Kriminalität und der damit einhergehenden fragilen Sicherheitssituation ausdrückt, in besonders starkem Ausmass im nördlichen Zentralamerika. Eine weitere Herausforderung in diesem Zusammenhang stellt in vielen Teilen Lateinamerikas das bestehende Defizit an Schul- und Ausbildungs2938

möglichkeiten dar, das in einzelnen Ländern spürbar zu einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften führt.

Die Länder der Region, die sich, angeführt von Venezuela, vom «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» inspirieren lassen (z.B. Ecuador oder Bolivien), haben sich mit Produktivitätseinbussen und wirtschaftlichen Standortproblemen auseinanderzusetzen und sind in ihrer politischen Entwicklung geprägt durch autoritäre Tendenzen.

Die Attraktivität für Investitionen ist im Abnehmen begriffen, und die Volkswirtschaften sind zunehmend abhängig von staatlichen Subventionen, genährt aus dem Erdöleinkommen Venezuelas.

Auf regionaler Ebene konsolidiert Brasilien seine politische und wirtschaftliche Vormachtstellung, namentlich auf Kosten der USA. Zwar bleibt der Einfluss Washingtons in Lateinamerika bedeutend. Angesichts der brasilianischen Ambitionen einerseits und der geopolitischen Prioritäten Washingtons andererseits ist indessen eine rückläufige Tendenz feststellbar. Dies zeigt sich auch in den Trends der regionalen Integration, die mit UNASUR und anderen Initiativen der lateinamerikanischen Zusammenarbeit darauf hin zielen, Institutionen zu schaffen, in die die USA nicht miteinbezogen sind.

Asiatische Länder und namentlich China haben ihre Präsenz in Lateinamerika in den letzten Jahren massiv ausgebaut. Aus dem Aufschwung Ostasiens ergeben sich insbesondere für Pazifikanrainer neue Opportunitäten. Symptomatisch dafür ist die «Pazifik-Allianz», die von Peru, Mexiko, Kolumbien und Chile im Berichtsjahr in Lima gegründet wurde. Die Investitionen, die China in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften tätigt, konzentrieren sich auf den Abbau von Rohstoffen und die Produktion und Ausfuhr von Lebensmitteln. Gleichzeitig finden sich in steigendem Mass chinesische Produkte auf den Märkten Lateinamerikas. Diese Entwicklung macht die Region einseitig von Rohstoffausfuhren abhängig und hemmt das Wachstum lokaler Wertschöpfung.

Beziehungen mit den USA und Brasilien Für die Beziehungspflege gegenüber den Ländern des amerikanischen Kontinentes kommt der Schweiz eine Werteverwandtschaft zugute, die verwurzelt ist in der historischen Prägung der Region durch Europa. Die gegenseitigen Beziehungen basieren traditionell auf den bedeutenden Auslandschweizer-Gemeinschaften in vielen Ländern Nord- und Südamerikas und
damit verbunden auf einem weit zurückreichenden Handels- und Konsularnetz.

USA: Auch im Berichtsjahr waren die Interessen der Schweiz gegenüber den USA massgeblich durch die Wirtschaftsbeziehungen geprägt. Für die Schweiz sind die USA der zweitgrösste Handelspartner, und die Schweiz war 2010 das Herkunftsland mit den höchsten Direktinvestitionen (Kapitalexport)16 in den US-Markt. Im Finanzund Steuerdossier blieb der Druck der USA auf Schweizer Banken bestehen. Es wurden weitere Verhandlungen betreffend Kundendaten von Steuerdelinquenten geführt (vgl. Ziff. 2.3.1).

Auch 2011 führte die Schweiz ihre Bemühungen fort, ihr Kontaktnetz zu den USA auszubauen und in Bereichen gemeinsamen Interesses Zusammenarbeitsmöglichkeiten zu identifizieren. Dabei kann auf den traditionellen Interessenwahrungsmandaten aufgebaut werden, die die Schweiz für die USA im Iran und in Kuba wahrnimmt.

16

2010: 41,27 Milliarden US-Dollar gemäss U. S. Department of Commerce

2939

Die regelmässigen Konsultationen auf politischer und hoher Beamten-Ebene stellen eine geeignete Plattform dar, um den Zugang zu Entscheidungsträgern in Washington zu erweitern. Im Berichtsjahr standen thematisch namentlich die schweizerischamerikanischen Vermittlungsbemühungen zwischen Moskau und Tiflis zugunsten des russischen WTO-Beitrittes im Vordergrund. Darüberhinaus tragen die regelmässig gepflegten Beziehungen zwischen den Parlamenten der beiden Länder zum gegenseitigen Verständnis bei. Auf amerikanischer Seite wurde im Berichtsjahr neben dem seit Längerem bestehenden «Friends of Switzerland Caucus» im Repräsentantenhaus eine Freundschaftsgruppe Schweiz im Senat gegründet. Auf schweizerischer Seite pflegte der «Parlamentarische Verein Schweiz-USA» die Kontakte.

Brasilien: Die Schweiz hat mit der südamerikanischen Regionalmacht Brasilien 2008 eine Absichtserklärung für den Aufbau einer strategischen Partnerschaft unterzeichnet zwecks Ausbaus der Zusammenarbeit in den verschiedenen Bereichen gegenseitigen Interesses. In diesem Rahmen lancierten die Schweiz und Brasilien im Berichtsjahr eine verstärkte Zusammenarbeit zu Migrations- und Finanzfragen.

Hinsichtlich der Aufnahme eines bilateralen Finanzdialogs wurde mit Brasilien jüngst Kontakt aufgenommen. Die Schweiz und Brasilien festigten ihre Zusammenarbeit auch in den Bereichen Wissenschaft und Technologie mit der Lancierung von gemeinsamen Forschungsprojekten zu Energie-, Umwelt- und Gesundheitsfragen.

Die für Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Stellen legten im Oktober 2011 die Grundlage einer Kooperation zugunsten von Drittstaaten, vorab in SubsaharaAfrika. Brasilien ist der grösste Handelspartner der Schweiz in Lateinamerika, und die Schweiz bemühte sich stetig um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Austausch. So verfolgt sie das Genehmigungsverfahren des Investitionsschutzabkommen im brasilianischen Kongress17 und prüft die Machbarkeit der Aushandlung eines Freihandelsabkommens zwischen EFTA und Mercosur.

Beziehungen zu anderen G-20-Ländern auf dem amerikanischen Kontinent Neben den USA und Brasilien sind auf dem amerikanischen Kontinent drei weitere Staaten Mitglied der G-20 und somit von besonderem Interesse für die Schweiz. Es sind dies Kanada, Mexiko und Argentinien. Bei allen G-20-Ländern ist es
der Schweiz ein spezielles Anliegen, über verstärkte Zusammenarbeit in gemeinsamen Interessenbereichen den Zugang zu den G-20-Entscheidungsträgern zu verbessern.

Kanada: Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Kanada erfuhren in den letzten Jahren eine Dynamik, die begünstigt wurde durch das 2009 in Kraft getretene Freihandelsabkommen EFTA­Kanada. Daneben bemüht sich die Schweiz, die Kooperation in den Sektoren Wissenschaft, Forschung und Innovation zu stimulieren, unter anderem mittels der Exportplattform «Cleantech Switzerland».

Ebenfalls von gegenseitigem Interesse sind Aktivitäten im Menschenrechtsbereich, namentlich bei Themen wie «Corporate Social Responsibility», bei welchen die Schweiz und Kanada in multilateralen Foren zusammenarbeiten und übereinstimmende Haltungen einnehmen.

Mexiko: Die Beziehungen der Schweiz zu Mexiko sind stark auf die Zusammenarbeit im multilateralen Bereich ausgerichtet. Die Kooperation konzentriert sich namentlich auf die Umweltpolitik und auf Nachhaltigkeitsfragen. Daneben kooperieren die Schweiz und Mexiko in der internationalen Migrationspolitik: Die Schweiz 17

Das Abkommen wurde im November 1994 unterzeichnet, konnte aber bisher nicht in Kraft treten, da die Ratifikation durch Brasilien noch aussteht.

2940

übernahm im Dezember 2010 von Mexiko den Vorsitz des «Globalen Forums für Migration und Entwicklung». Wirtschaftlich ist Mexiko für europäische und somit auch Schweizer Firmen ein interessanter Standort für die Ausfuhrproduktion in den U.S.-Markt. Der Handelsaustausch wird durch ein Freihandelsabkommen EFTAMexiko erleichtert.

Argentinien: Die Zusammenarbeit der Schweiz mit Argentinien konzentriert sich einerseits auf multilaterale Fragen, insbesondere im Bereich der menschlichen Sicherheit. So führten die Schweiz und Argentinien im April 2011 zusammen das dritte regionale Forum zur Vorbeugung von Völkermord durch, mit dem Ziel, einen Mechanismus zur Förderung der Wahrheitsfindung und zur Verhinderung von Massengewalt zu schaffen. Im Wirtschaftsbereich andererseits unterzeichneten die Schweiz und Argentinien ein Übereinkommen zur Errichtung eines gemischten Wirtschaftsausschusses, der zur Unterstützung schweizerischer Wirtschaftsinteressen vor Ort und zur Entwicklung der bilateralen Wirtschaftszusammenarbeit beitragen soll.

Beziehungen zu weiteren Partnern in der Region Die Schweiz pflegt offizielle Beziehungen zu allen Ländern der Region. Deren Intensität wird bestimmt durch die schweizerischen Interessen einerseits und die Dynamik der Entwicklung im Partnerland andererseits. Vor diesem Hintergrund von besonderem Interesse sind Chile, Kolumbien und Peru, mit denen die EFTA Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Die Schweiz pflegt mit diesen drei Ländern, aber bedarfsweise auch mit anderen Partnern, regelmässige bilaterale Kontakte auf Beamtenebene. Im Berichtsjahr wurden in diesem Rahmen Treffen mit Kolumbien, Peru und Kuba durchgeführt, mit Chile ist ein Austausch für 2012 vorgesehen.

Die Instrumente der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit erfuhren in Lateinamerika in den letzten Jahren teilweise eine Neuausrichtung. Die DEZA blieb im Berichtsjahr in Bolivien, Haiti und Zentralamerika im Bereich der Armutsbekämpfung engagiert, während das SECO in Peru, Kolumbien und in zentralamerikanischen Ländern mit Projekten zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Diversifizierung des Handels, namentlich in den Sektoren Umwelt, Klima und Energie, den erreichten Entwicklungsfortschritten der Partner Nachhaltigkeit verlieh.

Darüber hinaus engagiert sich die Schweiz in Lateinamerika für die
Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten, Grundsätzen der Demokratie und des gewaltenteiligen Rechtsstaats. Sie konzentrierte sich dabei auf Themen wie Vergangenheitsarbeit und Transitionsjustiz, namentlich in Kolumbien sowie im nördlichen Zentralamerika, wo die Sicherheitslage angesichts von fragilen staatlichen Strukturen und organisiertem Verbrechen problematisch ist. Ein weiterer Bereich schweizerischen Engagements dreht sich um Verhaltenskodizes von privatwirtschaftlichen Unternehmen, insbesondere in der Bergbauindustrie. In Kolumbien setzte die Schweiz ihre Tätigkeit zur Förderung des Friedens und der Menschenrechte fort, unter anderem in der Unterstützung von Friedensinitiativen der lokalen Zivilgesellschaft zum Schutz von intern Vertriebenen.

In Venezuela gilt es, die politischen Entwicklungen und Perspektiven im Lichte der Gesundheitsprobleme von Präsident Chavez zu analysieren. Die Schweiz hat infolge des ungünstigen Investitionsklimas wiederholt bei den venezolanischen Behörden zugunsten von Schweizer Firmen interveniert. Im Rahmen der regelmässigen uni-

2941

versellen Überprüfung (UPR) von Venezuela im UNO-Menschenrechtsrat hat sie zudem ihre Empfehlungen zur Menschenrechtslage abgegeben.

In Haiti unterstützt die Schweiz den nachhaltigen Wiederaufbau, der an die unmittelbar nach dem Erdbeben vom Januar 2010 geleistete humanitäre Hilfe anknüpft.

Überdies schuf der Bundesrat mit dem am 1. Februar 2011 in Kraft getretenen Bundesgesetz vom 1. Oktober 201018 über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen die rechtliche Grundlage, um die Rückerstattung der seit 25 Jahren in der Schweiz blockierten Vermögenswerte des früheren Präsidenten Duvalier an den haitianischen Staat zu ermöglichen (siehe auch Ziff. 2.3.1).

Auch in multilateralen Gremien sind die Länder des amerikanischen Kontinentes für die Schweiz in mancher Hinsicht wichtige und interessante Partner. In der UNO beispielsweise arbeitet die Schweiz im Rahmen der «Small Five Group» eng mit Costa Rica zusammen an Vorschlägen für wirkungsorientiertere Arbeitsmethoden des Sicherheitsrates und an der Reform des Terrorismus-Sanktionsregimes. Gleichzeitig engagiert sich die Schweiz auf regionaler Ebene. Sie ist Beobachterin in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und unterstützt namentlich deren Aktivitäten zugunsten der Meinungsfreiheit auf dem Kontinent. Mit der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) besteht eine enge Zusammenarbeit in entwicklungspolitischen Themen.

Herausforderungen und Perspektiven Die Beziehungen der Schweiz zu den Ländern des amerikanischen Kontinentes werden auch in den kommenden Jahren geprägt sein einerseits vom Verhältnis mit den USA und andererseits von der Entwicklungsdynamik in Lateinamerika. Mit den USA ist die Schweiz in vielen Interessenbereichen aufs Engste verflochten, weshalb sich eine rasche und gegenseitig akzeptable Beilegung der Differenzen in Steuerfragen aufdrängt. Gleichzeitig gilt es, das Kontaktnetz auf politischer und administrativer Ebene weiter auszubauen und Bereiche zu identifizieren, in denen im gegenseitigen Interesse Zusammenarbeitsmöglichkeiten bestehen, sei dies im multilateralen oder im globalen Umfeld.

In Lateinamerika, wo viele Länder die Wirtschaftskrise von 2008/09 gut aufgefangen haben und seither solides Wirtschaftswachstum aufweisen, hat die Schweiz ein Interesse daran, sich
bestmöglich zu positionieren und ihre Präsenz auszubauen. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei den zukünftigen Möglichkeiten, die sich im Bereich der «Green Economy» eröffnen. Darüberhinaus vertreten viele lateinamerikanische Staaten in multilateralen und globalen Fragen (internationale Gouvernanz, Klima, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte etc.) gleichgesinnte Positionen wie die Schweiz und bieten sich damit als Allianzpartner für schweizerische Interessen an, mit denen die Zusammenarbeit zu suchen und zu pflegen ist. Dies gilt besonders auch für die Partnerschaften mit den G-20-Ländern in der Region, die für das Einbringen schweizerischer Anliegen zu internationalen Finanz-und Wirtschaftsthemen von Bedeutung sind.

Schliesslich engagiert sich die Schweiz auch weiterhin im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit auf dem Kontinent, und sie setzt sich zugunsten von Menschenrechten und Rechtsstaat ein. Damit trägt sie bei zu stabilen und verlässlichen 18

SR 196.1

2942

Rahmenbedingungen, die die Voraussetzung sind für die weitere Intensivierung der manigfaltigen Beziehungen zu den Ländern des amerikanischen Kontinentes.

2.1.3

Politik gegenüber Asien und Ozeanien

Aktuelle Tendenzen Der bedeutende politische, wirtschaftliche und soziale Aufschwung der Region Asien-Pazifik setzte sich 2011 fort: Die aus weltpolitischer Sicht historische Verschiebung vom atlantisch-mediterranen in den asiatisch-pazifischen Raum wirkt sich nicht nur auf unsere bilateralen Beziehungen zu diesen Staaten aus, sondern erhöht auch deren politische Einflussnahme auf die internationalen Organisationen und Foren.

Relativ unberührt von der Währungs- und Schuldenkrise Europas und der USA zeigten die meisten Staaten der Region auch 2011 ein starkes Wirtschaftswachstum und wurden somit auch zu einem wesentlichen Motor für die Erholung der westlichen Exportwirtschaft nach der Finanz-und Wirtschaftskrise. Getrieben durch hohe Exporte und Investitionen in Immobilien und Infrastruktur bildete China weiterhin das wichtigste Zugpferd der Weltwirtschaft, von dessen Importbedarf an Rohstoffen, Investitions- und Konsumgütern auch die meisten anderen Länder der Region durch erhöhte wirtschaftliche Dynamik profitieren konnten. Die durchschnittlichen hohen BIP-Wachstumszahlen vieler wichtiger Länder der Region in den letzten zehn Jahren verdeutlichen diese Tendenz (China ungefähr 10,5 %, Indien 7,8 %, ASEAN 5,8 % und Australien 2,8 %). Der asiatisch-pazifische Raum zeichnet für 27 % des Weltbruttosozialproduktes und rund die Hälfte des globalen Wirtschaftswachstums verantwortlich.

Diese wirtschaftliche Dynamik der Region hat aber auch direkte Auswirkungen auf die globale politische Landschaft: Während die traditionellen Machtzentren USA und Westeuropa durch eine Phase wirtschaftlicher und mithin politischer Schwäche gehen, nimmt die Bedeutung der asiatisch-pazifischen Akteure zu. Lösungen globaler Probleme ohne eine substanzielle Beteiligung der grossen asiatischen Staaten ist kaum denkbar: Neben dem permanenten UNO-Sicherheitsratsmitglied China stellt die Region Asien-Pazifik sechs G-20-Mitgliedstaaten (China, Indien, Japan, Südkorea, Indonesien und Australien); zusätzlich nehmen aus dieser Region die ASEAN-Präsidentschaft sowie Singapur an den G-20-Treffen teil, Letzteres de facto als Vertreter der Gruppe der Global Governance Group (3G, Gruppe wichtiger Nicht-G-20-Länder, darunter auch die Schweiz).

Allerdings wird die Dynamik der Region durch eine Reihe von Problemen und Spannungsfeldern gebremst:
Umweltverschmutzung und Raubbau an den natürlichen Ressourcen, krasse Einkommensunterschiede, schwache Gouvernanz oder instabile politische Verhältnisse, eine Reihe offener oder latenter Spannungen zwischen Staaten. Zudem zögern viele Länder der Region noch, die ihnen aufgrund ihrer neuen Rolle als globaler Akteur zukommende Verantwortung zu übernehmen.

Die Staatenwelt zwischen Hindukusch und den pazifischen Inseln ist überdies durch eine im Vergleich mit Europa viel grössere historische, soziale, politische und ökonomische Vielfalt geprägt: Neben Staaten mit freiheitlich-demokratischer Rechtsordnung gibt es Staaten, die ihren Markt ganz oder teilweise öffnen, ohne Meinungsfreiheit zuzulassen. Es gibt Entwicklungsländer und Industriestaaten. Es 2943

gibt Diktaturen und autoritäre Regime verschiedener Ausprägung mit mehr oder weniger Respekt für die Menschenrechte, und es gibt schliesslich eine Gruppe von Staaten in tiefgreifender Krise. Soziales Gefälle und religiöse Intoleranz islamischer, hinduistischer oder buddhistischer Prägung ist Anlass zu bewaffneten, zum Teil grenzüberschreitenden Konflikten, Extremismus und terroristischen Anschlägen.

Die politischen Entwicklungen bieten denn auch ein durchzogenes Bild: Während militärische Konflikte (Afghanistan, Pakistan) anhielten, Anschläge verübt wurden und in gewissen Ländern eine zunehmende politische Repression gegen politisch Andersdenkende oder bestimmte Ethnien zu beobachten war, blieben positive Entwicklungen hin zu Stabilität oder Demokratie in einigen Staaten nicht aus.

Schliesslich ist die Region traditionellerweise geprägt durch eine grosse Anzahl von seit Langem bestehenden offenen oder latenten Konfliktlinien, die in der Tendenz aufgrund der erhöhten Dynamik oder teilweise auch aus innenpolitischen Gründen in ihrer Brisanz über die letzten Jahre wieder zugenommen haben. Dazu gehören neben dem Koreakonflikt der Konflikt um Kaschmir, die Grenzstreitigkeiten zwischen Thailand und Kambodscha, die mit zunehmender Vehemenz durch verschiedene Kontrahenten in die Waagschale geworfenen Ansprüche um Inselgruppen in den Meeren Ostasiens oder Territorialansprüche in der Himalaya-Region. Diese regionalen Spannungen sowie der Wunsch, die Handelsströme und den Zugang zu den Rohstoffquellen zu kontrollieren und auch auf globaler Ebene die eigene politische Bedeutung zu demonstrieren, schlagen sich in erhöhten Rüstungsbudgets nieder. Bemerkenswert sind die Anstrengungen, die maritimen Kapazitäten bis hin zur Beschaffung von Flugzeugträgern auszuweiten.

Im Gegensatz zu Europa fehlt indessen in Asien eine regionale Sicherheitsstruktur, deren Organisationen ausgleichend oder vermittelnd in Konflikten eingreifen könnten. Trotzdem scheint vermehrt die Einsicht zu reifen, dass regionale Institutionen im Interesse aller liegen. Es ist interessant zu beobachten, dass sich um die südostasiatische ASEAN, welche ursprünglich der Eindämmung des Kommunismus in Ostasien sowie der Wirtschaftsförderung und -integration diente, eine gewisse Regionalstruktur in variabler Geometrie (ASEAN Regional Forum, ASEAN+3,
ASEAN+6, EAS etc.) herausbildet, welche auch Staaten ausserhalb Südostasiens anzieht (China, Indien, Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea und schliesslich auch die USA und Russland). Als ermutigender Schritt gestärkten Verantwortungsbewusstseins dürfen erste Vermittlungsbemühungen, z.B. Indonesiens in seiner Rolle als ASEAN-Präsidialland im Tempelkonflikt Thailand-Kambodscha sowie der ASEAN bezüglich der Grenzkonflikte im südchinesischen Meer, angesehen werden.

In die gleiche Richtung gehen die Bestrebungen im Rahmen der International Contact Group zu Afghanistan, einer neben den USA vor allem durch regionale asiatische Staaten geprägten Gruppe, mehr Verantwortung für eine Friedenslösung am Hindukusch zu übernehmen. Unbestreitbar ist, dass die amerikanische militärstrategische Präsenz nach Jahren des Krebsgangs im asiatisch-pazifischen Raum eine Renaissance erlebt. Viele Staaten sehen die USA wieder vermehrt als Gegengewicht eines erstarkenden Chinas und somit als einen unverzichtbaren Stabilitätsgaranten in dieser Region.

Die schweizerische Aussenpolitik gegenüber Asien und Ozeanien Für die Staatenwelt ausserhalb Asiens, namentlich Europas, galt auch 2011 noch vermehrt, dass die Beziehungen zu dieser dynamischsten Region im besten Verständnis des ureigensten Interesses vertieft werden muss. Für die Schweiz als global 2944

vernetztes Land mit unabhängiger, universaler Aussenpolitik, weltweit tätigen Unternehmen und dem Verständnis dafür, dass die grossen Fragen dieser Zeit nur gemeinsam mit anderen zu lösen sind, gilt dies ganz besonders. Der asiatischpazifische Raum ist der weltweit zweitwichtigste regionale Wirtschaftspartner der Schweiz (nach Europa, aber noch vor Nordamerika). 13 % des Schweizer Handels wird mit dieser Region abgewickelt. Im Jahr 2010 nahm dieser um eindrückliche 17 % zu. 14 % der ausländischen Touristen der Schweiz stammen aus Asien und Ozeanien, und auch hier ist die Tendenz stark ansteigend.

Die schweizerische Aussenpolitik gegenüber Asien-Pazifik im Jahre 2011 war denn auch geprägt durch ein vielfältiges Engagement mit den Staaten dieser Region. Die Intensivierung der politischen Kontakte auf vielen Ebenen, der Ausbau des dichten Netzwerks an vertraglichen Verbindungen, Unterstützungsleistungen im wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsbereich wie auch solidarischer Beistand in Krisensituationen waren Elemente dazu. Während aufgrund der offensichtlichen Gewichtung und politischen Bedeutung ein Hauptaugenmerk den Beziehungen mit den drei grossen Partnern China, Indien und Japan gilt, wurde dem vermehrten Ausbau der Beziehungen mit den anderen Staaten der Region Asien-Pazifik grössere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Länder werden in Zukunft für die Schweiz immer wichtiger, als Partner in Wirtschaft und Politik, auf regionaler, aber auch auf globaler Ebene. Sie verdienen entsprechend die Pflege guter und enger Beziehungen.

Ostasien Die intensiven Beziehungen mit China werden, gemäss der Chinastrategie des Bundesrates von 2007, in vier Kooperationsbereichen schwerpunktmässig verfolgt: Politik und Menschenrechte, Wirtschaft, Wissenschaft/Technologie/Bildung sowie Umwelt und Energie. Daneben umfassen sie heute zahlreiche weitere Themenbereiche wie Migration, Gesundheit, Sicherheit, Entwicklungspolitik, Kultur und Arbeitsund Beschäftigungsfragen. Das wichtigste politische Instrument ist der im Memorandum of Understanding (MoU) von 2007 verankerte regelmässige Dialog. 2011 konnte in Bern auf Ministerebene die zweite Runde desselben durchgeführt werden.

Der offizielle Arbeitsbesuch des chinesischen Aussenministers Yang Jiechi im Mai 2011 wie auch eine Reihe weiterer Treffen auf Bundesrats-
und Ministerebene bestätigten den ausgezeichneten Stand der bilateralen Beziehungen. Im Rahmen der elften Dialogrunde des 1991 aufgenommenen Menschenrechtsdialogs wurden im März 2011 die Themen Rechtsreformen, Strafrecht, Strafvollzug, Religionsfreiheit und Minderheitenrechte diskutiert. Der im Oktober 2010 aufgenommene Migrationsdialog wurde 2011 weitergeführt mit dem Ziel, die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu vertiefen. In wirtschaftlicher Hinsicht ist China seit 2010 der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Asien. Aus diesem Grund kann die Lancierung der Verhandlungen für ein bilaterales Freihandelsabkommen im Januar 2011 als besonderer Erfolg gewertet werden. Des Weitern hat der Bundesrat an seiner Sitzung vom 9. November 2011 das MoU zum Finanzdialog mit China gutgeheissen; dieses kann nun unterzeichnet werden. Schliesslich wurde im Juni 2011 ein Freihandelsabkommen zwischen der EFTA und Hongkong unterzeichnet. Mit Hongkong wurde 2011 ebenfalls ein revidiertes Doppelbesteuerungsabkommen unterzeichnet. Schliesslich konnte ein privatrechtliches Abkommen umgesetzt werden, das die Doppelbesteuerung zwischen Taiwan und der Schweiz vermeidet. Im Bereich Wissenschaft, Technologie und Bildung wurde 2011 mit dem Swissnex Shanghai die Zusammenarbeit weitergeführt.

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Japan ist ein wichtiger Partner der Schweiz, vor allem in der multilateralen Zusammenarbeit aufgrund ähnlicher Interessen und Werte, namentlich in der Welthandelsorganisation (WTO), im Umweltbereich oder bei der Nichtverbreitung von Kernwaffen. Als moderne Industriegesellschaft teilt Japan viele der Probleme und Herausforderungen, die sich auch den Staaten Westeuropas stellen: alternde Gesellschaft, Finanzierung des Sozialstaates, Schuldenproblematik, Migration. Die Beziehungen der Schweiz mit Japan wurden 2011 von der Dreifachkatastrophe vom März 2011 geprägt. Im zweiten Halbjahr 2011 konnte die erste Runde des im Juli 2010 in einem Memorandum festgelegten politischen Dialogs durchgeführt werden mit dem Zweck, die politischen Beziehungen weiter zu stärken. Japan bleibt für die Schweiz ein wichtiges Investitionsland und ist nach China der zweitwichtigste Handelspartner in Asien. Mit Japan besteht zudem ein regelmässiger Finanzdialog. Im Bereich Wissenschaft und Technologie gehört Japan zu den acht Prioritätsländern der Schweiz mit Fokus auf der medizinischen Forschung.

Als Mitglied der G-20, als stabile und wachsende Volkswirtschaft wie auch als konsolidierte Demokratie gewinnt Südkorea weltpolitisch zunehmend an Bedeutung.

Die von der Schweiz angestrebte Intensivierung der bilateralen Beziehungen wurde 2011 mit einer ersten Runde von politischen Konsultationen umgesetzt. Die Neutrale Überwachungskommission (NNSC), in der die Schweiz seit 1953 vertreten ist, nahm im März und Dezember 2010 an Spezialuntersuchungen zur Verletzung des innerkoreanischen Waffenstillstandes teil. Eine sinnvolle und enge Partnerschaft besteht im Rahmen der multilateralen Klimadiplomatie, wo Südkorea und die Schweiz in der «Environmental Integrity Group» eng zusammenarbeiten.

2011 führte die Schweiz die 9. Runde des seit 2003 bestehenden politischen Dialogs mit Nordkorea durch. Die bilateralen Beziehungen mit der Mongolei wurden 2011 durch ein Treffen zwischen den Präsidenten am Rande des WEF in Davos sowie erstmals durch politische Konsultationen in Ulaanbaatar gestärkt.

Südasien Indien ist eine aufstrebende Grossmacht, mit der die Schweiz intensive Beziehungen pflegt. Die schweizerische Indien-Politik konzentrierte sich auch 2011 auf die Bereiche Politik, Wirtschaft, Wissenschaft/Technologie/Ausbildung und Umwelt/Energie.
Nach dem Besuch der Departementschefin des EDA in New Delhi im September 2010 und der Reise einer gemischten Wirtschaftsdelegation unter der Leitung des Departementschefs EVD nach Indien im April 2011 stellte der Staatsbesuch der indischen Präsidentin in der Schweiz im Oktober 2011 einen Höhepunkt in der Besuchsdiplomatie dar. Die Arbeiten an einem weitreichenden Handels- und Investitionsabkommen im Rahmen der EFTA laufen weiter. Ein MoU betreffend Finanzdialog wurde am 3. Oktober 2011 im Rahmen des Staatsbesuchs der Präsidentin Indiens Pratibha Devisingh Patil in Bern unterzeichnet. In Bangalore wurde ein neues Generalkonsulat mit integriertem Swissnex (Schweizer Haus für wissenschaftlichen Austausch) eröffnet.

Durch innere und äussere Konflikte behindert, vermag Pakistan nicht voll am Aufschwung in Asien teilzuhaben und stellt für diesen gar einen Risikofaktor dar. Der jährliche politische Dialog mit Pakistan fand im Februar 2011 in Bern statt. Eine Gruppe pakistanischer Geschäftsleute reiste im Mai 2011 in die Schweiz, um für den Investitionsstandort zu werben. Die schlechte Sicherheitslage behindert indessen die Ausschöpfung des wirtschaftlichen Potenzials. Die Schweiz beteiligte sich auf bilateraler (Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe) und regional2946

multilateraler Ebene (Friends of Democratic Pakistan) an den internationalen Anstrengungen in Pakistan.

In Afghanistan führte die Schweiz ihr langfristiges entwicklungspolitisches Engagement weiter und nahm auch an den politischen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft am Hindukusch teil, indem sie der internationalen Kontaktgruppe zu Afghanistan beitrat. Eine Delegation des EDA nahm im Dezember 2011 an der Bonner Afghanistan-Konferenz teil. Bhutan ist weiterhin ein Partner der schweizerischen Entwicklungshilfe. Diese soll u.a. die Demokratisierung des Landes unterstützen. Im Oktober 2010 besuchte der Premierminister die Schweiz, der erste Besuch auf dieser Stufe. Der Besuch des Präsidenten der Malediven im September 2011 erlaubte eine Diskussion zu Demokratie und Klimafragen. Die Beziehungen zu Bangladesch sind stark von der Entwicklungszusammenarbeit geprägt, wobei der Klimaproblematik ein besonderes Augenmerk gilt. Nepal und Sri Lanka schliesslich bleiben Länder, wo das Engagement der DEZA eine wesentliche politische Dimension enthält und mit denen der Dialog auf diplomatischer Ebene gepflegt wird.

Südostasien Im Fahrwasser von China und Japan weisen die meisten Staaten Südostasiens bemerkenswerte wirtschaftliche und politische Entwicklungen auf, die sich positiv auf die bilateralen Beziehungen mit der Schweiz auswirkten. 2011 konnte ein politischer Dialog mit allen ASEAN-Staaten, ausser Philippinen und Myanmar durchgeführt werden. Erste Resultate dieser neuen Strategie waren die Unterzeichnung eines MoU über eine verstärkte politische Zusammenarbeit mit Vietnam und der erste politische Dialog mit Brunei.

Der Dialog mit Singapur, dem wichtigste Handelspartner in Südostasien, ist von wirtschaftlichen und finanzmarktstrategischen Interessen sowie von der Zusammenarbeit im multilateralen Bereich (Gruppe der S-5 und der Global Governance Group ­ G-20) geprägt. Es konnte ferner das revidierte Doppelbesteuerungsabkommen unterzeichnet werden. Mit Thailand, dem zweitwichtigsten Handelspartner in der Subregion, wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zum 80-Jahr-Jubiläum der Aufnahme bilateraler diplomatischer Beziehungen die weiterhin ausbaufähigen wirtschaftlichen Beziehungen gepflegt und auf eine baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen EFTA­Thailand hingewirkt. Die
Zurverfügungstellung zweier Schweizer Experten zur Unterstützung der thailändischen Wahrheitsfindungs- und Wiederversöhnungskommission wurde von thailändischer Seite ebenso geschätzt wie das fortwährende schweizerische Engagement in und im Zusammenhang mit den Flüchtlingslagern an der thailändisch-myanmarischen Grenze.

Die Beziehungen zu Indonesien, wirtschaftliches Schwergewicht der ASEAN, wurden geprägt durch dessen Mitgliedschaft in der G-20 und die ASEAN-Präsidentschaft. Zu den Schwerpunkten gehören die laufenden Verhandlungen über ein umfassendes wirtschaftliches Partnerschaftsabkommen EFTA­Indonesien und über ein bilaterales Investitionsschutzabkommen, die regelmässigen Treffen einer gemeinsamen Wirtschafts- und Handelskommission sowie einer Arbeitsgruppe im Umweltschutzbereich. Indonesien ist auch eines der sieben Prioritätsländer der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit des SECO. Dem interreligiösen Dialog wurde weiterhin eine erhöhte Bedeutung zugemessen, gilt Indonesien, der Staat mit der grössten muslimischen Bevölkerung weltweit, grundsätzlich als Vertreter eines moderaten und modernen Islams. Im multilateralen Bereich stand die 2947

gemeinsame schweizerisch-indonesische Initiative im Zusammenhang mit dem Basler Übereinkommen vom 22. März 198919 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung im Vordergrund. Das Schwergewicht des politischen Dialogs mit Malaysia wurde auf die Umsetzung der wirtschaftlichen Zusammenarbeitserklärung EFTA-Malaysia vom 20. Juli 2009 und auf eine mögliche vermittelnde Rolle beider Staaten zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionsgemeinschaften in multilateralen Foren gelegt.

Im Dezember 2010 fand ein Treffen zwischen den Aussenministern in Bern statt.

Vietnam wies in den letzten Jahren eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften weltweit auf und erhielt im Jahr 2011 den Status eines Schwellenlandes.

Die Machbarkeitsstudie für einen Freihandelsvertrag EFTA-Vietnam wurde abgeschlossen, und die schweizerische Seite hat auf eine möglichst rasche Aufnahme der offiziellen Verhandlungen hingewirkt. Neben den wirtschaftlichen Themen standen der sukzessive Rückzug der DEZA und das kontinuierliche Engagement des SECO in der Entwicklungszusammenarbeit, die institutionalisierten Menschenrechtskonsultationen sowie die Förderung von Kooperationen zwischen schweizerischen und vietnamesischen Universitäten und Fachhochschulen im Vordergrund. Mit der Unterzeichnung eines MoU über eine verstärkte politische Zusammenarbeit und eines MoU zur bilateralen Zusammenarbeit in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sowie hochrangigen gegenseitigen Besuchen wurde das 40-Jahr-Jubiläum der Aufnahme bilateraler diplomatischer Beziehungen gebührend begangen.

Im Vordergrund des politischen Dialogs mit Laos und Kambodscha standen die Entwicklungszusammenarbeit sowie multilaterale und regionale Themen. Kambodscha wird die ASEAN-Präsidentschaft im Jahr 2012 übernehmen und Laos Gastgeber des für das Schweizer ASEM-Beitrittsgesuch wichtigen ASEM-Gipfels im Jahr 2012 in Vientiane sein. In den diplomatischen bilateralen Beziehungen mit den Philippinen stand neben den wirtschaftlichen Beziehungen die aktive Verfolgung der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die Kompensation der MarcosMenschenrechtsopfer im philippinischen Parlament sowie die Bildung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe Migration in Bern im Vordergrund.

Der Pazifik: Australien, Neuseeland und die
Inselstaaten Aufgrund der grossen Nachfrage nach seinen Rohstoffen erlebt Australien, Regionalmacht und G-20-Staat, einen Wirtschaftsboom. Die Beziehungen mit der Schweiz sind gekennzeichnet durch eine rege Investitionstätigkeit von Schweizer Firmen in Australien und durch die grösste Schweizer Diaspora im gesamten asiatischpazifischen Raum. 2010 hat Schweiz Tourismus ein Büro in Sydney eröffnet. Ferner existiert mit dem schweizerisch-australischen Kooperationsprojekt SAAN eine wissenschaftliche Austauschplattform, von welcher wichtige Impulse zur bilateralen wissenschaftlichen Zusammenarbeit ausgehen. Betreffend die Aufnahme eines Finanzdialogs hat die Schweiz jüngst mit Australien Kontakt aufgenommen.

Die in den letzten Jahren intensivierte Zusammenarbeit mit Neuseeland fand vor allem im multilateralen Bereich statt, wo Themen wie Menschenrechte, Friedenspolitik, Umwelt und Finanzgouvernanz (3G) im Vordergrund standen. Die Anliegen der Kleininselstaaten im Pazifik werden von der Schweiz gebührend berücksichtigt, insbesondere in den multilateralen und regionalen Foren zur Klimapolitik oder auch durch die Unterstützung ihrer Präsenz in Genf. Im Sinne einer universalen Aussen19

SR 0.814.05

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politik hat die Schweiz Ende 2010 diplomatische Beziehungen mit den Cook Islands aufgenommen.

Regionale Integration Aufgrund der zunehmenden Bedeutung interregionaler Foren wurde es der Schweiz im wohlverstandenen Eigeninteresse immer wichtiger, sich um einen Beitritt in ausgewählten regionalen Foren zu bemühen. Im südasiatischen Kontext konnte die Schweiz den beiden multilateralen Foren Friends of Democratic Pakistan FoDP und der International Contact Group ICG beitreten. Damit verleiht sie ihrem Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans und Pakistans und der gesamten Region Zentral- und Südasien politisches Gewicht, macht ihre Beteiligung an der internationalen Lastenteilung sichtbar und bringt sich in die internationale Diskussion ein.

Die schweizerische Kandidatur für das Asia Europe-Meeting (ASEM), dem wichtigsten politischen Dialogforum Asien/Pazifik-Europa über aktuelle regional- und weltpolitische Themen, wurde im März 2011 eingereicht, mit dem Ziel, am nächsten Gipfel des Forums in Laos 2012 als Vollmitglied aufgenommen zu werden. Die Zweckmässigkeit des ASEM zeigte sich in den vergangenen Jahren beispielsweise bei den Diskussionen über die Reform des internationalen Finanzsystems und eine neue Architektur des Finanzmarktes, aber auch zur Vorbereitung des Klimagipfels in Cancún sowie als Plattform für ein effizientes Networking.

Herausforderungen und Perspektiven Die grossen Unterschiede der Staaten im asiatisch-pazifischen Raum verlangen individuelle, an die einzelnen Länder angepasste Strategien, um das Hauptziel eines engagierten, auf beiderseitigen Nutzen und gegenseitigen Respekt ausgerichteten Verhältnisses zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten zu erreichen. Während die Vertiefung und der Ausbau des vertraglichen Netzwerks in allen Bereichen vorangetrieben werden soll, zum Beispiel durch Verhandlungen zu weiteren Freihandelsabkommen, muss auch gehöriges Augenmerk auf unsere Bereitschaft gerichtet werden, Staaten durch gezielte Massnahmen im Entwicklungsbereich, im Umweltschutz oder im Schutz der Menschrechte zu unterstützen und ihnen im Bedarfsfall mit gezielter humanitärer Hilfe oder Katastrophenhilfe beizustehen.

Für 2012 werden die politischen Dialoge und Treffen mit China, Indien, Japan und auch mit den anderen Staaten in der Region in hohem Rhythmus weitergeführt,
genauso wie politische Konsultationen zu Asien mit den USA, der EU, Russland und Norwegen. Die seit 2011 verfolgte Strategie des vermehrten Engagements mit den regionalen Organisationen hat 2012 zum Ziel, ASEM beizutreten, die Beziehungen mit ASEAN zu festigen, die schweizerischen Standpunkte im Forum «Friends of Democratic Pakistan» und in der «International Contact Group» zu vertreten und erste Kontakte mit dem Pacific Island Forum (PIF) und dem SAARC in Südasien aufzunehmen und zu prüfen, inwieweit sich hier ein verstärktes schweizerisches Engagement realisieren lässt.

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2.1.4

Politik gegenüber Subsahara-Afrika

Aktuelle Tendenzen in der Region 2011 war Subsahara-Afrika trotz des Aufschwungs erneut mit einem eher verhaltenen wirtschaftlichen Umfeld, instabilen politischen Entwicklungen und kritischen klimatischen und humanitären Bedingungen konfrontiert. Was die Wirtschaft betrifft, bestätigte sich zwar eine Rückkehr zum Wachstumstempo vor der Krise.

Allerdings trugen dazu vor allem die erdölproduzierenden und rohstoffreichen Länder bei, während Länder, die Energie oder Lebensmittel importieren, erneut mit einer ungünstigen Konjunkturlage und einem geschwächten Landwirtschaftssektor zu kämpfen hatten. Armut, fehlende wirtschaftliche Perspektiven und die institutionelle Instabilität gewisser Staaten führen zu umfangreichen Wanderungsbewegungen und mehr Kriminalität.

Das politische Geschehen stand in Subsahara-Afrika im Zeichen zahlreicher Wahlen, was auch 2012 der Fall sein dürfte. In den betroffenen Ländern verliefen die Wahlen insgesamt ruhig, und mit Ausnahme von Côte d'Ivoire kam es durch Spannungen nach den Wahlen nirgends zu gewalttätigen Konflikten. Dass die Wahlergebnisse an vielen Orten in Frage gestellt wurden, zeigt jedoch, dass der Weg zu einer nachhaltigen politischen und demokratischen Stabilität noch weit ist und diese häufig durch inter-ethnische Spannungen und mangelnde faktische Autorität in einem grossen Teil des Staatsgebiets gefährdet wird.

Ein politisch und wirtschaftlich stabiles Umfeld würde es ermöglichen, das Potenzial des afrikanischen Kontinents besser auszuschöpfen und damit einem Grossteil der Bevölkerung Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben. Es liegt deshalb im Interesse der Schweiz, auf eine solche Entwicklung hinzuwirken. Die Schweiz engagiert sich deshalb in Subsahara-Afrika in den Bereichen Friedensförderung und gute Regierungsführung, sie unterstützt mehrere Länder bei ihren Bemühungen, die Millenniumsentwicklungsziele zu erreichen, und sie leistet Hilfe für Menschen, die von humanitären Krisen betroffen sind, wie im Sommer 2011 bei der schweren Nahrungsmittelkrise am Horn von Afrika. Sieben der zwölf Schwerpunktländer der Entwicklungszusammenarbeit des Bundes sowie zwei Sonderprogramme befinden sich in Afrika. Ausserdem führt die Schweiz drei Programme zur zivilen Friedensförderung in Subsahara-Afrika durch (West- und Zentralafrika, Grosse Seen sowie Sudan,
Südsudan und Horn von Afrika). Dank ihres aktiven Engagements in Subsahara-Afrika konnte die Schweiz zu den meisten Staaten in der Region gute Beziehungen aufbauen. Sie ermöglichen es der Schweiz, ihre Interessen auf einem Kontinent zu wahren, der international weiterhin eine wichtige Rolle spielt.

Südliches Afrika Südafrika, ein Schlüsselakteur auf dem afrikanischen Kontinent mit einer dominierenden politischen und wirtschaftlichen Rolle in der Region, ist ein strategisches Partnerland der Schweiz. Die bilateralen Beziehungen zu diesem Land gehören zu den Prioritäten der schweizerischen Aussenpolitik. In diesem Sinne wurde im März 2008 in Genf ein Memorandum of Understanding (MoU) über den Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Südafrika unterzeichnet. Das MoU soll die Zusammenarbeit in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Entwicklung, Friedensförderung, Bildung, Wissenschaft und Kultur fördern. Zudem finden jährlich hochrangige Treffen statt, zuletzt im März 2011 unter der Leitung des Staatssekretärs des

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EDA in Bern. Dabei wurden die Wissenschaft und der Klimawandel als Bereiche bestimmt, in denen die Zusammenarbeit intensiviert werden kann.

Nach der Unterzeichnung des MoU setzten die Schweiz und Südafrika eine bilaterale gemischte Wirtschaftskommission ein. Südafrika ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz auf dem afrikanischen Kontinent und in der Southern Africa Customs Union (SACU), der Zollunion des südlichen Afrika. Das bilaterale Handelsvolumen zwischen der Schweiz und Südafrika belief sich 2010 auf 1,53 Milliarden Franken. Südafrika ist der bedeutendste Absatzmarkt für Schweizer Warenexporte auf dem Kontinent. Ende 2009 betrug der Kapitalbestand der Schweizer Direktinvestitionen 4,4 Milliarden Franken, wobei 54 % der Schweizer Direktinvestitionen in Subsahara-Afrika auf Südafrika entfielen. Das Engagement des SECO umfasst drei Stossrichtungen: die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen, integrativen Wirtschaft, die Stärkung Südafrikas als regionales Zentrum für Handels- und Wissensfragen in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen und die Bereiche Energieeffizienz und Klimawandel.

Die Schweiz hat mit Südafrika auch ein Abkommen über wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit abgeschlossen. Südafrika ist eines von acht aussereuropäischen Ländern, mit denen die wissenschaftlichen Beziehungen gezielt vertieft werden sollen. Im Rahmen des Swiss South African Joint Research Programme (SSAJRP) widmen sich sechzehn Forschungsprojekte und über sechzig Austauschprojekte den Bereichen Bio- und Nanotechnologie, öffentliche Gesundheit, Biomedizin sowie Geistes- und Sozialwissenschaften. Bei der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Südafrika liegt der Schwerpunkt seit 2008 auf einem umfassenden Programm zur Lösung der Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Ausserdem ist die Schweiz im Rahmen ihres Regionalprogramms für das südliche Afrika (SADC) im Land präsent. Dieses umfasst drei Schwerpunktbereiche: HIV/AIDS, Nahrungssicherheit und gute Regierungsführung.

In den Schwerpunktländern Tansania und Mosambik ist die bilaterale Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung und Gouvernanz tätig. Ein Sonderprogramm für ländliche Entwicklung wird in Madagaskar umgesetzt. In Simbabwe leistet die Schweiz humanitäre Hilfe für die Bevölkerung,
indem sie Nahrungsmittel bereitstellt. Ausserdem trägt sie dazu bei, dass die Landwirtschaft Impulse erhält, weshalb Simbabwe die Produktion von Lebensmitteln verdreifachen konnte. Die Schweiz hat dazu beigetragen, dass mehr HIV/AIDS-Kranke behandelt werden können. Heute haben in Simbabwe, wo jedes vierte Kind ein AIDS-Waise ist, fast 60 % der Betroffenen Zugang zu Medikamenten gegenüber 25 % im Jahr 2007.

Region der Grossen Seen Für die Region der Grossen Seen waren 2010 und 2011 intensive Wahljahre. In einem nach wie vor instabilen Sicherheitsumfeld führten Burundi, Ruanda, Uganda und die Demokratische Republik Kongo Wahlen durch. Die Bilanz dieses Wahlmarathons fällt gemischt aus. Zwar verlief der Wahlprozess in diesen Ländern insgesamt ruhig, die Oppositionsbewegungen haben die Wahlergebnisse jedoch in Zweifel gezogen. Spannungen im Nachgang zu den Wahlen erschütterten Uganda und die Demokratische Republik Kongo, wo der Wahlprozess heftig kritisiert wurde. In Burundi hat die politisch motivierte Gewalt seit den Wahlen im Sommer 2010 stark zugenommen. Abgesehen von den immer wieder aufflammenden Spannungen im Zusammenhang mit den Wahlergebnissen stehen dem Aufbau eines 2951

politisch stabilen und demokratischen Umfelds in der Region der Grossen Seen weiterhin auch strukturelle Herausforderungen im Weg. Dazu gehören die fehlende Rechtsstaatlichkeit, wiederholte Verstösse gegen die Menschenrechte, Straflosigkeit und ein problematisches Bodenrecht.

Im Rahmen der EDA-Strategie 2009­2012 für die Region der Grossen Seen leistet die Schweiz einen Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderungen, namentlich durch ihr regionales Programm zur Entwicklungszusammenarbeit, ihr friedenspolitisches Programm sowie ihre humanitäre Hilfe. Die Schweiz will zur Friedensförderung, zur Stabilität und zur Sicherheit in der Region beitragen, indem sie die regionale Integration sowie die institutionelle und soziale Entwicklung der drei Länder fördert. Ein besonderer Akzent liegt auf der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Überwachung der Wahlen, auf der Achtung der Menchenrechte, auf dem demokratischen Dialog und auf der Vergangenheitsarbeit. Angesichts der Bedeutung der Region Kivu in der Demokratischen Republik Kongo für einen nachhaltigen Frieden in der Region der Grossen Seen hat die Schweiz entschieden, ihr Engagement hier zu vertiefen.

Auf multilateraler Ebene präsidiert die Schweiz seit Juli 2009 die «BurundiKonfiguration» der UNO-Kommission für Friedenskonsolidierung. Sie stellt so ihre fundierten Kenntnisse zur politischen und gesellschaftlichen Lage in Burundi in den Dienst der UNO-Organisationen. Schweizer Expertinnen und Experten stehen in Burundi und der DRK für UNO-Missionen im Einsatz, insbesondere im Bereich der humanitären Minenräumung.

Ostafrika und das Horn von Afrika Das Horn von Afrika gehört zu den instabilsten Regionen Afrikas. Die mangelnde politische Stabilität im Allgemeinen und die Schwäche der staatlichen Institutionen Somalias im Besonderen, die immer wieder aufflammenden zwischenstaatlichen Konflikte und die Unabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Gebiete haben für die internationale Gemeinschaft drei weitreichende Folgen: Erstens verursachen die zahlreichen Fluchtbewegungen der Bevölkerungsgruppen, die durch die politische und humanitäre Lage in Mitleidenschaft gezogen wurden, einen starken Migrationsdruck in den Nachbarländern sowie im Nahen Osten und in Europa. Zweitens bietet die mangelnde Rechtsstaatlichkeit einen Nährboden für die Ausbreitung der Piraterie
im Golf von Aden, einer für den Welthandel strategisch wichtigen Seeverkehrsroute. Und drittens steigt durch den zunehmenden Extremismus, wie ihn die Al-Shabaab-Milizen verkörpern, die Gefahr einer geografischen Verlagerung des somalischen Konfliktes in Form terroristischer Anschläge in der Region und in der westlichen Welt. Die wiederholten Piratenüberfälle entlang der somalischen Küste, die Verschlechterung der humanitären Lage und der starke Migrationsdruck haben die internationale Gemeinschaft bewogen, sich aktiver für eine Stabilisierung der Region einzusetzen.

Das Engagement der Schweiz am Horn von Afrika ruht auf den zwei Säulen der humanitären Hilfe und der Friedensförderung. Angesichts der zunehmenden Zahl von Vertriebenen und der desolaten Ernährungssituation in der Region seit dem Sommer 2011 hat die Schweiz ihr humanitäres Engagement in Somalia, Äthiopien und Kenia verstärkt. Sie setzt sich zudem für die Friedensförderung ein, indem sie mehrere Projekte in den Bereichen Dialog und lokale Gouvernanz finanziert. Auch im Bereich der humanitären Minenräumung ist die Schweiz aktiv. Im Sinne eines

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verstärkten Engagements zugunsten einer Stabilisierung Somalias ist die Schweiz 2009 der «International Contact Group on Somalia» beigetreten.

Am 9. Juli 2011 wurde nach der Volksabstimmung vom Januar 2011 zur Unabhängigkeit des Südsudan, die 98,8 % der Abstimmenden befürworteten, der 55. afrikanische Staat gegründet. Die Grundlage bildeten die Bestimmungen des umfassenden Friedensabkommens von 2005 zwischen der sudanesischen Regierung und dem «Sudan People's Liberation Movement/Army» (SPLM/A). Die Schweiz hat den Südsudan zusammen mit der internationalen Gemeinschaft rasch als unabhängigen Staat anerkannt und über die Schweizer Botschaft in Äthiopien diplomatische und konsularische Beziehungen aufgenommen. Diese Abstimmung bedeutet einen wichtigen Fortschritt für die Beziehung der beiden Länder, die während Jahrzehnten von Konflikten geprägt war. Gleichzeitig bleiben zahlreiche Herausforderungen, die nur mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bewältigt werden können, wie die Grenzziehung zwischen dem Sudan und dem Südsudan, die Frage des umstrittenen Gebiets Abyei, finanzielle Aspekte sowie die Aufteilung von Vermögenswerten, Verbindlichkeiten, Erdölressourcen und Erdöleinnahmen.

Die Schweiz war im Sinne ihres Engagements für die Demokratieförderung, die Unterstützung von Friedensprozessen, den Schutz der Menschenrechte und das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker seit 1998 sowohl in Nord- als auch in Südsudan sehr aktiv. Als im Land Bürgerkrieg herrschte, trug die Schweiz zum Waffenstillstandsabkommen in den Nuba-Bergen bei, das nach der Unterzeichnung auf dem Bürgenstock 2002 den Weg zu einem Friedensabkommen zwischen Nord und Süd ebnete. Zu den Fragen, die es nach der Unabhängigkeit zu regeln gilt, bietet die Schweiz auf Anfrage der beiden Parteien seit Oktober 2010 fachliche Beratung zur Aufteilung der Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Staates, zur Verschuldung, zu Bankfragen und zu geldpolitischen Aspekten. Zudem unterstützt sie den Südsudan gezielt bei der Ausarbeitung eines Gesetzes zur Gründung einer Zentralbank und zur Schaffung einer neuen Währung. Schliesslich beraten die Schweizer Expertinnen und Experten den Norden und den Süden bei der Ausarbeitung neuer Verfassungen, falls sie dies wünschen. Die Humanitäre Hilfe des Bundes verfügt seit 2004 über
ein Programmbüro in Karthum und seit 2006 über ein Büro in Juba. Sie leistet hauptsächlich Nothilfe sowie Rückkehrhilfe für Flüchtlinge und intern Vertriebe in den beiden Ländern, unter anderem auch in Darfur. Schwerpunkte sind die Nahrungssicherheit, der Zugang zu Trinkwasser, die medizinische Versorgung und Schutzmassnahmen für die Zivilbevölkerung. Die Schweiz investiert ausserdem rund 1 Million Franken jährlich in Projekte für Nahrungssicherheit und Friedensmedien. Insgesamt wurden für den Sudan 2010 rund 75 Millionen Franken ausgegeben, 53 Millionen davon im Rahmen der obligatorischen Beiträge an die UNO-Einsätze (UNMISS und UNAMID). Im Rahmen ihres Engagements hat die Schweiz stets darauf geachtet, eine ausgewogene Haltung einzunehmen und sowohl den Norden als auch den Süden zu unterstützen.

West- und Zentralafrika Auch wenn gewisse Länder Fortschritte in den Bereichen gute Regierungsführung, Demokratie und Entwicklung erzielt haben, gehören West- und Zentralafrika noch immer zu den instabilsten Regionen der Welt. 2011 wurde die Region durch die Unruhen nach den Wahlen in Côte d'Ivoire und die kritische humanitäre Situation und Sicherheitslage in Libyen erschüttert. Die zunehmende Verarmung und die grosse Ernährungsunsicherheit werden durch den Klimawandel, wirtschaftliche 2953

Krisen, das Bevölkerungswachstum und die Migration zusätzlich verschlimmert.

Schlechte Regierungsführung in instabilen Staaten, politische Krisen, bewaffnete Konflikte und die Verbreitung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens in der Sahelzone bedrohen die Stabilität in der Region ebenfalls.

Die Schweiz will diese Herausforderungen in Angriff nehmen und das Potenzial der Region ausschöpfen, indem sie im Bestreben um eine optimale Wirkung verschiedene aussenpolitische Instrumente kombiniert, die sich ergänzen. Die Entwicklungszusammenarbeit der DEZA, die in den Bereichen ländliche Entwicklung, Bildung und Gouvernanz tätig ist, steht in Ländern wie Benin, Burkina Faso, Mali, Niger oder Tschad im Vordergrund. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit des SECO konzentriert sich auf Ghana. Die Humanitäre Hilfe handelt gezielt in Ländern, in denen aufgrund von Krisensituationen besonders grosse Not herrscht, wie dies zum Beispiel bei der Krise in Côte d'Ivoire der Fall war. Im Bereich menschliche Sicherheit hat die Schweiz 2006 ein Programm zur Friedensförderung lanciert, das sich auf Mali, Niger und Tschad konzentriert. Dieses Programm legt den Fokus auf das Gebiet des Sahels und der Sahara. Sie stellt zudem der UNO Polizei- und Zollexpertinnen und -experten zur Verfügung, insbesondere in Côte d'Ivoire (UNOCI) und Liberia (UNMIL). In Ghana ist sie aktiv im Rahmen ihrer militärischen Zusammenarbeit mit dem «Kofi Annan International Peacekeeping Training Centre» (KAIPTC). Die Schweiz ist auch in der humanitären Minenräumung aktiv. Im Bereich Migration schliesslich arbeitet sie weiter an der Umsetzung der Migrationspartnerschaft mit Nigeria.

Herausforderungen und Perspektiven Subsahara-Afrika besitzt Reichtümer und Potenziale, insbesondere eine junge Bevölkerung, Rohstoffe, wenig erschlossene landwirtschaftlich nutzbare Flächen, eine geografische Vielfalt und Möglichkeiten für die Entwicklung der Wirtschaft und des Tourismus. Trotzdem ist es dem Kontinent immer noch nicht gelungen, den Schlüssel zur Entwicklung zu finden. Die Schweiz muss eine überzeugende Entwicklungspolitik verfolgen, die in enger Zusammenarbeit mit den afrikanischen Ländern Antworten liefert in Bereichen wie Armutsbekämpfung, Folgen des Klimawandels, wirtschaftliche und institutionelle Schwächen und nachhaltige Nutzung der
Ressourcen des Kontinents. Dazu muss das Engagement der Schweiz in der Entwicklungszusammenarbeit und der Friedensförderung, das sich in die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft einfügt, auch die politischen Kontakte zu afrikanischen Entscheidungsträgern intensivieren und zu einem Umfeld beitragen, das sich positiv auf die Handelsbeziehungen auswirkt.

Zur Stärkung der bilateralen Beziehungen und der hochrangigen Kontakte zu afrikanischen Ländern verfügt die Schweiz mit ihrem Vertretungsnetz und dem internationalen Genf, das die meisten dieser politischen Entscheidungsträger regelmässig im Rahmen internationaler Konferenzen besuchen, über wertvolle Instrumente. Die erfolgreiche Durchführung des Frankophonie-Gipfels, der im Oktober 2010 in Montreux stattfand, bot ebenfalls Gelegenheit für eine solche Intensivierung des multi- und bilateralen Dialogs mit den afrikanischen Ländern.

Angesichts der schwierigen Ausgangslage, der sich Subsahara-Afrika zu Beginn dieses neuen Jahrtausends gegenübersieht, liegt es auch im Interesse der Schweiz, den afrikanischen Kontinent bei der Armutsbekämpfung und in seiner schwierigen

2954

Entwicklung weiter zu unterstützen und dazu beizutragen, dass Antworten auf die aktuellen Herausforderungen in den Bereichen Politik, Sicherheit und Wirtschaft gefunden werden.

2.2

Multilaterale Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik

Im Zuge der Globalisierung haben sich multilaterale Organisationen zunehmend zu Foren entwickelt, in denen Lösungsansätze für globale Herausforderungen formuliert und diskutiert werden. Dabei hat das UNO-System bei politischen Fragen in der Regel die Themenhoheit, während für wirtschaftliche Angelegenheiten die globalen Impulse im Wesentlichen von der G-20 ausgehen.

Vor diesem Hintergrund sind multilaterale Organisationen zunehmend wichtige Instrumente der schweizerischen Aussenpolitik. Sie erlauben es, in einem strukturierten Umfeld Themen von globalem und regionalem Interesse zu diskutieren und nach Lösungen zu suchen, die von einer grösstmöglichen Anzahl von Ländern mitgetragen werden. Es ist wichtig, dass die Schweiz die internationalen Diskussionen mitverfolgt und sich in den multilateralen Dialog einbringt, besonders in Foren, die der internationalen Meinungsbildung dienen. Dadurch schafft sie sich zusätzliche Optionen der Einflussnahme in Bereichen, die für ihre Aussenpolitik von Bedeutung sind.

Unter dem Eindruck der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zeigte sich die Wichtigkeit internationaler Gremien, die sich mit globalen Wirtschafts-, Finanz- und Währungsfragen befassen. In diesem Bereich hat die Schweiz ein besonderes Interesse, sich einzubringen und auf Entwicklungen und Entscheide Einfluss zu nehmen.

Ebenso wichtig ist die Einflussnahme in den Organisationen des UNO-Systems, wo Entscheide getroffen werden, die die Schweiz und ihre aussenpolitischen Interessen massgeblich betreffen. Daneben gilt es, durch das Mitwirken bei Organisationen regionaler und thematischer Ausrichtung spezifischen Anliegen der Schweiz Geltung zu verschaffen und das aussenpolitische Kontaktnetz zu erweitern.

2.2.1

UNO und internationale Strafjustiz

Aktuelle Entwicklungen und Engagement der Schweiz Am Weltgipfel 2005 hatten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine Reformagenda geeinigt, welche weiterhin Einfluss auf alle drei Pfeiler der UNO-Aktivitäten hat: Auf dem Gebiet des Friedens und der Sicherheit sind Reformschritte vor allem bei der Friedenskonsolidierung und -förderung zu verzeichnen. Die entsprechenden Mechanismen und Instrumente, namentlich die UNO-Kommission zur Friedenskonsolidierung, wurden in den vergangenen Jahren weiterentwickelt und ausgebaut. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit haben sich die Mitgliedstaaten im vergangenen Jahr auf einen Aktionsplan geeinigt, der die Umsetzung der MillenniumsEntwicklungsziele bis 2015 gewährleisten soll. Zudem wird im Juni 2012 eine UNO-Konferenz über nachhaltige Entwicklung («Rio+20») stattfinden. Beim dritten Pfeiler, den Menschenrechten, stand die Überprüfung des UNO-Menschenrechtsrates im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der 2006 geschaffene Menschenrechtsrat hat damit eine erste Bewährungsprobe überstanden.

2955

Angesichts der stetig zunehmenden Interdependenzen und der damit einhergehenden Verletzlichkeit in der heutigen Welt stellt sich auch die Frage nach der Rolle der UNO bei der Lösung globaler Probleme neu. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Grenzen der Entscheidungsfähigkeit der UNO aufgezeigt. Die Organisation kann aufgrund ihrer thematischen und geografischen Universalität zwar Entscheidungen hervorbringen, die unbestrittene Legitimität geniessen und deshalb günstige Voraussetzungen für die innerstaatliche Umsetzung schaffen.

Gleichzeitig ist sie aber ­ etwa im Gegensatz zur G-20 ­ nur begrenzt in der Lage, rasche Entscheide zu fällen. Die Herausforderung der internationalen Staatengemeinschaft besteht deshalb darin, Steuerungsentscheidungen verschiedener globaler Akteure aufeinander abzustimmen und die Kohärenz dieser Entscheidungen zu erhöhen. Die informelle zwischenstaatliche Gruppe «Global Governance Group» (3G), der auch die Schweiz angehört, verfolgt das Ziel, die Stellung der UNO in diesem Abstimmungsprozess zu stärken.

Joseph Deiss, der Präsident der 65. UNO-Generalversammlung, hatte die Frage der globalen Gouvernanz zum Leitmotiv seiner Amtszeit erhoben. Während seiner Präsidentschaft gelang es ihm, zahlreiche konkrete und erfolgreiche Beiträge zur engeren Koordination zwischen der UNO und der G-20 zu leisten. Präsident Deiss trug auch in anderen Themenfeldern erfolgreich dazu bei, die UNO als globalen Akteur zu stärken. Seine Präsidentschaft bot eine günstige Gelegenheit, um das Profil der Schweiz als aktives und innovatives UNO-Mitglied weiter zu schärfen und zu entwickeln. Das positive Image der Schweiz innerhalb der UNO ist ein guter Ausgangspunkt für die Kampagne, die es für die Schweizer Sicherheitsratskandidatur 2023/24 zu führen gilt. Dennoch stehen zahlreiche Herausforderungen an, nicht zuletzt die innenpolitische Verankerung der Kandidatur, damit die Schweiz 2022 für zwei Jahre in den Sicherheitsrat gewählt werden kann.

Auch im Hinblick auf die Sicherheitsratskandidatur sind Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit zwei Schweizer Qualitäten, die es zu bewahren gilt. Eine klare und längerfristig gültige Prioritätensetzung ist dabei ein wichtiges Element. Die Berichterstattung in den folgenden Abschnitten fokussiert auf die Prioritäten der Schweizer UNO-Politik
innerhalb der oben genannten Hauptpfeiler der UNO-Aktivitäten.

Daneben engagierte sich die Schweiz in der Berichtsperiode insbesondere für eine starke und effektive internationale Strafjustiz sowie die ständige Verbesserung der Managementkapazitäten und der Effizienz des UNO-Systems. Im gesamten multilateralen Bereich setzt die Schweiz zudem ihre traditionellen Schwerpunkte bei der Förderung des «Internationalen Genf» sowie bei der Präsenz von Schweizerinnen und Schweizern in internationalen Organisationen.

Frieden und Sicherheit Reform des UNO-Sicherheitsrats: Die Diskussion über die Reform des Sicherheitsrats hat in der jüngeren Vergangenheit an Bedeutung gewonnen. Der zunehmende wirtschaftliche und politische Einfluss von Staaten wie Brasilien, Indien oder Südafrika haben die Überzeugung vieler Mitgliedstaaten verstärkt, dass der Sicherheitsrat die heutigen geopolitischen Realitäten unzureichend abbildet. Die Gemeinsamkeiten enden jedoch, wenn es darum geht, die zukünftige Zusammensetzung des Sicherheitsrates zu konkretisieren. Im Sinne eines Kompromisses unterstützt die Schweiz eine Zwischenlösung, die die Schaffung einer neuen Kategorie nichtständiger Sitze mit verlängerter Mandatsdauer vorsieht. Das primäre Interesse der Schweiz gilt jedoch weiterhin der Reform der Arbeitsmethoden des Rates. In einer 2956

gemeinsamen diplomatischen Initiative mit Costa Rica, Jordanien, Liechtenstein und Singapur (Small Five, S-5) versucht die Schweiz, erhöhte Transparenz und den verbesserten Einbezug der Gesamtheit der UNO-Mitgliedstaaten in die Arbeit des mächtigsten Entscheidungsorgans der UNO zu bewirken.

Terrorismusbekämpfung: Seit dem 11. September 2001 steht die Terrorismusbekämpfung weit oben auf der Agenda der UNO. Die Schweiz ist in diesem Bereich ein aktives und innovatives Mitglied und hat in den vergangenen Jahren insbesondere zur Umsetzung der «Globalen Strategie der UNO zur Terrorismusbekämpfung» beigetragen. Zusammen mit Deutschland, Österreich, Norwegen, der Türkei und den USA unterstützt sie von 2010 bis 2012 eine Initiative zur besseren regionalen Umsetzung der Globalen Strategie, schwergewichtig in Asien und Afrika. Ihr ausgewogenes Engagement hat es der Schweiz erlaubt, auch die Beachtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit im Kampf gegen den Terrorismus mit dem nötigen Gewicht zu thematisieren. Nachdem die Schweiz bereits Mitglied der Aktionsgruppe zur Terrorismusbekämpfung der G-8 war (Counter Terrorism Action Group, CTAG), wurde sie nunmehr eingeladen, im dem von den USA im September 2011 lancierten Global Counter-Terrorism Forum (GCTF) mitzuwirken. Dieses blockübergreifende Forum setzt sich aus 29 Staaten und der EU zusammen und hat zum Ziel, die nationale Leistungsfähigkeit bei der Bekämpfung des Terrorismus zu fördern. Die Einladung an die Schweiz ist ein Zeichen der Anerkennung ihres Engagements bei der Umsetzung der Globalen Strategie zur Terrorismusbekämpfung der UNO. Die Schweiz wird sich auch im Rahmen dieses Forums für die Beachtung der Menschenrechte sowie für eine enge Anbindung der Aktivitäten an die UNO stark machen, um Doppelspurigkeiten und Konflikte mit den Tätigkeiten der UNO zu vermeiden.

Sanktionen gegen Al-Qaida und die Taliban: In den vergangenen Jahren wurde der Einhaltung der Menschenrechte und der Fairness im Rahmen gezielter Sanktionen des Sicherheitsrats gegen Individuen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Zahlreiche Mitgliedstaaten sahen sich bei der Umsetzung dieser Sanktionen mit Schwierigkeiten konfrontiert, namentlich im Rahmen von Beschwerden vor nationalen und europäischen Gerichten. Aus diesem Grund setzt sich die Schweiz gemeinsam mit gleichgesinnten
Staaten seit 2005 für eine Verbesserung der Verfahrensgarantien für die Betroffenen ein. Ein wichtiger Etappenerfolg konnte im Dezember 2009 mit der Schaffung einer Ombudsstelle erzielt werden, welche Beschwerden von betroffenen Personen entgegennehmen kann. Im Rahmen der Erneuerung des Sanktionsregimes gegen Al Kaida und die Taliban im Juni 2011 wurde das Mandat dieser Ombudsstelle gestärkt.

Kommission für Friedenskonsolidierung: Zurzeit befasst sich die Kommission für Friedenskonsolidierung mit Burundi, Guinea-Bissau, der Zentralafrikanischen Republik, Sierra Leone, Liberia und Guinea Conakry. Die Schweiz legt das Schwergewicht allgemein auf ein koordiniertes und integriertes Vorgehen bei der Friedenskonsolidierung, d.h. auf den Einbezug der Akteure der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Friedenssicherung. Unser Land war an der Überprüfung der UNO-Strukturen für Friedenskonsolidierung beteiligt, die im Jahr 2010 stattgefunden hat. Seit 2009 hat die Schweiz den Vorsitz der BurundiKonfiguration inne. Zudem hat die Schweiz einen finanziellen und materiellen Beitrag zur Erarbeitung des unabhängigen Berichts der hochrangigen Expertengruppe über zivile Kapazitäten in Post-Konflikt-Situationen (Civilian Capacities Review) geleistet.

2957

Internationale Friedensoperationen: Mit 120 000 Personen in rund 15 Missionen sind die Friedensoperationen auch weiterhin ein zentraler Bereich der UNO-Tätigkeit und ein unverzichtbares Instrument zum Erhalt des Friedens und der internationalen Sicherheit. Im Jahr 2011 verschärften sich die Spannungen in den Diskussionen um die Friedensmissionen und verzögerten oder blockierten verschiedene Verhandlungen. Diese Auseinandersetzungen, bei denen es um die Übereinstimmung von Mandat und Mitteln sowie um die Höhe der Entschädigung für die entsandten Truppen geht, gefährden die weltweite Partnerschaft zwischen truppenstellenden Staaten und Ländern, die die Friedenssicherung mit Geld unterstützen. Die vom Sekretariat der UNO eingeleiteten grundlegenden Reformen zur Lösung eines Teils dieser Probleme werden weitergeführt. Gemäss UNO-Statistik hat die Schweiz 2011 siebzehn Armee- und Polizeiangehörige entsandt und liegt damit auf Rang 100 der Geberstaaten. Seit August 2011 ist der stellvertretende Stabschef der UNOOrganisation zur Überwachung des Waffenstillstands im Nahen Osten ein Schweizer. Dazu kommt eine zivile Beteiligung an einzelnen Missionen. Der Bundesrat hat in seinem Armeebericht 2010 vom 1. Oktober 201020 die Absicht geäussert, mehr Schweizer Armeeangehörige für militärische Friedenseinsätze zur Verfügung zu stellen und so die Chancen der Schweiz auf hochrangige politische Ämter bei Friedensoperationen zu verbessern. Bei den Verhandlungen und Diskussionen um die Zukunft der UNO-Friedensmissionen spielt die Schweiz weiterhin eine aktive Rolle.

Menschenrechte UNO-Menschenrechtsrat: Die Schweiz bewertet die Arbeit des UNO-Menschenrechtsrats im Jahr 2011 als positiv. Seit den Ereignissen Anfang 2011 entwickelten sich die Diskussionen im Rat konstruktiver. Mit den drei Sondertagungen im Jahr 2011 (Libyen, zweimal Syrien) und wichtigen Entscheiden zu verschiedenen anderen Problemen (Côte d'Ivoire) und heiklen Themen (sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, friedliche Demonstrationen) hat der Rat gezeigt, dass er in der Lage ist, auf schwere Menschenrechtsverletzungen rasch und angemessen zu reagieren. Die Schweiz hat die Einberufung dieser drei Sondertagungen aktiv unterstützt.

Im Fall Libyens hat die UNO-Generalversammlung zum ersten Mail ein Mitgliedstaat wegen schwerwiegenden und
systematischen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Lang aus dem Rat ausgeschlossen. Damit hat die UNO ein wichtiges Signal an heutige und potenzielle Menschenrechtsverletzer gesendet. Fünf Jahre nach Einsetzung des Rates hat die UNO-Generalversammlung die Evaluation des Rates abgeschlossen und seine Aufgaben bestätigt. In diesen Verhandlungen hat sich die Schweiz sehr aktiv für die Schaffung eines Büros der Präsidentin oder des Präsidenten des Menschenrechtsrates eingesetzt, um die institutionelle Kontinuität und ein professionelles Präsidium zu gewährleisten. Aus Sicht der Schweiz ist das Ergebnis dieses Prozesses insgesamt positiv, denn es konnten technische und pragmatische Anpassungen bei den Arbeitsmethoden des Rates ­ namentlich bei der allgemeinen regelmässigen Überprüfung ­ vorgenommen werden, ohne dass die Mechanismen des Rates geschwächt wurden.

Die Mitgliedschaft der Schweiz im Menschenrechtsrat dauert noch bis ins Jahr 2013.

2011 lancierte unser Land überregionale Initiativen zu folgenden Themen: zur Verabschiedung einer UNO-Erklärung über Menschenrechtsbildung, zu Umwelt und Menschenrechten, zur Einführung eines Sonderverfahrens über das Recht auf Wahr20

BBl 2010 8871

2958

heit, das Recht auf Gerechtigkeit, das Recht auf Wiedergutmachung und die Garantie der Nichtwiederholung. Zudem beschloss der Rat auf Initiative der Schweiz, eine Podiumsdiskussion über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte bei friedlichen Demonstrationen durchzuführen (siehe Ziff. 2.3.2).

UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte: Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte hat seit dem UNO-Weltgipfel 2005 eine Wachstumsphase hinter sich, während derer sich das reguläre Budget verdoppelt hat. Es bezieht aber nach wie vor knapp zwei Drittel seines Budgets aus freiwilligen Beiträgen der Mitgliedsstaaten. Dies setzt das Hochkommissariat der Kritik aus, dass es in erster Linie den überwiegend westlichen Geldgebern gehorcht. Gewisse Staaten des Südens engagieren sich deshalb dafür, das Hochkommissariat einer stärkeren Kontrolle durch den Menschenrechtsrat unterzuordnen und so im intergouvernementalen Rahmen grösseren Einfluss auf thematische Prioritäten, Ländereinsätze und personelle Zusammensetzung des Hochkommissariats zu nehmen. Die Schweiz als Gastland des Hauptsitzes und als einer der fünfzehn grössten Geldgeber setzt sich stark für die Unabhängigkeit des Hochkommissariats ein, bemüht sich aber auch darum, dieses zu einer transparenteren und strategischeren Kommunikation mit den Staaten zu bewegen.

Internationale Gerichtsorgane Weltweite Tendenzen: Fast zehn Jahre nach Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) nimmt die internationale Strafgerichtsbarkeit einen immer wichtigeren Platz in den internationalen Beziehungen ein. Die internationale Gemeinschaft anerkennt, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit eine Vorbedingung für einen dauerhaften Frieden darstellt. Der Sicherheitsrat beschloss in seiner einstimmig verabschiedeten Resolution 1970 (2011), die Situation in der arabischen Jamahiriya in Libyen dem ICC zu übergeben. Dank dieser Massnahme konnte der Chefankläger in einer Krisensituation sehr früh aktiv werden.

Was die internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfe, d.h. den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR), betrifft, ist die Verhaftung aller vom ICTY gesuchten mutmasslichen Urheber von Völkerrechtsverletzungen sehr zu begrüssen. Im Hinblick auf die Schliessung der beiden
Gerichtshöfe beschloss der UNO-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1966 (2010), einen internationalen Residualmechanismus zur Erledigung der verbleibenden Aufgaben der Tribunale zu schaffen.

Anlässlich der Konferenz zur Überprüfung des Römer Statuts, die im Juni 2010 in Kampala (Uganda) stattfand, wurde eine internationale Definition für das Verbrechen der Aggression ausgearbeitet, die in die Gerichtsbarkeit des ICC aufgenommen wurde. Nach diesem historischen Ereignis geht es jetzt darum, den in Kampala erzielten Konsens vollumfänglich zu erhalten. Trotz dieser Fortschritte ist es noch keineswegs sicher, dass die Strafjustiz erfolgreich sein wird. Eine der grössten Herausforderungen für den ICC besteht in der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, ohne die er seine Aufgaben nicht lösen und seinen Auftrag nicht voll erfüllen kann.

Aktivitäten der Schweiz: Die Schweiz wird sich weiterhin für den Kampf gegen die Straflosigkeit und für einen ICC einsetzen, der in der Lage ist, das wichtige Mandat zu erfüllen, das ihm von den Staaten übertragen wurde. Die Schweiz ist überzeugt, dass der ICC möglichst weltweit abgestützt sein muss. Daher bemüht sie sich wei2959

terhin um eine universelle Ratifizierung des Römer Statuts und fordert die Mitgliedstaaten auf, es ihr gleichzutun. Um schwerste Verbrechen besser verfolgen zu können, änderte die Schweiz ihr Strafgesetzbuch21. Die Anpassungen traten am 1. Januar 2011 in Kraft. Die wichtigsten Änderungen betreffen die Aufnahme der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Präzisierung der Kriegsverbrechen, eine Neuaufteilung der Zuständigkeiten zwischen zivilen und militärischen Behörden und die Aufhebung des «engen Bezugs» als Voraussetzung für die universelle Zuständigkeit bei Kriegsverbrechen.

An der 10. Versammlung der Vertragsstaaten des Römer Statuts im Dezember 2011 soll die Schweiz wiederum eines der beiden Vizepräsidien für drei Jahre übernehmen. Daneben setzt sich die Schweiz insbesondere für die Wahl eines Chefanklägers ein, der über grosses Ansehen, fundierte Kenntnisse und viel Erfahrung verfügt.

Wahrscheinlich wird die heutige stellvertretende Chefanklägerin Fatou Bensouda (Gambia) in dieses Amt gewählt. Die Schweiz unterstützt auch die Wahl von unabhängigen Richterinnen und Richtern. Sie empfiehlt, den finanziellen Beitrag an den ICC nicht zu reduzieren, damit dieser seinem Auftrag gerecht werden kann. Ausserdem präsidierte sie die Arbeitsgruppe zu den Zusatzartikeln.

Internationaler Gerichtshof (IGH): Ende 2009 reichte Belgien eine Klage gegen die Schweiz wegen Völkerrechtsverletzungen beim Konkursverfahren von Sabena und Swissair ein. Im Februar 2011 machte die Schweiz geltend, die Voraussetzungen für ein Verfahren seien nicht gegeben, da insbesondere kein Rechtsstreit zwischen zwei Staaten vorliege. In der Folge verzichtete Belgien auf eine Fortsetzung des Verfahrens. Der IGH erliess am 5. April 2011 eine Einstellungsverfügung. Damit ist beim IGH kein Verfahren gegen die Schweiz mehr hängig.

Management und Finanzierung der UNO Am Weltgipfel von 2005 hatten sich die Staats- und Regierungschefs zum Ziel gesetzt, das UNO-Sekretariat zu reformieren. Nach sechs Jahren kann folgende Bilanz gezogen werden: Es gab zwar erfreuliche, aber ungenügende Fortschritte. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten ist leider nicht bereit, dem Generalsekretariat moderne Managementinstrumente in die Hand zu geben, die es ihm erlauben würden, rasch auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und verfügbare Ressourcen
flexibler einzusetzen.

Die Schweiz ist sehr aktiv im 5. Ausschuss der UNO-Generalversammlung, der sich mit Management- und Budgetfragen der UNO befasst. Ein Höhepunkt war der Schweizer Vorsitz in diesem Ausschuss während der 64. Generalversammlung (2009­2010). Die Schweiz ist seit Jahren bemüht, die Diskussion über moderne und effiziente Managementmethoden zu versachlichen und deren Vorteile aufzuzeigen.

Sie strebt einen transparenteren, rationelleren und stärker strategiegeleiteten Budgetprozess der UNO an. Auch in der Genfer Gruppe, einem Koordinationsorgan der sechzehn wichtigsten Beitragszahler der UNO, setzt sich die Schweiz für ihre prioritären Ziele ein.

Trotz einer leichten Senkung des Beitragssatzes per 1. Januar 2010 zählt die Schweiz weiterhin zu den grossen Beitragszahlern der UNO (Rang 16, Beitragssatz 1,13 %). In absoluten Zahlen haben ihre Beiträge zugenommen. Sie betrugen über die letzten vier Jahre im Mittel 128 Millionen Franken pro Jahr, was vor allem auf 21

AS 2000 2725; BBl 1999 5327

2960

die deutlich höheren Kosten der Friedenssicherungseinsätze und der politischen Sondermissionen der UNO zurückzuführen ist. Aber aufgrund der Weltwirtschaftskrise besteht eine Tendenz zur Verlangsamung des Wachstums des UNO-Budgets.

Die Schweiz als Gaststaat internationaler Organisationen Die Schweiz verfügt über eine langjährige Tradition als Gaststaat internationaler Organisationen. Von den 25 Organisationen, mit denen die Schweiz ein Sitzabkommen abgeschlossen hat, befinden sich 22 in Genf, 2 in Bern und eine in Basel. Genf ist neben New York eines der beiden grossen Zentren der multilateralen Zusammenarbeit. Die Zahl der in Genf vertretenen Staaten (169 ständige Missionen waren es 2011) belegt die Anziehungskraft des «internationalen Genf». Damit verleiht Genf der Schweiz ein ausserordentliches politisches Gewicht und spielt bei der Umsetzung der Ziele der Schweizer Aussenpolitik eine wesentliche Rolle.

Die Gaststaatpolitik der Schweiz stützt sich gemäss dem Gaststaatgesetz vom 22. Juni 200722 und der Gaststaatverordnung vom 7. Dezember 200723 auf zwei Instrumente: die Immobilienstiftung für die internationalen Organisationen (FIPOI) und den Gaststaatkredit. Zudem verabschiedete der Bundesrat am 6. Juni 201124 die Verordnung über die privaten Hausangestellten (PHV), die am 1. Juli 2011 in Kraft trat. Sie stützt sich auf das Gaststaatgesetz und strebt mehr Transparenz und klarere Regeln an, damit Missverständnisse und Streitigkeiten zwischen Angestellten und Arbeitgebenden möglichst reduziert werden. Die Schweiz bietet den Mitarbeitenden der hier niedergelassenen Organisationen attraktive Arbeits- und Lebensbedingungen. Trotzdem ist sie mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, wie etwa zunehmende internationale Konkurrenz, Universalität, materielle Forderungen und angespannter Immobilienmarkt.

Um die Universalität des internationalen Genf zu fördern, beschloss der Bundesrat am 29. Juni 2011 einen jährlichen Beitrag des Bundes von 4 Millionen Franken an die Mietkosten internationaler Organisationen. Am gleichen Tag entschied der Bundesrat auch, dass sich die Schweiz an der Renovation des Palais des Nations in Genf gemäss dem von der UNO erstellten Renovationsplan (Strategic Heritage Plan) beteiligt.

Präsenz der Schweiz in den internationalen Organisationen Die Schweiz ist seit bald
zehn Jahren Mitglied der UNO und wurde in den repräsentativen Organen des UNO-Systems und in den anderen internationalen Organisationen immer respektiert. Sie gilt allgemein als kompetent, engagiert und glaubwürdig.

Im Jahr 2011 äusserte sich die Präsenz der Schweiz in den repräsentativen Organen wie folgt:

22 23 24

­

Joseph Deiss beendete sein Präsidium der UNO-Generalversammlung.

­

Die Kandidatur der Schweiz für den Sicherheitsrat für die Periode 2023­ 2024 wurde der Gruppe der westeuropäischen und anderen Staaten (WEOG) im Januar 2011 offiziell unterbreitet.

­

Die Schweiz ist zum ersten Mal aktives Mitglied des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC). Das Mandat läuft noch 2012.

SR 192.12 SR 192.121 SR 192.126

2961

­

Als Nachfolger von Helen Keller, die nach ihrer Wahl zur Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Ende September 2011 aus dem UNO-Menschenrechtsausschuss zurücktrat, ernannte die Schweiz Professor Walter Kälin bis zum Ablauf des ordentlichen Mandats 2014. Patricia Schulz ist seit dem 1. Januar 2011 Mitglied des Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau. Die Schweiz ist zum ersten Mal in diesem Ausschuss vertreten.

­

Luzius Caflisch wurde im November 2011 für weitere fünf Jahre (ab 1. Januar 2012) in die UNO-Völkerrechtskommission gewählt.

­

In der Weltorganisation für Meteorologie empfahl der Finanzausschuss dem Exekutivrat den Schweizer Kandidaten Kurt Grüter für das Amt des externen Rechnungsprüfers. Der Exekutivrat ernannte die Schweiz offiziell zur externen Auditorin.

­

Im Gesundheitsbereich wurde Awilo Ochieng Pernet im Juli 2011 zu einer der drei Vizepräsidentinnen der Kommission für den Codex Alimentarius gewählt.

Schweizerinnen und Schweizer im Sekretariat der UNO und in anderen Exekutivorganen Mit der Bereitstellung und Förderung qualifizierten Schweizer Personals verleiht die Schweiz nicht nur ihrem Engagement erhöhte Sichtbarkeit, sondern sie entspricht damit auch der Nachfrage des UNO-Sekretariats nach leistungsfähigen und fachlich geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten. 2011 sind im ganzen UNO-System über 94 000 Personen beschäftigt, davon rund 40 000 beim Sekretariat und den daran angehängten Organisationseinheiten. Das Sekretariat der UNO unterscheidet dabei zwischen Stellen, die international ausgeschrieben werden und einen Universitätsabschluss voraussetzen (Professionals) und solchen, die durch Lokalpersonal vor Ort besetzt werden (General Service). Bei den international ausgeschriebenen Stellen liegt der Schweizer Anteil bei 1,1 %, was in etwa den finanziellen Beiträgen der Schweiz und der Grösse des Landes entspricht.25 Präsenz der Schweiz in internationalen Organisationen (Stand 30. Juni 2011)26: Gesamtes Personal Total

Sekretariat UNO Gesamtes UNO-System Total internationale Organisationen

P*

D**

22 817 94 433

7 918 36 023

623 3410

135 230

56 358

4761

Schweizer Personal

Anteil Schweiz

Total

P*

D**

P*

D**

238 965

103 401

5 33

1,30 % 1,11 %

0,80 % 0,96 %

1536

692

72

1,22 %

1,51 %

* Professionals ** Direktoren

25

26

Der Verteilschlüssel für die geografische Verteilerquote setzt sich aus drei Faktoren zusammen. Zu 40 % wird die Mitgliedschaft eines Staates bei der UNO gewertet, zu 55 % die Höhe der Beitragszahlungen und zu 5 % die Bevölkerungszahl eines Mitgliedstaates.

Die Schweiz liegt zurzeit auf Rang 16, was die finanziellen Beiträge an die UNO betrifft.

Quelle: Erhebung der Politischen Abteilung 3 des EDA.

2962

Partnerschaft mit der Schweizer Zivilgesellschaft und der UNO Eine intensive Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft im Allgemeinen und ihren dynamischsten Kreisen im Besonderen ist sowohl der Qualität als auch der Legitimität der Arbeit der UNO förderlich. In diesem Sinn pflegt das EDA Beziehungen mit Schlüsselakteuren aus der Zivilgesellschaft, wobei die Schwerpunkte bei der Jugend, den Hochschulen und der «Gesellschaft Schweiz-UNO» liegen.

2.2.2

Schweizer Vorsitz des Frankophoniegipfels

Die Schweiz ist seit 1996 Vollmitglied der Organisation internationale de la Francophonie (OIF). Vom 22. bis 24. Oktober 2010 war sie Gastgeberin des Frankophoniegipfels in Montreux. Der Gipfel, an dem Delegationen von 70 Mitgliedsländern teilnahmen und der von 38 Staats- und Regierungschefs, Vertreterinnen und Vertretern von 82 internationalen Organisationen und fast 700 Journalistinnen und Journalisten besucht wurde, war für die Schweiz ein grosser diplomatischer Erfolg.

Der Gipfel war den «Herausforderungen und Zukunftsvisionen für die Frankophonie» gewidmet. Unter diesem Titel diskutierten die Staats- und Regierungschefs über drei Hauptthemen: 1.

Die Frankophonie als Akteurin der internationalen Beziehungen und ihre Rolle in der internationalen Gouvernanz

2.

Die Frankophonie und die nachhaltige Entwicklung: Die frankophone Solidarität vor grossen Herausforderungen (insbesondere Nahrungssicherheit, Klimawandel, biologische Vielfalt)

3.

Französisch und Bildung in einer globalisierten Welt: Die Herausforderungen von Diversität und Innovation.

Der Gipfel hat zudem die Erklärung von Montreux und 9 Resolutionen verabschiedet, in denen die Mitglieder ihren Willen bekräftigen, die Position der Frankophonie auf internationaler Ebene zu stärken.

Seit dem Gipfel von Montreux hat die Schweiz im Rahmen der Frankophonie drei Präsidien inne: ­

den Vorsitz des Frankophoniegipfels bis zum 14. Gipfel in Kinshasa im Jahr 2012;

­

den Vorsitz der Ministerkonferenz bis Dezember 2011;

­

den Vorsitz der politischen Kommission des Ständigen Rates bis zum März 2013.

Für diese Präsidien hat sich die Schweiz namentlich folgende Ziele gesetzt: ­

Stärkung der Frankophonie als Akteurin internationaler Beziehungen und als Ort der Verständigung über die grossen Herausforderungen der Weltgouvernanz;

­

Umsetzung der drei am Gipfel von Montreux eingebrachten Initiativen, nämlich die Bildung von frankophonen Botschaftergruppen in den Hauptstädten, die Umsetzung des Exzellenznetzes Ingenieurwissenschaften der Frankophonie (RESCIF), das von der ETH Lausanne angeregt wurde, und

2963

die Förderung der Auseinandersetzung über die Verständigung der Kulturen in unseren Gesellschaften; ­

Begleitung der Demokratischen Republik Kongo bei den Vorbereitungen für den 14. Gipfel mit der Übergabe eines Handbuchs für Gipfelorganisatoren und dem Transfer von Kompetenzen an bilateralen Treffen zu technischen Fragen.

Auf Initiative der Schweiz wurde anlässlich der Ereignisse des arabischen Frühlings, die auch die Frankophonie im Mittelmeerraum und in Afrika betreffen, im Rahmen der hochrangigen Tagung der 66. UNO-Generalversammlung vom 20. September 2011 in New York ein informelles Treffen der Frankophonie auf Ministerebene organisiert. Mit dieser Aktion zugunsten der Demokratie und der Rechte und Freiheiten sollte ­ ganz im Sinn der am Gipfel von Montreux eingegangenen Verpflichtungen ­ anhand der politischen Umwälzungen in Nordafrika aufgezeigt werden, welche Bedeutung den Werten der Frankophonie zukommt und welche Rolle sie bei der weltweiten Gouvernanz spielen kann. Es ging darum, den Beitrag der Frankophonie zur Friedensförderung sowie ihre Unterstützung bei der Lösung von Krisen und Konflikten zu verstärken und ihre Erfahrungen, ihre Besonderheiten und ihre Kenntnisse der Situation vor Ort zu nutzen.

2.2.3

Wirtschaftspolitischer Multilateralismus (G-20, FSB, OECD, IWF)

G-20 Die G-20, ein informeller Zusammenschluss von 19 der grössten Industrie- und Schwellenländer und der EU, der seit 1999 existiert und im Zuge der Finanzkrise neue Dynamik gewann, hat sich als das führende Forum für die globale Wirtschaftsund Finanzpolitik etabliert. Auch wenn die G-20 seit 2010 an Schlagkraft eingebüsst hat, bestimmte sie auch im Berichtsjahr die Agenda der wichtigsten Fachorganisationen, wie IWF, Financial Stability Board (FSB), OECD, Financial Action Task Force (FATF) usw., in substanziellem Ausmass mit. Zusätzlich zur umfassenden Überarbeitung der Finanzmarktregulierung ab 2008 kamen rasch die globalen finanziellen Ungleichgewichte und internationale Währungsfragen als Themen der G-20 hinzu. Seither, insbesondere auch unter der G-20-Präsidentschaft Frankreichs, welche bis November 2011 dauerte, ist die Themenpalette noch breiter geworden ­ auch Wachstumspolitik, Arbeitsnormen, Handel, Energie, Rohwaren, Landwirtschaft, Antikorruption und Entwicklung werden in unterschiedlicher Intensität behandelt.

Am Gipfeltreffen von Cannes am 3./4. November 2011 wurden einige wichtige Entscheidungen getroffen. So wurden insbesondere die Eigenmittelregeln für die Banken gemäss Basel-III um Zuschläge für die globalen, systemrelevanten Grossbanken ergänzt.

Die Schweiz, auch als Nicht-Mitglied der G-20 in hohem Masse von deren Entscheidungen betroffen, hat im Berichtsjahr ihre Strategie der indirekten Einflussnahme fortgeführt. Anstrengungen dahingehend wurden im Rahmen der Besuchsdiplomatie und über multilaterale und informelle Kanäle noch systematischer wahrgenommen. Die interdepartementale Arbeitsgruppe G-20, 2011 geleitet vom SECO und mit Vertreterinnen und Vertretern von EDA, EFD, EVD und SNB, hat vor allem auf drei Arten gewirkt: 2964

Positionierung zur G-20-Agenda: Es wurde eine detaillierte schweizerische Haltung zu den Prioritäten des französischen Vorsitzes formuliert. Den Fokus hat die Schweiz auf die Themen globales Finanzsystem, Gouvernanz des IWF, Rückführung von illegal erworbenen Vermögenswerten und Rohwarenhandel gelegt und der G-20 dazu konstruktive Positionspapiere unterbreitet. Des Weitern lud die Schweiz am 19. September 2011 eine Reihe von G-20-Mitgliedern zu einem Seminar über die Verknüpfung zwischen physischem Rohwarenhandel und Finanzdienstleistungen nach Genf ein.

Gouvernanzfragen: Der grundlegende Legitimitätsmangel der G-20 und die problematische Neigung dieser Gruppe, Vorentscheidungen für Fragen im Kompetenzbereich von internationalen Organisationen zu treffen, hat die Schweiz dazu veranlasst, im internationalen Umfeld stärker auf Gouvernanzfragen aufmerksam zu machen.

Im UNO-Kontext erfolgte dies auch durch die aktive Mitgliedschaft in der «Global Governance Group» (3G), einer informellen Staaten-Gruppe mit beinahe dreissig Mitgliedern. Im Juni 2011 wurde ein von der Schweiz initiiertes 3G-Papier über die Interaktion zwischen der G-20 und internationalen Organisationen als offizielles UNO-Dokument veröffentlicht. Des Weitern wurde auf Initiative von alt Bundesrat Joseph Deiss als Präsident der 65. UNO-Generalversammlung vor und nach dem G-20-Gipfeltreffen in Seoul Ende 2010 eine Debatte in der Generalversammlung zu Gouvernanzfragen durchgeführt. Die Schweiz erachtet es als wichtig, dass dieser Dialog zwischen den G-20-Mitgliedern und den übrigen UNO-Mitgliedern auch nach der Amtszeit von Joseph Deiss erhalten bleibt. Die Grundlage scheint gegeben, wurde doch die Gouvernanz-Thematik auf der Tagesordnung der Generalversammlung gesetzt.

Kontakte zu Frankreich: Die Schweiz hat sich bei Frankreich dafür eingesetzt, stärker in die G-20-Arbeiten einbezogen zu sein. Zwar assoziierte Frankreich die Schweiz weder am Gipfeltreffen von Cannes noch an den übrigen formellen Minister- und Arbeitsgruppentreffen. Auf Einladung Frankreichs hat die Schweiz jedoch an mehreren fachspezifischen Ad-hoc-Veranstaltungen teilgenommen, so an einem Ministertreffen über Arbeit und Soziales, einem Ministertreffen zu Energie, einem Seminar über Währungsfragen und einem Arbeitsgruppentreffen über Korruption.

Zudem konnten an drei
bilateralen Begegnungen auf Staatssekretär-Ebene die gegenseitigen Positionen erörtert werden.

Financial Stability Board Das Financial Stability Board (FSB) hat sich seit der Finanzmarktkrise durch Anstoss der G-20 zu einem Hauptakteur in der internationalen Finanzmarktregulierung entwickelt. Mitglieder des FSB sind 24 Länder sowie die wichtigsten internationalen Finanzinstitutionen und Standardsetzungsorganisationen. Das FSB versteht sich als Koordinator der Arbeiten von Standardsetzungsorganisationen im Finanzmarktbereich (Banken, Versicherungen, Wertpapierbörsen, Ratingagenturen usw.).

Zudem ist das FSB auch durch eigene Arbeiten in der Standardsetzung tätig. Ein Beispiel dafür sind die 2008 erlassenen Richtlinien über die Vergütungssysteme von Finanzinstituten, deren Umsetzung durch die Mitgliedsländer 2011 in einer Review überprüft wurde. Die Schweiz zählt zu den Ländern, welche diese Richtlinien rasch und weitgehend umgesetzt haben. Im Jahr 2011 hat das FSB gemeinsam mit dem Basler Ausschuss Empfehlungen zur Regulierung von global systemrelevanten Banken erarbeitet. Unter anderem sollen diese Banken ­ zusätzlich zu den Eigenmit-

2965

telvorschriften gemäss Basel III ­ einen nach ihrer Systemrelevanz gestaffelten Eigenmittelzuschlag auferlegt bekommen.

Das Mandat des FSB umfasst auch die Überwachung der Einhaltung internationaler Empfehlungen durch die Staatengemeinschaft. Zu diesem Zweck wurde ein Prozess zur gegenseitigen Überprüfung mittels einer Peer Review eingeleitet. Die Schweiz wurde 2011 einer solchen Review unterzogen. Der daraus resultierende Bericht wird Anfang 2012 im FSB verabschiedet und veröffentlicht.

Die Schweiz wird im FSB durch das EFD und die SNB ­ sowie auf Stufe Arbeitsgruppen auch durch die FINMA ­ vertreten. Dank seiner übersichtlichen Grösse, die ein effizientes Arbeiten erlaubt, ist das FSB für die Schweiz eine geeignete Organisation, um in zentralen Bereichen des internationalen Finanzsystems Einfluss zu nehmen. Die Schweiz kann im FSB zur Stärkung der internationalen Finanzstabilität und zur Schaffung gleich langer Spiesse für Finanzmarktakteure beitragen.

OECD Im Jahr 2011 wurde das 50-jährige Bestehen der OCDE gefeiert, die 1961 gegründet worden war und mittlerweile 34 Mitgliedstaaten umfasst. Die diesjährige Ministerkonferenz vom Mai 2011 bot Gelegenheit, Bilanz über die Errungenschaften der letzten 50 Jahre zu ziehen. Der Fokus lag auf den Themen Innovation, Bildung, Entwicklung, Gender sowie der Revision der Leitsätze für multinationale Unternehmen.

OECD-Erweiterung: Vor dem Hintergrund der Erstarkung der G-20 stellt sich die Frage der zukünftigen Positionierung der OECD. Um weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen zu können, hat die OECD vor, vermehrt Schwellen- und Entwicklungsländer, deren politische und ökonomische Bedeutung zunimmt, in ihren Kreis aufzunehmen. Einige Mitgliedsländer befürworten einen für die einzelnen Kandidaten massgeschneiderten Beitrittsprozess. Andere hingegen fürchten, dass dieses Vorgehen zu einer Verwässerung der geltenden Standards führt. Der Beitrittsprozess von Russland, der durch die Eingliederung Russlands in die Arbeitsgruppe «Korruption» an Dynamik gewonnen hat, sorgte für geteilte Meinungen. Die Schweiz unterstützte den Beitritt Russlands in die Arbeitsgruppe «Korruption», erachtet es jedoch als wichtig, dass die Standards aufrechterhalten bleiben.

Für die Schweiz bietet die OECD nach wie vor ein immenses Netzwerk für Kontakte zu den Regierungen und
Verwaltungen der Mitgliedstaaten. Die OECD stellt u.a.

eine hervorragende Plattform für den Informationsaustausch mit den meisten G-20Mitgliedern dar. Angesichts der hohen internationalen Verflechtung der Schweizer Wirtschaft erachtet es die Schweiz als wichtig, aktiv an den Entscheidungsprozessen innerhalb der OECD teilzunehmen, mit dem Ziel, auch ihre Visionen kundzutun und ihre ökonomischen, politischen und sozialen Interessen zu wahren.

Green Growth Strategy: Einen Höhepunkt des diesjährigen Ministertreffens bildete die Verabschiedung einer «Green Growth Strategy» zur Bewältigung der Herausforderung, die Wohlfahrt einer wachsenden Weltbevölkerung zu steigern, ohne dabei die natürliche Lebensgrundlage zu untergraben. Dabei geht es hauptsächlich um die Entwicklung bzw. Förderung von neuen «grünen» Wirtschaftszweigen (erneuerbare Energien, saubere Technologien), um die Steigerung der Ressourceneffizienz in schon bestehenden Wirtschaftssektoren (Landwirtschaft, Fischerei, Industrie usw.)

sowie auch um transversale Themen wie z.B. Indikatoren für eine «grüne» Wirtschaft. Die OECD-Green-Growth-Strategie dient auch als Input für die UN-Nach2966

haltigkeitskonferenz Rio+20 zum Thema «Green Economy» (siehe Ziff. 2.3.6). Die Schweiz begrüsst diese «Green Growth Strategy», deckt sie sich doch weitgehend mit dem vom Bundesrat im Oktober 2010 verabschiedeten Aktionsplan zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine «grüne Wirtschaft», und die Schweiz arbeitet aktiv in den relevanten Expertenkomitees der OECD mit.

Das «Global Forum» über Transparenz und Informationsaustausch für Steuerzwecke (Global Forum): Die Schweiz hat die erste Phase der «Peer Review»-Prüfung zur steuerlichen Amtshilfe im Rahmen des Global Forum bestanden. Der Länderbericht zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz wurde am 31. Mai 2011 verabschiedet. Laut dem Bericht hat die Schweiz eine Reihe von Kriterien vollständig erfüllt. In einigen Bereichen gibt der Bericht jedoch Empfehlungen an die Schweiz ab (z.B. betreffend Identifikation steuerpflichtiger Personen und des Informationsinhabers, siehe dazu Ziff. 2.3.1, Identifikation der Inhaberaktionäre sowie die Einführung von Tax Information Exchange Agreements). In der zweiten Phase der Prüfung der Schweiz, die für die zweite Jahreshälfte 2012 geplant ist, soll die Umsetzung des gesetzlichen Rahmens überprüft werden. Voraussetzung für die Aufnahme der Schweiz in die zweite Phase ist das Inkrafttreten einer Anzahl von Doppelbesteuerungsabkommen, die dem OECD-Standard entsprechen. Die Schweiz hat im Jahr 2011 darauf hingearbeitet, dass diese Vorbedingung erfüllt ist. Eine genügende Anzahl OECD-kompatibler Doppelbesteuerungsabkommen soll voraussichtlich im April 2012 in Kraft sein.

Europaratskonvention: Die OECD-Steueramtshilfe-Konvention (Europaratskonvention) ist am 1. Juni 2011 in Kraft getreten. Die Konvention enthält die Verpflichtung zum spontanen Informationsaustausch und ist für gewisse Betrugsdelikte rückwirkend. Zwar gilt die Konvention gegenwärtig erst für 14 Staaten, doch kann der strengere Massstab der Konvention auf eine weitere Straffung des OECD-Standards auswirken. Die Schweiz sah bis anhin nicht vor, der Konvention beizutreten.

Steuerliches «level playing field»: Die Bestrebungen der OECD für ein «level playing field», d.h. gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Staaten in der internationalen Steuerpolitik, werden fortgesetzt. Die eventuell schädlichen Steuerpraktiken der OECD-Staaten sollen
erneut geprüft werden. Auch eine Verschärfung des Standards für den steuerlichen Informationsaustausch ist zu erwarten. Nebst den gegenwärtig im OECD-Standard vorgesehenen Einzelanfragen sollen in Zukunft auch Gruppenersuchen zulässig werden. Sollte es in diesem Punkt zu einer Einigung der OECDStaaten kommen, wird die Schweiz ihre internationale Steuerpolitik anpassen müssen.

IWF Im Dezember 2010 wurde eine Resolution zur Reform des IWF verabschiedet.

Deren Ziel ist es einerseits, die finanziellen Ressourcen des IWF zu verdoppeln. Die Mittel des IWF sind in den letzten Jahrzehnten wesentlich weniger schnell gewachsen als das Volumen der globalen Finanzströme. Auch erreichte die Verpflichtung von IWF-Krediten mit rund 250 Milliarden US-Dollar 2011 einen Höchststand.

Andererseits bezweckt die Resolution, die Stimmenverteilung im IWF den veränderten relativen ökonomischen Gewichten in der Weltwirtschaft anzupassen. Es sind hauptsächlich die Schwellenländer, die von der Umsetzung dieser Reform profitieren. Was die europäischen Industrienationen betrifft, werden sie aufgrund dieser Resolution im Exekutivrat eine Einbusse von zwei Sitzen in Kauf nehmen müssen.

Vor diesem Hintergrund ist die Schweiz aktiv an der Stärkung ihrer Stimmrechts2967

gruppe tätig. Grundsätzlich sollte die Resolution bis Oktober 2012 umgesetzt werden.

2.2.4

Multilateralismus kulturellen und wissenschaftlichen Charakters

Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) Im November 2011 fand die 36. UNESCO-Generalkonferenz statt. Sie stand im Zeichen der Aufnahme Palästinas als Vollmitglied und der darauffolgenden Ankündigung der USA, ihre Beitragszahlungen an die Organisation auszusetzen. Die Generalkonferenz erörterte die Leitlinien der künftigen mittelfristigen Strategie (2014 ­ 2021). Die Schweiz präsidierte die Kommission für Bildung, den wichtigsten Schwerpunkt der UNESCO.

Die Schweiz konzentriert sich in der UNESCO derzeit auf die beiden Bereiche Bildung und Kultur, deren Bedeutung auf der internationalen Agenda 2010 und 2011 innerhalb der UNO erneut bekräftigt wurde.

Bildung: Die Schweiz engagiert sich hauptsächlich für die Ziele des Aktionsplans «Bildung für alle» (EFA), insbesondere durch Unterstützung der UNESCO-Fachstellen ­ darunter das Internationale Büro für Erziehung (IBE) in Genf ­ sowie des Weltbildungsberichts, der das Referenzbewertungsinstrument darstellt. Unter der ganzheitlichen Perspektive lebenslangen Lernens verfolgt die Schweiz zudem die Entwicklung der Politiken im Bereich der frühkindlichen Bildung, der Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie der beruflichen, technischen und höheren Bildung.

Kultur: Die Schweiz beteiligt sich aktiv an der Umsetzung der normativen Instrumente der UNESCO. Als Mitglied des Welterbekomitees setzt sie sich insbesondere für die Förderung der Qualität der Entscheide und die Achtung des Grundsatzes der Erhaltung der nahezu 1000 Stätten auf der Welterbeliste ein. Heute ist ein Drittel dieser Stätten durch bauliche Vorhaben, die Nutzung natürlicher Ressourcen oder durch den Klimawandel bedroht. In Fällen, wo die Gefährdung mit einem Konflikt in Zusammenhang steht, fördert die Schweiz den politischen Dialog. Zudem unterstützt sie Initiativen zum Ausbau des Tourismuspotenzials und zur Stärkung des Tourismusmanagements. Gestützt auf eine Kandidatur unter der Federführung der Schweiz wurde 2011 die transnationale serielle Stätte «Pfahlbauten um die Alpen» in die Liste aufgenommen, die 111 Fundstellen in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Slowenien und der Schweiz umfasst. Anfang Juni 2011 wurde die Schweiz für vier Jahre (2011­2015) in den zwischenstaatlichen Ausschuss des Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung
der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen gewählt. In dieser Funktion wird sie an der entscheidenden ersten Etappe zur Evaluation der konkreten Umsetzung dieses Instruments beteiligt sein. Die Schweiz ist ebenfalls Mitglied des Ausschusses für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (Zweites Protokoll zum Haager Abkommen von 195427) und setzt sich für die Implementierung des Übereinkommens vom 14. November 197028 über Massnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr 27 28

Haager Abkommen vom 14. Mai 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, SR 0.520.3, SR 0.520.33 SR 0.444.1

2968

und Übereignung von Kulturgut ein. Eng verfolgt werden auch die Entwicklungen beim Übereinkommen vom 17. Oktober 200329 zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Parallel dazu ist auf nationaler Ebene die Erstellung eines Inventars der lebendigen Traditionen der Schweiz im Gange30.

Europäische Organisation für Teilchenphysik (CERN) Das CERN hat sich seit seiner Gründung 1953 in Meyrin bei Genf zum global führenden Labor für Teilchenphysik entwickelt. Ausdruck dafür ist der Bau des Large Hadron Collider (LHC), der als das grösste und stärkste Mikroskop aller Zeiten bezeichnet werden kann und zur Vertiefung der Kenntnisse über den Aufbau der Materie und das Wesen der Kräfte beitragen soll. CERN-Projekte generell und der LHC im Besonderen sind äusserst prestigeträchtig und ziehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt für kürzere oder längere Zeit nach Genf.

Nach der Inbetriebnahme des LHC strebt das CERN eine langfristige Konsolidierung seiner weltweiten Spitzenposition an.

Neben Fragen über die zukünftigen wissenschaftlichen Stossrichtungen steht die Organisation auch vor politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen: Welche Staaten können und sollen in Zukunft Mitglied von CERN werden? Wie können zukünftige Projekte globalen Ausmasses finanziert und wirtschaftlich vorteilhaft durchgeführt werden? Im Juni 2010 hat der CERN-Rat, in welchem auch die Schweiz vertreten ist und aktiv mitarbeitet, eine Strategie verabschiedet, welche die Beschränkung der Mitgliedschaft auf europäische Staaten aufhebt. Fortan ist es grundsätzlich jedem Staat, der gewisse wissenschaftliche, industrielle und politische Bedingungen erfüllt, möglich, Vollmitglied oder assoziiertes Mitglied des CERN zu werden. Der Rat stellt indessen sicher, dass europäische Staaten auch in Zukunft die Kontrolle über die weltweit grösste Organisation zur Grundlagenforschung behalten.

Als erstes aussereuropäisches Land dürfte Ende 2011 Israel als assoziiertes Mitglied auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft aufgenommen werden. Des Weitern werden im kommenden Jahr voraussichtlich die europäischen Staaten Slowenien, die Türkei, Zypern und Serbien aufgenommen werden. Mit den Staaten Indien, Brasilien, Südkorea, China, Kanada und Russland, welche ein hohes wissenschaftliches Potenzial haben, führt die CERN-Leitung derzeit
Beitritts-Gespräche.

Parallel zur Globalisierung des CERN vergrössert sich seit vier Jahren auch der Einfluss der EU-Kommission, die im CERN-Rat Beobachterstatus hat. Am 17. Juli 2009 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen dem CERN und der EUKommission unterzeichnet, das der Zusammenarbeit einen strukturierten Rahmen gibt, beispielsweise bei der Entwicklung des Europäischen Forschungsraums.

Als einer der Sitzstaaten des CERN hat die Schweiz ein grosses Interesse an dessen erfolgreicher globaler Positionierung und Konsolidierung. Das CERN stärkt den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Schweiz. Es fördert den wissenschaftlichen und technischen Nachwuchs in der Schweiz und ist insbesondere für die Region Genf wirtschaftlich wichtig. Mit 8 Prozent stellt die Schweiz einen überproportionalen Personalanteil des CERN. Die Präsenz der 2430 CERN-Angestellten und der jährlich über 10 000 Gastforschenden sowie die vom CERN ausgehenden Industrieund Dienstleistungsaufträge stellen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Region Genf dar. Neben dem ordentlichen jährlichen Mitgliederbeitrag von rund 42 Millio29 30

SR 0.440.6 www.bak.admin.ch > Themen > Immaterielles Kulturerbe

2969

nen Franken (entspricht rund 3,8 % des Budgets) hat die Schweiz in den letzten zwanzig Jahren das CERN mit Sonderbeiträgen im Gesamtwert von über 130 Millionen Franken unterstützt.

Schliesslich ist anzumerken, dass im Berichtsjahr eine tripartite Vereinbarung zwischen den beiden Sitzstaaten Schweiz und Frankreich sowie dem CERN zum Thema radioaktive Strahlensicherheit abgeschlossen werden konnte. Dabei werden unter anderem auch die Verfahren zur Beseitigung der (fast ausschliesslich schwach) radioaktiven Abfälle geregelt.

Europäische Weltraumorganisation (ESA) Die Schweiz gehört zu den zehn Gründungsmitgliedern der 1975 ins Leben gerufenen Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit erlaubte es der Schweizer Forschung und Industrie, an der Entwicklung von Raumfahrtprogrammen teilzunehmen und sich eine technologische Spitzenposition zu sichern. Die dabei erworbenen Kompetenzen haben positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen in der Schweiz.

Der Zusammenarbeit zwischen ESA und EU entstammen die beiden europäischen Grossprojekte im Raumfahrtbereich: Galileo (Navigation und Positionierung) und GMES (Umweltüberwachung und Sicherheit). Seit September 2010 sind Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein Assoziierungsabkommen im Bereich der Globalen Satellitennavigationssysteme (GNSS) im Gange. Dieses Abkommen soll die Beteiligung der Schweiz bei der operationellen Phase von Galileo und EGNOS sicherstellen und der Schweizer Wirtschaft einen gleichberechtigten Zugang zu den entsprechenden Märkten ermöglichen. Die Herausforderung für die Schweiz besteht darin, ihre Beiträge und Investitionen zugunsten der ESA in diesen Verhandlungen sichtbar zu machen.

Ausschuss der Vereinten Nationen für die friedliche Nutzung des Weltraums (UN COPUOS) Die Schweiz ist seit 2008 Mitglied des UNO-Ausschusses für die friedliche Nutzung des Weltraums, der eine einzigartige Rolle in der zwischenstaatlichen Raumfahrtzusammenarbeit sowie bei der Schaffung von internationalen Rechtsnormen und Richtlinien für die Nutzung des Alls spielt.

Die schweizerischen Kompetenzen im Bereich der Weltraumtechnologie und -forschung erlauben die Entwicklung von gesellschaftlich und wirtschaftlich bedeutsamen Anwendungen. Auch in Bereichen wie Telekommunikation, Verkehr und Handel
setzt die Schweiz in hohem Masse auf die Nutzung von Satellitentechnologien. Voraussetzung dafür ist eine nachhaltige und verantwortungsbewusste Nutzung des Alls durch die Staaten. Die Schweiz beteiligt sich deshalb aktiv an den Bestrebungen des Ausschusses zur Erarbeitung von Richtlinien, welche die langfristige Tragfähigkeit der Weltraumtätigkeiten garantieren sollen.

2.2.5

Sicherheitspolitischer Multilateralismus

Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat und Partnerschaft für den Frieden: Im Bereich der Sicherheitspolitik sind der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat (EAPC) und die Partnerschaft für den Frieden (PfP) für die Schweiz nützliche Instrumente für die 2970

sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Sie tragen zu Sicherheit und Stabilisierung im euro-atlantischen Raum bei und bieten auch für die Schweizer Armee Möglichkeiten für die militärische Zusammenarbeit.

Nach der Verabschiedung ihres neuen Strategiekonzepts im November 2010 verstärkte die NATO ihre Modernisierungsanstrengungen und unterstrich unter anderem die Bedeutung der Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Diese Bemühungen mündeten in eine substanzielle Reform der NATO-Partnerschaften. Einerseits verstärkt die NATO ihre Kontakte zu den Partnern ausserhalb Europas und des Mittelmeerraums, um besser auf die globalen Herausforderungen reagieren zu können, und anderseits weicht sie die Grenzen zwischen den verschiedenen Partnerschaften auf (EAPC, Mittelmeerdialog, Istanbuler Kooperationsinitiative und Staaten mit bilateralen Programmen), was Ländern wie der Schweiz neue Möglichkeiten zur Zusammenarbeit eröffnet.

Angesichts dieses Reformprozesses hat sich die Schweiz dafür eingesetzt, die Stärken des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats im Bereich Partizipation beizubehalten, die hohe Qualität der Programme von Partnerschaft für den Frieden aufrechtzuerhalten, die Zusammenarbeit zwischen der NATO und den neutralen und blockfreien Ländern, namentlich im Bereich Cyber Security und Bildung, zu vertiefen und unsere Mitwirkung bei der Vorbereitung von Entscheiden bezüglich der KFOR zu verstärken. Die Ergebnisse der Bemühungen sind ermutigend und sollten 2012 konsolidiert werden.

Parallel zu diesen institutionellen Diskussionen trieb die Schweiz ihre Initiativen, etwa zur Regulierung privater Militär- und Sicherheitsunternehmen, und konkrete Kooperationen voran. Einerseits unterstützt die Schweiz Aktivitäten in Kompetenzbereichen wie Bildung, Reform des Sicherheitssektors, Vernichtung von Waffen und Munition, Korruptionsbekämpfung und Förderung des humanitären Völkerrechts, anderseits profitiert sie von Ausbildungsangeboten und multilateralen Übungen im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden.

2.3

Thematische Schwerpunkte der schweizerischen Aussenpolitik

Die zunehmende Internationalisierung und Verknüpfung thematischer Politikfelder hat zur Folge, dass die Departemente in erheblichem Ausmass Aufgaben der auswärtigen Beziehungen wahrnehmen. Verschiedene sektorielle Politiken, insbesondere in den Bereichen Finanzen, Wirtschaft, Steuern, Energie, Verkehr, Kultur, Bildung, Forschung, Innovation, Gesundheit, Sicherheit und Umwelt, haben eine grössere internationale und multilaterale Dimension erhalten, und die gegenseitigen Interdependenzen nehmen zu. Entsprechend komplex und anspruchsvoll wird dadurch die Aufgabe, die sektoriellen Politiken aussenpolitisch aufeinander abzustimmen.

2971

2.3.1

Internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik

Internationale Finanz- und Steuerfragen Schuldenkrisen und Konjunkturentwicklung Das Jahr 2011, vor allem die zweite Hälfte, war geprägt von Konjunktursorgen und Staatsverschuldungskrisen. Auch wenn sich die Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren zu erholen begonnen hatte, trübten in diesem Jahr die schleppende Konjunkturerholung in den USA sowie die generelle konjunkturelle Abschwächung die Aussichten auf baldige Überwindung der Folgen der globalen Wirtschaftskrise.

Zunehmend in den Vordergrund rückten die Schuldenkrisen in den Industriestaaten, die sich im Berichtsjahr verschärften. Die Schuldenprobleme peripherer EU-Länder, wie Portugal und insbesondere Griechenland, sowie in den USA unterminierten die globale Finanzmarktstabilität. Trotz der kurzfristigen Lösung des Schuldenstreits in den USA und der Stützungsmassnahmen in den letzen zwei Jahren für Griechenland, Irland und Portugal und den Währungsraum insgesamt weitete sich die Schuldenkrise auf andere europäische Länder, insbesondere Italien und Spanien, aus, womit das Risiko einer neuen Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich anstieg. Im Zentrum der internationalen und nationalen Debatten standen zusätzliche Konjunkturmassnahmen sowie die Sanierung der Staatsfinanzen.

Die Verunsicherung der globalen Finanzmärkte traf die Schweiz vor allem insofern, als sie den Schweizerfranken, der als «sicherer Hafen» gilt, weiter in die Höhe trieb.

Auch wenn die Wirtschaftsentwicklung in der Schweiz im bisherigen Jahresverlauf trotz erster Verlangsamungsanzeichen immer noch solide verlief, hat sich für die Exportwirtschaft die zuvor schon schwierige Währungssituation durch die globale konjunkturelle Dämpfung und die erneute Aufwertung des Frankens weiter zugespitzt. Die Schweiz hat zur Überwindung der EU-Schuldenkrisen mittels ihrer Beiträge im Rahmen der IWF-Unterstützung von Griechenland, Irland und Portugal beigetragen. Um der Überbewertung des Frankens entgegenzuwirken, hat die SNB interveniert und mit der Festlegung eines Euro-Mindestkurses eine drastische Massnahme ergriffen. Der Bundesrat hatte im Februar und im September 2011 Massnahmenpakete31 beschlossen, welche darauf abzielen, jene Sektoren zu stärken, die besonders stark von der schlechten Wechselkurssituation betroffen sind.

Finanzplatz Schweiz und Finanzmarktregulierung Die Schweiz
verfügt über einen starken, international ausgerichteten Finanzplatz.

Mit einem Beitrag ans BIP von über einem Zehntel im Jahr 2010 gehört der Finanzsektor zu den bedeutendsten Wirtschaftszweigen der Schweiz. Die Mehrheit der schweizerischen Finanzdienstleister ist nach wie vor solide aufgestellt. Im Zusammenhang der EU-Schuldenkrise war der Schweizer Finanzsektor nur beschränkt exponiert. Die direkten Forderungen Schweizer Finanzinstitute gegenüber Griechenland, Irland und Portugal sind nach aktueller Datenlage moderat. Sollte sich die Krise auf die Bankensysteme weiterer Staaten oder systemische Euroländer ausweiten, wären die Folgen auch für den Schweizer Finanzsektor schwerwiegend. Die Schweiz konzentrierte sich dieses Jahr auf die Weiterführung der Umsetzung der Finanzmarktstrategie, welche Ende 2009 vom Bundesrat beschlossen worden war 31

Botschaft vom 31. August 2011 zum Bundesgesetz über Massnahmen zur Abfederung der Frankenstärke und zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sowie zum Bundesbeschluss über den Nachtrag IIa zum Voranschlag 2011, BBl 2011 6749

2972

und darauf abzielt, die steuerlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen zu verbessern.

Die Frage der Finanzmarktregulierung blieb international und national ein wichtiges Thema. Multilaterales Herzstück ist das Basel-III-Regelwerk, das im November 2010 verabschiedet wurde und u.a. strengere Eigenkapitalvorschriften vorsieht. Ein besonderes Stabilitätsrisiko stellen weiterhin die systemrelevanten Finanzinstitute dar, da ihr Ausfall mit untragbaren Risiken für die betroffene Volkswirtschaft verbunden wäre. Dieses Problem des «too big to fail» (TBTF) ist in der Schweiz besonders ausgeprägt, da die zwei Grossbanken Credit Suisse und UBS eine dominante Stellung in wesentlichen Geschäftsbereichen einnehmen. Um die TBTF-Problematik anzugehen, hat das Parlament am 30. September 201132 eine Gesetzesvorlage verabschiedet, die Anfang 2012 in Kraft treten soll. Für Grossbanken werden höhere Eigenmittelvorgaben und neue Vorschriften für Liquidität, Risikoverteilung und Organisation gelten. Die Eigenmittelvorgaben liegen über den international geplanten Anforderungen. Neue Kapitalinstrumente (Vorrats- und Wandlungskapital) sollen die Banken bei der Umsetzung der strengeren Eigenmittel-Anforderungen unterstützen.

Internationale Steuerpolitik Auch dieses Jahr blieb die Schweiz im Steuerdossier international unter Druck. Um Ende Mai 2011 die erste Phase der «Peer Review»-Prüfung des Global Forum für den steuerlichen Informationsaustausch der OECD zu bestehen, passte die Schweiz ihre Steuerpolitik dem international vereinbarten Standard an. Gemäss dem Bundesratsbeschluss vom 13. Februar 2011 ist die Angabe von Namen und Adresse der steuerpflichtigen Person und des Informationsinhabers nicht mehr zwingend für die Behandlung von Amtshilfegesuchen. Die Identifikation kann auch durch andere Mittel erfolgen, vorausgesetzt es handelt sich um keine sog. «fishing-expedition», also um keine unerlaubte Beweisausforschung. Die Anzahl Doppelbesteuerungsabkommen der Schweiz, welche einen steuerlichen Informationsaustausch aufgrund einer OECD-Amtshilfeklausel ermöglichen, ist bis Dezember 2011 auf 42 gestiegen.

Im Herbst 2011 erreichte die Schweiz mit der Unterzeichnung der Quellensteuerabkommen mit Deutschland und mit dem Vereinigten Königreich einen neuen Meilenstein in ihrer Weissgeldstrategie. Die neuen Abkommen sehen
vor, dass Personen mit Wohnsitz im Partnerstaat ihre bestehenden Bankvermögenswerte in der Schweiz nachversteuern können, indem sie entweder eine einmalige Steuerzahlung leisten oder ihre Konten offenlegen. Künftige Kapitalerträge und -gewinne dieser Kunden in der Schweiz unterliegen einer Quellensteuer, deren Erlös die Schweiz an die Behörden des Wohnsitzstaates überweist. Die Steuer hat im Wohnsitzstaat abgeltende Wirkung. Zudem wird der gegenseitige Marktzutritt für Finanzdienstleister verbessert. Die Schweiz strebt eine solche Lösung auch mit anderen Ländern an.

Von Seiten der USA hielt der Druck auf das Bankgeheimnis weiter an. Auf der einen Seite ist der Steuerstreit zwischen Schweizer Banken und den USA in eine weitere Runde getreten. Unter der Drohung einer Strafklage gegen verschiedene Banken forderten die USA von den Banken Kundendaten zu Steuerdelinquenten.

Die Schweiz führte intensive Gespräche mit den US-Behörden über eine Lösung auf dem Weg der Amtshilfe. Sie vertritt den Standpunkt, dass ein allfälliger Austausch 32

BBl 2011 7487

2973

von Kundendaten nur im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gemäss den dafür vorgesehenen Prozeduren erfolgen könne.

Auf der anderen Seite stand weiterhin der «US Foreign Account Tax Compliance Act» (FATCA), der ab 2013 stufenweise eingeführt wird, im Fokus. FATCA zwingt ausländische Finanzintermediäre, die eine Quellensteuer von 30 Prozent auf bestimmten Zahlungen aus US-Quellen vermeiden wollen, einen Vertrag mit der US-Steuerbehörde IRS abzuschliessen, in welchem sie sich verpflichten, Informationen über US-Personen zu liefern, die direkt oder indirekt eine Kontobeziehung zum Institut unterhalten. Die Umsetzung von FATCA ist für Finanzintermediäre mit rechtlichen und technischen Schwierigkeiten sowie mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden. Im Berichtsjahr haben exploratorische Gespräche mit den US Behörden stattgefunden. Das Ziel dieser Gespräche war, nach Lösungen zu suchen, welche den Anliegen der betroffenen Akteure der Schweizer Finanzbranche sowie der Schweizer Rechtsordnung Rechnung tragen.

Schliesslich sah sich die Schweiz im Bereich Unternehmensbesteuerung weiterhin der Anfrage der EU gegenüber, das Thema des schädlichen Steuerwettbewerbs in einem Dialog zu diskutieren. Fragen in Bezug auf den Steuerwettbewerb wurden auch im Rahmen der OECD wieder aufgenommen. Nach Ansicht der OECD sind namentlich die folgenden Faktoren ausschlaggebend, um ein Regime als schädlich zu identifizieren: mangelnde Transparenz und fehlender Informationsaustausch, steuerliche Vergünstigungen für aus dem Ausland stammende Einkünfte (ring fencing) sowie von der OECD abweichende Regeln für die Gewinnermittlung innerhalb von Unternehmensgruppen. Die Schweiz hat Sondierungsgespräche mit der EU geführt und aktiv an den Arbeiten in der OECD mitgewirkt. Sie ist bemüht, eine attraktive, international akzeptierte Steuerpolitik zu verfolgen.

Die Schuldenkrisen in Industriestaaten sowie die internationale Steuerdebatte haben auch die wirtschaftspolitische Entwicklungsagenda beeinflusst. So gewann in jüngster Zeit die Thematik «Steuer und Entwicklung» für Geber-Länder an Bedeutung, und die Nachfrage nach technischer Unterstützung im Bereich Management von Fiskalrisiken und Staatsschulden hat sich erhöht. Die Schweiz hat ihr langjähriges und intensives Engagement in den Bereichen Stärkung der Steuerverwaltungen
sowie Verbesserung des Schuldenmanagements der Entwicklungsländer auch im Berichtsjahr weitergeführt.

EU-Marktzugang für den Finanzsektor Auch seitens der EU hält der Trend der Erhöhung von Marktzugangshindernissen an. In der EU sind verschiedene Regulierungsprojekte am Laufen, die die europaweite Harmonisierung der Anforderungen an Finanzdienstleister anstreben und oftmals mit einer Verschärfung der Marktzugangsregeln für Drittstatten verbunden sind. Um mögliche negative Auswirkungen auf die Schweiz zu vermeiden, verfolgte die Schweiz die EU-Projekte weiterhin eng und prüfte Handlungsoptionen. Wichtige Anpassungsarbeiten wurden z.B. in Bezug auf das Kollektivanlagegesetz geleistet; Ziel ist es u.a., die gesetzliche Regelung für Vermögensverwalter von kollektiven Kapitalanlagen an EU-Entwicklungen anzupassen und damit den Zugang zum europäischen Markt sicherzustellen. Auch auf bilateraler Ebene hat sich die Schweiz darum bemüht, den Marktzutritt zu fördern. So enthalten die oben genannten Quellensteuerabkommen mit Deutschland und dem Vereinigten Königreich Bestimmungen, die den gegenseitigen Marktzutritt für Banken und Anlagefonds präzisieren und erleichtern.

2974

Korruptionsbekämpfung Mit den Ereignissen in Nordafrika im Jahr 2011 hat im internationalen Umfeld das Bewusstsein zugenommen, dass die Korruption nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung behindert, sondern auch die Grundprinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie unterläuft. Die G-20 nahmen den Kampf gegen Korruption in ihre Agenda auf und verabschiedeten einen Plan zur konsequenten Umsetzung von internationalen Instrumenten wie der UNO-Konvention gegen Korruption. Die Schweiz hat ihr nationales wie internationales Engagement in der Korruptionsbekämpfung aktiv weitergeführt. Mit dem Ziel, die Arbeiten der G-20 in diesem Bereich mitzubestimmen, hat die Schweiz zum Thema Rückführung von illegal erworbenen Vermögenswerten ein Positionspapier unterbreitet. Im Rahmen der drei wichtigsten Gremien zur Korruptionsbekämpfung ­ OECD, Europarat und UNO ­ hat sich die Schweiz aktiv an den Verhandlungen, der Ausarbeitung, der Ratifikation und der Umsetzung jedes dieser Übereinkommen beteiligt.

OECD-Konvention gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger: 2011 stand ganz im Zeichen der Aufnahme Russlands in die OECD-Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung. Dieser Schritt ist eine Voraussetzung für einen Beitritt zur OECDKonvention gegen Bestechung ausländischer Amtsträger. Der Beitritt neuer Mitglieder zur Konvention geht mit zahlreichen Herausforderungen einher, namentlich wegen des Ausmasses der Korruption in gewissen dieser Länder. Die Schweiz wurde ihrerseits im Rahmen der dritten Phase des Kontrollmechanismus der Konvention überprüft. Der Schlussbericht der Überprüfer wurde im Dezember 2011 veröffentlicht. Was die Arbeiten der Arbeitsgruppe insgesamt betrifft, hat sich die Schweizer Delegation während des ganzen Jahres dafür eingesetzt, dass die von den Rechtsinstanzen der Mitgliederländer eingeleiteten Ermittlungen nicht durch nationale politische oder wirtschaftliche Interessen untergraben werden.

Strafrechtsübereinkommen über Korruption des Europarates (GRECO): Die Schweiz ist im Jahre 2006 dem Strafrechtsübereinkommen des Europarates vom 27. Januar 199933 über Korruption beigetreten. Im Jahre 2011 fand die dritte Länderprüfung der Schweiz statt. Sie hatte das Korruptionsstrafrecht sowie die Transparenz der Parteienfinanzierung zum Gegenstand. Der Schlussbericht wurde im Dezember 2011 veröffentlicht.
UNO-Konvention gegen Korruption (UNCAC): Die Schweiz hat am 24. September 2009 die UNCAC34 ratifiziert. Die UNO-Konvention ist wohl das umfassendste Abkommen und wurde bis dato von 158 Staaten ratifiziert. Die Konvention enthält Bestimmungen zur Verhütung der Korruption, zur internationalen Zusammenarbeit und zur technischen Unterstützung von Entwicklungs- und Schwellenländern und legt fest, dass unrechtmässig erworbene Vermögenswerte unter bestimmten Voraussetzungen zurückerstattet werden müssen. An der 4. Vertragsstaatenkonferenz in Marrakesch vom 24. bis 28. Oktober 2011 wurde die Konvention durch weitere Resolutionen im Bereich Korruptionsprävention, internationale Zusammenarbeit und Rückführung illegal erworbener Vermögenswerte erweitert. Der 2010 geschaffene Überprüfungsmechanismus läuft in seinem zweiten Zyklus. Die Schweiz hatte sich 2011 einer ersten Überprüfung im Rahmen der Kapitel III und IV der UNCAC zu stellen. Der Schlussbericht wird vorrausichtlich im Juni 2012 den Mitgliedstaaten 33 34

SR 0.311.55 Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 31. Oktober 2003 gegen Korruption, SR 0.311.56

2975

präsentiert werden. Die Schweiz hat grosses Interesse, sich auch in Zukunft aktiv in diesen Prozess einzubringen, um einen transparenten, inklusiven und strengen Überprüfungsmechanismus zu schaffen.

Financial Action Task Force (FATF): Vor dem Hintergrund des Anstosses der G-20 im Jahr 2009 hat die FATF im Berichtsjahr weitere Initiativen ergriffen, verstärkt die Korruptionsbekämpfung zu unterstützten und sich mittels Studien und Expertentreffen für effektive Massnahmen gegen das Waschen von Korruptionserlösen einzusetzen. Die Schweiz unterstützt das Engagement der FATF im Bereich Korruptionsbekämpfung und hat sich auch im Berichtsjahr an den Arbeiten der FATFExpertengruppe zu Korruption aktiv beteiligt.

Interdepartementale Arbeitsgruppe Korruptionsbekämpfung: Die Interdepartementale Arbeitsgruppe (IdAG) Korruptionsbekämpfung wurde vom Bundesrat Ende 2008 geschaffen. Sie setzt sich aus den wichtigsten Akteuren der Bundesverwaltung und der Bundesanwaltschaft sowie der Zivilgesellschaft zusammen. Gemäss Mandat stellt das EDA das Präsidium und das ständige Sekretariat der Gruppe. Die IdAG Korruptionsbekämpfung organisiert regelmässige Treffen und thematische Ateliers, an denen gemeinsame nationale und internationale Strategien im Kampf gegen die Korruption entwickelt werden. Im April 2011 veröffentlichte die IdAG Korruptionsbekämpfung ihren ersten Bericht, der eine erstmalige Bestandsaufnahme der nationalen und internationalen Aktivitäten der Schweiz gegen Korruption enthält. Dieser attestiert der Schweiz einen hohen Grad von Integrität und Resistenz gegen Bestechung. Gleichzeitig wurden gewisse Mängel in Randbereichen wie dem Umgang mit Interessenskonflikten und Transparenz festgestellt. Die IdAG Korruptionsbekämpfung arbeitet weiterhin daran, die identifizierten Lücken zu schliessen.

Unrechtmässig erworbene Vermögenswerte von politisch exponierten Personen (PEP) Bundesrätliche Sperrung von Vermögenswerten Anfang 2011: Gewalt und Volksaufstände in Côte d'Ivoire, Tunesien und Ägypten haben den Bundesrat Anfang 2011 veranlasst, allfällige unrechtmässig erworbene Vermögenswerte von «politisch exponierten Personen» (PEP) und deren Umfeld in der Schweiz zu sperren.35 Damit wollte der Bundesrat sicherstellen, dass die rechtmässigen Eigentümer der Gelder von einem Richter eruiert und allfällig unrechtmässig
erworbene Vermögenswerte an die betroffenen Staaten rückerstattet werden können. Gleichzeitig sollten die Herkunftsländer ermuntert werden, Rechtshilfegesuche an die Schweiz zu stellen.

Für die Verabschiedung der Massnahmen stützte sich der Bundesrat direkt auf die Verfassung (Art. 184 Abs. 3 BV). Im Fall von Libyen wurde die Blockierungsverordnung per 31. März 2011 von einer Sanktionsverordnung36 abgelöst, nachdem der Sicherheitsrat der UNO Massnahmen gegen Libyen ergriffen hatte.

Erarbeitung einer neue Gesetzesgrundlage für Vermögenssperrungen: Der Bundesrat erteilte im Mai 2011 den Auftrag, eine neue Gesetzesgrundlage für Vermögenssperrungen auszuarbeiten, welche die Anrufung der Ausnahmebestimmung von 35

36

Änderung der Verordnung vom 19. Januar 2011 über Massnahmen gegen gewisse Personen aus Côte d'Ivoire, AS 2011 367; Verordnung vom 19. Januar 2011über Massnahmen gegen gewisse Personen aus Tunesien, SR 946.231.175.8; Verordnung vom 2. Februar 2011 über Massnahmen gegen gewisse Personen aus der Arabischen Republik Ägypten, SR 946.231.132.1 Verordnung vom 30. März 2011 über Massnahmen gegenüber Libyen, SR 946.231.149.82

2976

Artikel 184 Absatz 3 BV ablösen soll. Ziel ist es insbesondere, die Voraussetzungen und Modalitäten für den Erlass von Sperrmassnahmen zu regeln. Die diesbezüglichen Arbeiten sind eingeleitet.

Bundesgesetz über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte: Seit dem 1. Februar 2011 verfügt die Schweiz mit dem Bundesgesetz vom 1. Oktober 201037 über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen (RuVG) über ein zusätzliches Instrument im Kampf gegen Korruption und für die Integrität des schweizerischen Finanzplatzes38. Das neue Gesetz regelt die Blockierung, die Einziehung und die Rückerstattung von Vermögenswerten von PEP und deren Umfeld. Als subsidiäres Instrument zum klassischen Weg der Rechtshilfe kommt es dann zur Anwendung, wenn ein Rechtshilfeersuchen aufgrund des Versagens staatlicher Strukturen im ersuchenden Staat, in dem die PEP ihr öffentliches Amt ausübt oder ausgeübt hat, nicht zum Erfolg führt. Wenn das Vermögen der PEP im Zusammenhang mit der Ausübung ihres öffentlichen Amtes exorbitant gestiegen ist und der Korruptionsgrad im Herkunftsstaat während der Amtszeit der PEP anerkanntermassen hoch war, gilt die Vermutung, dass die Vermögenswerte unrechtmässig erworben worden sind.

Der erste Anwendungsfall des RuVG ist der Fall Duvalier. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Februar 2011 sind die in der Schweiz gelegenen Duvalier-Gelder gestützt auf dieses Gesetz gesperrt. Am 29. April 2011 hat das EFD beim Bundesverwaltungsgericht eine Klage auf Einziehung dieser Gelder eingeleitet.

2.3.2

Menschliche Sicherheit und humanitäres Völkerrecht

Förderung der menschlichen Sicherheit Die Förderung der menschlichen Sicherheit ist nach wie vor ein zentrales Anliegen der Schweizer Aussenpolitik. Beim Begriff der menschlichen Sicherheit stehen die Sicherheit des Individuums und sein Schutz vor politischer Gewalt, Krieg und Willkür im Vordergrund. 2011 hat die Schweiz 64,8 Millionen Franken für die Prävention und die Beilegung von Krisen sowie für die Formulierung internationaler Politikkonzepte aufgewendet. Die Schweiz unterstützte mit guten Diensten, Mediation und Programmen für Friedenskonsolidierung Bemühungen zur Konfliktprävention und zur Verringerung der Intensität von Konflikten oder zu deren Beendigung.

Sie setzt sich auch weiterhin für die Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts im Feld ein. Des Weiteren engagiert sie sich aktiv in der Entwicklung universeller Regeln, beispielsweise mit ihren diplomatischen Initiativen zur Abschaffung der Todesstrafe, zur Achtung der Menschenrechte und zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts durch private Sicherheitsunternehmen sowie zur Eindämmung bewaffneter Gewalt. Auf diese Weise trägt die Schweiz zur Lösung weltweiter Probleme bei und erhöht zugleich auch ihre eigene Sicherheit.

37 38

SR 196.1 Zum generellen schweizerischen Dispositiv zur Bekämpfung von unrechtmässig erworbenen Vermögenswerten verweisen wir auf die Ausführungen im Aussenpolitischen Bericht 2010, BBl 2011 1013.

2977

Abfassung der Botschaft 2012­2016 Am 29. Juni 201139 beschloss der Bundesrat die Weiterführung der Massnahmen zur Förderung des Friedens und der menschlichen Sicherheit in den Jahren 2012­2016 und beantragte dem Parlament zu diesem Zweck einen Rahmenkredit in der Höhe von 310 Millionen Franken. Von diesem Betrag sind 50 Millionen Franken vor allem für ein Sonderprogramm für Nordafrika und den Nahen Osten bestimmt. Die bereitgestellten Mittel erlauben es der Schweiz, ihre Bemühungen um die Förderung von Frieden und Menschenrechten sowie ihre humanitäre Politik und ihre Migrationsaussenpolitik weiterzuführen und gezielt zu verstärken. Der Bundesrat will das Engagement der Schweiz namentlich in den Bereichen Demokratie und Machtteilung, Konfliktprävention und Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung verstärken. In den kommenden Jahren wird sich die Schweiz auch weiterhin auf die Regionen konzentrieren, die für sie von strategischer Bedeutung sind: Mittelmeerraum (Balkan, Naher Osten, Nordafrika), Kaukasus und Zentralasien sowie ausgewählte Länder südlich der Sahara. Dazu kommen einzelne Länder wie Nepal oder Kolumbien, in denen sie ihrer Auffassung nach etwas bewirken kann, weil sie besondere Beziehungen zu ihnen unterhält oder weil Synergien mit anderen Aktivitäten des Bundes vorhanden sind.

Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Rollen von Frauen und Männern und Förderung der Rechte der Frauen im Kontext der Friedenspolitik Bei der menschlichen Sicherheit geht es um die Sicherheit aller Mitglieder einer Gesellschaft. Ein dauerhafter Frieden ist nur dann möglich, wenn alle ­ Männer wie Frauen ­ einbezogen werden. Daher hat sich das EDA verpflichtet, beim Einsatz seiner Instrumente zur Förderung der menschlichen Sicherheit darauf zu achten, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse und Rollen von Frauen und Männern berücksichtigt werden und dass dies in allen Stadien der Programmplanung (Analyse, Planung, Durchführung und Auswertung) geschieht. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dem Schutz von Frauen in Konflikt- und Postkonfliktsituationen sowie der Stärkung ihrer Rechte und der Förderung ihrer aktiven Mitwirkung in Friedensprozessen. Auf internationaler Ebene formuliert die Resolution 1325 des UNO-Sicherheitsrats zum Thema Frauen, Frieden und Sicherheit die Grundsätze
einer Friedenspolitik, die der Gleichberechtigung Rechnung trägt. Die Schweiz überarbeitete 2010 ihren nationalen Aktionsplan, in dem sie den Inhalt der UNO-Resolution übernimmt und den Schweizer Verhältnissen anpasst. Dieser Plan soll eine effiziente und koordinierte Zusammenarbeit aller mit Friedens- und Sicherheitsfragen befassten Stellen der Bundesverwaltung erlauben. Die Strategien der Schweiz im Bereich der Friedensförderung sehen für jedes Land den Einbezug der Genderperspektive, die Förderung von Frauen als Akteurinnen in Friedensprozessen sowie gezielte Massnahmen zur Stärkung der Rechte der Frauen, zum Schutz der Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt und zur Bekämpfung der Straflosigkeit bei diesen Verbrechen vor. Zudem wirkt die Schweiz als UNO-Mitglied (zum Beispiel als Mitglied der «Group of Friends of Resolution 1325»), aber auch im Rahmen anderer wichtiger internationaler Foren aktiv an der Entwicklung internationaler Normen und Instrumente mit, die die Anwendung der Grundsätze der Resolution 1325 fördern sollen.

39

BBl 2011 6311

2978

Vernetzung Intern wurde eine sorgfältige Abstimmung der verschiedenen aussenpolitischen Instrumente der Schweiz vorgenommen. Die Synergien zwischen der Friedensförderung, der humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und den militärischen Beiträgen zur Friedenssicherung ­ einem wichtigen Bestandteil des Schweizer Engagements für die internationale und die menschliche Sicherheit ­ wurden verstärkt, sodass die Bemühungen wirksamer gestaltet werden konnten. Angesichts der Herausforderungen, die fragile Staaten und Postkonfliktstaaten für die menschliche und die internationale Sicherheit darstellen, will die Schweiz die Synergien zwischen ziviler und militärischer Friedensförderung erhöhen. Auf diese Weise will sie in Übereinstimmung mit den im Sicherheitspolitischen Bericht 201040 definierten Leitlinien auch ihre Kapazitäten für die Unterstützung multilateraler Einsätze zur Sicherung der Friedenskonsolidierung ausbauen.

Friedensförderung Die Programme zur zivilen Friedensförderung 2011 stellte die Schweiz rund drei Viertel ihrer für die zivile Friedensförderung vorgesehenen Mittel für Programme bereit, die in Schwerpunktregionen und -ländern entwickelt worden waren. Die Bemühungen konzentrierten sich auf Südosteuropa, den Nahen Osten, West- und Zentralafrika, den Sudan und das Horn von Afrika, die Region der Grossen Seen, Nepal und Kolumbien. Angesichts der Volksaufstände, die seit Anfang 2011 mehrere Länder Nordafrikas erfasst hatten, beschloss die Schweiz, in diesen Ländern Programme zur Unterstützung der Demokratisierung einzuleiten. Die übrigen Mittel, die für die zivile Friedensförderung vorgesehen waren, wurden für einzelne Interventionen namentlich in Indonesien, Thailand, Kirgisistan und dem Nordkaukasus verwendet.

Westbalkan: Das Engagement der Schweiz entspricht der Mehrfachtransition, die diese Region durchmacht: eine Nachkriegstransition und eine demokratische und eine wirtschaftliche Transition. Mit ihrer friedenspolitischen Arbeit trägt die Schweiz zur Vertrauensbildung zwischen Bevölkerungsgruppen und Staaten bei: Sie erleichtert politische Dialoge und entwickelt Aktivitäten, die zu einer verstärkten Mitwirkung der Minderheiten in den politischen Institutionen beitragen sollen. Die Aktivitäten der Schweiz leisteten einen erheblichen Beitrag zur Dezentralisierung in Kosovo,
die in den vergangenen Jahren zu einer verstärkten Mitwirkung der serbischen Bevölkerung in den kosovarischen Institutionen geführt hat. Sodann unterstützt die PA IV den politischen Dialog zwischen serbischen Entscheidungsträgern aus Kosovo und aus Serbien, in den auch albanische Persönlichkeiten einbezogen werden. Dieser Dialog ist der einzige Konsultationsmechanismus, der den serbischen Entscheidungsträgern in den beiden Ländern zur Verfügung steht. Mit dessen Hilfe können den Regierungen konkrete Vorschläge zur Beilegung der Probleme übermittelt werden, die das Leben der serbischen Bürgerinnen und Bürger in Kosovo schwierig gestalten. Dadurch konnten die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften verbessert werden. In der festen Überzeugung, dass es für Staaten wichtig ist, sich der Vergangenheit zu stellen, engagiert sich die Schweiz zudem für die Transitionsjustiz und die Vergangenheitsarbeit. Sie unterstützt rechtliche Aktivitäten wie die des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien 40

Bericht des Bundesrates vom 23. Juni 2010 an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz, BBl 2010 5133

2979

oder des bosnischen Gerichtshofs sowie auch ausserrechtliche Aktivitäten, die von den Regierungen oder den Zivilgesellschaften der Region initiiert werden und zur Versöhnung beitragen. So beteiligen sich etwa die Partner der PA IV an der Suche nach verschwundenen Personen und sind auch im Medien- und im Bildungsbereich aktiv, um die Verständigung und die Kenntnis der jüngsten Vergangenheit zu fördern. Die Schweiz nimmt zudem teil an zivilen und militärischen Einsätzen der NATO und der EU in Kosovo (EULEX, KFOR. ICO) sowie in Bosnien und Herzegowina (EUPM, EUFOR).

Naher Osten: Es ist der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen, Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bewegen. Auf der zivilgesellschaftlichen Ebene förderte die Schweiz die Entwicklung eines Musterabkommens, das unter der Bezeichnung «Genfer Initiative» bekannt geworden ist und das nunmehr auch einen Anhang zum Thema Flüchtlinge enthält. Dieser Text ist nach wie vor die detaillierteste Vorlage für eine Zweistaatenlösung. Anlässlich einer Konferenz im November 2011 wurde die Genfer Initiative erneut lanciert. Sie festigte die Verbindungen zur «Arabischen Friedensinitiative». Die Schweiz unterstützte überdies den Dialog mit Bevölkerungsgruppen, die einer Zweistaatenlösung skeptisch gegenüberstehen. Zur Förderung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte intensivierte die Schweiz den Dialog mit allen Parteien. Vor und während der Aufstände in den arabischen Ländern förderte sie Foren und knüpfte Kontakte zwischen Persönlichkeiten aus dem Westen und Vertreterinnen und Vertretern von religiös ausgerichteten Oppositionsparteien. Im Übrigen hat die Schweiz mit ihrem regionalen Ansatz zur Förderung der Zusammenarbeit im Bereich der Wasserbewirtschaftung beigetragen (vgl. Ziff. 2.3.4). Seit Juni 2011 stellt die Schweiz auch den Stellvertreter des Missionschefs der UNO-Organisation zur Überwachung des Waffenstillstands (UNTSO).

Nordafrika: Die Volksaufstände des Jahres 2011 in Tunesien, Ägypten und Libyen waren der Beginn eines Transitionsprozesses, der zwar zahlreiche Herausforderungen mit sich bringt, der Schweiz aber auch die Möglichkeit bietet, nicht zuletzt im eigenen Interesse einen aktiven Beitrag zur Stabilisierung des Mittelmeerraums zu
leisten, indem sie die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zu den nordafrikanischen Ländern ausbaut. Als Land ohne koloniale Vergangenheit und mit demokratischer Erfahrung besitzt die Schweiz einen besonderen Mehrwert für Länder, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden. Im Sinne einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit und auf Anfragen hin hat die Schweiz bereits Bemühungen um die Rückgabe unrechtmässig erworbener Vermögenswerte unterstützt. Im Hinblick auf ein langfristiges bilaterales und multilaterales Engagement und in der Absicht, die Entwicklung stabiler, partizipativer und pluralistischer Demokratien zu fördern, konzentrierte die Schweiz 2011 ihre Bemühungen auf Projekte, deren Ziel die Stärkung der Zivilgesellschaft und ihre aktive Teilnahme an Wahlprozessen, die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen und der Dialog der politischen Kräfte ist. Für Tunesien beispielsweise stellte die Schweiz Wahlexpertinnen und -experten zur Verfügung und beteiligte sich an der internationalen Wahlbeobachtung.

West- und Zentralafrika: Im Rahmen ihres friedenspolitischen Programms in der Region unterstützt die Schweiz die Initiativen lokaler Partner in Mali, Niger und Tschad, um zur Prävention und Beilegung der immer wieder neu aufflammenden grenzüberschreitenden Konflikte beizutragen. Die libysche Krise hat im Bereich der 2980

Sicherheit, der Migration und der Verbreitung von Kriegsmaterial Auswirkungen auf die gesamte Sahel- und Sahara-Region. Umso wichtiger sind die von der Schweiz geförderten Projekte. Die Schweizer Unterstützung umfasst namentlich Foren, an denen verschiedene Gemeinschaften teilnehmen, interregionale Gespräche, Kontaktnetze für den Frieden sowie technische Hilfe für Einrichtungen, die sich für Versöhnung und Friedenskonsolidierung einsetzen. Des Weiteren sollen die in der Region vorhandenen, insbesondere frankophonen, Kapazitäten im Bereich der präventiven Diplomatie, der Mediation und der Vergangenheitsarbeit weiterentwickelt und ihre Bündelung gefördert werden. Gleichzeitig engagiert sich die Schweiz auf regionaler Ebene auch weiterhin für den Ausbau der zivilen Friedenssicherungskapazitäten, indem sie die «Ecole du maintien de la paix» in Bamako sowie die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (ECOWAS) unterstützt.

Sudan, Südsudan und Somalia: In Übereinstimmung mit dem «Umfassenden Friedensabkommen» (CPA) von 2005, das durch einen unter Vermittlung der Schweiz zustande gekommenen Waffenstillstand möglich geworden war, organisierte der Süden des Landes am 9. Januar 2011 eine Volksabstimmung. 98,8 % der Südsudanesen sprachen sich für die Unabhängigkeit aus, die schliesslich am 9. Juli 2011 ausgerufen wurde. Am 14. Juli wurde die neue Republik Südsudan der 193. Mitgliedstaat der UNO. Vor diesem Hintergrund gewährt die Schweiz unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse des Landes sowie der Fragen, die es nach der Abspaltung vor allem im wirtschaftlichen Bereich noch zu regeln gilt, beiden Ländern Unterstützung in folgenden Bereichen: Währung, Aufteilung von Staatsvermögen und -schulden, Entschuldungsfrage, Erarbeitung neuer Verfassungen sowie Schaffung neuer staatlicher Strukturen, die dem friedlichen Zusammenleben in diesen multinationalen, multiethnischen und multireligiösen Ländern förderlich sind.

Die Schweiz engagiert sich auch für den Frieden und die Menschenrechte, insbesondere in Darfur.

In Südsudan hilft die Schweiz der Regierung beim Aufbau föderaler und dezentraler staatlicher Strukturen, die im Rahmen der seit 2005 in der Entwicklung befindlichen modernen Regierungsstrukturen namentlich traditionelle Autoritäten in die politischen Prozesse einbinden sollen. Sie
stellt auch Unterstützung für die humanitäre Minenräumung, die Vernichtung explosiver Munitionsrückstände, die Reform des Sicherheitssystems sowie den ordnungsgemässen Betrieb der neuen Zentralbank bereit.

In Somalia verfolgt die Schweiz einen zweigleisigen Ansatz: Sie unterstützt zum einen über das Politische Büro der Vereinten Nationen für Somalia (UNPOS) die Föderale Übergangsregierung Somalias (TFG) in Mogadischu und zum anderen die regionalen Körperschaften (Somaliland, Puntland, Galmudug, Himan und Heeb sowie die Region, die von der Gruppe Ahlu Sunna wal Jamaa kontrolliert wird). Ihre Prioritäten sind die Förderung des Dialogs, Hilfe bei Verfassungsfragen, die Einrichtung stabilisierender Institutionen und die humanitäre Minenräumung. Als Mitglied der Internationalen Somalia-Kontaktgruppe seit 2009 nimmt die Schweiz an den halbjährlichen Tagungen dieser Gruppe teil, an denen über regionale Lösungen gesprochen und verhandelt wird. Die Schweiz ist seit 2002 auch Mitglied der informellen Staatengruppe «Friends of Somalia».

Region der Grossen Seen: Im Mittelpunkt der Schweizer Bemühungen um Friedenskonsolidierung in Burundi stehen die Förderung des Dialogs, die Vergangenheitsarbeit, die Achtung der Menschenrechte und die Eindämmung von Kleinwaffen und leichten Waffen. Das politische Klima hat sich verschlechtert, doch die Schweiz 2981

hat ihre Kontakte zu allen politischen Akteuren aufrechterhalten und bietet eine der wenigen Plattformen, auf denen noch ein Dialog möglich ist. Dank der Unterstützung der Schweiz konnte Burundi sich 2011 gemäss Artikel 5 des Übereinkommens über das Verbot von Anti-Personenminen41 für minenfrei erklären. Die Schweiz hat den Vorsitz der Konfiguration für Burundi der UNO-Kommission für Friedenskonsolidierung inne und setzt sich in diesem Rahmen für ein Umfeld ein, das der nachhaltigen Entwicklung förderlich ist. Da die Kivu-Region in der Demokratischen Republik Kongo von grösster Bedeutung für einen dauerhaften Frieden in der Region der Grossen Seen ist, will die Schweiz ihr Engagement in diesem Land in den Bereichen Dialog und Gouvernanz sowie Vergangenheitsarbeit ausweiten. Sie leistet einen Beitrag zur Stabilisierungsmission der UNO in der Demokratischen Republik Kongo, indem sie Militärbeobachter und Expertinnen und Experten für humanitäre Minenräumung entsendet.

Kolumbien: 2011 wurde die externe Evaluation des Schweizer Programms für Friedenspolitik und Menschenrechte in Kolumbien abgeschlossen. Sie zeigt, dass die Schweiz aufgrund ihres langfristigen Engagements als glaubwürdig angesehen wird und bei den verschiedenen Akteuren grosses Vertrauen geniesst. In dieser letzten Phase des Programms konnte sich die Schweiz insbesondere im Bereich Vergangenheitsarbeit positionieren und durch das Programm SUIPPCOL die Kapazitäten und die Initiativen der Zivilgesellschaft stärken und damit ihre Vorschläge zur Friedensförderung unterstützen. In der nächsten Phase wird das Friedensförderungsprogramm verstärkt nach Synergien mit den im Land tätigen Schweizer Programmen der Entwicklungszusammenarbeit suchen. Um sich stärker in der Förderung der Menschenrechte zu engagieren und ihr Profil zu schärfen, hat die Schweiz seit dem zweiten Halbjahr 2011 den Vorsitz des Unterausschusses für Menschenrechte der G-24 inne. Die G-24 ist ein tripartiter Ausschuss, in dem die 24 Geberländer sowie die kolumbianische Regierung und die Zivilgesellschaft vertreten sind und der Kolumbien seit 2003 bei den Bemühungen um einen dauerhaften Frieden begleitet.

Durch ihre Präsenz hat die Schweiz Gelegenheit, mit der Regierung ausführliche Gespräche über die Menschenrechte zu führen. So dient sie als Brücke zwischen der Zivilgesellschaft
und der Regierung und kann dazu beitragen, dass beide Seiten ihre jeweiligen Interessen kennen und berücksichtigen.

Nepal: In dem nach wie vor instabilen Kontext konnten bei den Bemühungen um eine neue Verfassung und bei der Ausräumung von Differenzen bezüglich der Wiedereingliederung ehemaliger maoistischer Kämpfer erhebliche Fortschritte erzielt werden. Anfang November wurde ein Abkommen (7 Points Agreement) unterzeichnet, das die Wiedereingliederung beziehungsweise die Pensionierung der Kämpfer einleitet, die etwa ein Jahr dauern wird. Die Unterzeichnung dieses Abkommens gab den Verfassungsverhandlungen neue Impulse, sodass eine Kommission eingesetzt wurde, die die neue bundesstaatliche Struktur des Landes entwerfen soll. Die Schweiz hat weitgehend zu dieser Entwicklung beigetragen, indem sie die politischen Parteien als «Fazilitatorin» und Vermittlerin begleitete. Sie unterstützt auch weiterhin die Reform des Staates, insbesondere im Zusammenhang mit der neuen bundesstaatlichen Struktur Nepals.

41

Übereinkommen vom 18. September 1997 über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Anti-Personenminen und über deren Vernichtung, SR 0.515.092

2982

Punktuelle Interventionen: In Thailand leistete die Schweiz einen beträchtlichen Beitrag an den Prozess der nationalen Versöhnung nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen vom Frühjahr 2010. Dies trug zum friedlichen Verlauf der Parlamentswahlen vom Juli 2011 bei. Ausserdem hat die Schweiz den Dialogprozess zwischen der Regierung und den bewaffneten Gruppen im Rahmen des Konflikts im Süden Thailands, der seit 2004 rund 5000 Menschenleben forderte, direkt und unauffällig unterstützt. In Indonesien unterstützte die Schweiz unauffällig die Vorbereitungen der verschiedenen Konfliktparteien auf einen allfälligen Dialog zwischen der Regierung und West-Papua. Im März 2011 begann der «nationale Dialog für Kirgisistan», der von der Schweiz und einer britischen NGO gemeinsam begleitet und beraten wird. 2011 haben drei Dialogrunden mit Vertreterinnen und Vertretern der Regierung, der Parteien und der Zivilgesellschaft stattgefunden; zur Diskussion standen politische Probleme und die nationale Sicherheit. Zudem setzte die Schweiz ihre von den Behörden und der Zivilgesellschaft unterstützten Bemühungen zur Förderung der Sicherheit der Zivilbevölkerung im Nordkaukasus fort. Insbesondere unterstützte sie die Suche nach Personen, die während der Konflikte der 1990er-Jahre verschwunden waren, bot psychosoziale Hilfe für die am stärksten Betroffenen an und schützte Zivilpersonen.

Friedenssichernde Aufgaben Die Programme der zivilen Friedensförderung umfassen Aktivitäten zur Gewährleistung der Nachhaltigkeit von Friedensprozessen, für die die Schweiz anerkanntermassen besonderes Fachwissen mitbringt: Mediation, Vergangenheitsarbeit und Genozid-Prävention, Fragen in Zusammenhang mit Frieden und Gerechtigkeit, Stärkung des Rechtsstaats, Föderalismus, Machtteilung, Unterstützung bei Wahlprozessen und Einbezug religiöser Faktoren.

Mediation, Unterstützung von Mediation und «Fazilitation»: Die Mediation in Friedensverhandlungen ist eines der wichtigsten und erfolgreichsten Instrumente der zivilen Friedensförderung. Die meisten bewaffneten Konflikte werden heute durch Friedensverhandlungen beigelegt. Aus diesem Grund hat die Schweiz ihre Vermittlungstätigkeit ausgebaut. Im vergangenen Jahr nahm sie an mehr als einem Dutzend Mediationsverfahren teil. Diese Mediationen sind höchst unterschiedlicher Art, und eine der
wichtigsten Lehren aus dem letzten Jahrzehnt ist die, dass jeder Konflikt einzigartig ist. Daher ist die internationale Gemeinschaft bei jedem Konflikt mit einem anderen Kontext konfrontiert. Friedensverhandlungen sind heute komplexe Prozesse: Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung der Kämpfer der bewaffneten Gruppen ins zivile Leben oder in die Streitkräfte, Aufbau der staatlichen Institutionen, Machtteilung und föderalistische Strukturen, Verfassungsrevision, Transitionsjustiz, Vergangenheitsarbeit und Verteilung der Einkommen aus natürlichen Ressourcen sind nur einige der Themen, über die zu verhandeln ist. Die Konfliktparteien ­ und insbesondere die nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen ­ sind während der gesamten Dauer der Verhandlungen sowie auch bei der Umsetzung des Friedensvertrages auf Unterstützung angewiesen. Deshalb hat die Schweiz Beraterinnen und Berater für Fragen menschlicher Sicherheit in mehrere Länder entsandt, so etwa nach Nepal, wo sie als «Fazilitatoren» und Vermittler zwischen den traditionellen politischen Parteien, den Maoisten und dem Madhesi-Forum tätig sind. 2011 konnte die Schweiz ihre Vermittlungstätigkeit bei den Verhandlungen zwischen Georgien und Russland über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) erfolgreich abschliessen.

2983

Der UNO stellte die Schweiz 2011 verschiedene Formen von Unterstützung zur Verfügung, und zwar namentlich finanzielle Mittel und Personal für den Ausbau ihrer Kapazitäten. So wurde beispielsweise Personal für die Zentrale der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten am New Yorker Sitz der UNO sowie für UNOMissionen bereitgestellt; zwei Schweizer Experten arbeiten in dem kleinen Team des Vermittlers des UNO-Generalsekretärs für Westsahara, und im Rahmen der Verhandlungen von Doha organisierten Schweizer Expertinnen und Experten Workshops über den Ausbau der Kapazitäten der Bewegungen im Darfur. Überdies unterstützt die Schweiz verschiedene NGO, die in der Vermittlung tätig sind, und arbeitet bei mehreren Friedensprozessen mit ihnen zusammen.

Vergangenheitsarbeit und Prävention von Gräueltaten: Am 1. April 2011 wurde nach zahlreichen Anfragen eine Task Force für Vergangenheitsarbeit und Prävention von Gräueltaten eingesetzt. Sie stellt Regierungen und internationalen Instanzen auf Anfrage Begleitung, methodologische Beratung, politische Unterstützung und Knowhow zur Verfügung. Dies gilt beispielsweise für Kolumbien, den Balkan, den Kaukasus, Guatemala, Burundi und den Mittelmeerraum und betrifft so unterschiedliche Bereiche wie die Umsetzung nationaler Strategien gegen Straflosigkeit, die Einsetzung von Untersuchungs- oder Wahrheitskommissionen, Wiedergutmachungsinitiativen, Demobilisierungsverfahren, die Organisation der Lagerung der Archive von Sondergerichtshöfen in den betreffenden Regionen, Schutz von und Zugang zu Archiven zu den Themen Menschenrechtsverletzungen und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht sowie die Lagerung von Sicherheitskopien in der Schweiz. An der Tagung des UNO-Menschenrechtsrats im September 2011 legte die Schweiz zusammen mit Argentinien und Marokko eine Resolution vor, in der die Bestellung eines Sonderberichterstatters für die Förderung der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Wiedergutmachung und der Garantien zur Nichtwiederholung angeregt wurde. Zum Thema Prävention von Gräueltaten organisierte die Schweiz zusammen mit Argentinien und Tansania im April 2011 das dritte regionale Forum über die Prävention von Völkermord. Sie setzt sich für den Aufbau eines Netzwerks nationaler Kontaktstellen ein, die rasche, sachdienliche und strategische Informationen bereitstellen,
sobald eine Situation gefährlich wird.

Unterstützung von Wahlprozessen: Die Wahlen sind in Friedensprozessen häufig eine sehr wichtige, aber auch heikle Phase, denn es geht um die Legitimation der Regierenden. Viele Friedensverträge enthalten deshalb Bestimmungen zu Wahlterminen und zu Rahmenbedingungen für die Wahlen. Demokratische Wahlen nach bewaffneten Konflikten sind also ein Mittel zu politischer Stabilisierung, doch sie können auch sehr destabilisierend wirken. Kommt hinzu, dass es anlässlich von Wahlen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen auch in Ländern kommen kann, in denen es keinen bewaffneten Konflikt gibt. Daher bemüht sich die Schweiz in Zusammenarbeit mit Behörden sowie internationalen und lokalen Organisationen, die Bewusstseinsbildung zu fördern und das mit den Wahlen verbundene Konfliktpotenzial zu analysieren, um sodann Massnahmen für einen deeskalierenden Umgang mit gewaltsamen Zwischenfällen während der Wahlen vorzuschlagen, darunter beispielsweise die Transparenz und Glaubwürdigkeit der Wahlen. 2011 hat die Schweiz verschiedenen Wahlbehörden Schweizer Expertinnen und Experten zur Verfügung gestellt. Des Weiteren unterstützte sie zivilgesellschaftliche Projekte, die das Umfeld von Wahlen beruhigen sollen. Zudem unterstützt sie nach wie vor die Entwicklung eines Tools, um gewaltsame Konflikte im Zusammenhang mit Wahlen bereits im Vorfeld abzubauen und beizulegen.

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Der religiöse Faktor bei der Beilegung von Konflikten: Die Aufstände in Nordafrika, im Nahen Osten und in der Golfregion, die in erster Linie staatsbürgerliche und demokratische Rechte fordern, sind vielversprechend. Das Verhältnis von Religion und Staat und der Einbezug aller dialogbereiten religiösen Akteure in reformwilligen Koalitionen: Das sind Fragen, die geklärt werden müssen, um die Rückkehr zu einem autoritären Regime sowie erneute Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen zu verhindern. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der Fondation de Cordoue (Genf) hat die Schweiz begonnen, die politische Transition in diesen Ländern über die vertrauensbildenden Kontaktnetze der Stiftung beratend und unterstützend zu begleiten und damit die bürgernahen, partizipativen, inklusiven und gewaltfreien Ansätze zu fördern, die im Rahmen der Aufstände entstanden. Zudem unterhält die Schweiz mit einschlägigen Stellen der EU einen regen Austausch über die optimale Unterstützung von Reformkoalitionen. Der Bund begleitet den Dialog zwischen Behörden und muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz auch weiterhin mit seinem Knowhow. Dieser Dialog, in dessen Mittelpunkt das Thema des staatsbürgerlichen Engagements steht, ist heute wieder sehr aktuell. Des Weiteren fördert und unterstützt die Schweiz im Rahmen der Gruppe von Freunden der UNOAllianz der Zivilisationen die Einrichtung thematischer Plattformen, die sich mit Fragen von gemeinsamem Interesse befassen, die in Form von praktischen Aktionen Brücken zwischen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen schlagen können.

Erhöhung der Sicherheit der Bevölkerung Auf bilateraler und multilateraler Ebene setzt sich die Schweiz für mehr weltweite Sicherheit ein. Sie bemüht sich namentlich um die weltweite Eindämmung der bewaffneten Gewalt, und zwar insbesondere der Gewalt, die durch Anti-Personenminen, explosive Munitionsrückstände sowie Kleinwaffen und leichte Waffen verursacht wird. Diese Waffen fordern zahlreiche Opfer, vor allem in der Zivilbevölkerung. Dadurch verschärfen sie Konflikte und führen zu einer massiven Beeinträchtigung der Entwicklung der betroffenen Gesellschaften.

Anti-Personenminen: Zwölf Jahre nach Inkrafttreten der Ottawa-Konvention über das Verbot der Anti-Personenminen42 ist die Vision einer minenfreien Welt näher gerückt. Dennoch bleiben
grosse Herausforderungen bestehen: So sind rund vierzig Staaten dem Abkommen immer noch nicht beigetreten, und eine Reihe von Vertragsstaaten ist mit der Umsetzung ihrer Verpflichtungen im Bereich der Minenräumung und der Vernichtung von Lagerbeständen in Verzug. Die Schweiz engagiert sich aktiv für die Umsetzung der Ottawa-Konvention. 2011 leitete sie zusammen mit Kolumbien den Ständigen Ausschuss für Minenräumung. Die Schweiz plädiert für einen integrierten Ansatz, der sowohl humanitäre als auch entwicklungsspezifische Aspekte umfasst und die Diskriminierung einzelner Opfergruppen vermeidet. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, die eine Strategie für die humanitäre Minenräumung und die Beseitigung explosiver Munitionsrückstände entwickelt haben.

Diese Strategie wird regelmässig aktualisiert und stellt die Grundlage für das internationale Engagement der Schweiz dar, bei dem in Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Departementen Projekte durch Schweizer Expertinnen und Experten oder finanzielle und materielle Beiträge unterstützt werden. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass die Zivilbevölkerung und die Mitglieder internationaler Missionen 42

Übereinkommen vom 18. September 1997 über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Anti-Personenminen und über deren Vernichtung, SR 0.515.092

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besser geschützt und nichtstaatliche Akteure in das Verbot der Anti-Personenminen eingebunden werden. Dementsprechend unterstützt sie die Tätigkeit der nichtstaatlichen Organisation «Appell von Genf», die nichtstaatliche Akteure zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts aufruft. Die Schweiz legt auch ein besonderes Gewicht auf die Berücksichtigung von Genderaspekten, da Frauen, Männer, Knaben und Mädchen in unterschiedlicher Weise von Minen und anderen Kriegsmaterialrückständen betroffen sind. Ausserdem hat die Schweizer Armee 2011 im Rahmen der Strategie den UNO-Minenräumprogrammen durchschnittlich neun Experten zur Verfügung gestellt. Insgesamt hat die Schweiz 2011 rund 15 Millionen Franken in diesem Bereich ausgegeben, wobei rund die Hälfte an das Genfer Zentrum für humanitäre Minenräumung ging.

Bewaffnete Gewalt und Entwicklung: Im Rahmen ihrer Bemühungen um die Eindämmung des unerlaubten Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen und deren missbräuchliche Verwendung ist die Schweiz seit 2006 bestrebt, auf die Wechselwirkungen zwischen bewaffneter Gewalt und Entwicklung aufmerksam zu machen.

Dies geschieht parallel zu ihrer traditionellen Unterstützung für die Bekämpfung des unerlaubten Handels mit leichten Waffen. Die Genfer Erklärung über bewaffnete Gewalt und Entwicklung43 ist eine diplomatische Initiative, die von der Schweiz gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) lanciert wurde und deren Ziel es ist, bis 2015 einen messbaren Rückgang der bewaffneten Gewalt und ihrer schädlichen Auswirkungen auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen. Auf Anregung der Schweiz und einer Gruppe gleichgesinnter Länder sind die Fragen, mit denen sich diese Initiative auseinandersetzt, auf die Tagesordnung der UNO gelangt. Dies geschah durch die Veröffentlichung eines Berichts des Generalsekretärs (August 2009) mit dem Titel «Förderung der Entwicklung durch die Verminderung und Verhütung bewaffneter Gewalt», dessen Erstellung Ende 2008 in einer Resolution der Generalversammlung zu diesem Thema44 gefordert worden war. Die Schweiz leitet die Lenkungsgruppe des Prozesses der Genfer Erklärung, in der vierzehn Regierungen vertreten sind und die sich namentlich auf der Grundlage dieses Berichts für eine Vertiefung dieses Themas in der UNO einsetzt und neue
Massnahmen zur Verbesserung der Situation vorschlägt. Nach der Annahme der von der norwegischen Regierung geförderten «Verpflichtungen von Oslo» 2010 organisierte die Schweiz im Oktober 2011 zusammen mit dem UNDP die zweite Überprüfungskonferenz auf Ministerebene zum Thema bewaffnete Gewalt und Entwicklung. Zu diesem Anlass versammelten sich in Genf Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen, internationalen und regionalen Organisationen sowie der Zivilgesellschaft und des Privatsektors. Ziel der Überprüfungskonferenz war es, die bislang erreichten Fortschritte zu evaluieren und festzulegen, wie die Genfer Erklärung über bewaffnete Gewalt und Entwicklung bis 2015 zur Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele beitragen kann.

Die drei Genfer Zentren: Gemäss Bundesratsbeschluss vom 24. Februar 2010 ist das EDA seit Januar 2011 zuständig für die gesamte Finanzierung und Verwaltung des Beitrags des Bundes für die drei Genfer Zentren: das Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP), das Genfer Internationale Zentrum für humanitäre Minenräumung (GICHD) und das Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte (DCAF). Dieser Beitrag beläuft sich auf 119,9 Millionen Franken für die 43 44

www.eda.admin.ch > Themen > Freiden und Sicherheit > Frieden > Unterstützung durch die Schweiz bei Konfliktlösungen > Diplomatische Initiativen A/RES/63/23

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Jahre 2012­2015. Die drei unabhängigen, von der Schweiz gegründeten Stiftungen fördern seit mehr als zehn Jahren die internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Frieden, Sicherheit, Demokratisierung und nachhaltige Entwicklung. Mit ihren Aktivitäten erzielen sie grosse Multiplikatoreffekte für die Aussenpolitik der Schweiz und erweitern ihre Nischenkenntnisse, insbesondere in Bereichen wie der Ausbildung von Expertinnen und Experten für internationale Friedensmissionen, Abrüstung, Reform des Sicherheitssektors, humanitäre Minenräumung und Beseitigung explosiver Munitionsrückstände im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (PfP). Die drei Zentren bieten weltweit anerkannte Ausbildungsgänge, Beratung, ziviles und militärisches Fachwissen sowie Diskussionsplattformen und verfügen über eine ausserordentlich breite internationale Unterstützung, wie 2011 die Aufnahme neuer Mitglieder in die Stiftungsräte der drei Zentren gezeigt hat: China und Indien wurden Mitglieder im Rat des GCSP, Tunesien, Kirgisistan und mehrere westafrikanische Länder im Rat des DCAF.

Engagement von zivilen Schweizer Expertinnen und Experten in internationalen Organisationen Die Zunahme der Friedenssicherungseinsätze der UNO und regionaler und subregionaler Akteure sowie die beträchtliche Zunahme der zivilen Aufgaben und Rollen in den komplexen Operationen seit dem Ende des Kalten Krieges haben gezeigt, wie wichtig ziviles Fachwissen für die Friedenssicherung und Stabilisierung und ganz besonders für die Friedenskonsolidierung und den Wiederaufbau ist. Die internationalen Organisationen (UNO, EU, Afrikanische Union usw.) intensivieren ihre Bemühungen und ihre Strategien und bauen ihre Kapazitäten und ihren Personalbestand im Bereich der zivilen Friedensförderung aus. Die Schweiz ist mit ihrer langjährigen Erfahrung bei der Entsendung ziviler Expertinnen und Experten in andere Länder gut positioniert, um als ernstzunehmende Gesprächspartnerin an der internationalen Debatte über diese Fragen teilzunehmen und vor Ort einen konkreten Beitrag zur menschlichen Sicherheit zu leisten. Der kontinuierliche Einsatz und die Detachierung von Schweizer Expertinnen und Experten in internationale Organisationen haben sich seit den 1990er-Jahren als wirksames und profiliertes Instrument der schweizerischen Friedens- und Menschenrechtsförderung
bewährt. Die Fachkenntnis und die professionelle Arbeit der Schweizer Expertinnen und Experten werden sehr geschätzt und gewährleisten die anhaltende Sichtbarkeit des Schweizer Engagements.

Im Laufe des Jahres 2011 wurden 208 Expertinnen und Experten der zivilen Friedens- und Menschenrechtsförderung in kurzen oder längeren bilateralen und multilateralen Missionen in 43 Ländern eingesetzt. Im Schnitt waren 95 Personen, davon 44 % Frauen, gleichzeitig im Einsatz, darunter 19 Beraterinnen und Berater auf bilateraler Ebene (für Friedenskonsolidierung, für die Förderung der Menschenrechte und für andere Bereiche). Die Beteiligung an Wahlbeobachtungen der OSZE, der EU, der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) und der Internationalen Organisation der Frankophonie (OIF) ist ein traditioneller Schwerpunkt des Schweizer Engagements. 2011 wurden 72 Personen bei Wahlbeobachtungen in 16 Missionen in 14 Ländern eingesetzt.

Die Auswahl der multilateralen Organisationen, der Länder sowie der Stellen für die Entsendung von Schweizer Expertinnen und Experten orientiert sich an den geografischen und thematischen Schwerpunkten der Schweiz im Bereich der menschlichen Sicherheit. Die Aktivitäten konzentrieren sich auf Themen wie Stärkung der staatli2987

chen Strukturen, Rechtsstaatlichkeit, Vergangenheitsarbeit, Menschenrechte und humanitäres Recht sowie Wahlbeobachtung. Der Expertenpool für zivile Friedensförderung entsendet Expertinnen und Experten in ausgewählte Stellen an den Zentralen und Sitzen der UNO, der EU, der OSZE und des Europarats. Über die Entsendung qualifizierter Schweizer Expertinnen und Experten leistet die Schweiz einerseits einen wichtigen Beitrag zur Aufgabenerfüllung von multilateralen Institutionen, andererseits fliessen die Erfahrungen und die Expertise zurück in die Schweiz. Neben der konzeptuellen Planung und Auswahl der Stellen, der Rekrutierung von qualifiziertem Personal, der Entsendung und Betreuung der Expertinnen und Experten, ihrer Evaluation sowie dem operativen Dialog mit den multilateralen Organisationen werden auch Aus- und Weiterbildungsprogramme durchgeführt.

Militärische Friedensförderung Die Schweiz leistet auch via militärische Friedensförderung einen Beitrag zur internationalen Stabilität und Sicherheit. Die Frage, wo die Schweiz mit welchen und wie vielen Mitteln militärische Friedensförderung betreibt, wird in enger Absprache zwischen EDA und VBS festgelegt, weil es sich um einen Bereich handelt, wo sich aussen- und sicherheitspolitische Überlegungen und Interessen überschneiden. Das personelle Engagement der Schweiz in der militärischen Friedensförderung blieb in den vergangenen Jahren stabil. 2011 waren rund 280 Armeeangehörige ständig im Einsatz, die meisten davon in Kontingenten in Kosovo und in Bosnien und Herzegowina oder als UNO-Militärbeobachter. Daneben leisteten einzelne Expertinnen und Experten Beiträge zur humanitären Minenräumung, zur sicheren Lagerung oder Vernichtung leichter Waffen und Munition sowie zur Reform des Sicherheitssektors.

Gemäss dem Sicherheitspolitischen Bericht 201045 soll das Engagement in der militärischen Friedensförderung in den nächsten Jahren in quantitativer und qualitativer Hinsicht ausgebaut werden.

Menschenrechtspolitik Neue Herausforderungen und Initiativen Die Achtung der Menschenrechte ist eine unerlässliche Voraussetzung für den Aufbau einer stabilen und friedlichen Welt. Frieden und Sicherheit sind in der Staatengemeinschaft nur dann möglich, wenn jeder Staat in seinem Hoheitsgebiet die Menschenrechte und die Grundfreiheiten einhält. Das Engagement für
die Menschenrechte entspricht der Tradition der Schweiz und ist eines der in der Bundesverfassung festgehaltenen Ziele. Die Schweiz will im Rahmen ihrer Aussenpolitik solidarisch und konstruktiv zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte beitragen, indem sie sich namentlich für eine faire Welthandelsordnung einsetzt und aktiv im UNO-Menschenrechtsrat mitarbeitet, zu dessen Gründung sie massgeblich beigetragen hat. Deshalb beschloss sie im Mai 2011, ihre Menschenrechtspolitik neu auszurichten, um sie den globalen Realitäten anzupassen: Künftig werden alle Treffen im Rahmen der bilateralen und der multilateralen Beziehungen systematisch für die Förderung der Menschenrechte genutzt.

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Bericht des Bundesrates vom 23. Juni 2010 an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz, BBl 2010 5133

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Diplomatische Initiativen Unternehmensverantwortung und Achtung der Menschenrechte: Am 9. November 2010 unterzeichneten die Vertreterinnen und Vertreter von rund sechzig Militär- und Sicherheitsfirmen den internationalen Verhaltenskodex für private Sicherheitsunternehmen, der auf Initiative der Schweiz in Zusammenarbeit mit Branchenverbänden und mit Unterstützung der wichtigsten Abnehmerregierungen ausgearbeitet worden war. Mit der Unterzeichnung des Kodex verpflichteten sich die Militär- und Sicherheitsunternehmen, im Rahmen ihrer Aktivitäten die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und die internationalen Menschenrechtsnormen einzuhalten. Bis Dezember 2011 haben 266 private Sicherheitsunternehmen aus 47 Ländern den Kodex unterzeichnet. Ein von den Beteiligten eingesetzter Lenkungsausschuss befasste sich mit der Ausarbeitung der Grundlagen eines Gouvernanz- und Kontrollmechanismus, der die Umsetzung des internationalen Verhaltenskodexes sicherstellen soll. Die Statuten dieses Mechanismus werden 2012 fertiggestellt, und der Mechanismus selbst wird im Laufe des Jahres eingerichtet.

Im September 2011 ist die Schweiz der internationalen Initiative «Freiwillige Grundsätze für Sicherheit und Menschenrechte» beigetreten, die von Staaten, Unternehmen und der Zivilgesellschaft lanciert worden war und deren Ziel es ist, die Achtung der Menschenrechte im Rahmen der Sicherheitsdispositive im Rohstoffund Energiesektor zu fördern. Mit dem Beitritt verpflichtete sich die Schweiz, ihren nationalen Aktionsplan umzusetzen, also die Anwendung dieser Grundsätze durch die im Ausland tätigen Schweizer Unternehmen des Rohstoffsektors zu fördern, die Grundsätze in der Schweiz ­ namentlich in der Verwaltung, in der Wirtschaft und in der Öffentlichkeit ­ bekannt zu machen und sich auf internationaler Ebene für ihre Förderung einzusetzen. Die Schweiz ist Mitglied im Lenkungsausschuss der Initiative.

Todesstrafe: Im vergangenen Jahr setzte die Schweiz ihr Engagement gegen die Todesstrafe fort. Auf bilateraler Ebene unternimmt sie Demarchen, mit denen sie auf einzelne Fälle oder im Zusammenhang mit gewissen spezifischen Kontexten reagiert. Die Schweiz hat das Problem der Todesstrafe im Rahmen ihrer Konsultationen und Programme mit den Schwerpunktländern ausdrücklich angesprochen. Sie wurde bei den Regierungen derjenigen
Länder vorstellig, die die Todesstrafe noch immer praktizieren, und sie ermutigte andere Länder, den rechtlichen Rahmen mit dem Ziel zu stärken, die Todesstrafe gesetzlich abzuschaffen. Auf multilateraler Ebene verstärkte die Schweiz ihr Engagement in den internationalen und regionalen Institutionen. Sie spielt eine zentrale Rolle in der Begleitgruppe der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe. Seit Oktober 2011 hat sie für ein Jahr den Vorsitz dieser Gruppe inne. Ebenfalls im Oktober 2011 ist das Sekretariat der Kommission von Madrid nach Genf umgezogen, wo es seinen ständigen Sitz haben wird.

Agenda für Menschenrechte: Am 5. Dezember 2008 lancierte die Schweiz zusammen mit Österreich und Norwegen eine «Agenda für Menschenrechte». Diese Initiative war Teil der Feierlichkeiten zum 60-Jahre-Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ziel der Agenda ist es, die Entwicklung der Menschenrechte seit der Annahme dieses grundlegenden Textes zu bilanzieren und Wege aufzuzeigen, wie der Schutz der Menschenrechte im 21. Jahrhundert verbessert werden könnte. Ein unabhängiges Gremium, dem Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern angehören, das «Panel on Human Dignity», hatte diese Agenda in Zusammenarbeit mit der Genfer Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte formuliert. Neben der Schweiz unterstützen auch Österreich, die Niederlande, Slo2989

wenien, Kasachstan, Marokko, Brasilien und Katar diese Initiative. Das Panel wird sich mit den folgenden Themen eingehender befassen: Internationaler Gerichtshof für Menschenrechte, allgemeine Haftbedingungen (insbesondere auch für Jugendliche), Zugang zur Justiz (insbesondere für arme Bevölkerungsschichten), Menschenrechtsbildung und Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte.

Lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen (LGBT): Das Engagement der Schweiz gegen die Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Menschen ist 2011 noch verstärkt worden. Das Thema wurde in internationalen Foren mehrmals erörtert, und die Schweiz begrüsst die historische Resolution des Menschenrechtsrats vom Juni vergangenen Jahres, die von der Schweiz miteingebracht wurde. Die Resolution verurteilt jeglichen Missbrauch und jegliche Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Die Schweiz trug zur Finanzierung einer entsprechenden Studie bei, die vom Menschenrechtskommissar des Europarats durchgeführt wurde. Dieser publizierte im Juni 2011 einen Bericht mit den Ergebnissen einer Untersuchung, an der die 47 Mitgliedstaaten des Europarats teilgenommen hatten und die sich mit Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung und mit der Geschlechtsidentität befasste. Das Büro des Menschenrechtskommissars organisierte im November in Bern einen Runden Tisch, an dem die Studie vorgestellt wurde. Parallel dazu wurde unter der Schirmherrschaft der Schweiz ein informelles Treffen von Personen organisiert, die in verschiedenen europäischen Ländern für LGBT-Fragen zuständig sind.

Bekämpfung der Folter: Die Bekämpfung der Folter ist einer der Eckpfeiler des Schweizer Engagements im Bereich der bürgerlichen und politischen Rechte.

Das Fakultativprotokoll vom 18. Dezember 200246 zum Übereinkommen vom 10. Dezember 198447 gegen Folter beging 2011 sein fünfjähriges Bestehen. Um Lehren aus den ersten fünf Jahren seines Bestehens und aus den Erfahrungen zu ziehen, die die Vertragsstaaten bei der Schaffung der innerstaatlichen Präventionsmechanismen gemacht haben, organisierte die «Association pour la prévention de la torture» ein Forum, das unter der Schirmherrschaft der Schweiz stand. Dieses Forum mit dem Titel «Folter verhüten, Menschenwürde
achten ­ Vom Wort zur Tat», eine nie da gewesene gemeinsame Anstrengung, die Debatte über diese grundlegenden Fragen mit der effizienten Umsetzung der eingegangenen Verpflichtungen im Bereich der Folterverhütung zu verbinden, fand im November 2011 statt. Dank diesem Treffen konnten zahlreiche Akteure dieses Bereichs einen Gedankenaustausch über gute Praktiken führen. Die Schweiz war über die zweitägigen hochinteressanten Debatten und die hohe Teilnehmerzahl sehr zufrieden.

Bilaterale Aktivitäten Menschenrechtskonsultationen: Nachdem die Schweiz im Mai 2011 beschlossen hat, ihre Menschenrechtspolitik zu stärken, wird das Thema Menschenrechte nicht mehr auf einzelne Gespräche mit ausgewählten Ländern beschränkt, sondern ist heute integraler Bestandteil aller bilateralen politischen Gespräche, die die Schweiz führt. Diese Neuorientierung hat dazu geführt, dass die Menschenrechte zu einem der Kernthemen der Schweizer Politik wurden und die Schweiz damit einen Beitrag zur Förderung der Menschenrechte in allen Regionen der Welt leistet. Parallel zu den politischen Konsultationen werden in mehreren Ländern Kooperationsprojekte 46 47

SR 0.105.1 SR 0.105

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entwickelt, so zum Beispiel in Nigeria, China, Russland, Senegal, Tadschikistan und Vietnam. In anderen Ländern werden auf kürzere Frist angelegte oder kleinere Projekte durchgeführt.

Multilaterale Aktivitäten Vorbereitungen für den Beitritt zu zwei neuen internationalen Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen: Am 21. Januar 2011 unterzeichnete die Schweiz einen wichtigen internationalen Menschenrechtsvertrag, das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (ICED).

Es ist nach dem Vorbild anderer internationaler Menschenrechtsverträge gegliedert: Neben zahlreichen materiellen Bestimmungen ­ insbesondere hinsichtlich Prävention und Wiedergutmachung ­ sieht das Übereinkommen umfangreiche Mittel zur Umsetzung vor. Die Vorbereitungen für seine Ratifikation sind angelaufen. Die Frage eines Beitritts zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (ICRPD) wird zurzeit geprüft. Das Vernehmlassungsverfahren wurde am 15. April 2011 abgeschlossen.

UNO-Menschenrechtsrat: Als Mitglied der UNO nimmt die Schweiz aktiv an den Arbeiten des Menschenrechtsrats teil, um die Wirksamkeit seiner Massnahmen zu erhöhen und die Aufmerksamkeit, mit der der Rat die Menschenrechtslage in aller Welt verfolgt, zu verstärken. An jeder ordentlichen und jeder ausserordentlichen Tagung bemüht sich die Schweiz, ihre prioritären Themen einzubringen und die Debatten zugunsten der Opfer zu beeinflussen. Die überregionale Natur der Schweizer Initiativen erweist sich als höchst vorteilhaft. 2011 sind mehrere von der Schweiz initiierte oder mitgetragene Initiativen erfolgreich gewesen. An seiner 16. ordentlichen Tagung im März 2011 nahm der Rat im Konsens den Entwurf einer Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtserziehung und -ausbildung an, den die Schweiz und Marokko zusammen mit der Plattform für Menschenrechtsbildung und -schulung vorgelegt haben. Dieser Entwurf wurde im Januar 2011 von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung der Schweiz überarbeitet und von der UNOGeneralversammlung an ihrer 66. Tagung angenommen.

An derselben Tagung verabschiedete der Menschenrechtsrat auch eine Resolution zu Menschenrechten und Umwelt, die von Costa Rica, den Malediven und der Schweiz vorgelegt worden war.

An seiner 18. Tagung im September 2011 versammelte sich der
Rat auf Initiative der Schweiz zu einer Podiumsdiskussion über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte bei friedlichen Demonstrationen. Mit dieser Initiative wollte die Schweiz deutlich machen, dass die Regierungen jedes Interesse daran haben, die friedliche Ausübung des Versammlungs- und Vereinigungsrechts sowie des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung zu erlauben und die Anwendung von Gewalt zu vermeiden. Zudem setzte sich die Schweiz zusammen mit Argentinien und Marokko für die Schaffung eines neuen Mechanismus für den Menschenrechtsschutz ein: Sie schlugen die Bestellung eines Sonderberichterstatters über das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Gerechtigkeit, das Recht auf Wiedergutmachung und die Garantie der Nichtwiederholung vor. Schliesslich nahm die Schweiz an den Verhandlungen über ein drittes Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes teil, das ein Individualbeschwerdeverfahren für Kinder vorsieht, und sprach sich für dessen Verabschiedung aus. Der Menschenrechtsrat hat dieses Fakultativprotokoll am 17. Juni 2011 ad referendum angenommen. Bevor das Fakul-

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tativprotokoll zur Unterzeichnung und Ratifikation aufgelegt wird, wurde es im Dezember 2011 der UNO-Generalversammlung unterbreitet.

Innerstaatliche Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen Staatenberichte vor den Ausschüssen der UNO: Das System der UNO-Vertragsorgane, die die Umsetzung der internationalen Menschenrechtsverträge kontrollieren, ist ein Fortschritt in diesem Bereich. Allerdings ist dieses System seit einigen Jahren mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert. Wenn es nicht bald verbessert wird, könnten sein Potenzial und seine Wirksamkeit infrage gestellt sein. Da für die Staaten die zwingende Verpflichtung besteht, regelmässig Bericht zu erstatten, sind die für die Prüfung der Berichte zuständigen Organe überlastet. Vielen Staaten fällt es schwer, ihre einschlägigen Verpflichtungen zu erfüllen, weil ihnen die entsprechenden finanziellen Mittel oder aber der politische Wille fehlt. Daher legen manche jahrelang keinen Bericht vor. Auf der anderen Seite hat das Arbeitsvolumen der Kontrollorgane in den letzten Jahren aufgrund der wachsenden Anzahl der zu prüfenden Berichte und anderer Überwachungsaufgaben erheblich zugenommen. Sie sind quasi Opfer ihres eigenen Erfolgs. Eine Straffung der Abläufe und eine Weiterentwicklung der Arbeitsmethoden dieser kraft internationaler Übereinkommen der UNO geschaffenen Organe ist seit mehreren Jahren Gegenstand zwischenstaatlicher Diskussionen in der UNO.

Vor einigen Jahren ging es darum, das System zu revidieren, doch die derzeitigen Überlegungen zu einer Reform sind eher pragmatisch-technischer Art. In diesem Zusammenhang rief die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte 2009 alle betroffenen Parteien zu Konsultationen auf. Im Anschluss daran haben mehrere regionale Konsultationen stattgefunden, darunter auch ein Gedankenaustausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern sowie Expertinnen und Experten der Vertragsstaaten und der Vertragsorgane in Sitten am 12. und 13. Mai 2011.

Dieses Treffen bot der Schweiz Gelegenheit, ihr Engagement für die Stärkung und Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes glaubwürdig zu bekräftigen und sich mit aller Deutlichkeit für Genf als Welthauptstadt der Menschenrechte auszusprechen.

Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte: Seit 2001 wurde in der Schweiz die
Frage diskutiert, ob eine nationale Institution für den Schutz der Menschenrechte sinnvoll wäre. Nach mehrjährigen Konsultationen wurde nun das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte am 6. Mai 2011 eröffnet und nahm seine Arbeit auf. Das Zentrum hat die Aufgabe, im Einklang mit der Bundesverfassung und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz die Kapazitäten der Behörden durch den Schutz und die Förderung der Menschenrechte in der Schweiz auszubauen. Es bietet praxisbezogenes Fachwissen im Bereich der Menschenrechte. Seine Dienstleistungen stehen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie nichtstaatlichen Organisationen, dem Privatsektor und den Unternehmen zur Verfügung.

Humanitäre Politik Grundlage der Aktivitäten im Bereich der humanitären Politik ist die EDA-Strategie für den Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten für den Zeitraum 2009­ 2012. Sie soll die Schweiz in die Lage versetzen, in diesem Bereich kohärenter zu arbeiten, bilateral und multilateral wirksamer zu handeln und ihre internationale Positionierung zu konsolidieren. Die Strategie sieht drei Prioritäten vor: Klärung, 2992

Stärkung und Einhaltung des normativen Rahmens, der Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten Schutz bietet; Verbesserung der operationellen Aktivitäten zum Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten; Stärkung der Kompetenzen im Bereich des Schutzes von Zivilpersonen.

Nichtstaatliche bewaffnete Gruppen müssen dazu angehalten werden, die völkerrechtlichen Normen zu achten ­ das ist eine der grössten Herausforderungen für den Schutz von Zivilpersonen, wie auch der UNO-Generalsekretär in seinen Berichten von 2009 und 2010 bestätigte. Das Projekt «Nichtstaatliche bewaffnete Akteure und völkerrechtliche Normen», das in Zusammenarbeit mit der Genfer Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte durchgeführt wurde, untersuchte die Frage der Einhaltung dieser Normen und veröffentlichte ein Dokument mit Leitlinien zu der Frage, wie die Einhaltung verbessert werden kann. Mit dieser Publikation stellt die Schweiz Staaten, internationalen Organisationen und NGO ein Arbeitsinstrument für ihre Bemühungen zur Verfügung, alle Parteien eines Konflikts zur Einhaltung der völkerrechtlichen Normen zu veranlassen. In diesem Sinne gibt es auch Forderungen nach der Entwicklung von Normen und Leitlinien für die Überwachung, die Berichterstattung und die Ermittlung von Sachverhalten im Anschluss an Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Schweiz unterstützt seit 2011 ein Projekt des «Programme on Humanitarian Policy and Conflict Research» (HPCR) der Universität Harvard, dessen Ziel die Einsetzung einer hochrangigen Expertengruppe ist, die Richtlinien für die Mandate im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten ausarbeiten soll.

Eines der Hauptprobleme der humanitären Hilfe ist der Zugang zur Zivilbevölkerung. Die Schweiz bemüht sich insbesondere, die Hindernisse zu identifizieren, die im Falle eines bewaffneten Konfliktes den humanitären Zugang erschweren. Sie hat in Zusammenarbeit mit dem IKRK und dem Amt der UNO für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) eine Initiative lanciert, die dazu beitragen soll, den rechtlichen Rahmen zu klären und ein Handbuch für die humanitären Akteure auszuarbeiten. Für die Schweiz ist dies ein operationelles Engagement zugunsten eines besseren Schutzes der Zivilbevölkerung in einer Konfliktzone. Die Schweiz unternimmt zudem verschiedene Anstrengungen,
um die Rechte von Binnenvertriebenen zu schützen. Sie unterstützt die Suche nach dauerhaften Lösungen unter anderem durch die Zusammenarbeit mit dem Sonderbeauftragten des UNOGeneralsekretärs für Binnenvertriebene sowie mit anderen Partnern wie der «Brookings Institution» und dem «Internal Displacement Monitoring Centre» (IDMC). Im Rahmen dieser Zusammenarbeit werden in Kolumbien zwei Projekte durchgeführt, die die Zusammenhänge zwischen Binnenvertreibung und Friedensprozessen sowie zwischen Binnenvertreibung und kollektivem Gedächtnis untersuchen. Die Ergebnisse könnten zur Umsetzung eines neuen Gesetzes über Opfer und Rückgabe von Grundbesitz beitragen, das im Juni 2011 verabschiedet wurde. Gleichzeitig unterstützt die Schweiz auch die grossen internationalen Akteure in diesem Bereich, darunter das UNHCR und das IKRK.

Konsolidierung des humanitären Völkerrechts Globale Tendenzen und Herausforderungen Heute sind die meisten Konflikte innerstaatlicher und nicht mehr zwischenstaatlicher Natur. Daher treten immer mehr nichtstaatliche Akteure auf. Viele dieser Akteure sind, wie zum Beispiel organisierte bewaffnete Gruppen, bereits seit längerer Zeit präsent, während andere erst vor Kurzem erstmals an Feindseligkeiten teilnahmen, 2993

darunter private Militär- und Sicherheitsunternehmen. Die Präsenz dieser Akteure ist ein Problem für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, dessen Umsetzung verbessert werden muss. Es gibt heute praktisch keine Schlachtfelder mehr, auf denen sich Kriegführende bekämpfen, ohne die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen. Das moderne Schlachtfeld ist kein isoliertes Areal mehr, sondern bezieht auch besiedelte und sogar dicht besiedelte Gebiete mit ein (Gaza, Pakistan, Sri Lanka). Diese Urbanisierung des Krieges bringt für die Zivilbevölkerung immer mehr Leid mit sich. Es werden neue Kriegstechnologien eingesetzt, darunter Waffen und Waffensysteme mit Fernlenkung wie Drohnen (ferngesteuerte Luftfahrzeuge), und es kommt zu Angriffen auf Informatiknetzwerke. Diese neuen Rüstungstechniken stellen zwar die geltenden Grundsätze des humanitären Völkerrechts nicht in Frage, doch sie werfen eine Reihe von Problemen auf, da sie dem klassischen Verständnis des bewaffneten Konflikts nicht entsprechen. Im September 2011 nahm die Schweiz an einem Rundtischgespräch zu diesem Thema teil, das vom Internationalen Institut für humanitäres Recht in San Remo und dem IKRK organisiert worden war.

Trotz dieser Probleme ist das humanitäre Völkerrecht durchaus anpassungsfähig, und es ist namentlich durch Klarstellungen in manchen Bereichen deutlich geworden, dass es als rechtlicher Rahmen für die bewaffneten Konflikte der heutigen Zeit nach wie vor relevant ist. Das ist eine wichtige Schlussfolgerung, an die auch der Bericht48 erinnerte, den der Bundesrat am 17. September 2010 in Erfüllung des Postulats 08.3445 der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats vom 20. Juni 2008 verabschiedete. Das IKRK hatte Ende 2010 eine Studie vorgelegt, die diejenigen Bereiche des humanitären Völkerrechts untersucht, die einer normativen Weiterentwicklung bedürfen. Das IKRK nannte in seiner Studie über einen besseren rechtlichen Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte die folgenden vier Themen: Schutz der Vertriebenen; Umweltschutz; Schutz von Personen, denen die Freiheit entzogen ist; Umsetzung des humanitären Völkerrechts. Im Anschluss an eine erste Konsultation der Staaten wurden nur die beiden letzteren Themen für eine allfällige Weiterentwicklung des Rechts ausgewählt. Die 31. Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenz,
die vom 28. November bis 1. Dezember 2011 in Genf stattfand, gab allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ­ darunter auch jenen, die an der ursprünglichen Konsultation nicht beteiligt waren ­ Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Die Teilnehmenden waren ebenfalls der Auffassung, dass der Schutz von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, und die weltweite Umsetzung des humanitären Völkerrechts die beiden Bereiche sind, die Priorität besitzen.

Initiativen und Aktivitäten der Schweiz Das zentrale Problem ist also nach wie vor die mangelnde Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts durch die Konfliktparteien. Es müssen dringend Mittel und Wege gefunden werden, um dem humanitären Völkerrecht mehr Nachachtung zu verschaffen. Das wurde von den Staaten erneut anerkannt, als sie im November 2009 zu der Konferenz zusammenkamen, die die Schweiz und das IKRK anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Genfer Konventionen einberufen hatten. Anerkannt ist auch die Tatsache, dass sich die meisten Mechanismen des humanitären Völkerrechts bislang als unzulänglich erwiesen haben und dass es an der Zeit ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie dies geändert werden kann. Die Schweiz hat also 48

Bericht des Bundesrates vom 17. Sep. 2010 «Das humanitäre Völkerrecht und die heutigen bewaffneten Konflikte»

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beschlossen, sich den Hohen Vertragsparteien zur Verfügung zu stellen, um in Zusammenarbeit mit dem IKRK einen solchen Prozess zu fördern und konkrete Vorschläge auszuarbeiten, die es den Staaten erlauben, das humanitäre Völkerrecht besser einzuhalten. Zur Durchführung dieser diplomatischen Initiative ernannte sie einen Sonderbotschafter für die Anwendung des humanitären Völkerrechts. Seine Aufgabe ist es, die erforderlichen Konsultationen mit den Staaten zu führen. Diese Initiative wurde anlässlich der 31. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenz, an der zahlreiche Staaten aus allen Regionen der Welt der Schweiz ihre Unterstützung zusagten, offiziell lanciert. Die Initiative wird zudem in einer Resolution der Konferenz über die «Rechtliche Stärkung der Opfer von bewaffneten Konflikten» ausdrücklich genannt.

Die Schweiz setzt sich auch weiterhin dafür ein, dass die nichtstaatlichen Akteure das humanitäre Völkerrecht besser einhalten. Zu diesem Zweck engagiert sie sich für eine breite Unterstützung des 2008 publizierten Dokuments von Montreux49 als Referenztext. Dieses Dokument wurde zusammen mit dem IKRK verfasst; es bietet einen Überblick über das geltende Recht und regt konkrete Massnahmen an, welche die Staaten zur einschlägigen Regulierung der Militär- und Sicherheitsfirmen treffen können. Um breite Unterstützung zu gewinnen, organisierte die Schweiz 2011 ein regionales Seminar für Lateinamerika sowie ein Seminar für Zentral- und Nordostasien. Bis Dezember 2011 haben 38 Regierungen ihre Unterstützung für das Dokument von Montreux erklärt. Auf der Grundlage dieses Dokuments unterstützte die Schweiz die Ausarbeitung eines internationalen Verhaltenskodexes für private Sicherheitsunternehmen. Sie unterstützt auch ein Projekt, das konkrete Möglichkeiten vorschlagen soll, wie mit bewaffneten Gruppen ein Dialog über die Einhaltung ihrer Verpflichtungen angeknüpft werden kann. Die Schweiz engagiert sich in diesem Bereich, weil sie sicherstellen will, dass die Opfer bewaffneter Konflikte besser geschützt und ihre Rechte geachtet werden. Um die Wirksamkeit und Kohärenz ihrer Tätigkeiten zu verbessern, hat die Schweiz eine interne Strategie formuliert. Eines der Hauptziele dieser Strategie ist ein einschlägiger rechtlicher Rahmen, der angemessen und den betreffenden Akteuren bekannt ist und
der von ihnen eingehalten wird. In diesem Zusammenhang führte die Schweiz in Zusammenarbeit mit dem IKRK und dem OCHA ein Projekt zur Klärung des humanitären Völkerrechts durch, dessen Ziel es ist, den für den humanitären Zugang in bewaffneten Konflikten geltenden rechtlichen Rahmen zu erläutern. Das Ergebnis dieses Projekts wurde an der 31. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenz vorgestellt und offiziell lanciert.

Ausblick Das Jahr 2011 war somit von der 31. Internationalen Konferenz geprägt, bei der es im Wesentlichen darum ging, das humanitäre Völkerrecht und die humanitäre Arbeit zu stärken. An dieser Konferenz legte das IKRK unter anderem einen Bericht über die Herausforderungen heutiger bewaffneter Konflikte vor. Die Konferenz bot den Staaten Gelegenheit zur Diskussion dieses Themas und zur Annahme einer Reihe von Resolutionen, in denen sie ihr Engagement in den Bereichen humanitäre Arbeit und humanitäres Völkerrecht bekräftigten. Die Schweiz als Hoher Vertragsstaat sowie als Depositarstaat der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle hatte an der Konferenz Gelegenheit, ihr Engagement für die Einhaltung und die Umset49

www.eda.admin.ch > Themen > Völkerrecht > Humanitäres Völkerrecht > Private Sicherheitsunternehmen > Das Montreux-Dokument

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zung des humanitären Völkerrechts zu bekräftigen und aktiv an den Verhandlungen und Debatten teilzunehmen. Die Konferenz bot ihr zudem Gelegenheit, sich für ihre Projekte und Initiativen einzusetzen und damit zur Stärkung des humanitären Völkerrechts beizutragen.

2.3.3

Migrationsaussenpolitik

Dieses Kapitel fokussiert auf die schweizerische Migrationsaussenpolitik im Zusammenhang mit Ländern ausserhalb der EU oder der EFTA. Die Migrationsaussenpolitik der Schweiz betreffend die EU/EFTA-Länder wird primär durch das Freizügigkeitsabkommen50 (siehe Ziff. 2.1.1.1) und das EFTA-Übereinkommen51 geregelt.

Bericht über die internationale Migrationszusammenarbeit Im Februar 2011 nahm der Bundesrat Kenntnis vom Bericht über die internationale Migrationszusammenarbeit, der von EDA und EJPD gemeinsam erarbeitet worden war. Der Bericht erfasst Ausgangslage, Ziele, Instrumente, Akteure und Herausforderungen der Schweizer Migrationsaussenpolitik. Er bekräftigt den Grundsatz, wonach die Schweiz die Migration als umfassendes Phänomen mit Herausforderungen und Chancen versteht, welche in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten sowie unter kohärenter Anwendung der zur Verfügung stehenden innen- und aussenpolitischen Instrumente angegangen werden sollen. Ferner macht der Bericht konkrete Vorschläge zur Verbesserung der interdepartementalen Zusammenarbeit im Bereich der Migrationsaussenpolitik; diese Vorschläge wurden mittlerweile umgesetzt. Der Bericht ist damit die Basis für ein verstärktes migrationsaussenpolitisches Engagement der Schweiz. Übergeordnetes Ziel der Schweizer Migrationsaussenpolitik bleibt die effektive Steuerung der internationalen Migration, damit sie sicher, legal und unter Beachtung der Rechte und Interessen aller Beteiligten erfolgen kann.

Migrationsaussenpolitische Aktivitäten Sowohl der Bericht über die internationale Migrationszusammenarbeit als auch der Aussenpolitische Bericht 2010 drücken den Willen des Bundesrates zu einer aktiven Migrationsaussenpolitik aus. Nachfolgend soll an vier praktischen Beispielen exemplarisch das migrationsaussenpolitische Engagement der Schweiz auf multi- und bilateraler Ebene im vergangenen Jahr dargestellt werden.

Globales Forum für Migration und Entwicklung: Die Schweiz präsidierte 2011 das Globale Forum für Migration und Entwicklung (GFME). Das GFME ist die derzeit wichtigste globale Plattform, die der Diskussion über Migration und Entwicklung gewidmet ist. Das Forum wurde 2006 auf Initiative des damaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan gegründet. Es ist offen für alle UNO-Mitgliedstaaten und dient der Stärkung des informellen Erfahrungsaustauschs und der Kooperation zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern sowie weiteren Akteuren, insbeson50

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Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, SR 0.142.112.681 Übereinkommen vom 4. Januar 1960 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), SR 0.632.31

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dere der Zivilgesellschaft und relevanten internationalen Organisationen. Übergeordnetes Ziel des schweizerischen GFME-Vorsitzes war es, einen praxisorientierten Dialog zwischen den Staaten zu fördern. In enger Partnerschaft mit interessierten Staaten organisierte der Schweizer Vorsitz vierzehn regionale Treffen auf vier Kontinenten. Im Zentrum dieser Treffen standen drei Themen: die Mobilität von Arbeitskräften und deren Auswirkung auf die Entwicklung, die koordinierte Bekämpfung der irregulären Migration sowie Planungsinstrumente zur Weiterentwicklung nationaler Migrations- und Entwicklungspolitiken. Im Dezember organisierte der Schweizer Vorsitz in Genf eine Abschlusskonferenz, an der die Resultate dieser Treffen auf globalem Niveau diskutiert wurden. An der Konferenz nahmen Vertreter aus 165 Staaten sowie 30 internationale Organisationen mit Beobachterstatus teil. Die aus der Abschlusskonferenz hervorgehenden Empfehlungen wurden im Schlussbericht der Schweizer GFME-Präsidentschaft zusammengefasst. Mit ihrem praxisorientierten GFME-Vorsitz leistete die Schweiz einen von der internationalen Gemeinschaft hoch geachteten Beitrag zur Stärkung der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Migration und Entwicklung. Rückblickend ist ferner festzuhalten, dass die Schweiz in verschiedener Hinsicht stark von der GFME-Präsidentschaft profitiert hat und auch in den nächsten Jahren noch davon profitieren wird: ­

Die Schweiz konnte Themen, die für sie von migrationspolitischem Interessen sind (irreguläre Migration, Arbeitsmigration, Schutz der Rechte von Migrantinnen und Migranten), auf globaler Ebene prominent verankern. Der GFME-Schlussbericht 2011 wird auch in den kommenden Jahren ein zentrales Referenzdokument des internationalen Migrationsdialogs bleiben.

­

Das GFME unterstützte die laufenden Bestrebungen, Migration konzeptionell und operationell in die Entwicklungszusammenarbeit zu integrieren, und stellte sie in einen globalen Kontext.

­

Die Schweiz erlangte wertvolle Einblicke in die migrations- und entwicklungspolitischen Prioritäten und Interessen zahlreicher Staaten und weiterer relevanter Akteure, insbesondere auch der Schweizer Zivilgesellschaft.

­

Die Schweiz baute ihr Beziehungsnetz zu staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im Migrations- und Entwicklungsbereich weltweit erheblich aus.

Migrationspartnerschaft Nigeria und Westbalkan (Bosnien, Kosovo und Serbien): Am 14. Februar 2011 hat die Schweiz ein Memorandum of Understanding (MoU) zur Etablierung einer Migrationspartnerschaft mit Nigeria unterzeichnet. Das Konzept der Migrationspartnerschaft ist in Artikel 100 Absatz 1 des neuen Ausländergesetzes vom 16. Dezember 200552, das seit 1. Januar 2008 in Kraft ist, verankert und ermöglicht der Schweiz, ihre migrationspolitischen Interessen unter Einbezug der Interessen des Partnerlandes zu verfolgen. Im Dialog mit dem Partnerland sucht die Schweiz konstruktive Lösungen hinsichtlich der Herausforderungen der Migration (z.B. irreguläre Migration, Rückkehr, Menschenhandel) und ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Chancen. Mit Nigeria ist die Schweiz nach Bosnien und Herzegowina, Serbien und Kosovo erstmals eine Migrationspartnerschaft mit einem afrikanischen Land eingegangen. Der flexible Rahmen der Migrationspartnerschaft hat es der Schweiz erlaubt, im Dialog mit Nigeria Massnahmen zur Verbesserung und zur Intensivierung der Migrationszusammenarbeit zu entwickeln.

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SR 142.20

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In technischen und politischen Dialogrunden wurde die Zusammenarbeit in den Bereichen Rückkehrhilfe, reguläre Migration (Aus- und Weiterbildungsprojekte), Kampf gegen Menschenhandel, polizeiliche Kooperation und Migration für Entwicklung weiter konkretisiert. Dies hat unter anderem auch die Wiederaufnahme der Zwangsrückführungen nach Nigeria erlaubt. Eine zusätzliche Neuigkeit ist der Einbezug der nigerianischen Diaspora in der Schweiz in die Umsetzung der Migrationspartnerschaft, indem diese als Entwicklungsakteurin ihres Heimatlandes wahrgenommen und im Rahmen der Migrationspartnerschaft als solche gezielt gefördert wird.

Im Rahmen der Migrationspartnerschaften im West-Balkan wurden 2011 bilaterale Dialogtreffen durchgeführt. Aktuell bestehen rund 25 Projekte der Zusammenarbeit in den Themenfeldern Migrationsmanagement, Prävention irregulärer Migration sowie neuerdings auch zu Migration und Entwicklung mit Einbezug von Diasporagruppen. Im Dezember 2011 hat der interdepartementale Ausschuss für Migrationsaussenpolitik eine neue Mehrjahresstrategie 2012­2015 für die Weiterentwicklung der Migrationspartnerschaften im Westbalkan verabschiedet.

Kampf gegen dem Menschenhandel: Die Schweiz verurteilt den Menschenhandel als gravierenden Verstoss gegen die Menschenrechte. Das Zusatzprotokoll vom 15. November 200053 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels (Palermo-Protokoll) zum Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 15. November 200054 gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, das die Schweiz am 27. Oktober 2006 ratifizierte, bildet die internationale normative Grundlage zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels. Im Rahmen ihres aussenpolitischen Engagements setzt sich die Schweiz für eine verstärkte Zusammenarbeit mit den staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren in den Herkunftsländern von Menschenhandelsopfern in der Schweiz ein. Zu diesem Zweck werden seit 2009 unter anderem auch internationale runde Tische zu konkreten und aktuellen Herausforderungen in der Bekämpfung des Menschenhandels organisiert. Der direkte Dialog zwischen den Behörden aus der Schweiz und den Herkunftsländern führt regelmässig zu wichtigen neuen Erkenntnissen und zur Entwicklung entsprechender Handlungsoptionen. Bei
der technischen Unterstützung im Ausland liegt die Priorität bei primären Herkunfts- oder Transitländern von Menschenhandelsopfern wie beispielsweise Brasilien. Projekte zur Bekämpfung von Menschenhandel können auch Elemente einer Migrationspartnerschaft sein, wie die Beispiele von Nigeria und Serbien zeigen. Die Schweiz engagiert sich auch weiterhin ­ insbesondere in der UNO und der OSZE ­ für die Weiterentwicklung internationaler Politiken und Standards zur wirkungsvolleren Bekämpfung des Menschenhandels.

Kooperation mit der EU: Das Thema Migration bleibt auch eine Priorität innerhalb der EU. Die Schweiz ist mit der Assoziierung an Schengen und Dublin und dem Personenfreizügigkeitsabkommen bereits an zwei Grundpfeilern der EU-Migrationspolitik beteiligt. Es besteht jedoch auch weiterhin ein Potenzial zur Zusammenarbeit mit der EU in Bereichen ausserhalb von Schengen und Dublin und der Personenfreizügigkeit, z.B. im Rahmen der EU-Asylpolitik (siehe Ziff. 2.1.1.1).

53 54

SR 0.311.542 SR 0.311.54

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2.3.4

Armutsreduktion und humanitäre Hilfe

Internationale Zusammenarbeit der Schweiz Botschaft «Internationale Zusammenarbeit 2013­2016» Im Berichtsjahr wurde die Botschaft «Internationale Zusammenarbeit 2013­2016»55 ausgearbeitet. Die Botschaft umfasst erstmals die humanitäre Hilfe, die technische Zusammenarbeit und die Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern (DEZA), die wirtschafts- und handelspolitischen Massnahmen (SECO) sowie die Ostzusammenarbeit (DEZA, SECO). Die Bezeichnung «Internationale Zusammenarbeit» lehnt sich an den internationalen Sprachgebrauch (International Cooperation, coopération internationale) an, der sowohl die Armutsreduktion als auch die Bewältigung globaler Risiken beinhaltet. Die Bezeichnung «Internationale Zusammenarbeit» ist zudem notwendig, weil sie die Massnahmen der Bereiche Humanitären Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Ostzusammenarbeit umfassen soll.

Die Strategie der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz spannt den Bogen über die vier Rahmenkredite, die der Bundesrat im Jahr 2012 dem Parlament unterbreiten wird. Die Schweiz orientiert sich an den international vereinbarten Entwicklungszielen und eingegangenen Verpflichtungen sowie den Schwerpunkten der schweizerischen Aussenpolitik und Aussenwirtschaftspolitik. Sie leistet einen Beitrag zur Armutsminderung und zur Bewältigung globaler Risiken. Dabei stehen folgende fünf Ziele im Vordergrund: ­

Krisen, Konflikten und Katastrophen vorbeugen und überwinden;

­

Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen für alle schaffen;

­

nachhaltiges Wirtschaftswachstum fördern;

­

Transition zu demokratischen, marktwirtschaftlichen Systemen unterstützen;

­

entwicklungsfördernde und umweltschonende Globalisierung mitgestalten.

Die Nutzung fossiler Ressourcen hat vielen Ländern einen nie da gewesenen Wohlstand ermöglicht. Diese positive Entwicklung wird zunehmend durch wachsende Nebenwirkungen gefährdet. Die Entwicklungschancen armer Länder werden von globalen Umweltveränderungen wie Versauerung der Weltmeere, knapper werdende Ressourcen, Rückgang der biologischen Vielfalt, Verknappung der fruchtbaren Landflächen, regionale Trinkwasserknappheit beeinflusst. Die Massnahmen zur Bewältigung der globalen Risiken gewinnen rasch an Bedeutung. Innovative Lösungen für Entwicklungs- und Transitionsprobleme wie auch die Antworten auf humanitäre Notlagen müssen sowohl global (durch internationale Regelwerke) als auch national (durch staatliche Politiken und Rechtsnormen) vorangebracht werden.

Hierfür ist eine breite und intensive Zusammenarbeit der Akteure wichtig; die Zusammenarbeit von staatlichen, zivilgesellschaftlichen, privatwirtschaftlichen Akteuren und Forschungsinstitutionen sowie ein prägnantes Kompetenz-Profil der Entwicklungsagentur sind für erfolgreiche Programme unverzichtbar.

Die Schweiz richtet ihre internationale Zusammenarbeit auf zweierlei aus: 1) auf bilaterale Programme mit ausgewählten Schwerpunktländern und -regionen, in Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, mit der Privatwirtschaft und mit Forschungsinstitutionen; 2) auf multilaterale Zusammenarbeit, Mit55

Botschaft vom 15. Februar 2012 über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016

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wirkung und finanzielle Beteiligung in internationale Finanzierungsinstitutionen, UN-Organisationen, globalen Netzwerken und Fonds. Zusätzlich zu Länder- und Regionalprogrammen sowie zur multilateralen Zusammenarbeit verstärkt die Schweiz ihren Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährungssicherheit, Wasser, grenzüberschreitende Gesundheitsprobleme, Migration sowie Finanzen und Handel.

Armutsbekämpfung, menschliche Entwicklung und ökologische Nachhaltigkeit stehen in einem engen Zusammenhang. Die «klassische» Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit verändert sich rasch. Gefordert sind Beiträge, mit denen die internationalen Rahmenbedingungen und Regelwerke so gestaltet werden können, dass die Chancen und Perspektiven für Entwicklungsländer verbessert werden können. Die «gemeinsamen Überlebensinteressen» der wohlhabenden und der armen Länder rücken in den Vordergrund. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Anstrengungen, die aussenorientierten Beziehungen der Schweiz mit Entwicklungsländern kohärent zu gestalten, an Bedeutung.

Kohärente Aussenbeziehungen Möglichst kohärente Aussenbeziehungen der Schweiz in Bezug auf die Armutsreduktion und die Minderung globaler Risiken (z.B. Klimawandel) erhöhen die Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit. Gemäss der Strategie nachhaltige Entwicklung 2012­2015 des Bundesrates leisten die Departemente des Bundes ihren Beitrag zu einer nachhaltigen nationalen und globalen Entwicklung. Die Beiträge unterstützen die Massnahmen der internationalen Zusammenarbeit und erhöhen deren Wirksamkeit.

Das Interdepartementale Komitee für internationale Entwicklung und Zusammenarbeit (IKEZ) hat zur Aufgabe, mögliche Ziel- und Interessenkonflikte zwischen der Ausrichtung der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz und den departementalen (Sektor-) Politiken zu identifizieren und im Sinne der OECD-Konzeption «Kohärenz für Entwicklung» einer Lösung näherzubringen. Weil «Kohärenz für Entwicklung» nie vollständig erreicht werden kann, sind politisch ausgehandelte Kompromisse notwendig.

Die Schweiz engagiert sich auf vier Ebenen für eine bessere Politikkohärenz: 1.

Sie arbeitet via Mitgliedschaft in internationalen Organisationen in Verhandlungen darauf hin, dass bindende globale Regeln zur nachhaltigen globalen Entwicklung verabschiedet und durchgesetzt werden.

2.

Sie strebt im Rahmen der bilateralen Beziehungen an, dass sämtliche vom Bund mitfinanzierten Entwicklungsprogramme und -projekte mit den Zielen der nachhaltigen globalen Entwicklung übereinstimmen.

3.

Sie setzt sich in Partnerländern vor Ort direkt für eine entwicklungsfördernde Ausgestaltung der nationalen Politiken ein.

4.

Sie stimmt ihre eigenen Sektorpolitiken so weit als möglich auf die Anforderungen einer global nachhaltigen Entwicklung ab. Dabei können Zielkonflikte entstehen.

Basierend auf dem Bericht des Bundesrates zu den Millennium-Entwicklungszielen (2010) sind nachstehend die Politikbereiche mit möglichem Handlungsbedarf identifiziert:

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Agrarpolitik: Exportsubventionen für landwirtschaftliche Produkte, Präferenzzölle für Importprodukte aus ärmsten Ländern, Direktzahlungssystem mit Berücksichtigung der nachhaltigen Nutzung der Ressourcen, Lieferbindung für Nahrungsmittel der humanitären Hilfe.

Umweltpolitik: Förderung erneuerbarer Energiequellen und des Technologietransfers, Schadenverursacherprinzip im Bereich der CO2-Emissionen, globale Recycling- und Abfallentsorgungspolitik, Biodiversität in Entwicklungsländern.

Gesundheitspolitik: Versorgung mit guten und erschwinglichen Pharma-Produkten in ärmsten Ländern, Berücksichtigung der Bedürfnisse der Entwicklungsländer in der pharmazeutischen Forschung, Bedeutung der Innovationsförderung und des Patentschutzes.

Finanzsektorpolitik: Umsetzung der Weissgeldstrategie und globale Bekämpfung der Finanzkriminalität, insbesondere in den Bereichen Korruption, Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung. Förderung einfacher und gerechter Besteuerungsmechanismen und Unterstützung des Aufbaus von Kapazitäten im Steuerbereich in Entwicklungsländern.

Sicherheitspolitik: Aktionen zur Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung, Ausfuhrbewilligung für Kriegsmaterial in Entwicklungsländer, Aushandlung eines weltweiten Waffenhandelsvertrags im Rahmen der UNO.

Migrationspolitik: Berücksichtigung des Migrationsaspekts in den bilateralen und multilateralen Beziehungen der Schweiz, Förderung einer sicheren, regulären und entwicklungsfördernden Migration, Bekämpfung der ungeregelten Migration.

Bildungs-, Forschungs- und Kulturpolitik: Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Schweiz, Arbeit von Schweizer Forschungsanstalten in Entwicklungsthemen und globalen Themen, Wissensaustausch und Technologietransfer mit Entwicklungsländern unterstützen.

Neues Entwicklungsparadigma Mit dem «Seoul Development Consensus for Shared Growth» hat die G-20 Ende 2010 ein neues Entwicklungsparadigma definiert, das auf ein nachhaltiges, inklusives und krisenresistentes globales Wachstum fokussiert. Die neun identifizierten Handlungsfelder (Infrastruktur, private Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen, Schaffung und Förderung menschlicher Ressourcen, Handel, Zugang zu Finanzen, nachhaltiges Wachstum, Nahrungsmittelsicherung, Mobilisierung lokaler Ressourcen und Wissensmanagement) gehen über die klassische
Entwicklungszusammenarbeit und das damit verbundene Armutsverständnis hinaus. Eine Einschätzung des Prozesses ist zum jetzigen Zeitpunkt noch verfrüht.

Das OECD Ministerial Council Meeting 2011 hat beschlossen, bis Anfang 2012 eine Entwicklungsstrategie zu formulieren, die auf die oben genannten globalen Herausforderungen abzielt. Das High Level Forum on Aid Effectiveness von Ende November 2011 in Süd-Korea hat den Übergang vom Konzept einer effektiveren Hilfe zum Konzept einer breit angelegten Entwicklungsorientierung (development effectiveness) eingeleitet. Neue Akteure (wie China, Indien, Brasilien, weitere Schwellenländer) wurden in die Agenda einbezogen. Diese wollen sich den ­ aus ihrer Sicht von westlichen Gebern dominierten ­ Verpflichtungen und Prozeduren für eine effektive Hilfe nicht einfach anschliessen. Die Umrisse einer neuen Architektur der Entwick-

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lungszusammenarbeit sind skizziert. Viel hängt von den weiteren Schritten und den Umsetzungsvereinbarungen ab, die bis Mitte 2012 zu liefern sind.

Klimaveränderungen und Auswirkungen auf die armen Länder Das Parlament hat im Februar 2011 die Quote der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,5 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) bis 2015 festgelegt. Die zusätzlichen Mittel kommen auch dem Klimaschutz zugute. DEZA und SECO setzen bis 2012 125 Millionen Franken für Massnahmen in Entwicklungsländern ein, die Treibhausgasemissionen verringern und betroffene Regionen in der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels unterstützen. Klima- und Entwicklungspolitik gehen immer mehr zusammen. Die Auswirkungen der Erderwärmung treffen insbesondere Entwicklungsländer ­ und in ihnen besonders die armen ländlichen Bevölkerungsgruppen. Neben den Industrieländern sind auch die Schwellen- und die Entwicklungsländer gefordert, rasch ressourcenschonende Entwicklungspfade einzuschlagen. Die Entwicklungszusammenarbeit ist gefordert, Innovationen zu entwickeln: Aufbau klimaverträglicher Energiesysteme und Infrastrukturen, nachhaltige Landnutzung, Umgang mit Trinkwasserknappheit, Risikovorsorge, usw.

Internationale Klimapolitik Der enge Zusammenhang von Armutsbekämpfung, menschlicher Entwicklung, ökologischer Nachhaltigkeit und Verteilungsgerechtigkeit wird insbesondere in der klimapolitischen Auseinandersetzung deutlich. Seit der Klimakonferenz in Bali im Jahr 2007 ist die internationale Klimapolitik geprägt von der Auseinandersetzung um ein rechtlich verbindliches System, das die Industrieländer und vermehrt die Schwellenländer mit adäquaten Reduktionen der Treibhausgasemissionen einbinden soll. Industrie- und Entwicklungsländer sollten dabei für die Zukunft angemessene aggregierte und individuelle Reduktionsziele ­ in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der Wissenschaft ­ festlegen. Dabei sollen, mittels finanzieller und technologischer Unterstützung der Industrieländer, auch Entwicklungsländer vermehrt nicht rechtlich verbindliche Minderungsbemühungen eingehen.

Die im Abkommen von Kopenhagen 2009 und unmittelbar anschliessend von den Staaten gemachten Emissionsreduktionszusagen bedeuteten, dass bis 2100 ein mit grossen negativen Auswirkungen verbundener globaler Temperaturanstieg von 2,5 bis 5 °C wahrscheinlich
wäre. Auch auf diesem Hintergrund wurde Ende 2010 an der Klimakonferenz in Cancún beschlossen, die globale Temperaturerwärmung mit vereinten Kräften auf unter 2 °C zu beschränken. Ende 2011 in Durban hat sich die internationale Staatengemeinschaft darauf geeinigt, auf ein neues Klimaregime hinzuarbeiten, das die Voraussetzungen schaffen soll, damit u.a. diese Temperaturvorgabe auch eingehalten werden kann (siehe Ziff. 2.3.6).

Der 2010 in Cancún beschlossene «Green Climate Fund» (GCF) wurde in Durban lanciert. Per Ende März 2012 soll der neue Exekutivrat des GCF bestimmt sein, der mit der Gouvernanz und der weiteren Ausgestaltung des neuen Fonds beauftragt wurde. Dies beinhaltet u.a. einen Entscheid über den Sitzstaat des Fonds und die Mobilisierung von Finanzmitteln. Sofern die Etablierung des GCF erfolgreich verläuft, soll dereinst ein substanzieller Teil der in Cancún versprochenen Gesamtfinanzierung von 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr (Zielwert für 2020) durch diesen neuen Fonds fliessen und für Klimamassnahmen in Entwicklungsländern verwendet werden. Die 24 Ratsmitglieder des GCF und deren 24 Stellvertreter stammen je zur Hälfte aus Industriestaaten und aus Entwicklungsländern. Die Schweiz scheint gut 3002

positioniert für einen Sitz im Exekutivrat des GCF und für die Ansiedlung des Sekretariats in Genf. Eine Schweizer Kandidatur wurde grundsätzlich vom Bundesrat mit der Verabschiedung des Verhandlungsmandats für Durban beschlossen. Die spezifischen politischen Entscheide für die Kandidatur stehen zurzeit aber noch an.

Beim Mechanismus gegen Entwaldung (REDD+) gab es in Durban weitere Fortschritte inkl. einer neuen Marktperspektive, die aber noch weit von einer Umsetzung entfernt ist. Bis dahin wird REDD+ vornehmlich durch Mittel der öffentlichen Entwicklungshilfe finanziert.

Verteilungsgerechtigkeit und faire Lastenteilung: Neben den grossen Industrieländern gehört die Gruppe der Schwellenländer zu den Hauptverursachern der Erderwärmung. Die G-20-Länder sind für mehr als 80 % der Weltemissionen verantwortlich. Sie haben die Klimathematik aus ihren Debatten ausgeklammert. China ist zum weltweit grössten Emittenten aufgestiegen. Aufgrund seiner enormen Wachstumsdynamik kann China lediglich das Wachstum seiner Emissionen limitieren, nicht aber den Gesamtausstoss. Das wird mittels relativer Reduktionsziele und anderer Massnahmen im Fünfjahresplan auch durchaus erfolgreich gemacht. Die Schweiz unterstützt die Bestrebungen Chinas zum Aufbau nationaler Klimaschutzsysteme in Bereichen wie Klimagesetzgebung, Luftreinhaltung, Dieselpartikel-Filter, EnergieEffizienz und Anpassungsstrategien.

In Schwellenländern wie Brasilien und Indonesien kommt der Grossteil der Treibhausgasemissionen aus grossflächigen Änderungen in der Landnutzung. Als Antwort auf die klimaschädliche Abholzung der Wälder unterstützen die «Programs on Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation in Developing Countries» (REDD+) im Rahmen der «Forest Carbon Parnership Facility» der Weltbank drei Dutzend Tropenländer. Diese Anstrengung wird flankiert durch das «United Nations Collaborative Programme on Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation in Developing Countries» (REDD+). Gezielte Massnahmen sollen den ökonomischen Wert nachhaltig genutzter Wälder massiv erhöhen.

Soll die 2-Grad-Leitplanke eingehalten werden, gibt es nur noch geringe Spielräume für Entwicklungspfade von Schwellen- und Entwicklungsländern, die sich auf die Nutzung von fossilen Ressourcen stützen. Schwellen- und Entwicklungsländer
brauchen Unterstützung in ihren Anstrengungen, allen Menschen bis 2030 Zugang zur existenziellen Grundversorgung mit modernen Energiedienstleistungen zu verschaffen. Auch grosse Emittenten aus der Gruppe der Entwicklungsländer müssen stufenweise Verpflichtungen übernehmen. Angesichts der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Fähigkeiten müssen faire globale Ausgleichsmechanismen greifen. Hierfür sind nachvollziehbare Differenzierungen zwischen so unterschiedlichen Ländern wie Burkina Faso und Südkorea unerlässlich. Die Differenzierung sollte die jeweilige frühere, gegenwärtige und zukünftige klimatische Verantwortung der Länder widerspiegeln und die unterschiedlichen wirtschaftlichen Kapazitäten berücksichtigen sowie das spezifische Vermeidungspotenzial der Länder einbeziehen. Die Länder des Südens sind in ein neues Klima-Abkommen einzubeziehen.

Die Existenzrechte der Armen und das «Recht auf Entwicklung», das weniger entwickelte Nationen beanspruchen, kann damit garantiert werden.

Position der Schweiz: Der Bundesrat hat im April die neue Energiestrategie verabschiedet. Die Schweiz wird die im Rahmen des Kyoto-Protokolls eingegangene Verpflichtung zu mindestens 70 % mit dem Kauf von Auslandzertifikaten eingehen müssen.

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Die Schweiz unterstützt innovative Pilotprojekte mit dem Ziel, klimaverträgliche Lösungen und umweltschonende Wege der Energieerzeugung und -nutzung in Entwicklungsländern voranzubringen. Des Weiteren unterstützt die Schweiz den bis anhin wichtigsten Finanzierungsmechanismus der Konvention, den Globalen Umweltfond GEF und die damit verbundenen spezifischen Klimafonds sowie die an der Klimakonferenz in Durban bestätigten Finanzierungsmechanismen wie den «Green Climate Fund» und «Adaptation Fund». Sie setzt ihre Kompetenzen in nachhaltiger Ressourcennutzung verstärkt in ländlichen und städtischen Gebieten ein. Dabei nutzt sie die Chancen des CO2-Emissionshandels. Wegen der Bedeutung grosser Schwellenländer als wachsende Emittenten von Treibhausgasen und wegen ihrer starken Position in der internationalen Klimapolitik wird die Zusammenarbeit mit diesen Ländern wichtig. Es handelt sich insbesondere um die rasche Erarbeitung von Innovationen, die sowohl für Schwellenländer wie auch für arme Ländern relevant sind. Dabei geht es um den gezielten Wissens- und Technologietransfer.

Ärmste Länder Zur Gruppe der Least Developed Countries (LDCs) gehören 47 Länder ­ 33 davon befinden sich in Afrika und 14 im asiatisch-pazifischen Raum. Die rund 900 Millionen Menschen in diesen Ländern werden auch als «bottom billion» bezeichnet. Seit 1970 hat sich die Zahl der ärmsten Länder verdoppelt. Drei Länder konnten den LDC-Status überwinden. Die LDCs erzielten im letzten Jahrzehnt recht gute wirtschaftliche Wachstumsraten. Gründe dafür waren jedoch im Wesentlichen die hohen Rohstoffpreise und weniger der Durchbruch der LDCs in der industriellen und der landwirtschaftlichen Entwicklung.

Im Mai 2011 fand in Istanbul die IV. UN-Konferenz für LDCs statt. Das Aktionsprogramm hält in einem Übereinkommen fest, dass Länder, die bereits mehr als 0,2 % ihres Bruttonationaleinkommens als Unterstützung an die LDCs geben, dies auch weiterhin tun werden; Länder, die das 0,1-%-Ziel bereits erreicht haben, werden versuchen, 0,2 % zu erreichen; alle anderen Länder werden sich bemühen, das 0,15-%-Ziel bis 2015 zu erreichen. Das Aktionsprogramm umfasst kaum Verpflichtungen für reiche Länder, die LDCs bei ihren Anstrengungen zu unterstützen. Dies zeigt sich insbesondere bei der Klimaproblematik, die für die LDCs eine besondere Herausforderung
darstellt. Die Konkurrenz um knappe Anbauflächen wird durch Bodendegradation, Wassermangel und zunehmende Klimawirkungen verschärft.

Das Aktionsprogramm enthält keine Zusagen, die LDCs mit finanziellen oder technologischen Mitteln zu unterstützen. Die Senkung der Treibhausemissionen aus der Landnutzung kommt als zusätzliche Herausforderung dazu. Gleichwohl haben sich die LDCs verpflichtet, ihre nationale Klimapolitik in Sachen Anpassung und vermindertem Ausstoss von Emissionen in die nationalen Entwicklungspläne zu integrieren. Diese Verpflichtung geht über das hinaus, was die LDCs im Rahmen der UN-Klimakonvention übernommen haben.

Bezüglich Handel ist das umstrittenste Thema die Gewährung eines zoll- und quotenfreien Marktzugangs für Produkte aus LDCs. Die Entwicklungsländer haben versucht, die Hongkong-Entscheidung von 2005 voranzutreiben, die für die reichen Länder vorsieht, für 97 % der LDC-Produkte einen zollfreien Status einzuräumen.

Dieser sollte auf 100 % der LDC-Produkte ausgeweitet werden. Die Schweiz hat sich für eine Weiterführung der internationalen Unterstützung der ärmsten Entwicklungsländer eingesetzt. Im Aktionsplan konnten wichtige Verpflichtungen ­ etwa zu Gouvernanz, Menschenrechten oder Gender ­ verankert werden. Wichtig war insbe3004

sondere auch die Mobilisierung des Privatsektors mit Hilfe von «UN Global Compact».

WTO-Doha-Entwicklungsrunde Das erste Quartal 2011 erlebte eine Intensivierung der Doha-Verhandlungen. Es zeigte sich jedoch, dass die Positionen vor allem der grossen WTO-Mitglieder noch weit auseinanderliegen. Generaldirektor Lamy präsentierte am 21. April 2011 den Verhandlungsstand in allen Doha-Dossiers. Diese Gesamtschau zeigte, dass es seit 2008 nur wenig Fortschritte gegeben hat. Der Versuch, einen Teilabschluss bis zur Ministerkonferenz zu erzielen, scheiterte im Sommer 2011. Es kommt damit, was die Doha-Themen betrifft, zu keinen Abschlüssen im Jahr 2011. Das weitere Vorgehen in den Doha-Verhandlungen ist gegenwärtig offen. Eine mögliche Stossrichtung wäre die Etappierung der Verhandlungsabschlüsse, d.h. bei abschlussreifen Dossiers wird nicht zugewartet, bis alle Verhandlungsthemen der Doha-Runde abschlussbereit sind.

Die USA sehen Länder wie China, Indien und Brasilien als direkte Konkurrenten, auf welche die Rhetorik der «Entwicklungsagenda» nicht mehr anzuwenden sei. Sie fordern von ihnen einen «echten» Beitrag zur globalen Handelsliberalisierung.

Industriestaaten befürchten ein Ungleichgewicht in den zukünftigen bi- oder multilateralen Verhandlungen.

Weltbankgruppe Abschluss der Verhandlungen IDA 16: Die Wiederauffüllungsverhandlungen für den Entwicklungsfonds der Weltbank (International Development Association IDA 16) wurden im Dezember 2010 erfolgreich abgeschlossen. Der Bundesrat hat im April 2011 den Beitrag von rund 700 Millionen Schweizer Franken an IDA 16 für die kommenden drei Jahre verabschiedet. Die Weltbank ist gefordert, das von allen Geberländern ausgehandelte strategische Rahmenwerk für IDA 16 ab dem laufenden Jahr umzusetzen. Entwicklungsresultate sollen im Mittelpunkt der Anstrengungen stehen. Die Schweiz hat diese Ausrichtung auf das Erreichen von Resultaten unterstützt und sich auch dafür stark gemacht, dass in Krisenzeiten geeignete Instrumente für rasches Handeln zur Verfügung stehen. Das sogenannte «Crisis Response Window» wurde erstmals im September 2011 für die schwere Hungerkrise am Horn von Afrika eingesetzt.

2011 wurde die Problematik der fragilen Staaten eingehend geprüft. Die Weltbank widmete ihren «World Development Report», eine ihrer bekanntesten Publikationen, dieser
Thematik. Die Schweiz unterstützt das Engagement der Weltbank in fragilen Ländern, da dies auch einem Schwerpunkt der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit entspricht. Die Schweiz hat in ihren Voten betont, dass es sehr wichtig ist, in diesen Ländern kompetentes Personal zur Verfügung zu haben. Sie forderte die Weltbank deshalb auf, im Pesonalbereich die notwendigen Reformen durchzuführen. Die Bank muss mehr Gewicht auf die politische Analyse legen und bei der Festlegung der Risiken und Ergebnisse berücksichtigen, wie fragil ein Land ist. Die Schweiz hat auch darauf gedrängt, dass die Aufgaben und Verantwortlichkeiten der einzelnen internationalen Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind, klar zugeteilt werden. Diese Aufgabenteilung muss sich auf die Mandate und Wettbewerbsvorteile der einzelnen Organisationen abstützen. Eine wirksame Koordination zwischen den Akteuren, namentlich zwischen Weltbank, UNO und den nationalen Behörden, ist zum Erreichen überzeugender Ergebnisse entscheidend. Die Schweiz 3005

hat die Weltbankgruppe ausserdem aufgefordert, ein besonderes Augenmerk auf die Privatwirtschaft und die Beschäftigung in fragilen Ländern zu legen. Für den kommenden Weltentwicklungsbericht zu Gender-Gleichstellung und Entwicklung (World Development Report 2012) steht die Schweiz ebenfalls im Dialog mit der Weltbank. Als Voraussetzung für erfolgreiche Entwicklung müssen Frauen in allen Entwicklungsprogrammen berücksichtigt und gestärkt werden, sei es beim Bau von Anlagen zur Wasser- oder Stromversorgung, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und in der politischen Mitsprache. Staat, Privatwirtschaft und Entwicklungsagenturen sollen dafür in die Pflicht genommen werden.

Stimmrechtsgruppe: Die Diskussionen über die Reformen der Stimmrechtsgruppen der Schweiz in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds (IWF) sind im Gange. Während Kasachstan 2010 zu den Schweizer Gruppen der beiden Institutionen gestossen ist, hat Usbekistan die Schweizer Gruppe im IWF verlassen (siehe Ziff. 2.2.3). 2011 sind Aserbaidschan und Kirgisistan aus der Schweizer Stimmrechtsgruppe bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) ausgetreten. Sie haben sich einer neuen Gruppe angeschlossen, die von der Türkei gegründet wurde, während die Ukraine neu der Schweizer Gruppe beigetreten ist.

UNO-Organisationen Im Rahmen der allgemeinen Entwicklungshilfearchitektur leisten die operativen UNO-Agenturen kostenlos spezialisierte fachliche Unterstützung für Zentral- und Lokalbehörden in Entwicklungsländern. Alle UNO-Agenturen mit einem Mandat und mit Tätigkeiten im Entwicklungsbereich bilden ein komplexes, relativ heterogenes operatives System, zu dem rund dreissig Organisationen gehören. Das Herz des Systems umfasst fünf Agenturen: das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP), den Kinderhilfsfonds der Vereinten Nationen (United Nations International Children's Emergency Fund, UNICEF), den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Population Fund, UNFPA), das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) sowie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agricultural Organization of the United Nations, FAO). An diese fünf Agenturen fliessen praktisch die gesamten öffentlichen
Entwicklungshilfegelder der Schweiz, die für die Entwicklungszusammenarbeit der UNO bestimmt sind. Die Schweiz ist als Geldgeberin daran interessiert, dass diese Agenturen hochwertige Leistungen erbringen. Sie setzt sich deshalb dafür ein, dass diese multilateralen Partner auf effiziente Verwaltungssysteme zählen und Ergebnisse vorweisen können. 2011 arbeitete die Schweiz in den Verwaltungsräten besonders aktiv auf das Ziel hin, innerhalb dieser Organisationen glaubwürdige Evaluationsstrategien und -methoden und eine resultatorientierte Verwaltung zu fördern, damit das System kohärenter und die Fragmentierung beschränkt wird.

Die Schweiz setzt sich für eine Bündelung und Stärkung der Geschlechterfragen im UN-System ein. 2011 wurde die neue Organisation UN Women geschaffen, die aus UNIFEM hervorging. Die Kreation der Organisation UN Women ist ein positives Resultat der Bemühungen um Reform und Verminderung der Fragmentierung des UN-Systems.

3006

Humanitäre Hilfe Die humanitäre Hilfe des Bundes war 2011 durch eine weltweite Anhäufung von Krisen und Katastrophen operationell stark gefordert.

Humanitäre Arbeit im Einsatz Horn von Afrika: Im kriegsgeschüttelten und dürregeplagten Horn von Afrika hat die Schweiz in der Berichtsperiode unter schwierigen Umständen dazu beigetragen, dass die über 13 Millionen hilfebedürftigen Menschen mit Nahrungsmitteln und medizinischer Notversorgung versorgt werden konnten. Dank der Befolgung der humanitären Prinzipien und einer engen Zusammenarbeit mit neutralen Partnerorganisationen konnte das humanitäre Mandat auch in diesem stark politisierten und operationell unsicheren Umfeld umgesetzt werden. Um Spannungen zwischen den Gastgemeinden und den Flüchtlingen im Norden Kenias zu reduzieren, engagiert sich die Schweiz auch mit Hilfeleistungen für die Bedürftigen in den Gastgemeinden. Neben der dringend benötigten Nothilfe legt die Schweiz einen Schwerpunkt auf sofortige Investitionen im Bereich Land- und Viehwirtschaft in den betroffenen Gebieten. Damit unterstützt sie den Ansatz der UNO und der internationalen Gebergemeinschaft, den Wiederaufbau des Landwirtschaftsektors zu fördern, um der Wiederholung solcher Krisen entgegenzuwirken. Die Schweiz zählte vor der aktuellen Hungersnot zu den zehn wichtigsten humanitären Gebern in der Region und nimmt entsprechend Einfluss auf die Ausgestaltung der humanitären Politik.

Nordafrika: Der Bundesrat hat am 11. März 2011 entschieden, auf die Geschehnisse in Nordafrika mit einem verstärkten schweizerischen Engagement zu reagieren. Die Humanitäre Hilfe der Schweiz unterhält entsprechend Programmbüros und Antennen in Tunesien, Ägypten und Libyen. Ziel ist es, die demokratische Transition in den nordafrikanischen Ländern zu unterstützen, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern sowie im Bereich Migration und Schutz tätig zu sein. Im Rahmen des regionalen Ansatzes werden bilaterale und multilaterale Mittel kombiniert eingesetzt.

Partner sind die jeweiligen Regierungen, die Zivilgesellschaft, internationale Organisationen sowie der Privatsektor. Menschen verschiedenster Nationalitäten, die anfangs 2011 von den blutigen Auseinandersetzungen in Libyen ins benachbarte Ausland (Tunesien und Ägypten) geflohen waren, wurden bei der freiwilligen Rückkehr in ihre jeweilige Heimat
unterstützt. In Ost-Libyen konnte in Zusammenarbeit mit anderen Partnern die medizinische Grundversorgung sichergestellt werden.

Japan: Nach dem schweren Erdbeben, das am 11. März 2011 Japan erschüttert und einen gewaltigen Tsunami ausgelöst hatte, hat die Schweiz in der unmittelbaren Phase der Nothilfe eine Million Franken für Einsatz und Hilfeleistungen eingesetzt.

Japan hat dieses rasche und unbürokratische Engagement der Schweiz sehr geschätzt, und die japanische Regierung hat wiederholt ihre Dankbarkeit dafür ausgedrückt.

Humanitäres Engagement auf Policy-Ebene Internationale Beratungsgruppe für Such- und Rettungsdienste (INSARAG): Die Zusammenarbeit des Technischen Hilfswerks (Deutschland) und der Rettungskette der Schweiz in Japan erfolgten nach den von der Schweiz mitbegründeten Leitlinien der Internationalen Beratungsgruppe für Such- und Rettungsdienste. Im Rahmen dieser Beratungsgruppe und in enger Zusammenarbeit mit der «UN Organisation for the Coordination of Humanitairan Affairs» (OCHA) fand im Oktober 2011 eine 3007

grosse internationale Übung in der Erdbeben- und Katastrophenbewältigung in der Schweiz statt.

Initiative «Gute Praktiken für Geber humanitärer Hilfe»: Das konsequente Engagement der Humanitären Hilfe des Bundes und ihre prinzipien- und bedürfnisorientierte wirkungsvolle Arbeit auf dem Feld wurde u.a. dadurch gewürdigt, dass die Schweiz 2010/11 das Präsidium der «Good Humanitarian Donorship»-Gruppe übernehmen konnte. Diese informelle Gruppe von 37 Ländern verpflichtet sich, die 23 Prinzipien der guten humanitären Geberschaft einzuhalten und von anderen einzufordern. Die Schweiz hat mit der Präsidentschaft international Verantwortung übernommen und sich im humanitären Bereich positioniert. 2011 konnte eine breite Unterstützung der Mitglieder der Gruppe für ein besseres Qualitäts- und Verantwortungssystem im humanitären Bereich erlangt werden.

Schutz vor Naturgefahren: Der im Jahr 2011 veröffentlichte Bericht «Schutz vor Naturgefahren ­ Präventions- und Vorsorgeprojekte der DEZA» informiert über die globalen Herausforderungen und den Beitrag der Schweiz, diese zu bewältigen.

Unwetterkatastrophen fordern immer wieder zu viele menschliche Opfer, und sie nehmen an Häufigkeit und Intensität drastisch zu. Die Humanitäre Hilfe setzt heute mehr als 15 Prozent ihrer Mittel für Katastrophenvorsorge und -schutz in armen Ländern ein. Die Stärkung des lokalen Wissens zur Prävention und der Aufbau von lokalen Strukturen sind und bleiben eine Priorität. Vermehrt sollen gemeinsame Projekte der Humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit lanciert werden. 2011 hatte die Schweiz den Vorsitz der OCHA-Beratungsgruppe zu Umweltkatastrophen inne.

In Zusammenarbeit mit dem Sekretariat für die Internationale Strategie zur Katastrophenvorsorge hat die Schweiz 2011 eine informelle thematische Debatte zum Thema Katastrophenvorsorge in der UNO-Generalversammlung initiiert. Dabei wurde festgestellt, dass Prävention und Vorsorge integrale Bestandteile nachhaltiger Entwicklung und effektiver Armutsbekämpfung sind. Die Resultate dieser Debatte wurden an weiteren Treffen verfeinert und fliessen ein in die Vorbereitungen der Plenartagung der Generalversammlung über die Millenniums-Entwicklungsziele sowie der «Rio+20»-Konferenz. Der Umgang mit Naturgefahren ist ein wichtiger Pfeiler der schweizerischen Umweltpolitik. Die
für die Schweiz entwickelten Modelle und Grundsätze des integralen Risikomanagements sind auch in der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit relevant.

Ostzusammenarbeit Transitionsunterstützung 2011 konnten Erfolge im Engagement der Schweiz im Westbalkan erreicht werden, dies trotz Problemen im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise in diesen Ländern.

Insbesondere Programme zur Dezentralisierung und Stärkung der lokalen Gouvernanz erreichten wichtige Resultate in Serbien und Bosnien und Herzegowina. Die Schweiz setzt sich in verschiedenen Ländern der Region auch dafür ein, dass der Zugang zu Gesundheitsdiensten und zur Schulbildung für Minderheiten gewährleistet wird. Sie intensivierte 2011 überdies ihre Programme für marktorientierte Berufsbildung und Stellenvermittlung. Andere Aktivitäten konzentrieren sich auf den Ausbau einer nachhaltigen öffentlichen Infrastruktur, namentlich im Wasser-.

Abwasser- und Energiesektor, die Stärkung der öffentlichen Finanzen und der Finanzinfrastruktur, die Förderung des Privatsektors und der Investitionen sowie die 3008

Vermittlung des Zugangs zum westeuropäischen Markt. Im Balkan bestehen Migrationspartnerschaften und Projekte der Zusammenarbeit in den Themenfeldern Migrationsmanagement, Prävention irregulärer Migration sowie bei Migration und Entwicklung mit Einbezug von Diasporagruppen.

Die Schweiz ist daran, in Zentralasien eine neue Zusammenarbeitsstrategie zu definieren. Wasser, Gesundheit, Reform der öffentlichen Institutionen sowie Zugang zur Justiz und die Privatsektorförderung stehen dabei im Vordergrund. Im Südkaukasus arbeitet die Schweiz am Marktzugang für arme Bevölkerungsschichten. Im Vordergrund steht dabei die ländliche Entwicklung, wobei auch Massnahmen zur Vermeidung von Naturrisiken zum Tragen kommen. In der Ukraine und Moldawien ist die Schweiz vor allem im Energie- und Wassersektor und im Gesundheitsbereich tätig.

Dienstleistungen der staatlichen Institutionen auf lokaler Ebene und Reformen auf zentralstaatlicher Ebene unterstützen die angestrebten Wirkungen.

Erweiterungsbeitrag Beim Erweiterungsbeitrag der Schweiz von eine Milliarde Franken zugunsten der zehn Staaten, die seit 2004 der EU beigetreten sind, konnten bis Ende 2011 rund 750 Millionen Franken für Projekte und Programme verpflichtet werden. Für die Programme in Rumänien und Bulgarien, den Beitrittsländern von 2007, sind bisher rund 105 Millionen Franken fest verpflichtet. Die Schweiz stellte mit ihren Aufsichtsmechanismen und mit ihrer Präsenz vor Ort sicher, dass die Projekte den Qualitätskriterien genügen. Basierend auf den Projektverpflichtungen konnten bis Ende 2011 Zahlungen in Höhe von 150 Millionen Franken getätigt werden. Gleichzeitig sind Begleitung und Monitoring der Projekte angelaufen. Die Evaluierung der Wirkung und die Berichterstattung sind Teil dieser Aktivitäten. Bis Mitte 2012 sollen alle Verpflichtungen in den 10 Beitrittsländern von 2004 wie geplant abgewickelt sein.

Bei Rumänien und Bulgarien dauert der Verpflichtungszyklus bis Ende 2014.

Der Erweiterungsbeitrag fördert den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zwischen und innerhalb der begünstigten Staaten. Er konzentriert sich auf die thematischen Bereiche Sicherheit, Regionalentwicklung, Umwelt, Infrastruktur, Privatsektorförderung, Bildung und Forschung, Gesundheit sowie Unterstützung der Zivilgesellschaft. Erfahrungen haben gezeigt, dass die
Planung in Zusammenarbeit mit den Partnerländern mehr Ressourcen bindet als vorgesehen. Dadurch wird indessen die Qualität erhöht. Andererseits konnten vor allem auch durch institutionelle Partnerschaften auf Projektebene die bilateralen Beziehungen mit den Empfängerländern gestärkt werden.

Im Folgenden werden die Aktivitäten der Schweiz in ausgewählten Ländern und Regionen im Detail dargestellt: Zentralasien: Die geostrategischen Interessen der benachbarten Mächte und das Streben nach Zugang zu Erdöl, Erdgas und Wasser prägen weiterhin das schwierige Gleichgewicht in Zentralasien und die Entwicklung der Region in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Sicherheit. Neu sind auch der Iran und Indien an diesem Interessenkonflikt beteiligt, in dem sich bereits Russland, China, die USA und in einem geringeren Ausmass auch Europa gegenüberstehen. Die Destabilisierung von Afghanistan ist ein zusätzlicher Risikofaktor. Die Bevölkerung ist weiterhin stark von Armut betroffen, 50 % der Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser.

3009

Im Bereich Wasserversorgung profitieren in Kirgisistan und Tadschikistan fast drei Millionen Menschen von den Programmen der Schweiz. Im vergangenen Jahr wurden in der Bewirtschaftung der Kanalsysteme erhebliche Verbesserungen erzielt.

Gegen 4000 Personen, insbesondere Bauern, erhielten Schulungen in diesem Bereich. Die Grundsätze der integrierten Wasserbewirtschaftung fanden Eingang im neuen landesweiten Wassergesetz von Tadschikistan. In Kirgisistan und Tadschikistan wurden lokal gegen 160 Wasserverbraucher-Vereinigungen neu gebildet oder von der Schweizer Zusammenarbeit weiterhin unterstützt. Mit der Unterstützung der Schweiz konnte zudem die Trinkwasserversorgung für gesamthaft über 360 000 Personen sichergestellt werden, für rund 30 000 davon im Jahr 2011. Zwei neue Projekte wurden im Süden von Kirgisistan in den Städten Osch und Dschalalabat lanciert und gemeinsam mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) finanziert. Weiterhin gut funktioniert auch die Zusammenarbeit mit der EBWE im Rahmen des Projekts, das die Wasserversorgungsbehörde der Stadt Bishkek unterstützt.

Dank der Schweizer Zusammenarbeit wurden die Modelle der medizinischen Grundversorgung und des Hausarztsystems in die nationalen Strategien von Kirgisistan und Tadschikistan für das Gesundheitswesen aufgenommen. Ausserdem konnten die Gemeinden mobilisiert werden, indem dieses Modell in fast allen kirgisischen Dörfern direkt geschaffen oder übernommen wurde. Die Gesundheitsindikatoren verbessern sich in Kirgisistan von Jahr zu Jahr. Ein Beispiel dafür ist die Halbierung der Brucellose-Fälle oder die Reduktion der Kindersterblichkeit von 30,6 (pro 1000 Geburten) im Jahr 2005 auf 22,8 im Jahr 2010. Auch die öffentlichen Ausgaben für die medizinische Grundversorgung wurden deutlich erhöht. Fast 350 Hausärzte und 700 Pflegepersonen wurden in Tadschikistan in den vergangenen vier Jahren ausgebildet, 58 bzw. 135 davon innerhalb eines Jahres. Die Familienmedizin wurde in 18 % der Bezirke des Landes eingeführt. Schliesslich profitieren in den Regionen, in denen die Schweiz aktiv ist, jedes Jahr 1,2 Millionen Menschen direkt von medizinischen Leistungen höherer Qualität. Im Rechtsbereich erhalten in Tadschikistan rund 5400 Personen jährlich Rechtshilfe. 2350 Opfer häuslicher Gewalt werden in den von der Schweiz
finanzierten Notzentren betreut.

In der Privatwirtschaft ermöglichte es das Programm der Schweiz in den vergangenen sechs Jahren, eine langfristige Zusammenarbeit zwischen 150 Unternehmen und 16 Berufsbildungszentren aufzubauen. Die meisten Personen, die eine Ausbildung in einer von der Schweiz unterstützten Branche absolviert hatten, fanden danach eine Arbeitsstelle. 2011 wurde ein analoges Projekt für technische Berufe im Bereich der Wasserbewirtschaftung lanciert. In Kirgisistan und Tadschikistan engagiert sich die Schweiz in der Anpassung der Regulierungs- und Beratungsstrukturen für Privatunternehmen, insbesondere in der Nahrungsmittel- und der Textilbranche. Überdies unterstützt die Schweiz Kirgisistan bei der Verbesserung des Systems zur Verwaltung der Staatsfinanzen, namentlich bei der mittelfristigen Budgetplanung, bei den internen Auditsystemen und bei der Koordination zwischen den Ministerien.

Südkaukasus: Die Programme zur ländlichen Entwicklung im Südkaukasus sollen zu einer gerechten wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, von der auch die ärmere Bevölkerung der Region profitiert. Dazu wird deren Beteiligung an den lokalen Märkten gefördert. Unterstützung geleistet wird bei der Steigerung der Produktion und bei der Stärkung der Kapazitäten der öffentlichen Akteure zur Schaffung günstiger Rahmenbedingungen. Das Innovationspotenzial dieser Projekte liegt darin, dass sie nicht nur auf Produktionsausweitungen in der Landwirtschaft abzielen, 3010

sondern auch auf eine Ankurbelung der Nachfrage, damit die zusätzlichen Produkte auch Absatz finden. In Armenien zum Beispiel ist die Zahl der Bauern, die tierärztliche Leistungen nutzen, stark gestiegen, was eine Steigerung der Milchproduktion um 15 % in der Region ermöglichte. Das Durchschnittseinkommen pro Bauer nahm dadurch um 10 % zu. In Aserbaidschan wurden 2011 zwei neue Projekte mit Gartenbaukulturen lanciert. In Georgien zeigte Dänemark grosses Interesse an der Tätigkeit der Schweiz. Das Land wird mit der DEZA für die Lancierung eines umfangreichen Programms zur ländlichen Entwicklung zusammenarbeiten. Insgesamt kommen die Schweizer Projekte 400 000 Menschen in Georgien, rund 45 000 Personen in Armenien und fast 50 000 in Aserbaidschan zugute.

Moldova: In Moldova ist die Schweizer Zusammenarbeit in den Bereichen Trinkwasserversorgung, sanitäre Grundversorgung und Gesundheitswesen tätig. Im Wasserbereich hat die Schweiz das Co-Präsidium der Koordinationsgruppe zwischen Gebern und Regierung inne. Die moldavische Regierung hat Interesse an der Übernahme des Schweizer Modells im Bereich sanitäre Grundversorgung und an der Ausarbeitung einer neuen Wasserpolitik bekundet. Das Land will dabei die von der Schweiz entwickelten dezentralen Modelle zur Wasserbewirtschaftung integrieren.

Im Gesundheitsbereich hat das Gesundheitsministerium der Regionalisierung der Notfalldienste und der Intensivpflege für Kinder zugestimmt, wie sie in einem von der Schweiz unterstützten Projekt entwickelt wurde. Dies ermöglichte 15 % mehr Notfallaufnahmen von Kindern im Spital von Balti im Norden des Landes. Eine weitere Notfallabteilung für Kinder wurde in der moldavischen Hauptstadt Chisinau renoviert und eröffnet, zwei weitere Zentren sind in Vorbereitung. Ausserdem wurden 120 Ärzte und Pflegepersonen in verschiedenen Spitälern und Kinderabteilungen im Bereich der Notfallmedizin ausgebildet. Im Rahmen der 2010 lancierten grossangelegten Präventionskampagnen wurden 110 000 Familien besucht und beraten. In der Perinatologie hat die Schweiz zur Verbesserung der Qualität der Versorgung von Neugeborenen mit einem zurückhaltenderen Einsatz von Medikamenten beigetragen, einerseits durch Schulungen und andererseits durch die Bereitstellung geeigneter Einrichtungen. Im Bereich der psychischen Gesundheit wurde ein Zentrum
eröffnet, das Koordinationsaufgaben wahrnimmt und methodische Informationen bereitstellt, zudem wurde eine nationale Strategie entwickelt.

Ukraine: In der Ukraine sind die Ergebnisse im Gesundheitssektor vielversprechend.

Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist zurückgegangen, und die Regionen, in denen die Schweiz Programme durchführte, erzielten grosse Fortschritte. Es wurden umfassende Reformen lanciert, um das Gesundheitswesen zu modernisieren, das noch stark vom sowjetischen System geprägt ist. Dabei hat die ukrainische Regierung in ihre nationalen Programme Vorschläge aus Projekten aufgenommen, welche die Schweiz finanziert hat. Im Bereich lokale Gouvernanz engagiert sich die Schweiz bei Infrastrukturvorhaben, insbesondere im Bereich der Wasserversorgung, in enger Zusammenarbeit mit lokalen Gemeinden und regionalen Behörden in der Ukraine. Dank der Unterstützung der Schweiz legen die lokalen Behörden in zahlreichen Regionen viel Dynamik an den Tag, und sie positionieren sich als «Change Agents» in einem Kontext, der einer Dezentralisierung eigentlich wenig förderlich ist.

3011

2.3.5

Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik

Die schweizerische Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik basiert auf dem Grundsatz unverminderter internationaler Stabilität bei möglichst niedrigem Rüstungsniveau. Sie fördert den vollständigen Verzicht auf Massenvernichtungswaffen und verfolgt das Ziel, die Weitergabe solcher Waffen an Staaten oder nichtstaatliche Akteure zu verhindern. Die Schweiz setzt sich dafür ein, den illegalen Handel mit konventionellen Waffen zu unterbinden sowie ein Verbot von Waffen durchzusetzen, die übermässiges Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken. Die Schweiz tritt grundsätzlich allen rechtlich bindenden Vereinbarungen bei, die ihr zugänglich sind, und engagiert sich dafür, dass die Entwicklung des humanitären Völkerrechts mit dem technischen Fortschritt im Rüstungsbereich Schritt hält.

Internationales Umfeld: Im Berichtsjahr sind die zaghaften Anzeichen eines positiveren politischen Umfelds im Abrüstungsbereich wieder verflogen. Der anfängliche Schwung der Administration Obama in diesem Bereich war nicht nachhaltig. Dies, aber auch das wachsende Selbstbewusstsein anderer Staaten, wirkt sich erschwerend auf internationale Abrüstungsbemühungen aus. Anlass zur Sorge gibt die Blockade der internationalen Abrüstungsmaschinerie im Allgemeinen und der Genfer Abrüstungskonferenz im Besonderen. Letztere konnte sich seit fünfzehn Jahren nicht mehr über die Aufnahme von Verhandlungen zu substanziellen Themen einigen. Der daraus resultierende Bedeutungsverlust schadet auch dem Abrüstungsstandort Genf.

Diese Blockade reflektiert die politische Lage und den fehlenden politischen Willen der Hauptakteure, ist aber auch auf institutionelle Mängel zurückzuführen. Die Schweiz wird daher ihre Bemühungen für eine Revitalisierung und Modernisierung der Abrüstungsmaschinerie fortsetzen.

Abrüstung und Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen Kernwaffen: Der Atomwaffensperrvertrag56 (NPT) ist ein zentrales Instrument zum Erhalt der internationalen Stabilität und Sicherheit. Nachdem er im letzten Jahrzehnt teilweise ausgehöhlt wurde ­ weil die über Kernwaffen verfügenden Staaten sich nicht an ihre Verpflichtung zur Abrüstung hielten und wegen verschiedener erwiesener oder vermuteter Fälle von Weiterverbreitung von Kernwaffen ­, konnte beim NPT mit der einstimmigen Verabschiedung eines
Schlussdokuments durch die Überprüfungskonferenz von 2010 ein gewisser Erfolg verbucht werden. Ein erfreuliches Ereignis war 2011 die Ratifizierung des «New START» genannten nuklearen Abrüstungsvertrags durch die USA und Russland. Allerdings bleiben die Fortschritte in diesem Bereich zaghaft, während die Herausforderungen angesichts der Tausenden von Kernwaffen, die weltweit immer noch stationiert sind, und der Bedrohungen durch die Weiterverbreitung enorm sind.

In der Schweiz hat die departementsübergreifende Taskforce, die 2008 zur Unterstützung verschiedener Aktivitäten im Bereich der Abrüstung eingesetzt wurde, ihre Tätigkeit verstärkt. Sie fördert Initiativen zur Delegitimierung der Kernwaffen, indem sie auf die humanitären Folgen eines Einsatzes dieser Waffen und die damit verbundenen Verletzungen des humanitären Völkerrechts hinweist. Ebenso unterstützt sie ganz praktische, auf rasche Erfolge ausgerichtete Initiativen wie etwa die 56

Vertrag vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, SR 0.515.03

3012

Herabsetzung der Alarmstufe für Kernwaffen oder das Prinzip der Unwiderruflichkeit der nuklearen Abrüstung.

Die Schweiz ist weiter davon überzeugt, dass die Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) in Genf so rasch wie möglich Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von spaltbarem Material für die Herstellung von Kernwaffen (FMCT) aufnehmen muss. Wegen der Blockaden innerhalb der CD hat die Schweiz im Rahmen dieser Organisation Treffen über diverse technische Aspekte eines solchen Instruments unterstützt. Sie will ihre Bemühungen fortsetzen und darauf hinarbeiten, dass alle Verhandlungen zu diesem Thema in Genf stattfinden.

Was die nukleare Nonproliferation betrifft, leistet die Schweiz seit 2006 einen Beitrag zum Versuch, die iranische Nuklearfrage zu regeln. Sie hat zwischen 2008 und 2010 drei Sitzungen zu diesem Thema in Genf beherbergt. Auch wenn sich das Dossier nicht im gewünschten Tempo entwickelt, haben die Aktivitäten der Schweiz zweifellos den Dialog zwischen den Partnern gefördert. Ebenfalls betreffend Nonproliferation hat die Taskforce in der vergangenen Periode auch eine Studie über die Optimierung des Garantiesystems («safeguards») der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) finanziert.

Im Bereich der nuklearen Sicherheit und des Kampfs gegen den atomaren Terrorismus engagiert sich die Schweiz weiterhin im Prozess, der von Präsident Obama am Washingtoner Gipfel vom April 2010 eingeleitet wurde und im März 2012 in Korea fortgesetzt werden soll. Sie vertritt die Auffassung, dass ein hohes Sicherheitsniveau nicht nur bei zivilem nuklearem Material, sondern auch bei militärischem Material nötig ist. Im Übrigen ist die Schweiz auch im Kampf gegen die Ursachen des Terrorismus aktiv. So nimmt sie etwa am «Global Counter-Terrorism Forum» (GCTF) teil, das 2011 von den USA initiiert wurde.

Chemiewaffen: Die Schweiz ist Vertragsstaat des Chemiewaffenübereinkommens57 (Chemical Weapons Convention, CWC), dem 188 Staaten angehören. Gemäss CWC müssen alle Vertragsstaaten ihre Chemiewaffenbestände bis spätestens Ende April 2012 vernichten. Inzwischen steht fest, dass weder die USA noch Russland noch Libyen ­ trotz intensiver Bemühungen ­ ihre Vernichtungsaktivitäten fristgerecht abschliessen können. Gemäss Beschluss der CWC-Vertragsstaatenkonferenz von Ende November 2011 werden
die betroffenen Staaten künftig zusätzlichen Berichterstattungs- und Inspektionspflichten unterworfen.

Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass die CWC neuste Entwicklungen in der chemischen Forschung laufend berücksichtigt, damit die Konvention nicht an Relevanz verliert. Zu erwähnen ist u.a. das Engagement der Schweiz zur Stärkung der CWC im Bereich der sogenannten «Incapacitating Chemical Agents». Im September 2011 organisierte das Labor Spiez mit Unterstützung des EDA einen internationalen Workshop zu diesem Thema.

Biologische Waffen: Das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen58 ist institutionell schwächer als das Chemiewaffenübereinkommen, denn es verfügt weder über eine Organisation zur Implementierung der Vertragsbestimmungen noch 57

58

Übereinkommen vom 13. Januar 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen, SR 0.515.08 Übereinkommen vom 10. April 1972 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen, SR 0.515.07

3013

über einen Verifikationsmechanismus. Die 165 Vertragsstaaten trafen sich im Dezember 2011 zu einer alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz in Genf, um mögliche Schritte zur Stärkung der Konvention zu prüfen. Zusammen mit gleichgesinnten Staaten ist die Schweiz bestrebt, mit neuen Ansätzen zur Förderung der Transparenz unter den Vertragsstaaten sowie zur weiteren Verminderung des Proliferationsrisikos das Regime zu stärken: Konkret setzt sie sich für eine Reform der vertrauensbildenden Massnahmen ein, die den Austausch von relevanten Informationen zwischen Vertragsstaaten erlauben sollen. Weiter nimmt die Schweiz eine Vorreiterrolle ein, wenn es darum geht, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die «Dual-Use»-Problematik der biotechnischen Forschung zu sensibilisieren.

Abrüstung und Verhinderung der Verbreitung von konventionellen Waffen Übereinkommen von 1980 über bestimmte konventionelle Waffen und Übereinkommen über Streumunition: Mit dem Übereinkommen über bestimmte konventionelle Waffen59 (Convention on Certain Conventional Weapons, CCW) wurde 1980 in Genf der grundlegende UNO-Rahmen geschaffen, in dem die Mehrheit der Übereinkommen des humanitären Völkerrechts ausgehandelt wurde, die die Beschränkung des Einsatzes oder das Verbot konventioneller Waffen zum Gegenstand haben. Die Umsetzung dieses Übereinkommens ist für Genf wichtig. Das Inkrafttreten von Protokoll V über explosive Kriegsmunitionsrückstände (2006)60 hat wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen. Bis November 2010 haben die Verhandlungen zum Problem der Streumunition die Arbeiten im CCW dominiert. Diese sind schliesslich gescheitert. Die Schweiz hat die Idee eines Protokolls zum CCW, das konkrete und sofortige Auswirkungen hätte und das Übereinkommen über Streumunition (CCM) ergänzen und die wichtigsten Produzenten und Anwender von Streumunition einbeziehen würde, immer unterstützt. Sie bedauert daher das Scheitern dieses Prozesses sehr. Er hätte einen wesentlichen Fortschritt in der Schweizer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik bedeutet. Allerdings ist die Schweiz wie viele an den Verhandlungen beteiligte Länder froh, dass sich die Staaten nicht auf eine schwache Kompromisslösung geeinigt haben. Eine solche hätte die Kohärenz des humanitären Völkerrechts im Bereich der Streumunition und die Glaubwürdigkeit
des CCW als zentrales Instrument des humanitären Völkerrechts und der konventionellen Abrüstung in Frage gestellt.

Der Prozess innerhalb des CCW wurde jedoch vom Oslo-Prozess, einem multilateralen Prozess ausserhalb der üblichen institutionellen Strukturen, überholt. Neben dem Übereinkommen über das Verbot von Anti-Personenminen61 stellt das CCM einen der grössten Erfolge der letzten Jahre im Bereich der Entwicklung des humanitären Völkerrechts und der konventionellen Abrüstung dar. Die Schweiz hat das Übereinkommen als einer der ersten Staaten am 3. Dezember 2008 unterzeichnet. Bis heute wurde es von 111 Staaten unterzeichnet, und 66, darunter die meisten Nachbarländer 59

60

61

Übereinkommen vom 10. Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermässige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, SR 0.515.091 Protokoll vom 28. November 2003 über explosive Kriegsmunitionsrückstände zu dem Übereinkommen vom 10. Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermässige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, SR 0.515.091.4 Übereinkommen vom 18. September 1997 über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Anti-Personenminen und über deren Vernichtung, SR 0.515.092

3014

der Schweiz, haben es ratifiziert (Ausnahme ist Liechtenstein, das unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert hat). Im Juni 2011 hat der Bundesrat die Ratifikation des Übereinkommens beschlossen, die noch vom Parlament bestätigt werden muss62.

Mit der Ratifikation verbunden ist eine Revision des Kriegsmaterialgesetzes vom 13. Dezember 199663, das mit einem Streumunitionsverbot ergänzt wird. Weiter ist vorgesehen, die Finanzierung der verbotenen Waffen im Gesetz ausdrücklich zu verbieten.

Die Schweiz beteiligt sich an den internationalen Bemühungen zur Umsetzung des CCM, damit dieses möglichst rasch wirksam wird und die Zivilbevölkerung vor den humanitären Folgen dieser Waffen geschützt und deren Weiterverbreitung eingedämmt werden kann. Sie sorgt auch für eine optimale Nutzung der Synergien mit dem Übereinkommen über ein Verbot von Anti-Personenminen. Das internationalen Zentrum für humanitäre Minenräumung in Genf (GICHD) ist ein wichtiger Partner dafür und trägt zur humanitären Bedeutung des internationalen Genf bei.

Trotz Verabschiedung des CCM und trotz des Scheiterns einer Regelung für Streumunition im CCW engagiert sich die Schweiz weiterhin im CCW und seinen Protokollen, da es die militärischen Grossmächte, die Hauptproduzenten und Anwender von konventionellen Waffen, mit einschliesst.

Exportkontrollen Massenvernichtungswaffen: Im Rahmen ihrer Bestrebungen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln beteiligt sich die Schweiz weiterhin an allen bestehenden Kontrollregimen und setzt sich dort für eine Harmonisierung der Exportkontrollen ein. Es geht um die Gruppe der Nuklearlieferländer (NSG), die Australiengruppe (sie befasst sich mit chemischen und biologischen Substanzen und Ausrüstungen) sowie das Raketentechnologieregime (MTCR). Im Berichtsjahr fanden in allen drei Regimen intensive Diskussionen über eine mögliche Erweiterung der Mitgliedschaft um zusätzliche Staaten, insbesondere auch Indien, statt. In keinem der rund 40 Staaten umfassenden Gremien konnte einstweilen diesbezüglich eine Einigung erzielt werden. Die Schweiz lehnt die Aufnahme neuer Mitglieder nicht ab, falls diese die bestehenden Kriterien erfüllen.

In der NSG wurde nach über sechsjährigen Verhandlungen eine Einigung über eine gewisse Verschärfung der Bedingungen für
die Weitergabe von nuklearer Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungstechnologie erzielt. Es ist der Schweiz gelungen, im Laufe dieses Prozesses ihre industriellen Interessen zu wahren. In der NSG wurden zudem die im Herbst 2010 begonnenen Verhandlungen zur Totalrevision der beiden Güterlisten fortgesetzt. Insbesondere im Bereich der doppelt verwendbaren Güter (Dual-use) sind hier für die Schweiz gewichtige Industrieinteressen betroffen.

Schliesslich finden auch in der Australiengruppe intensive Verhandlungen über eine Revision der Listen der kontrollierten Güter statt. Augrund der Bedeutung dieser Verhandlungen auch für die Wirtschaft beteiligen sich die Schweizer Vertreterinnen und Vertreter aktiv an diesen verschiedenen Verhandlungen.

Konventionelle Waffen: Das Wassenaar-Arrangement kontrolliert den Export von konventionellen Rüstungsgütern und doppelt verwendbaren Gütern zu deren Herstellung und umfasst gegenwärtig vierzig Staaten. Im Jahre 2011 leitete die Schweiz 62 63

Vgl. die Botschaft vom 6. Juni 2011 zur Genehmigung des Übereinkommens über Streumunition und zu einer Änderung des Kriegsmaterialgesetzes, BBl 2011 5905 SR 514.51

3015

im Rahmen der alle vier Jahre stattfindenden Überprüfung der Funktionsweise des Wassenaar-Arrangements eine Arbeitsgruppe zur Überarbeitung der diversen BestPractice-Richtlinien und zu deren Übernahme in die nationale Exportkontrollpraxis der Teilnehmerstaaten.

Die Initiative zur Aushandlung eines internationalen Waffenhandelsvertrages im Rahmen der UNO, die im Jahr 2006 lanciert wurde, wird von der Schweiz aktiv unterstützt. Ein solches Abkommen könnte dazu beitragen, den Transfer von Waffen in Fällen zu verhindern, wo humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte verletzt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterhöhlt und Kriegsverbrechen begangen oder in anderer Weise internationale Stabilität und Frieden gefährdet werden könnten. Im Sommer 2012 wird nach zweijähriger Vorbereitung eine Verhandlungskonferenz mit dem Ziel abgehalten, ein rechtsverbindliches Abkommen über den Transfer konventioneller Waffen zu verabschieden. Die Schweiz, die im Bereich der Exportkontrolle von Rüstungsgütern über einen hohen Standard verfügt, wird auf die Erarbeitung eines starken Vertrages hinwirken, dies sowohl hinsichtlich des Geltungsbereichs, der anzuwendenden Parameter als auch der Massnahmen zur Implementierung der aus dem Vertrag fliessenden nationalen Verpflichtungen.

2.3.6

Aussenpolitik im Bereich nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Lösungen für viele globale Herausforderungen und Risiken wie globale Erwärmung, Wasserknappheit, Rückgang der Biodiversität, Entwaldung usw. konnten seit der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (1992)64 nur ungenügend vorangebracht werden. Diese Risiken beeinflussen die Entwicklungsperspektiven armer Länder auf enorme Weise. Der enge Zusammenhang von Armut, Nachhaltigkeit und den Fragen der Verteilungsgerechtigkeit rücken auf die Agenda. Ein höheres Mass an internationaler Zusammenarbeit ist unerlässlich, wenn die Weichen für eine dauerhaft klima- und umweltverträgliche globale soziale und wirtschaftliche Entwicklung gestellt werden sollen. Die UNO-Konferenz über nachhaltige Entwicklung im Juni 2012 (Rio+20) bietet eine besondere Gelegenheit für die internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik. Sie kann den Weg für eine kooperativere Architektur der internationalen Zusammenarbeit vorbereiten helfen.

Herausforderungen: Die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung setzte im Jahre 1992 einen Markstein. Sie verabschiedete mit der «Agenda 21» ein umfassendes Aktionsprogramm für das «Jahrhundert der Ökologie», das sich am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung orientieren sollte. Nachhaltigkeit bedeute eine dauerhafte, wirtschaftlich leistungsfähige, sozial gerechte und umweltverträgliche Entwicklung.

Der Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung im Jahr 2002 hat noch akzentuierter als die Konferenz von Rio die drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung verknüpft. Es kann zu Zielkonflikten kommen, zum Beispiel zwischen dem wirtschaftlichen Effizienzziel und der sozialen Gerechtigkeit. Es bestehen aber auch Chancen, wie die Schaffung von «Green Jobs» oder die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes durch ein erhöhtes Bildungsniveau.

64

Protokoll von Kyoto vom 11. Dezember 1997 zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, SR 0.814.011

3016

Die Prinzipien der Nachhaltigkeit verlangen, dass die Befriedigung der Bedürfnisse der heutigen Generation die Entwicklungschancen künftiger Generationen nicht einschränkt. Diese erhalten nicht genügend Beachtung, sei es im ökologischen Bereich, wo die Biokapazität der Erde erreicht oder überschritten wird, oder im wirtschaftlichen Bereich, wo unter anderem das Gefälle zwischen Nord und Süd nach wie vor gross ist. Der faire Zugang der Entwicklungsländer zu den knapper werdenden natürlichen Ressourcen und zu Technologien für die schonende Nutzung dieser Ressourcen wird vordringlich.

UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung von 2012 (Rio+20): Die UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung vom Juni 2012 in Rio bildet eine besondere Gelegenheit, um die Weichen der internationalen Entwicklungs- und Umweltpolitik in Richtung einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit für eine klimaverträgliche globale Entwicklung zu stellen. Zwei Themen stehen auf der Agenda: 1) die grüne Wirtschaft im Kontext der Armutsbekämpfung und der nachhaltigen Entwicklung und 2) die Stärkung einer globalen institutionellen Architektur (Institutional Framework for Sustainable Development), die die Transformation zur Nachhaltigkeit unterstützt. Die Schweiz hat Vorschläge eingebracht, wie das Konzept der «Grünen Wirtschaft» konkret umgesetzt werden kann. Insbesondere hat sie die Schaffung einer sogenannten «Green Economy Roadmap» vorgeschlagen. Diese soll spezifische inhaltliche wie zeitliche Zielvorgaben beinhalten. Es sollten quantifizierbare Ziele, die sich an der Umwelt- und Klimaverträglichkeit orientieren, festgelegt werden. Die Ziele und Zwischenziele für die Transformation in Richtung «grüne Wirtschaft» sollen auch gewichtige entwicklungspolitische Aspekte umfassen, die mit den Millenniums-Entwicklungszielen verknüpft sind: nachhaltige Landwirtschaft und Ernährungssicherheit, nachhaltiges Wassermanagement und Energieversorgung, nachhaltige Bewirtschaftung von Ökosystemen (insbesondere Berge, Trockengebiete, Wälder) sowie Ausbildungsmassnahmen für eine grüne Wirtschaft.

Damit hat die Schweiz Vorarbeit für einen erfolgreichen Ausgang der Konferenz geleistet.

Das Schwerpunktthema «Grüne Wirtschaft» hat in den OECD-Ländern, und auch in der Schweiz, an Bedeutung gewonnen. Es geht darum, die effiziente wirtschaftliche
Nutzung der Ressourcen zu steigern und die externen Kosten für Umwelt und Gesellschaft zu mindern. Marktwirtschaftliche Instrumente sollen in Industrie- und zunehmend auch in Schwellenländern die ökologische Modernisierung vorantreiben.

Das Konzept «grüne Wirtschaft» stösst in Entwicklungsländern bislang auf Skepsis.

Es wird befürchtet, dass das Konzept das ausgewogene Verständnis der nachhaltigen Entwicklung (Wirtschaft/Ökologie/Gesellschaft) verdrängen und protektionistische Massnahmen der Industrieländer legitimieren könnte. Die Rio+20-Konferenz soll deshalb das Thema «Grüne Wirtschaft» in einer entwicklungspolitischen Perspektive angehen und aufzeigen, wie eine «grüne Wirtschaft» zur Armutsbekämpfung wie auch zur nachhaltigen Entwicklung beitragen kann.

Die Schweiz hat auch zum zweiten Schwerpunktthema «institutionelle Architektur für eine nachhaltige Entwicklung» Vorschläge eingebracht, welche auf breite Resonanz stossen. Viele Staaten und hohe UNO-Funktionäre haben die Vorschläge der Schweiz zur Schaffung eines Globalen Nachhaltigkeitsrates (Global Sustainability Council), welcher an die Stelle der Kommission für nachhaltige Entwicklung CSD treten soll, positiv aufgenommen. Des Weiteren sollen ein Peer-Review-Mechanismus eingeführt werden und periodische Treffen zum Thema Nachhaltigkeit auf höchster Ebene stattfinden.

3017

Es ist unbestritten, dass das Problem der Verzettelung der drei Aspekte der Nachhaltigkeit in den internationalen Institutionen dringend gelöst werden muss. Ebenfalls besteht Konsens, dass der der Umwelt noch zu wenig Rechnung getragen wird. Die Schweiz macht deshalb Vorschläge zur Stärkung der internationalen UmweltGouvernanz. Einige Länder, wie etwa Kolumbien, regen an, dass im Rahmen der Rio+20-Konferenz ein Prozess zur Formulierung globaler nachhaltiger Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals) lanciert wird. Eine Verknüpfung mit der entwicklungspolitischen Agenda der Millenniums-Entwicklungsziele, deren Erreichung bis 2015 terminiert ist, ist unabdingbar. Die Schweiz unterstützt das Anliegen.

UN High Level Panel on Global Sustainability: Die Empfehlungen und Impulse zur Nachhaltigkeit, die im Rahmen der Rio+20-Konferenz vorgebracht werden, werden in klassischen intergouvernementalen Verhandlungen entwickelt. Das High-Level Panel on Global Sustainability, das UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon im Herbst 2010 eingesetzt hat, verfügt über mehr Spielraum. Rund zwanzig Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind mandatiert, innovative Ideen zur weltweiten Förderung der nachhaltigen Entwicklung zu erarbeiten, indem sie konkrete Instrumente zur Förderung des Übergangs zu einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell vorschlagen. Das Panel wird dem UNO-Generalsekretär im Januar 2012 seinen Bericht übergeben. Dessen Schlussfolgerungen sollen in die Vorbereitungen zur UNO-Konferenz über nachhaltige Entwicklung 2012 in Rio und in andere multilaterale Verhandlungen einfliessen und dem Generalsekretär bei der Ausarbeitung einer Strategie zur Rolle der UNO im Bereich der Nachhaltigkeit helfen. Die Schweiz hat mit verschiedenen Vorschlägen, insbesondere zu den Themen Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit, Gouvernanz, grüne Wirtschaft und Abschaffung von Subventionen für fossile Brennstoffe, zur Arbeit des Panels beigetragen.

2.3.7

Aussenpolitik in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Energie und Gesundheit

Umwelt Klima: Die Klimakonferenz Ende 2011 in Durban hat die Vorgaben der Cancún Agreements aufgenommen und in zahlreichen Bereichen zu einer Implementierung der in Mexico 2010 beschlossenen Ziele geführt. Das Hauptresultat der Verhandlungen in Durban umfasst neben dem Beschluss zum Green Climate Fund (siehe Ziff. 2.3.4) zwei eng verwandte Aspekte: ­

3018

Nach Ablauf der ersten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls Ende 2012 wollen sich insbesondere die Schweiz, die EU und Norwegen zu weiteren Emissionsreduktionen im Rahmen einer zweiten Verpflichtungsperiode unter dem Kyoto-Protokoll verpflichten. Hierzu noch nicht abschliessend geäussert haben sich Australien und Neuseeland. Zwar sind damit nach dem Ausscheiden von Japan, Russland, Kanada und dem fortgesetzten Fortbleiben der USA fortan nur noch maximal ein Sechstel der globalen Emissionen abgedeckt. Aber es wird dadurch der grosse Wert des Kyoto-Protokolls bewahrt, nämlich das Bestehen eines auf klaren Regeln bestehenden Systems zur Emissionsminderung, und dies bis zu dessen Ablösung durch ein

umfassendes, alle grossen Emittenten einbindendes und international verbindliches Instrument.

­

Der Beschluss zur Erarbeitung eines umfassenden Klimaregimes ab 2020 wird in der Geschichte der Klimaverhandlungen wohl als die noch grössere Wegmarke betrachtet werden: Er war Bedingung für das Eingehen einer neuerlichen Verpflichtungsperiode im Rahmen des Kyoto-Protokolls und trägt der Tatsache Rechnung, dass den Herausforderungen des Klimawandels und der Bekämpfung der globalen Erderwärmung nur mit vereinten Kräften beizukommen ist. Insbesondere heisst dies, dass alle grossen Emittenten, seien sie nun traditionelle industrialisierte Staaten oder traditionelle Entwicklungsländer (bzw. heute vielfach Schwellenländer), in ein neues Klimaregime eingebunden sind und entsprechende Anstrengungen zur Reduktion ihrer Emissionen unternehmen. Dieses Klimaregime soll mit hoher Dringlichkeit verhandelt, an der Klimakonferenz 2015 angenommen werden und 2020 in Kraft treten.

Wesentlich für das Gesamtergebnis der Verhandlungen war, dass Europa, insbesondere die Schweiz, die EU und Norwegen, die Verhandlungsgruppe der kleinen Inselstaaten (Alliance of Small Island States, AOSIS) und die Verhandlungsgruppe der am wenigsten entwickelten Länder (Least Development Countries, LDCs) den in den Klimaverhandlungen bis anhin dominierenden Nord-Süd-Graben überwanden und gemeinsam nach ambitiösen Zielen strebten.

Chemikalien und Abfall: Im Chemikalien- und Abfallbereich standen 2011 die Vertragsparteienkonferenzen der Konventionen von Basel65, Rotterdam66 und Stockholm67 an. In allen drei Konventionen ist die Schweiz stark engagiert, als Gastland (Sitz der Sekretariate ist Genf) und auch aufgrund der zentralen Rolle, welche die globale Reglementierung des Umgangs mit gefährlichen Chemikalien und Abfällen in der Schweizer Umweltaussenpolitik einnimmt. Abgestützt auf wissenschaftliche Untersuchungen wurden an den Konferenzen die Herstellung von und der Handel mit weiteren chemischen Substanzen eingeschränkt. Dies ist sowohl aus Sicht der Umwelt wie auch der Gesundheit zu begrüssen. Sehr wichtig waren die erwähnten Konferenzen aber auch in institutioneller Hinsicht: Erstmals stand ihnen ein gemeinsamer Exekutivsekretär zur Seite. Dies ist das Resultat eines Synergieprozesses, der von der Schweiz mitinitiiert wurde und der darauf abzielt, die Kohärenz der internationalen Umweltgouvernanz zu stärken. Auf Initiative der Schweiz soll das Chemikalien- und Abfallregime durch eine Konvention zum Umgang mit dem hochtoxischen Quecksilber ergänzt werden. Ein intergouvernementales Verhandlungskomitee arbeitet auf dieses Ziel hin. Es tagte 2011 zwei Mal und soll bereits 2013 einen Vorschlag für ein umfassendes Übereinkommen vorlegen.

Biodiversität: Im Oktober 2010 hat in Nagoya (Japan) die zehnte Vertragsparteienkonferenz der Konvention über die biologische Vielfalt einen globalen Strategischen Plan für die Biodiversität 2011­2020 verabschiedet, der für alle biodiversitätsrele65 66

67

Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung, SR 0.814.05 Rotterdamer Übereinkommen vom 10. September 1998 über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im internationalen Handel, SR 0.916.21 Stockholmer Übereinkommen vom 22. Mai 2001 über persistente organische Schadstoffe (POP-Konvention), SR 0.814.03

3019

vanten Konventionen massgebend ist. Eine heikle Frage ist die Umsetzung des strategischen Plans in Entwicklungsländern, insbesondere die Finanzierungsfrage.

Das Nagoya-Protokoll regelt den Zugang zu und die Nutzung von genetischen Ressourcen sowie den Ausgleich der Vorteile, die daraus entstehen. Die Schweiz bereitet derzeit die Ratifikation vor. Noch im Jahr 2012 soll die zwischenstaatliche Plattform zu Biodiversität und Ökosystemleistungen gegründet werden, die ähnlich dem IPCC für das Klima das bestehende Wissen zusammentragen und analysieren soll, um so die bestmögliche wissenschaftliche Grundlage für Entscheide zum Schutz und zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und von Ökosystemen zu liefern.

Weitere Umweltthemen: Im September 2011 fand in Astana (Kasachstan) die siebte Ministerkonferenz «Umwelt für Europa» statt. Vertreterinnen und Vertreter aus 56 Staaten (inkl. Zentralasien und Nordamerika) berieten über die Themen nachhaltige Nutzung der Wasserressourcen und grüne Wirtschaft. Die Schweiz hatte zum Ersteren umfangreiche Vorarbeiten geleistet und präsentierte ihre Erfahrungen. Die Diskussionen zur Thematik grüne Wirtschaft fügten sich in die internationalen Bemühungen zur Transformation des globalen Wirtschaftssystems ein, die auch an der UNO-Nachhaltigkeitskonferenz Rio+20 (siehe Ziff. 2.3.6) im Fokus stehen wird.

Die Schweiz nutzte die Konferenz in Astana auch, um ein Treffen ihrer GEFStimmrechtsgruppe auf Ministerstufe durchzuführen und die Themen der Konferenz zu diskutieren. Die Schweiz führt im 32-köpfigen GEF-Verwaltungsrat (16 Industrieländer und 16 Entwicklungs- und Transitionsländer) eine Stimmrechtsgruppe zusammen mit Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan). Seit 2007 organisiert die Schweiz regelmässig Stimmrechtsgruppentreffen und unterstützt die Staaten bei der Umsetzung der GEF-Projekte in der Region. In diesem Spektrum liegt auch das momentan grösste GEF-Projekt in Zentralasien, die «Central Asian Countries Initiative for Land Management» (CACILM). CACILM befindet sich in der zweiten Phase (2009­2013), in welcher die Wüstenbildung, der Schutz von Biodiversität und Wasserressourcen sowie Anpassung an den Klimawandel im Mittelpunkt stehen.

Verkehr Im Bewusstsein um ihre strategische Lage im
Herzen Europas verfolgt die Schweiz eine Verkehrspolitik mit dem Ziel, den Alpenraum zu schützen, indem der Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagert und eine leistungsfähige Infrastruktur entlang des Schienenkorridors Rotterdam-Genua für den internationalen Verkehr bereitgestellt wird. Diese Politik wurde gegenüber der EU durch das 2002 in Kraft getretenen Landverkehrsabkommen Schweiz-EU68 formalisiert. Das Projekt der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), das den Bau dreier Basistunnel (Lötschberg 2007, Gotthard 2016 und Ceneri 2019) vorsieht, ist das Rückgrat dieses Abkommens, die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) sein Finanzierungsmodus. Ende 2011 wurden bei der LSVA Anpassungen vorgenommen, die eine Ermässigung von 10 % für Lastwagen der Emissionsklassen Euro II und Euro III mit Partikelfiltersystem beinhalten. Dieser Anreiz entspricht den Umweltschutzzielen der schweizerischen Verkehrspolitik und entlastet das Transportgewerbe.

68

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse, SR 0.740.72

3020

Zur Koordination der Planung der Infrastrukturvorhaben auf den nördlichen und südlichen NEAT-Zulaufstrecken arbeitet die Schweiz auf staatsvertraglicher Grundlage eng mit Italien und Deutschland zusammen. Allerdings verzögert sich die Realisierung der Arbeiten aufgrund finanzieller und planerischer Schwierigkeiten in den beiden Ländern. In Deutschland ist der Ausbau des Streckenabschnitts der Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel, des wichtigsten nördlichen NEATZubringers, wegen erheblicher Finanzierungsprobleme und Widerstand aus der Bevölkerung ins Stocken geraten. Damit es bei der Inbetriebnahme der NEAT 2016­2019 nicht zu Engpässen kommt, werden Alternativen geprüft. In Italien ist die Realisierung seit Langem geplanter Grossprojekte bis 2020 nicht gewährleistet.

Die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene stösst auf wenig Interesse bei den italienischen Ansprechpartnern, die dem Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken für den Personenverkehr eine höhere Priorität einräumen.

Derzeit ist nur die Finanzierung leichter technischer Anpassungen auf den alten Linien gesichert, was den Verkehrsfluss bei der Inbetriebnahme der NEAT garantieren sollte. Positiv für die Schweiz ist der definitive Anschluss der Gotthard- und der Lötschberg-Simplon-Achse an das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V) im Oktober 2011.

Um die Anbindung der Schweiz an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz zu gewährleisten, leistet die Schweiz Kostenbeiträge an die Arbeiten auf französischem Gebiet. Auf der Strecke Basel­Paris z.B. nimmt ab Dezember 2011 der TGV RhôneRhin den Betrieb auf. Im Bereich des grenzüberschreitenden Bahnverkehrs gab Frankreich am 15. November 2011 bekannt, dass die Finanzierung der CEVA (Bahnverbindung Cornavin­Eaux-Vives­Annemasse) auf französischem Gebiet gesichert ist. Gleichentags erfolgte der Spatenstich für die Arbeiten auf Schweizer Seite.

Energie Das für die Schweiz besonders relevante internationale energiepolitische Umfeld war 2011 von Entscheiden betreffend Kernenergie in Deutschland (Abkehr von der Stromproduktion durch Kernenergie) und Italien (kein Einstieg in die Stromproduktion durch Kernenergie) geprägt. Auch wenn bis jetzt noch kein anderer Staat den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hat, werden mittelfristig alle Nachbarstaaten der Schweiz aussteigen
(mit der gewichtigen Ausnahme Frankreichs). Der Bundesrat hat am 25. Mai 2011 entschieden, schrittweise aus der Kernenergie auszusteigen. Das Parlament unterstützt diesen Entscheid. Im Rahmen der Energiestrategie 2050 wird zur Gewährleistung der Strom- und, sollten Gaskraftwerke in der Schweiz gebaut werden, der Gasversorgungssicherheit eine Vertiefung der grenzüberschreitenden energiepolitischen und -technologischen Zusammenarbeit unabdingbar.

Bilaterale Beziehungen zu Nachbarn und ausgewählten Partnerstaaten: Die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten ist vor diesem Hintergrund sowie aufgrund des hohen Grads der faktischen gegenseitigen Abhängigkeit (insbesondere aufgrund grenzüberschreitender Netze und Energieflüsse) besonders wichtig. Mit allen Nachbarländern werden deshalb regelmässig Kontakte auf Bundesrats- oder Direktorenstufe gepflegt. Die Palette der Zusammenarbeitsbereiche ist breit; sie erstreckt sich von der Versorgungssicherheit über die Förderung erneuerbarer Energien bis hin zu Fragen der Energieeffizienz und der Forschungszusammenarbeit. Die Beziehungen zu EU-Mitgliedstaaten werden so ausgestaltet, dass sie die Bemühungen der Schweiz um die Wahrung ihrer energiepolitischen Interessen gegenüber der EU 3021

unterstützen. Mit ausgewählten Partnerstaaten ausserhalb der EU (Aserbaidschan, Türkei, Vereinigte Arabische Emirate und Russland) baut die Schweiz zudem Energiepartnerschaften auf. Diese zielen einerseits auf die Förderung nachhaltiger Energiequellen und der Energieeffizienz in Exportländern fossiler Energien ab. Andererseits stehen sie im Zusammenhang mit der für die Schweiz wichtigen Erschliessung des sogenannten südlichen Erdgaskorridors, der die noch nicht operative, pipelinegebundene Erdgaslieferroute aus dem kaspischen Raum, Zentralasien und dem Mittleren Osten nach Europa umfasst. Gegenwärtig ist ein eigentlicher Wettlauf um die Erschliessung dieses Korridors mittels Pipelines im Gange. Eines dieser Projekte ist die Trans Adriatic Pipeline (TAP), an welcher die Schweizer Firma EGL wesentlich beteiligt ist, ein Projekt, das die Schweiz offiziell unterstützt.

Verhandlungen mit der Europäischen Union: Die Wichtigkeit der EU als energiepolitischer Akteur nimmt mit dem EU-Energiebinnenmarkt und den jüngsten Bestrebungen der Kommission für eine koordinierte Energieaussenpolitik weiter zu. In den Energiebeziehungen mit der EU steht für die Schweiz die Absicherung der Stellung der Schweiz im europäischen Energiemarkt im Vordergrund, unter Berücksichtigung von Energieversorgungssicherheit, Marktzugang, Wettbewerbsfähigkeit, Ausbau und Einbindung in europäische Energieinfrastrukturen und ressourcenschonende Energiewirtschaft. Die Schweiz führte im Berichtsjahr die 2007 lancierten Verhandlungen mit der EU über ein Stromabkommen weiter. Der Abschluss der Verhandlungen wird einerseits von den Fortschritten der Schweiz im Bereich der Elektrizitätsmarktöffnung und andererseits von der Lösung übergeordneter institutioneller Fragen zum Verhältnis der Schweiz zur EU abhängen. Ziel ist ein umfassendes Energieabkommen mit der EU, welches neben Elektrizität auch Themen wie Energieinfrastruktur, Energieeffizienz und Erdgas umfasst. Zudem beteiligt sich die Schweiz, wie andere kernenergienutzende Nachbarländer, an dem von der EU nach Fukushima beschlossenen Stresstest für Kernkraftwerke.

Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen: Die Schweiz hat ein Interesse daran, dass die globale Energiepolitik massgeblich im Rahmen von multilateralen Gremien gestaltet wird, in denen sie als Mitglied Mitspracherecht
besitzt. Solche Institutionen erlauben es der Schweiz, sich bei Energiefragen von geopolitischer Tragweite einzubringen. Die Schweiz setzt sich deshalb weiterhin insbesondere dafür ein, dass die Internationale Energieagentur in Paris (IEA), die Internationale Atomenergieagentur in Wien (IAEA), die Energiecharta mit Sitz in Brüssel sowie seit 2011 die International Renewable Energy Agency (IRENA) in Abu Dhabi als zentrale multilaterale Energieinstitutionen an Relevanz gewinnen und weiter gestärkt werden. Zusätzlich hat die Schweiz am 22. Februar 2011 zusammen mit 87 weiteren Staaten die Charta des International Energy Forum (IEF) unterzeichnet.

Das IEF ist das einzige weltweite Treffen von Energieministern. Die Schweiz nimmt seit 2002 regelmässig daran teil.

Aufgrund des schwerwiegenden Unfalls im japanischen Kernkraftwerk FukushimaDaiichi setzt sich die Schweiz im Rahmen der IAEA aktiv für eine weltweite Verbesserung der nuklearen Sicherheit ein. Sie fordert, dass die Rolle der IAEA in diesem Bereich gestärkt wird, indem bereits bestehende Mechanismen wie die IAEA Peer Reviews für die Überprüfung der Sicherheit von Kernkraftwerken und der staatlichen Aufsicht für obligatorisch erklärt werden.

Entwicklungszusammenarbeit: Die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit trägt dem Thema Energie verstärkt Rechnung. Im Rahmen multilateraler Programme der Entwicklungsbanken und bilateraler Projekte trägt die Schweiz dazu bei, dass in 3022

Transitions- und Entwicklungsländern die Energie effizienter genutzt, erneuerbare Energien verstärkt eingesetzt und klimaschädliche Energieproduktionsanlagen ersetzt werden. Ein wesentlicher Teil der im Februar 2011 bewilligten zusätzlichen Mittel von 125 Millionen Franken für die Anschubfinanzierung der Schweiz unter der Klimakonvention werden für entsprechende Programme der DEZA und des SECO eingesetzt.

Gesundheit In den letzten Jahren ist Gesundheit ein wichtiger Aspekt der Aussenpolitik geworden. Mit der Formulierung einer interdepartemental koordinierten Gesundheitsaussenpolitik nimmt die Schweiz international eine Pionierrolle ein. 2006 hat die Schweiz die Leitlinien ihrer Gesundheitsaussenpolitik festgelegt. In diesem Zusammenhang wurde zwischen EDI und EDA eine Zielvereinbarung abgeschlossen, welche die Arbeit der verschiedenen nationalen Akteure koordinieren soll mit dem Ziel, eine grössere Kohärenz der Aktivitäten der Schweiz auf internationaler Ebene zu erreichen. Eine Priorität der Gesundheitsaussenpolitik ist die Stärkung der Rolle der Schweiz als Gaststaat und Sitz von Schlüsselorganisationen und Unternehmen im Gesundheitssektor. Die Gesundheitsaussenpolitik ist zudem Ausdruck der Mitverantwortung der Schweiz für die globale Gesundheit. Die Schweiz überarbeitete im Berichtsjahr ihre Gesundheitsaussenpolitik, um die Ziele den neuen Herausforderungen anzupassen. Die revidierte Fassung soll 2012 in Kraft treten.

Engagement in der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Die Schweiz wurde für die Periode 2011­2014 in den Exekutivrat der WHO gewählt. Die Mitgliedschaft erhöht die Visibilität und Einflussnahme der Schweiz im Rahmen der Debatten zur globalen Gesundheit. Als Mitglied des Exekutivrats setzt sich die Schweiz insbesondere für eine Stärkung der WHO sowie für deren nachhaltige Finanzierung, für eine Förderung der Gesundheitssysteme und für Genf als internationale Gesundheitshauptstadt ein.

Kampf gegen HIV/AIDS: Trotz der Erfolge der letzten Jahre bleibt HIV/AIDS für die Schweiz eine prioritäre Herausforderung. Im Juni 2011 hat die UNO-Generalversammlung eine von der Schweiz unterstützte Resolution verabschiedet, die einerseits neue Ziele der Weltgemeinschaft im Kampf gegen HIV/AIDS festlegt, wie beispielsweise die Reduktion der sexuellen HIV-Übertragung um die Hälfte, die Verhinderung
von Neuansteckungen beim Konsum harter Drogen oder aber die Eliminierung der Mutter-Kind-Übertragung. Andererseits fordert sie das Einhalten der Menschenrechte, was auch Anstrengungen gegen Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen, die von HIV betroffen sind, beinhaltet. Die Schweiz setzt sich für eine international koordinierte und rasche Umsetzung dieser Resolution ein.

Nichtübertragbare Krankheiten: Die nichtübertragbaren Krankheiten (Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten, chronische Atemwegserkrankungen etc.) nehmen sowohl in Industrieländern als auch in Entwicklungsländern an Bedeutung zu. Die rasante Ausbreitung dieser Krankheiten, die Koexistenz von anderen Krankheitsgruppen und die damit verbundenen Kosten stellen die Staaten vor riesige Herausforderungen. An einer hochrangigen UNO-Konferenz im September 2011 wurde eine von der Schweiz unterstützte Resolution verabschiedet, welche Massnahmen zur Bekämpfung dieser Krankheiten festhält.

Entwicklungszusammenarbeit: Die Schweiz unterstützt die Umsetzung der Millenniums-Ziele und fördert dabei die Eigenanstrengungen in den Partnerländern und 3023

den Aufbau funktionstüchtiger Gesundheitssysteme. Die DEZA konzentriert sich insbesondere auf die Verbesserung der Gesundheit von Müttern und Kindern, verbunden mit der Stärkung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, auf die Bekämpfung der wichtigsten Infektionskrankheiten wie Malaria und AIDS, auf die Bewältigung von nichtübertragbaren Krankheiten und auf die Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf nationaler und lokaler Ebene durch strukturelle Reformen. Trotz immer neuer Herausforderungen konnten in den von der Schweiz unterstützten Ländern Fortschritte erzielt werden. In den DEZA-Schwerpunktländern Tansania und Mosambik ging die Kindersterblichkeit in den letzten zehn Jahren um einen Drittel zurück, in Moldawien seit dem Jahr 2000 um 40 %.

Verhandlungen mit der EU: Seit Herbst 2008 verhandeln die Schweiz und die EU über ein Abkommen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktesicherheit und öffentliche Gesundheit. Gegenstand der Verhandlungen sind die Teilnahme an zwei europäischen Agenturen (Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten sowie Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit), die Integration in drei Früh- und Schnellwarnsysteme (Lebens- und Futtermittel, gefährliche Konsumgüter, übertragbare Krankheiten) sowie die Beteiligung am Gesundheitsprogramm der EU. Zurzeit sind die Verhandlungen stark verlangsamt, da die Parteien derzeit noch nach geeigneten Lösungen betreffend übergeordneten institutionellen Fragestellungen suchen.

2.3.8

Aussenpolitik in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation

Bildung, Forschung und Innovation (BFI) sind entscheidende Instrumente für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung und für die Lösung der weltweiten Probleme, weshalb dieser Bereich auf internationaler Ebene zunehmend an Bedeutung gewinnt. Mit ihrer unbestrittenen Kompetenz und ihrer Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich ist die Schweiz in einer guten Ausgangslage, um eine wichtige Rolle zu spielen. In diesem Sinne ist der BFI-Bereich ein zentraler Faktor zur Umsetzung der aussenpolitischen Ziele. Daher strebt das EDA ein gemeinsames Vorgehen in diesem Bereich an und bemüht sich um eine gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren. Auf internationaler Ebene besteht eine Tendenz zu Interdependenz, Kooperation und Konkurrenz in der Wissenschaft. Daher muss die Schweiz ihre ausserordentlichen Kompetenzen in diesem Bereich ständig weiterentwickeln.

Zusammenarbeit mit der Europäischen Union: Die EU ist heute zusammen mit den USA der wichtigste Partner für den Schweizer BFI-Bereich. Die Schweiz beteiligt sich voll an den zwei europäischen Programmen «Lebenslanges Lernen» und «Jugend in Aktion». Damit können nicht nur Schweizerinnen und Schweizer leichter Erfahrungen in einem EU-Land sammeln. Umgekehrt können auch Europäerinnen und Europäer unsere Bildungseinrichtungen besuchen und zu ihrem guten Ruf beitragen. Die Schweiz beteiligt sich zudem am Kopenhagen-Prozess, bei dem es um die Qualitätsverbesserung und die Förderung der Mobilität in der Berufsbildung in Europa geht. Damit verstärkt die Schweiz ihre Attraktivität als Ausbildungsstandort sowie die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Lehrabschlüsse auf dem internationalen Arbeitsmarkt.

3024

Internationale Zusammenarbeit über die EU hinaus: Das Schweizer Bildungssystem geniesst international einen ausgezeichneten Ruf, weil es eine ausserordentlich niedrige Jugendarbeitslosigkeit garantiert. Dank ihrer Teilnahme am OECD-Programm zur internationalen Evaluation von Schulleistungen PISA kennt die Schweiz den Wissensstand ihrer Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit. Sie kann so ihre Stärken und Schwächen einschätzen und sich im internationalen Bildungsvergleich positionieren. Die Schweiz achtet auch auf die Anwendung der von der UNESCO 2011 verabschiedeten internationalen Klassifikation der Bildungsstufen (CITE), die auf eine Verbesserung der weltweiten Anerkennung der schulischen und beruflichen Qualifikationen abzielt. Die insgesamt 18 Schweizer Schulen im Ausland tragen ebenfalls zum guten Ruf unseres Bildungsangebotes bei. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der weltweiten Anerkennung unseres dualen Berufsbildungssystems. Der Bund fördert zudem die Ausbildung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz mit Stipendien. Damit erhalten die besten Studierenden die Möglichkeit, ihre Forschungsaktivitäten an einer Schweizer Universität fortzuführen.

Über die Beziehungen zur EU hinaus wird die wissenschaftliche Zusammenarbeit durch 2008 lancierte gemeinsame Programme mit acht Schwellenländern verstärkt, die wegen ihres wissenschaftlichen und technischen Potenzials als prioritär eingestuft werden: China, Indien, Russland, Südafrika, Brasilien, Südkorea und Chile.

2010 wurden Zwischenberichte zur Evaluation dieser Programme veröffentlicht, die insgesamt positiv ausfielen. Ausserdem werden zwei wichtige Forschungsinstitute in Côte d'Ivoire und in Tansania unterstützt. Schliesslich unterhält die Schweiz ein Netz von Wissenschaftsattachés in 18 Vertretungen sowie eine ganze Reihe von «swissnex»-Büros, die den wissenschaftlichen Austausch an strategisch wichtigen Orten wie Boston, San Francisco, Singapur, Shanghai und Bangalore fördern sollen.

Entwicklungszusammenarbeit: Bei der Forschung zur internationalen Zusammenarbeit mit Entwicklungs- und Schwellenländern geht es hauptsächlich um die Wissensproduktion und die Entwicklung innovativer Lösungen in Spezialgebieten. So hat die Schweiz auch 2011 namentlich den nationalen Forschungsschwerpunkt «Nord-Süd ­ Forschungspartnerschaften
für eine nachhaltige Entwicklung» 2001­ 2013 (NFS Nord-Süd) unterstützt, der ein Netz von über 400 Forschenden in gut 40 Ländern umfasst. Auf der andern Seite arbeitet das Forschungsprogramm SCOPES (Scientific Co-Operation Between Eastern Europe and Switzerland) an der Förderung der Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen und -institutionen in der Schweiz und in Osteuropa. Schliesslich richten die DEZA und der Schweizerische Nationalfonds SNF gemeinsam einen neuen Fonds ein für die Forschung an globalen Themen («Global Issues») in und mit den Entwicklungs- und Schwellenländern.

2.3.9

Neutralität

Die dauernde Neutralität der Schweiz ist ein Instrument der schweizerischen Aussenpolitik, welches von der internationalen Gemeinschaft seit Langem allgemein anerkannt ist. Die konkrete Handhabung der Neutralität und die Ausgestaltung der Neutralitätspolitik orientieren sich seit jeher am relevanten geostrategischen Umfeld.

Im aktuellen aussen- und sicherheitspolitischen Umfeld mit teilweise unscharfen Konturen und Bedrohungsformen können selbst weit entfernte Ereignisse unmittel3025

bare Auswirkungen auf unsere Sicherheit und unseren Wohlstand haben. Als Nichtmitglied einer Militärallianz hat die Schweiz daher ein besonderes Interesse, mit einer engagierten Aussen- und Sicherheitspolitik und mit aktiver Einflussnahme ihre Verantwortung für Frieden und Stabilität in der Welt mitzutragen. Neutralität bedeutet deshalb nicht Passivität.

Den wichtigsten Pfeiler der internationalen Sicherheitsarchitektur stellt auch in einem sich verändernden Umfeld nach wie vor die UNO dar. Wenn der UNOSicherheitsrat Massnahmen anordnet bzw. autorisiert, handelt er nicht als Partei in einem Konflikt, sondern als Organ der internationalen Rechtsdurchsetzung. Entsprechend setzt sich die Schweiz im Rahmen der UNO aktiv für Frieden und Sicherheit ein. Auch ein Einsitz im UNO-Sicherheitsrat ist unter Neutralitätsgesichtspunkten grundsätzlich möglich. In anderen Bereichen der internationalen Sicherheitsarchitektur ­ in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der Partnerschaft für den Frieden (PfP) sowie in zivilen und militärischen Friedensförderungsmissionen der Europäischen Union (EU) ­ bringt sich die Schweiz unter Beachtung von Neutralitätsgesichtspunkten von Fall zu Fall aktiv ein.

Im Rahmen der zivilen Friedensförderung kommt der Schweiz als neutralem Staat weiterhin eine besondere Funktion zu, welche international weitherum anerkannt und genutzt wird. Davon zeugen die Schutzmachtmandate, welche die Schweiz wahrnimmt, und die Mediationsinitiativen der vergangenen Jahre. Die erfolgreiche Vermittlung der Schweiz zwischen Russland und Georgien, welche den WTOBeitritt Russlands möglich gemacht hat, kann als aktuelles Beispiel für diese Rolle angeführt werden. Mit ihrem Engagement in diesem Bereich kann die Schweiz Konflikte entschärfen und zur internationalen Sicherheit und Stabilität beitragen.

Der Kern der Neutralität besteht aus bestimmten, klar definierten Rechten und Pflichten, welche im Völkerrecht verankert sind. Das Neutralitätsrecht gründet hauptsächlich auf den beiden Haager Abkommen von 190769, die durch das Völkergewohnheitsrecht ergänzt werden. Der Kerngehalt dieser Regeln besteht darin, dass die Schweiz in einem internationalen bewaffneten Konflikt einen kriegführenden Staat nicht militärisch unterstützen darf. In Friedenszeiten kommt der Schweiz als
dauernd neutralem Staat die völkergewohnheitsrechtliche Pflicht zu, sich nicht in eine Lage zu versetzen, welche ihr die Einhaltung der Rechtspflichten eines neutralen Staates im Falle eines zukünftigen Konflikts verunmöglichen würde. Entsprechend ist der Beitritt zu einer Militärallianz mit zwingenden gegenseitigen Beistandspflichten ausgeschlossen.

Neutralität ist kein abstraktes Konzept, sondern hat Auswirkungen auf die konkrete Gestaltung der Aussenpolitik. So zum Beispiel bei der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates gegen internationale Rechtsbrecher: Am 17. März 2011 hatte der UNO-Sicherheitsrat die internationale Staatengemeinschaft mit der auf Kapitel VII der UNO-Charta70 gestützten Resolution 1973 ermächtigt, alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um die Zivilbevölkerung in Libyen vor bewaffneten Übergriffen ihrer eigenen Regierung zu schützen. Der Bundesrat entschied daraufhin im Einklang mit seiner ständigen Neutralitätspraxis, dass Staaten, die im Rahmen 69

70

Abkommen vom 18. Okt. 1907 betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs (SR 0.515.21) [5. Haager Konvention]; Abkommen vom 18. Okt. 1907 betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte im Falle eines Seekriegs (SR 0.515.22) [13. Haager Konvention].

Charta der Vereinten Nationen, SR 0.120

3026

dieser Resolution den Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen gewährleisteten, der schweizerische Luftraum und das schweizerische Territorium für Transporte und Transit grundsätzlich zur Verfügung gestellt wird. Voraussetzung für konkrete Überflüge und terrestrische Transporte blieb jedoch eine Bewilligung im Einzelfall, welche von den zuständigen Behörden nach genauer Prüfung des jeweiligen Gesuchs in Bezug auf dessen Konformität mit Resolution 1973 erfolgte.

In der Praxis spielen Neutralitätsgesichtspunkte auch eine wichtige Rolle bei der Ausfuhr von Kriegsmaterial. Die Schweiz ist neutralitätsrechtlich verpflichtet, Beschränkungen der Lieferung von Kriegsmaterial durch private Unternehmen gleichmässig auf die Parteien eines internationalen bewaffneten Konflikts anzuwenden71. Neutralitätspolitisch geht von Entscheiden im Zusammenhang mit der Ausfuhr von Kriegsmaterial eine wichtige Signalwirkung aus. In Ausführung dieser neutralitätsrechtlichen und -politischen Erwägungen schliesst die schweizerische Gesetzgebung die Ausfuhr aus, wenn sich das Bestimmungsland in einem internen oder in einem internationalen bewaffneten Konflikt befindet. Eng verwandt mit dem Export von Kriegsmaterial, und aktuell von besonderer Bedeutung, ist die Erbringung von privaten Sicherheitsdienstleistungen im Ausland. Im Frühjahr 2010 hat sich erstmals eine Gesellschaft in der Schweiz niedergelassen, die eine der grössten in Krisen- und Konfliktgebieten tätige Sicherheitsfirma kontrolliert. Dies führte zu einer Neueinschätzung bezüglich der Frage, ob eine Regulierung von privaten Sicherheitsfirmen in der Schweiz notwendig ist. Neutralitätsrechtlich darf die Schweiz nicht dulden, dass auf Schweizer Boden oder durch Schweizer Unternehmen Personal zwecks unmittelbarer Teilnahme an Feindseligkeiten in internationalen bewaffneten Konflikten rekrutiert wird.72 Neutralitätspolitische und weitere aussenpolitische Überlegungen auferlegen der Schweiz im Bereich der Erbringung von privaten Sicherheitsdienstleistungen im Ausland im Allgemeinen grosse Zurückhaltung. Der Bundesrat hat entsprechend am 16. Februar 2011 das Mandat erteilt, eine gesetzliche Grundlage auszuarbeiten, welche zur Umsetzung der aussenpolitischen Ziele und zur Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, beitragen
und die Neutralität der Schweiz wahren soll. Vorgesehen ist dabei ein Verbot der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten. Für weitere Tätigkeiten soll eine Meldepflicht und ein Prüfverfahren mit der Möglichkeit einer Verbotserteilung eingeführt werden.

2.4

Service public

Konsularische Aufgaben Die konsularischen Dienstleistungen gehören zu den Kernaufgaben des EDA. Sie waren bis anhin zwischen der Direktion für Ressourcen (Konsularische Angelegenheiten, Projekte und Schengen) und der Politischen Direktion (Politische Abteilung VI) aufgeteilt. In der Bestrebung, den Service public auszubauen und für künftige Anforderungen gewappnet zu sein, drängte sich eine Zusammenlegung und Modernisierung der betreffenden Abteilungen auf. Der Bundesrat hat deshalb im Rahmen der Genehmigung der totalrevidierten Organisationsverordnung für das EDA73 am 71 72 73

Art. 7 i.V.m. Art. 9 der 5. Haager Konvention Art. 4 und 5 der 5. Haager Konvention SR 172.211.1

3027

20. April 2011 der Schaffung einer neuen Konsularischen Direktion zugestimmt. Sie umfasst drei Abteilungen: Das Zentrum für Bürgerservice unterstützt das Netz der schweizerischen Vertretungen im Ausland (Botschaften und Konsulate) und betreibt die Helpline EDA, die zentrale Anlaufstelle für alle Fragen und Auskünfte betreffend konsularische Dienstleistungen. Der Delegierte für Auslandschweizerbeziehungen fördert die Interessen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer und informiert über das Thema «Leben im Ausland». Die Abteilung Konsularische Strategien, Entwicklungen und Abkommen stellt sicher, dass die schweizerischen Vertretungen im Ausland über die nötigen Instrumente verfügen, um einen bürgernahen und effizienten Service public zu erbringen.

Die Schweizer Vertretungen im Ausland (Botschaften und Konsulate) sind die Ansprechpartner der Schweizer Staatsangehörigen, die im betreffenden Land ihren Wohnsitz haben oder sich vorübergehend dort aufhalten. Damit erfüllen sie ähnliche Aufgaben wie die Gemeindeverwaltungen in der Schweiz. Darüber hinaus stellen sie die Verbindung der Auslandschweizerinnen und -schweizer zu ihrem Heimatland sicher und fördern ihre Beziehungen untereinander sowie zur Schweiz. Zu den konsularischen Aufgaben der Vertretungen gehören insbesondere die Immatrikulation von Schweizer Staatsangehörigen, die sich im Ausland niederlassen, die Zustellung von offiziellen Informationen, das Ausstellen von Identitätsausweisen, die Bearbeitung von Zivilstandsangelegenheiten, Fragen zur schweizerischen Staatsangehörigkeit und zu Sozialhilfegesuchen sowie verschiedene weitere Dienstleistungen wie die Registrierung hinterlegter Dokumente, die Ausfertigung von Bescheinigungen oder die Beglaubigung von Unterschriften. Zudem stellen die Vertretungen Visa für ausländische Staatsangehörige aus, die in die Schweiz oder in den Schengenraum reisen wollen.

Regionale Konsularcenter: Das Netz der rund 140 diplomatischen und konsularischen Vertretungen, auf die sich die Schweiz bei der Umsetzung ihrer Aussenpolitik und der Verteidigung ihrer Interessen in der Welt stützt, wird regelmässig einer Effizienzüberprüfung unterzogen. Im Rahmen einer 2010 durchgeführten Analyse hat es sich gezeigt, dass in Einzelfällen und namentlich in Europa mit der örtlichen Konzentration von konsularischen
Dienstleistungen Synergien erzielt werden können. Aus diesem Grund hat das EDA regionale Konsularcenter eröffnet, die für mehr als ein Land zuständig sind (siehe Ziff. 2.6.). Zur Sicherung einer konstanten Leistungsqualität und -dichte wurden gleichzeitig flankierende Massnahmen entwickelt (z.B. die Möglichkeit der Erfassung der biometrischen Daten bei allen dafür ausgerüsteten Vertretungen und allen kantonalen Passbüros, konsularische Sprechtage in den Interessenwahrungsbotschaften und der Ausbau der Online-Betreuung der Auslandschweizer). Von dieser Reorganisation sind ca. 14 000 Immatrikulierte (2 % aller Auslandschweizer) und ca. 4000 Visakunden (0,85 % aller Visakunden im Jahre 2010) betroffen.

Visa: Die Schweiz beteiligt sich seit Dezember 2008 am Schengen-System. Seit 2010 wird eine substanzielle Erhöhung der Visagesuche registriert. Diese Entwicklung ist insbesondere auf das touristische und wirtschaftliche Interesse zurückzuführen, das die grossen Schwellenländer (China, Russland, Indien, arabische Golfstaaten usw.) der Schweiz entgegenbringen. Die Attraktivität Europas stieg auch darum, weil andere traditionelle Tourismusdestinationen von Naturkatastrophen heimgesucht (Australien, Japan) oder von erheblichen politischen Wirren erschüttert wurden (arabischer Frühling). Für 2011 wird eine Zunahme der Visagesuche um mehr als 13 % erwartet (mit Spitzenwerten von nahezu 100 % für China, 50 % für Indien 3028

und 25 % für Russland), wodurch die Gesamtzahl der Visagesuche auf rund 500 000 klettern dürfte (2010: 460 000). Um diesen Zuwachs bewältigen und künftige Veränderungen besser antizipieren zu können ­ insbesondere im Lichte der gezielten Anreizmassnahmen, die Schweiz Tourismus und die Osec seit Mitte 2011 im Auftrag von Bundesrat und Parlament umsetzen ­ hat das EDA spezifische Instrumente entwickelt und eine enge Zusammenarbeit mit Schweiz Tourismus in die Wege geleitet.

2011 wurde das europäische biometrische Visa-System eingeführt (VIS ­ VisaInformationssystem). Das VIS besteht aus einer zentralisierten Visadatenbank, in der die Visadaten aller Schengen-Staaten gespeichert und abgerufen werden können.

Durch die systematische Erfassung und Speicherung biometrischer Identifikatoren bei der Einreichung des Visumantrags (Gesichtsbild und zehn Fingerabdrücke) können die irreguläre Migration europaweit wirksamer bekämpft und die Visakontrollen an den Schengen-Aussengrenzen verbessert werden. In einem ersten Schritt wurden die Visumsstellen in Nordafrika am 11. Oktober 2011 an das europäische VIS angeschlossen (für die Schweiz: Ägypten, Tunesien, Algerien und Marokko).

Die weitere Einführung erfolgt weltweit geografisch und zeitlich gestaffelt und dürfte bis 2013 abgeschlossen sein. Im Bereich der Visumausstellung haben die Schengen-Staaten die Möglichkeit, sich in Ländern ohne eigene Vertretung durch andere Schengen-Staaten vertreten zu lassen. Bis am 31. August 2011 hat die Schweiz mit acht Schengen-Staaten Vereinbarungen abgeschlossen, die sowohl die Vertretung durch die Schweiz in siebzehn Ländern wie auch die Vertretung der Schweiz durch einen Partnerstaat in sieben Ländern zum Gegenstand haben.

Migration: Das EDA wirkte in Zusammenarbeit mit dem EJPD bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen zur Entsendung von Spezialistinnen und Spezialisten zwecks Dokumentenprüfung ins Ausland mit. Speziell ausgebildetes Personal soll in Zukunft in risikoreiche Länder detachiert werden können, um Schweizer Vertretungen und Personal von Fluggesellschaften bei der Erkennung von gefälschten Reisedokumenten zu unterstützen. Nach einem Piloteinsatz Ende 2010 in Kairo sind die beteiligten Stellen (EDA, Grenzwachtkorps und BFM) nun mit der Konkretisierung der Rahmenbedingungen befasst.

Konsularische
Zusammenarbeit mit Partnerländern: Im Bereich der konsularischen Dienstleistungen wird eine verstärkte Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern der Schweiz angestrebt. Hierzu fanden mehrere Treffen auf der Ebene der Konsularischen Direktion statt, insbesondere mit Deutschland, Liechtenstein, den Niederlanden, Österreich und Slowenien. Ausserhalb des Schengen-Raums stand der Aufbau strukturierter Beziehungen mit wichtigen Partnerländern im Fokus. So wurden mit Russland Konsultationen zu konsularischen Fragen geführt. Mit der Türkei wurden ebenfalls Konsultationen geplant.

Die Helpline EDA hat Anfang 2011 in Bern den Betrieb aufgenommen und beantwortete jeden Monat rund 1000 Anfragen zu allen konsularischen Fachbereichen.

Sie nimmt in Krisensituationen Suchmeldungen von besorgten Angehörigen entgegen. Dazu wird die zeitliche Verfügbarkeit nach Bedarf erweitert. Ab 2012 wird die Helpline EDA 24 Stunden erreichbar sein.

Konsularischer Schutz Der konsularische Schutz ­ das heisst die Hilfeleistung an Schweizerinnen und Schweizer bei Notlagen im Ausland ­ ist eine Kernaufgabe des EDA. Entsprechende 3029

Statistiken zeigen auf, dass Schweizerinnen und Schweizer pro Jahr 16 Millionen Mal ins Ausland reisen. Mehr als die Hälfte der Reiseziele liegen in den Nachbarländern. Im Sinne der Prävention sucht das EDA die Eigenverantwortung der ins Ausland reisenden Mitbürgerinnen und Mitbürger zu fördern. Dies geschieht in erster Linie durch die auf der Internetsite des EDA publizierten, regelmässig angepassten und mit aktuellen Schwerpunktthemen versehenen Reisehinweise.

Einfachere konsularische Schutzfälle werden in der Regel von den Vertretungen selbstständig erledigt, während komplexere die Zusammenarbeit mit der EDAZentrale in Bern erfordern. Während die Anzahl konsularischer Schutzfälle über Jahre hinweg relativ stabil blieb (2009: 1833 Fälle), ist 2010 ist eine markante Zunahme um 22 % auf 2237 Fälle zu verzeichnen. 160 dieser zusätzlichen Fälle sind auf die Krisen in Libyen und Haiti zurückzuführen, die restlichen auf die vermehrte Inanspruchnahme der Dienste des EDA weltweit. Für 2011 kann davon ausgegangen werden, dass sich die konsularischen Schutzfälle ungefähr auf dem Niveau des Vorjahres bewegen werden.

Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer Die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer hat 2010 gegenüber 2009 erneut zugenommen, und zwar um 10 127 Personen auf 695 101 (+1,49 %).

Rund 62 % davon lebten in der EU. Die grössten Gemeinschaften lebten in Frankreich (181 462), Deutschland (77 727) und Italien (49 187). Im Jahr 2010 waren 135 877 Auslandschweizer ­ dies sind gut 25 % der 538 243 Stimmberechtigten im Ausland ­ im Stimmregister einer schweizerischen Gemeinde eingetragen (Veränderung 2009­2010: +4,5 %).

2011 hat das EDA beschlossen, die Interessen der Auslandschweizer mittels der Einsetzung eines Delegierten für Auslandschweizerbeziehungen verstärkt zu fördern.

Die Auslandschweizer-Interessen wurden insbesondere in folgenden Bereichen gefördert: Um die politischen Rechte der Schweizerinnen und Schweizer im Ausland zu stärken, arbeitete das EDA zusammen mit der Bundeskanzlei und den Kantonen an der raschen Einführung der elektronischen Stimmabgabe (E-Voting). Gegenwärtig können registrierte Auslandschweizer Stimmberechtige in dreizehn Kantonen elektronisch an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen. Der Bundesrat bewilligte die elektronische Teilnahme von Auslandschweizern
für die Nationalratswahlen von Oktober 2011 in vier Kantonen (BS, SG, GR und AG). Rund 22 000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer hatten so die Möglichkeit, ihre Stimme bei den eidgenössischen Wahlen elektronisch abzugeben. 3562 davon haben vom neuen Stimmkanal erfolgreich profitiert, was als Meilenstein auf dem Weg zum flächendeckenden E-Voting gewertet werden kann.

Der Bundesrat hat 2011 die revidierten Statuten von Soliswiss, der Genossenschaft Solidaritätsfonds für Auslandschweizer, welche Auslandschweizer gegen Existenzverlust im Ausland versichert, genehmigt. Die neuen Statuten werden es der Genossenschaft erlauben, ihre Dienstleistungspalette zugunsten der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zu vervollständigen. Die schweizerischen Vertretungen im Ausland leisteten im Auftrag des BJ finanzielle Unterstützung an Mitbürgerinnen und Mitbürger im Ausland, namentlich in Form von Rückkehrhilfe oder Nothilfe bei Katastrophen. Mittels Bundes- und Kantonssubventionen wurden auch im Ausland

3030

ansässige schweizerische Hilfsgesellschaften finanziell unterstützt74. Das EDA arbeitete eine Leistungsvereinbarung mit der Auslandschweizer-Organisation (ASO) aus, um diese Zusammenarbeit zu stärken.

Der Bund unterstützt aufgrund des Bundesgesetzes vom 9. Oktober 198775 über die Förderung der Ausbildung junger Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer (AAG) auch die 18 Schweizerschulen im Ausland. Der Bundesrat hatte mit Beschluss vom 17. September 2010 das Eidgenössische Departement des Innern beauftragt, eine Arbeitsgruppe mit der Vorbereitung der Revision des AAG zu betrauen. Das EDA stellte zwei Vertreter dieser Arbeitsgruppe. Wie aus deren Bericht zu entnehmen ist, soll in Zukunft die Förderung der schweizerischen Präsenz im Ausland gleich gewichtet werden wie die Förderung der Ausbildung junger Auslandschweizer; Schweizerschulen sind stärker als bisher als Instrumente der schweizerischen Aussenpolitik einzusetzen. Ein Gesetzesentwurf ist in Ausarbeitung.

Krisenprävention und Krisenmanagement Mit den politischen Umwälzungen im Zusammenhang mit dem «arabischen Frühling» im Maghreb und im Nahen Osten (Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen) kam es in der ersten Hälfte 2011 zu einer Häufung von Kriseneinsätzen. Hinzu kamen die Krise in der Elfenbeinküste, der Anschlag in Marrakesch (28.4.2011), der drei Schweizer Opfer forderte, sowie das Erdbeben, der Tsunami und der damit verbundene Reaktorunfall in Japan (11.3.2011). Die nukleare Katastrophe in Japan beanspruchte das Krisenmanagement des EDA besonders stark. Die Schweizer im Grossraum Tokio wurden regelmässig über die Entwicklung der Lage informiert und Ausreisewillige auf Linienflügen ausgeflogen. Auch die Entführung von zwei Schweizer Touristen in Pakistan Anfang Juli 2011 beschäftigen das Krisenmanagement des EDA intensiv. Um diejenigen Schweizer Bürgerinnen und Bürger weltweit zu unterstützen, die in kriegerische Auseinandersetzungen oder politische Unruhen geraten, von Naturkatastrophen betroffen sind oder Opfer von Entführungen werden, hat das EDA anfangs Juni 2011 innerhalb der Politischen Direktion ein Krisenmanagement-Zentrum (KMZ) geschaffen. Das Mandat des KMZ umfasst die Krisenprävention (Reisehinweise für 157 Länder), die Vorbereitung der Aussenposten auf Krisensituationen und die Bewältigung von Krisen oder Notlagen. Die
Instrumente des Krisenmanagements entwickeln sich ständig weiter. Zurzeit stehen zwei Entwicklungen im Fokus. Zum einen werden die «Social media» (Twitter, Facebook etc.) eine verstärkte Rolle spielen. Dieses Instrument erlaubt es, eine Vielzahl von Opfern in Krisensituationen rasch und simultan über Lage, Sicherheitshinweise und Sammelpunkte zu informieren. Zum anderen kommt in Zukunft der Zusammenarbeit im Krisenmanagement mit privaten Partnern (Unternehmen der Reisebranche, Versicherungen, Rettungsorganisationen, Grosskonzerne, NGO usw.) eine erhöhte Bedeutung zu. Die Synergien zwischen öffentlichem und privatem Sektor ermöglichen eine effizientere Hilfeleistung zugunsten unserer Bürgerinnen und Bürger.

74

75

Die Bundessubventionen basieren auf der seit anfangs 2010 gültigen revidierten Verordnung vom 26. Februar 2003 über die finanzielle Unterstützung von Auslandschweizer Institutionen, SR 195.11.

SR 418.0

3031

2.5

Aussenpolitik und Öffentlichkeit

Medienarbeit Das Interesse von Öffentlichkeit und Medien für die Schweiz, ihre Stellung in der Welt und ihre Aussenpolitik war im Berichtsjahr anhaltend hoch. Dies lag einerseits an zahlreichen Krisen (Fukushima, Euro-Krise etc.) sowie den historischen Umwälzungen im arabischen Raum. Andererseits wirkte sich die Tatsache aus, dass die EDA-Vorsteherin im Berichtsjahr als Bundespräsidentin zahlreiche Treffen im Inund Ausland absolvierte und im Rahmen von zwei Staatsbesuchen (Spanien und Indien) hochrangige Gäste in der Schweiz empfing. Schliesslich feierte die Schweiz im Berichtsjahr mit zahlreichen öffentlichen Anlässen und Veranstaltungsreihen das 50-jährige Bestehen ihrer Entwicklungszusammenarbeit.

Die Steuer- und Finanzplatzpolitik erwies sich auch 2011 als eine medial ereignisreiche aussenpolitische Front. Die Neuauflage des Steuerstreits mit den USA sowie die Milliardeneinbussen der UBS belasteten Glaubwürdigkeit und Image des Banken- und Finanzplatzes erneut. Hingegen berichteten die internationalen Medien anerkennend über den erfolgreichen Abschluss der Quellensteuerabkommen mit Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Und mit der Einführung des neuen Bundesgesetzes vom 1. Oktober 201076 über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen bestätigte die Schweiz ihre internationale Führungsposition im Kampf gegen Potentatengelder. Das konsequente und rasche Vorgehen der Schweiz bei der Blockierung von Potentatengeldern im Rahmen des «arabischen Frühlings» wurde international als Akt der Solidarität sowie als Bemühung um einen sauberen Finanzplatz grundsätzlich anerkannt.

Gleichzeitig führten die Meldungen über blockierte Gelder allerdings dazu, dass die Effizienz des schweizerischen Abwehrdispositivs gegen Schwarzgeld in Frage gestellt und die sofortige Sperrung der Gelder weiterer Potentaten gefordert wurde.

Die langwierigen rechtsstaatlichen Prozeduren bei der Rückerstattung illegaler Gelder stossen in den betroffenen Staaten zudem auf wachsende Skepsis und tragen zu einer ambivalenten Wahrnehmung der Rolle der Schweiz bei. Es ist darum eine der zentralen Herausforderungen für die Kommunikation, Verständnis dafür zu schaffen, dass auch bei einem engagierten und aktiven Kampf gegen unrechtmässig erworbene Gelder rechtsstaatliche Grundsätze
eingehalten werden müssen.

Im Zusammenhang mit den Umwälzungen im arabischen Raum galt es, angesichts der oft raschen und nicht immer transparenten Entwicklungen sowie im Konzert der zahlreichen internationalen Akteure Position und Massnahmen der Schweiz verständlich und hörbar zu kommunizieren. Die Schweiz forderte wiederholt die Einhaltung der Grundrechte und verurteilte das gewaltsame Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung in den betroffenen Ländern. Sie entschied unilateral und auf multilateraler Ebene über Sanktionen und intervenierte auf diplomatischer Ebene wie auch über die Öffentlichkeit. Schliesslich war sie von Beginn an mit ihrer humanitären Hilfe vor Ort präsent. Dieses Engagement weitete die Schweiz im Rahmen ihrer Nordafrika-Strategie schrittweise auf Bereiche wie Wirtschaft, Demokratieförderung und Migration aus.

76

SR 196.1

3032

Ein wichtiger Aspekt der Kommunikation im arabischen Frühling war die Nachfrage nach kontinuierlicher Information über die Entwicklung der Sicherheitslage. Dabei interessierten namentlich die Situation der Auslandschweizerinnen und -schweizer sowie die Massnahmen, die das EDA zu deren Unterstützung traf. Regelmässig verglichen die Medien die Dienstleistungen der Schweiz mit jenen anderer Staaten.

Punkto Präsenz und Unterstützung des EDA in Krisen sind die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Medien ­ und damit auch die Ansprüche an die Kommunikation ­ in den letzten Jahren massiv gestiegen. Das zeigte sich beispielsweise ebenfalls beim Bürgerkrieg in der Elfenbeinküste oder während der Nuklearkatastrophe von Fukushima.

In der Europapolitik bot der vom Bundesrat gewählte «gesamtheitliche und koordinierte Ansatz» insofern gewisse kommunikative Schwierigkeiten, als der konkrete Inhalt eines solchen neuen bilateralen Verhandlungspakets bisher nicht bestimmt worden ist und der Ansatz damit abstrakt und wenig fassbar bleibt. In einem weiteren medienpräsenten Dossier des Berichtsjahrs, der Entführung zweier Schweizer in Pakistan, verfolgten die zuständigen Stellen des EDA eine bewährte restriktive Informationspolitik. Dies aufgrund der langjährigen Erfahrung, dass bei Geiselnahmen Lösungen am ehesten unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefunden werden können, während anhaltende Medienpräsenz den glücklichen Ausgang von Entführungen unter Umständen massiv erschweren oder gar gefährden.

Unabhängig vom Grundauftrag zur Information über die aussenpolitischen Prioritäten, Beschlüsse und Massnahmen der Schweiz muss sich die Kommunikation immer den Grundsätzen der Diplomatie und der aussenpolitischen Strategie unterordnen.

Im Rahmen einer «öffentlichen Diplomatie» dient die aktive Kommunikation der aussenpolitischen Interessenwahrung, so etwa bei der Landeskommunikation.

Umgekehrt muss in Bereichen, in denen die «stille Diplomatie» gefordert ist (Mediationen, sensible Verhandlungssituationen, Geiselnahmen) die Kommunikation helfen, Vertraulichkeit zu sichern und zu schützen. Eine Behördenkommunikation, die der aussenpolitischen Interessenvertretung verpflichtet ist, steht damit zwangsläufig oft im Widerspruch zur Medienlogik, die letztlich immer maximale Transparenz sucht. Umso wichtiger ist es,
auf beiden Seiten mit der nötige Professionalität und dem angemessenen gegenseitigen Respekt vorzugehen.

Strategische Landeskommunikation Strategische Landeskommunikation als Instrument der Interessenwahrung In der heutigen Informations- und Kommunikationsgesellschaft stehen die Regierungen nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland zunehmend unter öffentlicher Beobachtung. Dies hat zur Folge, dass die Schweiz parallel zur Interessenwahrung auf bilateraler und multilateraler Ebene auch die Öffentlichkeit angemessen informieren muss. Mit den Strategien 2010­2011 sowie 2012­2015 wird die Landeskommunikation entsprechend noch stärker in den Dienst der aussenpolitischen Interessenwahrung gestellt. Zudem wurde eine Pilotphase «e-Diplomacy» lanciert, um die verstärkte Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationsmittel, insbesondere der «Social Media», in der internationalen Kommunikation zu prüfen.

Image der Schweiz im Ausland Die Landeskommunikationsagentur des EDA, Präsenz Schweiz, hat ihr permanentes, internationales Medienmonitoring und ihre darauf basierenden Analysen im Jahr 2011 weiter ausgebaut. Die neuen, informatikgestützten Monitoring-Instrumente 3033

erlauben eine rasche und flexible Auswertung der internationalen Medienberichterstattung und eine eingehende Kontextanalyse. Ergänzend werden in ausgewählten Ländern regelmässig Studien zum allgemeinen Image der Schweiz durchgeführt.

2011 lag der Fokus im Hinblick auf die schweizerische Teilnahme an der Weltausstellung Mailand 2015 auf Italien.

Die Schweiz war in der Berichtsperiode im Vergleich zum Vorjahr in den ausländischen Medien weniger stark exponiert. Die Ereignisse, die das Image der Schweiz prägten, waren einerseits politischer und gesellschaftlicher Natur (Ausschaffungsinitiative, NEAT/Gottharddurchstich, Atomausstieg), andererseits zunehmend wirtschaftlicher und finanzpolitischer Art (Potentatengelder, Frankenstärke, Grossbanken, Steuerabkommen). Insgesamt bleibt das Image der Schweiz stabil und gut, wenngleich die wiederholten Fälle von Steuerhinterziehung der Reputation des Schweizer Finanzplatzes besonders in den Nachbarländern und den USA nicht zuträglich waren, ein Befund, den auch die in Italien durchgeführte Studie bestätigt.

Marke Schweiz, Informationsvermittlung Der einheitliche Auftritt der Schweiz im Ausland mittels inhaltlicher und visueller Vorgaben (Marke Schweiz) wurde weiter verstärkt. Zudem wurden 2011 weltweit rund 295 000 Informationsmittel zur Schweiz und rund 225 000 Promotionsmittel an ausländische Meinungsführerinnen und -führer, Medienschaffende, Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler abgegeben. Gegen 600 Medienschaffende, Fachleute, Politikerinnen und Politiker sowie Studierende wurden für thematische Reisen in die Schweiz eingeladen.

Schwerpunktländer der Landeskommunikation Nachbarländer: Im Zusammenhang mit der Kritik am Schweizer Finanzplatz wurde den Kommunikationsaktivitäten in den vier Nachbarländern der Schweiz spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Mit verschiedenen Veranstaltungen, namentlich im Bereich der politischen Landeskommunikation und mit einem besonderen Fokus auf Studienreisen für Beraterinnen und Berater ausländischer Parlamentarier wurde das Ziel verfolgt, ein differenzierteres Bild der Schweiz zu vermitteln und die Beziehungen zu den wichtigen Hauptstädten Europas zu vertiefen.

Grossbritannien: In Grossbritannien wird die Schweiz grundsätzlich positiv, jedoch wenig differenziert wahrgenommen. Die Landeskommunikation
baute daher den schweizerisch-britischen Dialog zu aktuellen Fragen weiter aus. Dazu gehörten zum Beispiel Veranstaltungen zur Finanz- und Steuerthematik oder der Wissensaustausch, unter anderem zum öffentlichen Verkehr. Im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele 2012 wurden die Kontakte zu britischen Meinungsführerinnen und -führern weiter ausgebaut.

USA: In den USA bestehen Defizite in der Wahrnehmung der Schweiz in den Bereichen Bildung, Forschung, Wissenschaft und Innovation. Um diese zu beheben, wurde das Programm «ThinkSwiss ­ Brainstorm the Future» weitergeführt. Ebenfalls besteht Kommunikationsbedarf im Bereich Steuer- und Finanzplatz Schweiz.

Im Zentrum der Aktivitäten in den USA stand entsprechend das schweizerischamerikanische Jubiläumsprogramm «Gallatin 250». Der 250. Geburtstag des emigrierten Genfers Albert Gallatin (US-Finanzminister 1801­1814) wurde zum Anlass genommen, finanzpolitische Themen bilateral zu erörtern.

China: Nach intensiven Kommunikationsmassnahmen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in Peking und der Weltausstellung in Shanghai wurden in der 3034

Berichtsperiode verstärkt zielgerichtete Aktivitäten in Themenbereichen wie Wissenschaft, Innovation, Umwelt und Transport durchgeführt, wobei die China-Tournée der Einstein-Ausstellung ­ inklusive Begleitprogramm in den Bereich Wissenschaft und Forschung ­ in Peking, Kanton und Hongkong besondere Erwähnung verdient.

Lateinamerika: Mit dem 2009 und 2010 in den vier Ländern Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko durchgeführten Programm, welches auf weitere Regionen wie Kolumbien und Peru ausgedehnt wurde, konnte ein breites Zielpublikum und beträchtliche Medienwirkung erreicht werden. Von dieser erhöhten Visibilität hat die Schweiz auch in der Berichtsperiode profitiert.

Brüssel (EU): Entsprechend der Kommunikationsstrategie für die Europäische Union wurde im Rahmen von Dialogreihen, Networking-Anlässen und Delegationsreisen Meinungsführerinnen und Entscheidungsträgern in Brüssel ein ganzheitliches Bild der Schweiz und deren Europapolitik vermittelt. Im Rahmen der Diskussionsreihe «Partners in Dialogue» wurde über direkte Demokratie, Verkehrspolitik und Finanzmarktstabilität debattiert. In Natolin (Polen) wurde ein Pilotprojekt für die Zusammenarbeit der Schweiz mit Ausbildungsstätten für künftige EU-Kader lanciert.

Landeskommunikation bei einer drohenden Imagekrise Im Zusammenhang mit der Abstimmung vom 28. November 2010 über die Ausschaffungsinitiative verstärkte Präsenz Schweiz das Monitoring und übernahm die interdepartementale Koordination der Auslandkommunikation. Den Schweizer Vertretungen wurden periodisch aktualisierte Sachinformationen zur Verfügung gestellt, damit sie ihre Kommunikation zu dieser Vorlage verstärken konnten.

Landeskommunikation an internationalen Grossveranstaltungen Nach der erfolgreichen Teilnahme der Schweiz an der Weltausstellung in Shanghai wurden 2011 die Vorbereitungsarbeiten für die Teilnahme an der Expo 2012 Yeosu, Südkorea, und für das House of Switzerland an den Olympischen Sommerspielen 2012 in London aufgenommen. Für beide Projekte hat der Bundesrat ausserordentliche Beiträge gesprochen. Ausserdem wurde ein Projektwettbewerb für die Gestaltung des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung Mailand 2015 lanciert. Die Schweiz ist das erste Land, welches sich für eine Teilnahme an diesem für uns sehr wichtigen Anlass im Nachbarland angemeldet hat.
Herausforderungen und Perspektiven Das allgemeine Image der Schweiz im Ausland ist insgesamt nach wie vor gut. Die Schweiz erreicht eine relativ grosse Medienpräsenz, die mit jener grösserer Länder wie Japan und Spanien vergleichbar ist. Diese Visibilität geht aber einher mit einer hohen Exponiertheit: Viel stärker als andere Länder wird die Schweiz über den Finanzsektor und Steuerfragen wahrgenommen. Diese einseitige, insgesamt negative Wahrnehmung droht das Gesamtbild zu beeinträchtigen. Notwendig ist daher eine kontinuierliche Pflege der Wahrnehmung der Schweiz im Ausland, welche die sensiblen Themen, wie etwa den Finanzplatz, genauso aufgreift wie Themen mit positiver Konnotation, zum Beispiel die Stärke der Schweiz in der Innovation. Um Krisensituationen und plötzlich neu auftauchende Themen frühzeitig erkennen zu können, muss die Landeskommunikation über geeignete Instrumente für Analyse und Monitoring verfügen und diese kontinuierlich ausbauen. Zudem ist im Zeitalter 3035

der neuen Kommunikationskanäle eine «Social Media»-Strategie in der Aussenpolitik sowie eine gezielte Nutzung dieser Medien unabdinglich.

2.6

Führungsunterstützung für die Aussenpolitik

Die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Globalisierung verändern die Rahmenbedingungen für die Aussenpolitik. Die internationalen Herausforderungen sind von zunehmender Komplexität und gegenseitiger Interdependenz geprägt. In diesem Umfeld ist es entscheidend, dass die Schweiz beim Einsatz ihrer Mittel kohärente Strategien entwickelt, um ihre Interessen bestmöglich zu wahren. Um bestmögliche Wirkung in der Führung und Koordination der Aussenpolitik und bei der Erbringung seiner zahlreichen Dienstleistungen zu erzielen, ist das EDA bestrebt, die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen mit hoher Effizienz einzusetzen. Im sich wandelnden aussenpolitischen Umfeld ist es dabei wichtig, die Strukturen regelmässig den wechselnden Gegebenheiten anzupassen.

In den letzten Jahren fand eine umfassende Reorganisation des EDA statt, deren Hauptziel in einer effizienteren Verwaltungsführung bestand. Diese Bemühungen wurden im laufenden Jahr weitergeführt, namentlich bezüglich Wirksamkeit und Relevanz des Aussennetzes. Das EDA bleibt der traditionellen Strategie der Universalität verpflichtet. Vor diesem Hintergrund ist es eine besondere Herausforderung, das Vertretungsnetz angesichts konstanter Ressourcen den sich ändernden Bedürfnissen anzupassen und Lücken zu schliessen. So wurde 2011 eine Botschaft in Erewan (Armenien) eröffnet, die die Präsenz im Südkaukasus vervollständigt, einer Region in welcher die Schweiz in den letzten Jahren durch ihre Politik der guten Dienste aktiv an der Lösung regionaler Konflikte mitgewirkt hat. Der Bundesrat hat zudem entschieden, 2012 eine Botschaft in Doha (Qatar) zu eröffnen.

Ein wichtiges Projekt besteht darin, die Leistungsaufträge der einzelnen Vertretungen zu differenzieren. Diese Idee wurde erstmals im Aussenpolitischen Bericht von 2009 erwähnt. Bis anhin galt die Regel, dass sämtliche Schweizer Vertretungen die gesamte Palette von diplomatischen und konsularischen Dienstleistungen angeboten haben. Mit der Integration der Schweiz in den Schengen-Raum und der Einführung biometrischer Pässe mussten auf sämtlichen Vertretungen teure Infrastrukturen installiert werden. In einigen, insbesondere europäischen, Ländern wurden die konsularischen Dienstleistungen kaum in Anspruch genommen, während in gewissen anderen Staaten die Zahl der Konsularschutzfälle
stark angestiegen ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und nach eingehender Prüfung wurden dieses Jahr verschiedene regionale Konsularcenter (R-KC) geschaffen, die von einem Standort aus die Konsulardienstleistungen für eine Gruppe von Ländern übernehmen. Diese Lösung erlaubt es, Ressourcen freizuspielen, die in der Interessenwahrung oder im Konsularbereich, insbesondere in der neu geschaffenen Konsularische Direktion in Bern (siehe Ziff. 2.4) eigesetzt werden können. Es gilt zu beobachten, dass diese Reorganisation der konsularischen Dienstleistungen zu keiner Schliessung von Botschaften geführt hat.

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Zuständigkeitsbereiche der 2011 neu geschaffenen regionalen Konsularcenter (R-KC): Regionales Konsularcenter

Zuständigkeitsbereich

Den Haag (R-KC Benelux)

Belgien, Luxemburg, Niederlande

Stockholm (R-KC Nordische Staaten)

Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden

Riga (R-KC Baltische Staaten)

Estland, Lettland, Litauen

Wien (R-KC Wien)

Österreich, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn

Bukarest (R-KC Südoesteuropa)

Bulgarien, Rumänien

Pristina (R-KC Westbalkan)

Albanien, Kosovo

Pretoria (R-KC Südliches Afrika)

Südafrika, Malawi, Sambia, Simbabwe + bestehender Konsularbezirk

Santo Domingo (R-KC Hispaniola)

Dominikanische Republik, Haiti

Ausserdem hat der Bundesrat dem EDA im Rahmen der Aufgabenüberprüfung des Bundes den Auftrag erteilt, zusammen mit den anderen interessierten Stellen der Bundesverwaltung, die Funktionsweise des Schweizerischen Aussennetzes zu evaluieren und Synergie- bzw. Modernisierungspotenziale zu nutzen. Damit soll ab 2014 eine Haushaltsentlastung von 30 Millionen Franken erzielt werden. Die Präsenz spezialisierter Dienste der Bundesverwaltung auf den Botschaften im Ausland erlaubt es der Schweiz, die Zusammenarbeit in wichtigen Bereichen wie Wirtschaft, Bildung und Forschung oder Kultur professionell zu gestalten. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Verteidigungsattachés, die mit der Aufrechterhaltung und Entwicklung internationaler militärischer Kontakte beauftragt sind und durch ihre Informationsbeschaffungstätigkeit zur Formulierung der schweizerischen Sicherheitspolitik beitragen. Der Auftritt der einzelnen Akteure erfolgt indessen manchmal fragmentiert, was der Wahrnehmung und Visibilität der Schweiz nicht förderlich ist. Erste Schritte wurden nun in die Wege geleitet, um an ausgewählten Standorten logistische Aufgaben zusammenzulegen und damit Synergien und Einsparungen zu realisieren.

Nach der Reorganisation der Direktion für Ressourcen (DR) in den letzten zwei Jahren war 2011 ein Jahr der Konsolidierung. Das Konzept des Centre de services, das seine Dienstleistungen für das gesamte EDA erbringt, wurde dieses Jahr noch vertieft. Wenn die Linie ihrer Managementverantwortung vollumfänglich gerecht werden soll, muss ihr die Möglichkeit gegeben werden, sich vom Centre de services (Direktion für Ressourcen) unterstützen und beraten zu lassen. Diese Beratung soll zu einer wirtschaftlicheren und ressourceneffizienteren Verwaltung führen, namentlich durch die Verbesserung der Prozesse auf den Vertretungen im Ausland. Darüber hinaus soll diese Unterstützung zu einer nachhaltigen Verbesserung der Dienstleistungsqualität und des Service public führen.

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Anhand vordefinierter Kriterien erfasst und überprüft das EDA seit 2009 die konsularischen Dienstleistungen. Durch die Erarbeitung von Indikatoren ist es nun möglich, einen Vergleich zwischen den einzelnen Vertretungen sowie eine objektive Prüfung der Personalressourcengesuche vorzunehmen. Die Möglichkeit der gesamthaften Steuerung der Personalressourcen erlaubt einen effizienten Einsatz der benötigten Mittel. Die Resultate dieser Überprüfung in den vergangenen zwei Jahren waren durchwegs positiv. Aufgrund des veränderten Vorgehens wurden bisher in rund 40 Vertretungen Anpassungen in der Personaldotation vorgenommen. Im Zusammenhang mit den sich verändernden Aufgabenschwerpunkten und im Hinblick auf eine flexiblere und vorausschauendere Personalallokation im Aussennetz wird zudem der Stellenplan des Departements im Verlaufe des Jahres 2012 überprüft und aktualisiert.

Rund 670 Partnerinnen und Partner begleiten die Mitarbeitenden des Departements während ihren Einsätzen im Aussennetz. Mit dem Auslandaufenthalt nehmen die Begleitpersonen oft wesentliche Einschränkungen ihrer Lebensqualität und -planung sowie ihrer beruflichen Karriere auf sich. In neuerer Zeit sind immer mehr Fälle zu beobachten, bei denen Begleitpersonen einen Auslandeinsatz ihres Partners nicht mehr mitmachen. Aus diesem Grund implementiert das EDA finanzneutrale Massnahmen zugunsten der Berufstätigkeit und dem Erhalt der Arbeitsmarkfähigkeit der Begleitpersonen.

Im Bereich Logistik steht die Verfügbarkeit von Informationen, Daten und Dienstleistungen im Mittelpunkt. So wurde im Sommer 2011 ein zentrales Scanning der eingehenden Post eingeführt. Die elektronischen Daten werden im Document Management System (DMS) abgebildet und stehen den Mitarbeitenden hiermit rasch und ortsunabhängig auf dem Bildschirm zur Verfügung. Die Arbeit mit dem gemeinsamen Ablage- und Dokumenten-Verwaltungssystem hat sich zwar bewährt, aber es mangelt dem DMS vorläufig an Benutzerakzeptanz. Schwächen sind unter anderem die Benutzerfreundlichkeit der Anwendung, die organisatorische Verankerung und die Gliederung der Registraturpläne. Mit dem Ziel, diese Schwachstellen zu beseitigen, wurde ein mehrjähriges Nachfolgeprojekt lanciert. Im Bereich der Personentransporte hat die Bundesreisezentrale (BRZ) den Mitarbeitenden der Bundesverwaltung ein internes
Online-Booking-System zur Verfügung gestellt. Hierauf können registrierte Mitarbeitende selber rund um die Uhr ihre Dienstreisen zu Bundesspezialkonditionen direkt buchen.

Zurzeit findet im Finanzbereich der gesamten Bundesverwaltung eine intensive Modernisierung und Technisierung statt. Dabei steht vor allem das Thema E-Government im Vordergrund, welches zum Ziel hat, dass sowohl die Wirtschaft wie auch die Bevölkerung wichtige Geschäfte mit den Behörden elektronisch abwickeln können. Die Behörden ihrerseits wollen ihre Geschäftsprozesse modernisieren und untereinander elektronisch verkehren (Verabschiedung der E-GovernmentStrategie im Bundesrat am 24. Januar 2007). Verschiedene Fachämter der Bundesverwaltung wie die Eidgenössische Finanzverwaltung EFV, das Eidgenössische Personalamt EPA und das Bundesamt für Bauten und Logistik BBL haben die Verwaltungseinheiten beauftragt, entsprechende Projekte zu realisieren. Neben den extern getriebenen Projekten soll eine Professionalisierung sowie eine stärkere Ausrichtung an die departementsinternen Bedürfnisse erfolgen.

Die DR hat im Bereich Sicherheit ihre Hauptaufgabe, die Unterstützung der zahlreichen Vertretungen des EDA bei der Umsetzung und Aktualisierung ihrer Sicherheitsdispositive und bei der Lösung spezifischer Sicherheitsprobleme, weiter3038

verfolgt. Auf strategischer Ebene wurden grosse Anstrengungen unternommen.

Nach der Erarbeitung der neuen «Sicherheitsgrundsätze des EDA», in denen die Grundlagen für das Sicherheitsmanagement im Departement definiert werden, wurde ein neues Ausbildungskonzept erstellt. Das Ausbildungsangebot wurde überarbeitet und trägt nun den neuen Verhaltensregeln und organisatorischen Anforderungen Rechnung.

Ausserdem wurde eine neue Strategie für die technische Kommunikation (vor allem in Krisensituationen) formuliert. Weiter wurden besondere Anstrengungen im Bereich des Informationsschutzes (Sensibilisierung, Ausbildung) unternommen.

Schliesslich musste sich das EDA mit neuen Bedrohungen auseinandersetzen, wie etwa ökoterroristischen Bewegungen, die Anschläge auf die Schweizer Vertretungen in Athen und Rom durchführten.

3039

Anhang

Ergänzende Angaben zum Europarat (Juni 2010­2011) Vorbemerkungen Die Schweizer Schwerpunkte im Europarat sowie die wichtigsten Herausforderungen, mit denen sich die Strassburger Organisation konfrontiert sieht, werden unter Ziffer 2.1.1.2. des Aussenpolitischen Berichtes 2011 behandelt. Dieser Anhang enthält Zusatzinformationen zu den Hauptaktivitäten der Schweiz in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern des Europarats.

1

Ministerkomitee

An der 121. Tagung des Ministerkomitees am 11. Mai 2011 in Istanbul übergab der türkische Aussenminister A. Davutoglu den Vorsitz an seinen ukrainischen Amtskollegen K. Gryshchenko. Schwerpunkte der formellen Session bildeten die Reform des Europarats, insbesondere die Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Umsetzung der Strassburger Deklaration über Roma, die politische Agenda des Europarats, einschliesslich der Lage in Georgien, sowie die Beziehung der Organisation zur Europäischen Union. Am Rande der Session wurde die neue Europarats-Konvention zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt zur Unterzeichnung aufgelegt. Thema des informellen Teils der Session am Vorabend der Tagung war der von Generalsekretär Thorbjørn Jagland in Auftrag gegebene Bericht einer Gruppe von Persönlichkeiten zum Thema «Pluralismus und Freiheit im Europa des 21. Jahrhunderts». Ausserdem kam die Nachbarschaftpolitik des Europarats zur Sprache, die darauf abzielt, mit Ländern in unmittelbarer Nähe Europas auf deren Anfrage hin zusammenzuarbeiten.

2

Zusammenarbeit im Bereich Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat Neue Konventionen

2.1

Im Berichtszeitraum wurden drei neue Konventionen, beziehungsweise Zusatzprotokolle zu bestehenden Konventionen, verabschiedet77.

77

­

Drittes Zusatzprotokoll vom 10. November 2011 zum europäischen Auslieferungsübereinkommen (SEV 209): Das Protokoll vereinfacht und beschleunigt das Auslieferungsverfahren, wenn die betroffene Person der Auslieferung zustimmt.

­

Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (SEV 210): Das Übereinkommen schafft einen umfassenden rechtlichen Rahmen zum Schutz von Frauen vor jeglicher Form von Gewalt.

Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CM=8&CL=GER

3040

­

2.2

Konvention des Europarats vom 28. Oktober 2011 über die Fälschung von Arzneimittelprodukten und ähnliche Verbrechen, die eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit darstellen (SEV 211): Die Konvention enthält verbindliche Massnahmen zum Schutz vor gefälschten medizinischen Produkten.

Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Im Zentrum der Aktivitäten des Lenkungsausschusses für Menschenrechte (CDDH) standen im Berichtszeitraum die Reform des EMRK-Kontrollsystems sowie der geplante Beitritt der EU zur EMRK. Die Arbeiten an der Reform haben durch die an der Konferenz von Interlaken78 verabschiedete Erklärung, insbesondere durch den Aktionsplan, bedeutende Impulse erhalten. Etwa ein Jahr später hat die Türkei eine als Folgeveranstaltung konzipierte Ministerkonferenz in Izmir durchgeführt79. Ziel dieser Konferenz war es einerseits, eine Bilanz des Reformprozesses seit Interlaken zu ziehen (insbesondere erste Evaluation von Protokoll 14, in Kraft seit 1. Juni 2010), andererseits politische Impulse zu geben für die künftigen Reformarbeiten.

Die Folgearbeiten zu den Konferenzen von Interlaken und Izmir stehen ganz im Zeichen des in Interlaken verabschiedeten Aktionsplans, welcher Entlastungsmassnahmen auf drei Ebenen vorsieht: auf der Ebene der Mitgliedstaaten, auf der Ebene des Gerichtshofs selbst und schliesslich auf der Ebene des Ministerkomitees, dem im EMRK-Kontrollsystem die Funktion der Überwachung des Urteilsvollzugs durch die Mitgliedstaaten zukommt.

Die Folgearbeiten betrafen im Berichtsjahr folgende Organe und Bereiche:

78 79

­

Der Gerichtshof hat Massnahmen zur sofortigen Umsetzung von Protokoll 14 getroffen (das an der Konferenz von Russland als letztem Staat ratifiziert wurde und damit in Kraft treten konnte). Unter anderem hat er 20 Einzelrichterinnen und -richter bestimmt (welche Beschwerden für offensichtlich unzulässig erklären können). Ausserdem hat er ein Handbuch zu den Zulassungskriterien herausgegeben, Texte zum Subsidiaritätsprinzip und zur Klarheit und Kohärenz der Rechtsprechung publiziert und seine interne Praxis zu verschiedenen Fragen (u.a. Pilotverfahren; Kognition, Priorisierung von Beschwerden) überprüft.

­

Die Parlamentarische Versammlung hat unter anderem die strukturellen Schwächen in verschiedenen Mitgliedstaaten (welche die Ursache für die Einreichung immer neuer, gleichartiger Beschwerden bilden, sog. Wiederholungsfälle) unter die Lupe genommen.

­

Das Ministerkomitee hat einen Ausschuss (Panel) eingesetzt, der die von den Mitgliedstaaten eingereichten Richterkandidatenlisten daraufhin überprüfen kann, ob die vorgeschlagenen Personen den Anforderungen an Qualität und Unabhängigkeit genügen. Ausserdem wurden Änderungen im Überwachungsverfahren beschlossen.

Conférence de haut niveau sur l'avenir de la Cour européenne des droits de l'homme, Interlaken, 18./19. Februar 2010; vgl. dazu Aussenpolitischer Bericht 2010.

Konferenz von Izmir, 26./27. April 2011

3041

­

Der CDDH hat einen Schlussbericht über Entlastungsmassnahmen verabschiedet, die ohne Änderung der Konvention realisiert werden könnten.

Dazu gehören Massnahmen zur Reduktion der Wiederholungsfälle, zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter des Gerichtshofs, zum Potenzial der Entwicklung der Rechtsprechung à droit constant, zur effizienteren Filterung offensichtlich unzulässiger Beschwerden sowie die Frage der Einführung von Gerichtskosten.

Ausserdem hat der Ausschuss einen Zwischenbericht über Entlastungsmassnahmen verabschiedet, die eine Änderung der Konvention bedingen. Dazu gehören die Einführung eines neuen Filtermechanismus und die Möglichkeit der erleichterten Abänderbarkeit gewisser Bestimmungen der Konvention.

Das zweite Hauptthema war der Beitritt der EU zur EMRK. Das Ministerkomitee hatte dem CDDH im Mai 2010 den Auftrag erteilt, zusammen mit den von der EU bezeichneten Vertreterinnen und Vertretern die rechtlichen Instrumente auszuarbeiten, welche die Modalitäten des Beitritts regeln. Der CDDH setzte in der Folge eine informelle Arbeitsgruppe ein (CDDH-EU), in der auf Seiten des Europarates Vertreterinnen und Vertreter des CDDH (je 7 aus EU- und aus Nicht-EU-Staaten [darunter die Schweiz], auf Seiten der EU Vertreterinnen und Vertreter der Kommission Einsitz hatten. Die Gruppe hat ihre Arbeiten im Juni 2011 mit der Verabschiedung eines Entwurfs einer Beitrittsvereinbarung (Accord d'adhésion) abgeschlossen. Der CDDH hat an seiner ausserordentlichen Sitzung vom Oktober 2011 eine erste Diskussion über den Entwurf geführt, diesen aber noch nicht verabschiedet.

2.3

Die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

In den Jahren 2010 und 2011 (Stichtag: 29. November 2011) wurden 686 (367+319) neue Beschwerden gegen die Schweiz registriert. In derselben Zeitspanne wurden insgesamt 320 gegen die Schweiz registrierte Beschwerden für unzulässig erklärt oder aus der Geschäftsliste gestrichen. In 9 dieser Fälle war die Regierung vorher zur Stellungnahme eingeladen worden.

Insgesamt wurden der Regierung 2010 und 2011 46 Beschwerden neu zur Stellungnahme zugestellt. Sie betreffen im Wesentlichen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren (Art. 6 EMRK), den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) sowie das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK, u.a. in Verbindung mit der Religionsfreiheit, Art. 9 EMRK).

Im Berichtszeitraum fällte der Gerichtshof in Schweizer Beschwerdefällen 22 Urteile.

In 11 Urteilen wurde mindestens eine Verletzung der EMRK festgestellt. Die 22 Urteile waren (in chronologischer Reihenfolge)80: ­

80

Borer (10.6.2010): Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 EMRK mangels gültigem Hafttitel im Nachverfahren (Umwandlung einer stationären Massnahme in eine Verwahrung); Ausführlichere Zusammenfassungen der Schweizer Fälle (und wichtiger Fälle betreffend andere Staaten) werden seit 2008 in den Quartalsberichten des Bundesamtes für Justiz publiziert (www.bj.admin.ch > Themen > Staat & Bürger > Menschenrechte > Europäische Konvention).

3042

­

Schwizgebel (10.6.2010): keine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK) durch Ablehnung eines Adoptionsgesuchs einer 47 jährigen Frau;

­

Neulinger und Shuruk (6.7.2010) (Grosse Kammer): Die Anordnung der Rückkehr eines siebenjährigen Kindes nach Israel, das von seiner Mutter in die Schweiz entführt wurde, ist unter den konkreten Umständen mit Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens) nicht vereinbar;

­

Agraw und Mengesha Kimpfe (19.7.2010) (2 Urteile): Die Verweigerung der Zusammenführung zweier Ehepaare ­ abgewiesene Asylbewerber, die unterschiedlichen Kantonen zugeteilt worden waren ­ stellt einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens dar (Art. 8 EMRK);

­

Pedro Ramos (14.10.2010): Verweigerung der unentgeltlichen Prozessführung vor Bundesgericht stellt im konkreten Fall keine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht dar (Art. 6 Abs. 1 EMRK);

­

Schaller-Bossert (28.10.2010): Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 EMRK (Recht auf ein faires Gerichtsverfahren), weil das Gericht Stellungnahmen der unteren Instanzen der Beschwerdeführerin, die nicht anwaltlich vertreten war, lediglich zur Information zugestellt hatte (unbedingtes Replikrecht);

­

Losonci Rose und Losonci (9.11.2010): Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK) wegen sachlich nicht begründeter Ungleichbehandlung der Eheleute bei der Wahl des Familiennamens im internationalen Verhältnis;

­

Jusic (2.12.2010): Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 EMRK mangels Vorliegen der im innerstaatlichem Recht aufgestellten Voraussetzungen für die Anordnung ausländerrechtlicher Haft;

­

Gezginci (9.12.2010): im konkreten Fall keine Verletzung des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens bei Ausweisung eines seit 30 Jahren in der Schweiz lebenden Ausländers;

­

Ellès und andere (16.12.2010): Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 EMRK (Recht auf ein faires Gerichtsverfahren) wegen Nichtgewährung des unbedingten Replikrechts;

­

Mouvement raélien suisse (13.01.2011): Keine Verletzung der Religionsfreiheit oder der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 9 und 10 EMRK) durch Nichtbewilligen einer Plakatkampagne auf öffentlichem Grund (hängig vor der Grossen Kammer des EGMR, welche am 16.11.2011 eine öffentliche Verhandlung durchgeführt hat);

­

Haas (20.01.2011): Die Weigerung, einer psychisch kranken Person eine nach Gesetz rezeptpflichtige Substanz zu Suizidzwecken rezeptfrei abzugeben, verletzt das Recht auf Achtung des Privatlebens nicht;

­

Tinner Urs und Marco (26.04.2011): Angesichts der Schwere und der Komplexität der in Frage stehenden Delikte sowie der andauernden erheblichen Fluchtgefahr verletzte die mehrjährige Untersuchungshaft nicht das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 Abs. 1 Bst. c EMRK);

3043

­

M. (26.04.2011): Die Nichtausstellung eines Passes infolge einer RIPOLAusschreibung ist eine angemessene Massnahme, um einen Justizflüchtling zur Rückreise in die Schweiz anzuhalten, und zudem weniger einschneidend als die Ausstellung eines internationalen Haftbefehls (keine Verletzung von Art. 8 EMRK);

­

Steulet (26.04.2011): Dass ein Bundesrichter in einem anderen Verfahren und in anderer richterlicher Funktion eine Anzeige des Beschwerdeführers als schikanös bezeichnet hatte, lässt ihn noch nicht als befangen erscheinen (Art. 6 Abs. 1 EMRK);

­

Küçük (17.05.2011): Treiben die Behörden in einem Kindesentführungsfall die Suche nach einem Kind ohne Phasen der Inaktivität stetig voran, so liegt keine Verletzung von Artikel 8 EMRK vor, unabhängig davon, ob die Bemühungen immer nach dem Wunsch des gesuchstellenden Elternteils erfolgt sind;

­

Adamov (21.06.2011): Der im Anschluss an ein Einvernahme gestützt auf ein amerikanisches Auslieferungsersuchen in Auslieferungshaft versetzte frühere russische Energieminister kann sich nicht auf den Anspruch auf freies Geleit berufen, weil er sich gemäss eigenen Aussagen in der Schweiz befand, um seine Tochter zu besuchen und ihm vor seiner Ankunft in der Schweiz keine Vorladung zugestellt worden war (keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Bst. f EMRK)

­

Portmann (11.10.2011): Die Behandlung bei der Verhaftung eines Tatverdächtigen war den Umständen angemessen und das Recht auf eine wirksame Untersuchung der Vorfälle war nicht beeinträchtigt angesichts der erst nach Jahren geltend gemachten Beeinträchtigungen (keine Verletzung von Art. 3 oder Art. 13 EMRK 13).

­

Association Rhino (11.10.2011): Die Auflösung eines Vereins von Hausbesetzern wegen rechtswidrigen Zwecks war nicht verhältnismässig vorab angesichts des Umstandes dass die verantwortlichen Behörden und die Hauseigentümer, die Hausbesetzung während mehrerer Jahre geduldet und Letztere auch Verhandlungen über ein Mietverhältnis geführt hatten (Verletzung von Art. 11 EMRK).

­

Emre Nr. 2 (11.10.2011): Nachdem der EGMR mit Urteil vom 22. Mai 2008 die Ausweisung des Beschwerdeführers und eine unbefristete Einreisesperre als Verletzung von Artikel 8 EMRK bezeichnet hat, durfte sich im anschliessenden Revisionsverfahren das Bundesgericht nicht darauf beschränken, mit der früheren Begründung die Einreisesperre auf neu 10 Jahre festzulegen (Verletzung von Art. 8 und 46 EMRK)

­

Khelili (18.10.2011): Die jahrelange Verzeichnung der Beschwerdeführerin als Prostituierte in den kantonalen Polizeiakten, war ein unverhältnismässiger Eingriff in deren Recht auf Achtung des Privatlebens. Dies umso mehr, als gegen die Beschwerdeführerin nie ein einschlägiges Strafverfahren eröffnet wurde (Verletzung von Art. 8 EMRK)

3044

2.4

Gleichstellung von Frau und Mann

Die Schweiz hat im Frühjahr 2010 an der 7. Ministerkonferenz der Gleichstellungsministerinnen und -minister in Baku, Aserbaidschan, teilgenommen. Die Konferenz war dem Thema «Die Gleichstellung von Frau und Mann: Schliessung der Lücke zwischen de jure- und de facto-Gleichstellung» gewidmet. Die Resolution und der Aktionsplan, die am Ende der Konferenz verabschiedet wurden, setzen den Schwerpunkt auf (1) die positiven Massnahmen und den integrierten Ansatz der Gleichstellung von Frau und Mann, sowie (2) auf den Kampf gegen Geschlechterstereotype in Medien und Erziehung. Im Rahmen des Austauschs zum Thema positive Massnahmen hat die Schweiz ihre Bemühungen dargelegt, die sie unternimmt, um den Anteil von Frauen in Politik und Wirtschaft zu erhöhen. Am 7./8. Dezember 2010 hat die Schweiz an der 45. Sitzung des Ministerkomitees für die Gleichstellung von Frau und Mann teilgenommen. In deren Rahmen wurden im Einklang mit dem in Baku verabschiedeten Aktionsplan Massnahmen zur Bekämpfung von Stereotypen in Bildung und Medien festgelegt. Die Schweiz hat sich aktiv an den Verhandlungen zu der am 7. April 2011 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedeten Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (SEV 210) beteiligt.

2.5

Minderheitenschutz und Kampf gegen Diskriminierung

Der dem CDDH unterstellte Expertenausschuss für den Schutz nationaler Minderheiten (DH-MIN) hat 2010 nur eine Sitzung abgehalten. Er hat insbesondere seine Arbeiten zur Aufteilung der finanziellen Unterstützung an Projekte für Angehörige nationaler Minderheiten und ihre Verbände weitergeführt und nach «Good Practices» in diesem Bereich gesucht. Diese Studie wurde im Herbst 2011 abgeschlossen.

Wegen der Reform der zwischenstaatlichen Strukturen im Europarat hat die DHMIN 2011 keine Sitzung abgehalten, und gemäss Entscheid des Ministerkomitees vom 23. November 2011 wird ihr Mandat nicht verlängert. Es gibt damit keine zwischenstaatliche Struktur für den Schutz nationaler Minderheiten im Rahmen des CDDH mehr. Allerdings gehört die Förderung der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten weiterhin zu den Hauptaufgaben des CDDH.

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR ist eine von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) anerkannte nationale Institution. Sie nahm im Mai 2011 an einem von ECRI veranstalteten Seminar zu Rassismus und rassistischer Diskriminierung in der Arbeitswelt teil. Die EKR begleitet mit unabhängigen Stellungnahmen die Überwachung der Umsetzung der Empfehlungen, die die ECRI an die Schweiz richtet. 2011 betrifft dies das Follow-up zum Viertem Länderbericht der ECRI zur Schweiz. Die EKR unterstützt zudem die Öffentlichkeitsarbeit der ECRI bezüglich der Schweiz.

Die Schweiz hat zusammen mit andern Staaten eine Initiative von Menschenrechtskommissar Hammarberg finanziell unterstützt. Dieser publizierte im Juni 2011 gestützt auf eine mehrmonatige Untersuchung einen Bericht mit dem Titel «Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität in den Ländern des Europarats». Die Schweiz hatte am 24. und 25. November 2011 einen Rundtisch mit Vertretern aus 30 Mitgliedstaaten des Europarats zu Gast, bei dem diskutiert wurde, wie die Empfehlungen der Hammarberg-Studie auf nationaler 3045

Ebene in den Mitgliedstaaten umgesetzt Schweiz ein Projekt des Europarats, das Ministerkomitees vom 31. März 2010 zur rung aufgrund sexueller Orientierung oder staaten des Europarats unterstützt.

2.6

werden könnten. Zudem finanziert die die Umsetzung der Empfehlungen des Bekämpfung aller Art von DiskriminieGenderidentität in bestimmten Mitglied-

Bioethik

In der Berichtsperiode hat der leitende Ausschuss für Bioethik (CDBI) insbesondere folgende Projekte vorangetrieben: Der Leitfaden zuhanden der Mitglieder der nationalen Ethikkommissionen für die Forschung wurde abschliessend diskutiert und 2011 veröffentlicht. Das Green paper «predictivity, genetic testing and insurance» soll ebenfalls 2011 finalisiert werden. Der Entwurf zur Deklaration zum Thema «Forschung in Entwicklungsländern» wurde teilweise kritisiert und wird weiter bearbeitet. Im Fall des «Avis sur les recommandations de l'Etude conjointe Conseil de l'Europe et des Nations Unies sur le trafic d'organes, de tissus et de cellules et le trafic d'êtres humains à des fins de prélèvement d'organes» schliesslich wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, die Vorschläge zur Umsetzung des Avis formulieren soll.

Weiter wurde ein Entwurf zu Grundlinien für ein mögliches «Zusatzprotokoll zum Schutz der Menschenrechte und der Würde von Personen mit psychischen Krankheiten» gutgeheissen und zur weiteren Ausarbeitung überwiesen. Ferner wurden Berichte über zwei potenzielle neue Aufgabenbereiche für den CDBI diskutiert, einerseits zu den Neurowissenschaften, insbesondere «brain imaging», andererseits zu klinischen Ethikkommissionen. Beide Themen werden weiterverfolgt.

2.7

Medien

Die Werte und Normen des Europarats gelten nicht nur in der physischen, sondern auch in der digitalen Welt. Die Mitgliedstaaten des Europarats setzten sich wiederum für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte im Internet ein. Das Ministerkomitee verabschiedete im Frühling 2010 eine Erklärung zur stärkeren Beteiligung der Mitgliedstaaten an der Verwaltung des Internet, insbesondere am Regierungsbeirat (GAC) der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Am 29. September 2010 verabschiedete das Ministerkomitee auch je eine Erklärung über die digitale Strategie für Europa, über die Neutralität des Netzes und über die Verwaltung von Internetprotokoll-Adressen im öffentlichen Interesse.

Die Schweiz entsendet neu einen Vertreter des Diensts für Internationales des BAKOM in das Büro des Lenkungsausschusses für Massenmedien und Kommunikationsdienste (CDMC). Sie ist ad personam in vier Arbeitsgruppen des CDMC vertreten: in der Sachverständigengruppe für neue Medien des CDMC, das von der Schweiz präsidiert wird; in der Ad-hoc-Beratergruppe über die Gouvernanz der öffentlich-rechtlichen Medien; in der Ad-hoc-Beratergruppe für grenzüberschreitendes Internet; in der Ad-hoc-Beratergruppe für den Schutz der verwandten Rechte der Rundfunkorganisationen (diese Gruppe soll ihre Arbeit erst wieder aufnehmen, wenn die Europäische Kommission den Auftrag erhält, mit dem Europarat Rahmenverhandlungen über ein Übereinkommen über den Schutz der verwandten Rechte der Rundfunkorganisationen aufzunehmen; sind die Voraussetzungen erfüllt, wird

3046

die Gruppe den Entwurf eines Übereinkommens zu diesem Thema präsentieren; die Schweiz unterstützt die Ausarbeitung einer solchen Konvention).

Der ständige Ausschuss für grenzüberschreitendes Fernsehen hat ein Arbeitspapier zur Zukunft des Europäischen Übereinkommens vom 5. Mai 198981 über das grenzüberschreitende Fernsehen erstellt. Zurzeit ist der Prozess zur Verabschiedung des Protokolls über die Revision des Übereinkommens suspendiert. Es ist nicht problematisch, wenn die Schweiz das revidierte Übereinkommen nicht ratifiziert. Laut Aussagen der EU-Kommission werden die Länder der EU ihm nicht beitreten.

2.8 2.8.1

Zusammenarbeit im Strafrechtsbereich Übereinkommen des Europarats über die Bekämpfung des Menschenhandels

Am 17. November 2010 hat der Bundesrat die Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Bekämpfung des Menschenhandels und zum Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz verabschiedet.82 Um die Anforderungen der genannten Konvention zu erfüllen, ist eine rechtliche Regelung des ausserprozessualen Zeugenschutzes notwendig. Der erstbehandelnde Ständerat hat die Vorlage des Bundesrates am 7. Juni 2011 beraten und einstimmig angenommen. Das Geschäft wurde nun dem Nationalrat zur Behandlung zugewiesen. Der Gesetzesentwurf sieht die Einrichtung einer nationalen Zeugenschutzstelle beim Bund vor, welche mit der einheitlichen Durchführung von Zeugenschutzprogrammen betraut werden soll. Zusätzlich soll diese Stelle die Kantone beim Schutz von Personen beraten und unterstützen, die nicht in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden können, aber trotzdem gefährdet sind.

Der Ausschuss der Vertragsparteien (nachfolgend Ausschuss genannt) wählt die Mitglieder der Expertengruppe für die Bekämpfung des Menschenhandels (GRETA). Die Expertengruppe setzt sich ausschliesslich aus Staatsangehörigen der Vertragsparteien des Übereinkommens zusammen. Der Ausschuss besteht aus Mitgliedern, Teilnehmern und Beobachtern. Gemäss den Verfahrensbestimmungen des Ausschusses vom Dezember 2008 gehören die Staaten, die das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben, der zweiten Kategorie an. Sie nehmen an den Sitzungen des Ausschusses teil, haben aber kein Stimmrecht. Die Schweiz hat das Übereinkommen im September 2008 unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Deshalb wurde sie während der betreffenden Zeitperiode an die 4. (13. September 2010) und an die 5. Sitzung (6. Dezember 2010) des Ausschusses eingeladen. Die Einladungen wurden an den ständigen Vertreter der Schweiz beim Europarat in Strassburg gerichtet.

Dieser konnte nicht an den Sitzungen teilnehmen und hat sich entschuldigt. Die Politische Abteilung I hat die Einladungen ebenfalls an die Geschäftsstelle der Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) weitergeleitet. Diese konnte aber auch nicht an den Sitzungen teilnehmen. Dennoch verfolgt die KSMM mit Interesse die Tätigkeiten des Ausschusses und hält sich über die Ergebnisse der Diskussionen und der getroffenen Entscheidungen auf dem Laufenden.

81 82

SR 0.784.405 BBl 2011 1

3047

2.8.2

Europäisches Übereinkommen zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention)

Das Übereinkommen des Europarats vom 25. Oktober 2007 zum Schutze von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention, SEV 201) ist das erste internationale Instrument, das die verschiedenen Formen sexuellen Kindsmissbrauchs umfassend für strafbar erklärt. Nebst den Straftatbeständen enthält die Konvention Bestimmungen über Prävention, Opferschutz und Strafverfahren sowie Regeln zur internationalen Zusammenarbeit. Ferner ist ein Überwachungsmechanismus vorgesehen.

Die Konvention ist innen- wie aussenpolitisch als bedeutsam einzustufen. Der Beitritt der Schweiz erfordert verschiedene Anpassungen des Strafgesetzbuchs im Bereich der Kinderprostitution und der Kinderpornografie. Künftig soll sich namentlich strafbar machen, wer sexuelle Dienste von 16­18-Jährigen gegen Geld oder sonstige Vergütungen in Anspruch nimmt und wer mit finanziellen Gewinnabsichten die Prostitution Minderjähriger erleichtert oder begünstigt. Ferner soll der personelle Anwendungsbereichs des Pornografie-Artikels auf Kinder bis 18 Jahre erweitert werden. Ebenso ist die Strafbarerklärung des Anwerbens von Kindern für die Teilnahme an pornografischen Vorführungen sowie der Zuschauer solcher Vorführungen vorgesehen.

Die Bestimmungen über Prävention, Opferschutz und Interventionsprogramme fallen ausschliesslich oder teilweise in den Zuständigkeitsbereich der Kantone. Die im Vorfeld der Unterzeichnung durchgeführte Anhörung der Kantone hat ergeben, dass die Kantone die Unterzeichnung der Konvention ausnahmslos befürworten und der Beitritt zur Konvention keine oder nur geringe Änderungen der kantonalen Rechtsgrundlagen erfordert.

Die Schweiz hat die Konvention, die am 1. Juli 2010 in Kraft getreten ist, am 16. Juni 2010 unterzeichnet. Der Bundesrat hat die Vernehmlassung über die Umsetzung der Konvention am 17. August 2011 eröffnet; sie dauert bis am 30. November 2011.

2.8.3

Europäisches Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt

Das Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (SEV 210) ist weltweit das erste bindende Instrument, das Frauen umfassend vor jeglicher Form von Gewalt, inklusive häuslicher Gewalt, schützt. Die Grundsätze der Gleichheit von Mann und Frau sowie das Diskriminierungsverbot sind explizit verankert. Verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen werden für strafbar erklärt, so namentlich physische, psychische und sexuelle Gewalt, Zwangsheirat, Verstümmelung weiblicher Genitalien und Stalking. Vorbehalte sind nur zu bestimmten Bestimmungen und unter restriktiven Bedingungen zulässig. Die Mitgliedstaaten werden dazu ermuntert, die Konvention auf alle Opfer häuslicher Gewalt, also auch auf Männer und Kinder, anzuwenden. Die Konvention enthält zudem Bestimmungen über Prävention, Opferschutz, Strafverfahren, Migration und Asyl sowie Regeln zur interna3048

tionalen Zusammenarbeit. Vorgesehen ist auch eine Überwachung der Umsetzung der Konvention durch unabhängige Expertinnen und Experten. Eine Schweizer Delegation hat sich aktiv an den Verhandlungen beteiligt. Die Schweiz unterstützt die Ziele des Übereinkommens, das ihre Forderungen weitgehend erfüllt.

Die Konvention wurde am 11. Mai 2011 in Istanbul zur Unterzeichnung aufgelegt.

15 Staaten haben sie bislang unterzeichnet. Die Umsetzbarkeit der Konvention ins schweizerische Recht sowie eine mögliche Unterzeichnung durch die Schweiz werden geprüft. Der Bundesrat wird anschliessend über das weitere Vorgehen befinden.

2.8.4

Übereinkommens des Europarates über die Cyberkriminalität

Das Übereinkommen des Europarates vom 23. November 2001 über die Cyberkriminalität (SEV 185) ist am 1. Juli 2004 in Kraft getreten. Es ist die bisher einzige internationale Konvention, die sich mit Computer- und Netzwerkkriminalität befasst. Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, ihre Gesetzgebung den Herausforderungen neuer Informationstechnologien anzupassen. Die Konvention enthält in einem ersten Teil materielle Strafbestimmungen. Ziel ist eine Harmonisierung des Strafrechts zwischen den Staaten. In einem zweiten Teil werden Regelungen für das Strafverfahren getroffen. Es geht vorrangig um Fragen der Beweiserhebung und Sicherung elektronischer Daten für Strafuntersuchungen. Schliesslich behandelt das Übereinkommen die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen unter den Staaten. Das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Vertragsparteien soll in seinem Ablauf schnell und effizient gestaltet werden. Die Schweiz hat das Übereinkommen am 23. November 2001 unterzeichnet.

Das materielle Strafrecht mit seinen Bestimmungen im Bereich des Computerstrafrechts vermag den Erfordernissen der Konvention weitgehend zu genügen. Anpassungsbedarf ergibt sich bezüglich des Straftatbestandes des unbefugten Eindringens in ein Datenverarbeitungssystem (Art. 143bis StGB83, sog. «Hacking»-Tatbestand).

Hier wird eine Vorverlagerung der Strafbarkeit vorgenommen. Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit ist für die Umsetzung der Artikel 30 und 33 der Konvention ebenfalls eine Anpassung (neuer Art. 18b des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 198184) erforderlich. Die schweizerischen Vollzugsbehörden werden ermächtigt, elektronische Verkehrsdaten vor Abschluss des Rechtshilfeverfahrens weiterzugeben. Diese Möglichkeit wird durch die Kurzlebigkeit von Computerdaten gerechtfertigt. Sie ist jedoch nur in zwei besonderen Fällen vorgesehen und wird so weit eingeschränkt, dass die Rechte der betroffenen Person angemessen geschützt bleiben. Die eidgenössischen Räte haben die Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens mit Schlussabstimmung vom 18. März 201185 beschlossen. Die Inkraftsetzung der Gesetzesbestimmungen und das Inkrafttreten des Übereinkommens für die Schweiz sind vorgesehen für den 1. Januar 2012.

83 84 85

SR 311.0 SR 351.1 BBl 2011 2765

3049

2.8.5

Koordination der Terrorismusbekämpfung

Der Europarat setzt sich für die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die pluralistische Demokratie ein und bekämpft ebenso entschlossen den Terrorismus, der diese drei Grundwerte bedroht. Der Europarat befasst sich seit den 1970erJahren mit diesem Problem, doch nach den Terroranschlägen von 2001 in den USA verstärkte er seine Bemühungen. Die Terrorismusbekämpfung des Europarats beruht auf drei Säulen: Verstärkung der gerichtlichen Bekämpfung des Terrorismus; Erhalt der Grundwerte; Bekämpfung der Ursachen des Terrorismus.

Dieses Vorgehen beruht auf dem Grundsatz, dass der Terrorismus bekämpft werden kann und muss, ohne dabei die Menschenrechte, die Grundfreiheiten und die Rechtsstaatlichkeit zu verletzen. Der Europarat hat einen Expertenausschuss zum Terrorismus (CODEXTER) eingesetzt, der 2003 die Arbeit aufnahm. Er koordiniert die Antiterrormassnahmen des Europarats und leitet die Arbeiten, die schon zu verschiedenen internationalen Instrumenten geführt haben. Die Schweiz präsidiert diesen Ausschuss seit 2010.

2.9

Gemeinden und Regionen, grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Das im November 2009 zur Unterschrift aufgelegte und von der Schweiz am 6. Dezember 2010 unterzeichnete Protokoll Nr. 3 zum Europäischen Rahmenübereinkommen vom 21. März 198086 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften, betreffend Verbünde für euroregionale Zusammenarbeit ist von der Schweiz am 25. Oktober 2011 ratifiziert worden. Das Protokoll schafft einen rechtlichen Rahmen zur Gründung von Einrichtungen der grenzüberschreitenden und interterritorialen Zusammenarbeit. Am 3./4. November 2011 fand in Kiew die 17. Konferenz der für die lokalen und regionalen Körperschaften zuständigen europäischen Minister und Ministerinnen statt. Die schweizerische Delegation stand unter der Leitung von Frau Regierungsrätin Kathrin Hilber, Vorsteherin des Departments des Innern des Kantons St. Gallen. Anlässlich dieser Konferenz wurden folgende für die Schweiz relevanten Themen behandelt: grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und «bonne gouvernance» auf lokaler Ebene.

2.10

Elektronische Stimmabgabe («E-Voting»)

Mit dem Projekt «Good Governance in der Informationsgesellschaft»87 (2005­2010) hat der Europarat untersucht, wie die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) die demokratische Praxis in den Mitgliedstaaten des Europarates beeinflussen. Im Rahmen dieses Projekts wurde 2004 eine Empfehlung des Europarats zur elektronischen Stimmabgabe88 verabschiedet, die sich seither zu einem internationalen Grundlagendokument zur Einhaltung demokratischer Abstimmungsregeln beim E-Voting entwickelt hat. Drei Treffen auf Regierungsebene befassten sich mit den Entwicklungen im Bereich der elektronischen Abstimmung und der 86 87 88

SR 0.131.1 Siehe www.coe.int/t/dgap/democracy/activities/ggis/default_EN.asp?

Rec(2004)11.

3050

Umsetzung der Europaratsempfehlung. An der dritten Evaluationssitzung vom 16.

bis 17. November 2010 in Strassburg legte die Bundeskanzlei ihren Bericht 2008­ 2010 vor89.

Die Frage der Kontrolle elektronischer Abstimmungssysteme und der Transparenz und Beobachtung elektronischer Abstimmungen und Wahlen wurde von zwei Expertengruppen bearbeitet und vertieft analysiert. Die Bundeskanzlei nahm 2010 an den drei Expertentreffen zu diesem Thema teil90 und arbeitete an den aus diesen Treffen hervorgegangenen Dokumenten mit. Sie berichtete auch über ihre aktuelle Erfahrung im Umgang mit E-Voting in der Schweiz.

Die Arbeit der Mitgliedstaaten und der Expertinnen und Experten im Europarat hat zur Verabschiedung von zwei Dokumenten über die Transparenz der elektronischen Stimmabgabe und die Kontrolle der E-Voting-Systeme geführt91: Richtlinien für die Überprüfung der Einhaltung der empfohlenen Anforderungen und Normen und Richtlinien über die Transparenz bei elektronisch durchgeführten Wahlen. Das Sekretariat des Europarats hat zudem ein «Handbuch E-Voting ­ wichtige Schritte bei der Einführung elektronischer Wahlen» erarbeitet. Die Bundeskanzlei hat sich dafür eingesetzt, dass die betreffenden Dokumente, vor allem die Richtlinien über die Kontrolle und die Transparenz der elektronischen Abstimmung, nach Möglichkeit den Besonderheiten des Schweizer Systems Rechnung tragen.

3 3.1

Sozialer Zusammenhalt und Lebensqualität Migrationsfragen

Der Europäische Migrationsausschuss (CDMG) hat 2010 folgende drei Entwürfe von Empfehlungen an das Ministerkomitee zur Verabschiedung überwiesen: Empfehlung über die Wechselwirkung zwischen den Migrantinnen und Migranten und der Aufnahmegesellschaft (diese Empfehlung wird durch ein Handbuch zuhanden der Praktiker ergänzt); Empfehlung über die Aufwertung der Kompetenzen der Migrantinnen und Migranten (es handelt sich vor allem um die Aufwertung der nichtformalen Qualifikationen); Empfehlung über die Vorbeugung des Verletzlichkeitsrisikos bei älteren Migrantinnen und Migranten und die Verbesserung ihres Wohlbefindens.

Als Folge der laufenden Reorganisation des Europarates wurden die Aktivitäten des CDMG per Ende 2010 eingestellt. Der Generalsekretär hat einen Koordinator für Migrationsfragen eingesetzt und ihn beauftragt, Vorschläge zu präsentieren, in welcher Form die Migrationsaktivitäten weitergeführt werden sollen. Die grundsätzliche Erkenntnis ist, dass sich der Europarat bisher zu stark allein auf die Erarbeitung von Normen konzentriert hat. Die künftigen Aktivitäten sollen insbesondere im Bereich der Zusammenarbeit und der Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der

89 90

91

Siehe www.coe.int/t/dgap/democracy/activities/ggis/e-voting/default_EN.asp?

Workshop zur Beobachtung elektronischer Wahlen, Oslo, 18.­19. März 2010, und zwei Sitzungen über die Zertifizierung von Systemen, Strassburg, 31. Mai­1. Juni 2010 und 27.­28. September 2010. Link zum Workshop in Oslo über die Wahlbeobachtung: www.coe.int/t/dgap/democracy/activities/ggis/e-voting/ e-voting%202010/evoting_oslo_seminar/default_EN.asp?

Die Dokumente können hier heruntergeladen werden: www.coe.int/t/dgap/democracy/activities/ggis/e-voting/default_EN.asp?

3051

Umsetzung der Normen angesiedelt sein. Der Schwerpunkt soll bei der Einhaltung der Menschenrechte liegen.

Im Migrationsbereich stehen namentlich fünf Bereiche zu Diskussion, in denen die Arbeiten des Europarates einen Mehrwert einbringen würden. Es sind: Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Asylgesuche; irreguläre Migration (insbesondere verletzliche Gruppen wie z.B. Kinder); Ausschaffungshaft; Integration von Migrantinnen und Migranten; Situation von intern Vertriebenen. Die Arbeiten sollten von einer bereichsübergreifenden, möglichst flexiblen Einheit durchgeführt werden. Um die Struktur festzulegen, muss zuerst die Reformanalyse aller Lenkungsausschüsse abgewartet werden.

3.2

Raumordnungspolitische Zusammenarbeit

Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) hat sich an den Arbeiten der europäischen Ministerkonferenz für Raumplanung (CEMAT) beteiligt. Am 8. und 9. Juni 2010 fand eine Ministerkonferenz in Moskau statt. Bei dieser Gelegenheit übergab die Russische Föderation das Präsidium der CEMAT für die nächsten drei Jahre an Griechenland. Die erste offizielle Sitzung unter griechischer Präsidentschaft fand am 7. Dezember 2011 statt.

3.3

Sozialpolitik

Mit der Schlusserklärung, die die Minister für soziale Kohäsion im Februar 2009 in Moskau verabschiedeten, wurde das Ministerkomitee beauftragt, die revidierte Strategie für soziale Kohäsion von 2004 zu überprüfen und darauf basierend einen Aktionsplan auszuarbeiten. Der Europäische Ausschuss für soziale Kohäsion (CDCS) hat in der Folge eine neue Strategie für die soziale Kohäsion des Europarates mit Aktionsplan erarbeitet. Das Ministerkomitee hat beide Vorlagen am 7. Juli 2010 verabschiedet.

Das CDCS hat auch die Leitlinien betreffend die Verbesserung der Situation von Geringverdienern und das «Empowerment» von armutsbetroffenen Menschen gutgeheissen, die in der Folge am 5. Mai 2010 vom Ministerkomitee verabschiedet wurden.

Am 21. September 2011 verabschiedete das Ministerkomitee die Empfehlung (2011) 9, die auf die Förderung der sozialen Mobilität als Beitrag zur sozialen Kohäsion abzielt.

Der Weiterbildungskurs des Europarates über die normativen Instrumente zur sozialen Sicherheit fand vom 26. bis 28. Oktober 2010 in Freiburg in der Schweiz statt.

Die Veranstaltung war vom Europarat und dem Bundesamt für Sozialversicherungen gemeinsam organisiert worden. Über 70 Personen nahmen an dem Kurs teil, der sich an Mitarbeitende aller Mitgliedstaaten, an die Mitglieder der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit und an Vertreterinnen und Vertreter des Europäischen Gewerkschaftsbunds der Bediensteten aller Mitgliedstaaten richtete.

Die zweite Konferenz der Minister für soziale Kohäsion mit dem Themenschwerpunkt «Eine sichere Zukunft für alle aufbauen», die voraussichtlich im September 2012 in Istanbul stattfindet, ist in Vorbereitung.

3052

Der zweite Aktivitätenzyklus des Europarat-Projektes «Ein Europa für und mit den Kindern aufbauen» läuft bis Ende 2011. Gegenwärtig laufen Konsultationen im Hinblick auf die neue Strategie 2012­2015 des Europarates für die Kinderrechte.

Dazu findet unter anderem am 20./21. November 2011 eine hochrangige Konferenz in Monaco statt. Die Strategie dürfte dem Ministerkomitee im Januar 2012 zur Genehmigung vorgelegt werden.

3.4

Gesundheitswesen

Das Europäische Komitee für Gesundheit (CDSP) hielt seine letzte Sitzung im Juni 2011 ab und wurde Ende 2011 aufgelöst. Diese Auflösung erfolgt im Rahmen des Reformprozesses des Europarates, der eine Neuausrichtung der Aktivitäten und eine Reduktion der Lenkungsausschüsse anstrebt. Die letzte ministerielle Konferenz über Gesundheit fand am 29. und 30. September 2011 in Lissabon statt. Das Thema dieser Konferenz war mit dem Querschnittprojekt des Europarates «Europe for and with children» verbunden; eine Deklaration wurde anlässlich dieser Konferenz angenommen. Während des Berichtsjahrs hat das CDSP seine Aktivitäten im Bereich Steuerung der Gesundheitssysteme und geeignete medizinische Behandlung für Kinder verfolgt. Der Entwurf einer Empfehlung über Migration, Mobilität und Zugang zu medizinischer Behandlung, an dessen Erarbeitung die Schweiz aktiv teilgenommen hat, sollte ebenfalls bis Ende 2011 genehmigt werden.

Die Schweiz ist aktiv in die Aktivitäten des Europäischen Komitees für Gesundheitsschutz der Konsumentinnen und Konsumenten einbezogen und hat ein neues Projekt lanciert, um Synergien zwischen dem Pharmazeutik- und dem Ernährungsbereich zu identifizieren. Unter der Leitung der Schweiz wurde eine neue Ad-hocGruppe geschaffen, die die Aufgabe hat, die Resolution AP (2005) 2 über Verpackungstinten für Lebensmittel zu revidieren, um den pharmazeutischen Bereich in diese Resolution aufzunehmen und die Inventarlisten zu aktualisieren. Ein Entwurf für eine Resolution betreffend Metalle und Legierungen, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen, ist zurzeit in Vorbereitung. Weiter wurde ein Netzwerk der kosmetischen Laboratorien geschaffen, und ein Entwurf für einen Leitfaden zur Evaluation der Unbedenklichkeit von Kosmetika für Kleinkinder wird demnächst (2012) veröffentlicht werden.

Der Bundesrat entschied am 10. Juni 2011, die sog. Medicrime-Konvention92 zu unterzeichnen. Die Konvention, an deren Erarbeitung sich die Schweiz aktiv beteiligt hat, strebt strengere Strafbestimmungen und Untersuchungsmassnahmen sowie eine verbesserte internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die zunehmende Heilmittelkriminalität an. Die Schweiz gehörte damit zu den ersten Ländern, die am 28. Oktober 2011 in Moskau dieses Übereinkommen unterzeichneten. Es handelt sich dabei um das erste internationale Instrument
zur Bekämpfung der Kriminalität im Heilmittelbereich. Die zur Ratifizierung erforderlichen Schritte wurden schnell durchgeführt, weil es von Interesse ist, das Übereinkommen rasch in Kraft zu setzen, um von den Wirkungen auf die Bekämpfung der Kriminalität im Heilmittelbereich zu profitieren, aber auch, um eine möglichst gute Koordination mit der derzeit

92

Konvention des Europarats vom 28. Oktober 2011 über die Fälschung von Arzneimittelprodukten and änhliche Verbrechen, die eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit darstellen (SEV 211)

3053

laufenden Revision des Heilmittelgesetzes vom 15. Dezember 200093 zu gewährleisten, das im Wesentlichen diesen Rechtsbereich in der Schweiz regelt. Da das bestehende Recht weitgehend mit den Anforderungen des Übereinkommens vereinbar ist, sind im Hinblick auf die Ratifikation nur wenige Änderungen notwendig.

Die Schweiz engagierte sich bei verschiedenen Aktivitäten des Europäischen Komitees für pharmazeutische Produkte und Pflege des EDQM (European Directorate for the Quality of Medicines & HealthCare) sowie in den zugehörigen Expertenkomitees. Im Bereich der Aktivitäten zur pharmazeutischen und medizinischen Betreuung wurden in Zusammenarbeit mit der Schweiz Indikatoren entwickelt, die der Qualitätsmessung im Gesundheitswesen dienen und auf die Verbesserung der Versorgungsleistung zielen. Eine Expertengruppe des CD-P-PH beschäftigt sich mit dem Einfluss traditioneller aussereuropäischer Arzneimittel auf die Patientensicherheit in Europa. Die Schweiz beteiligte sich bereits 2009 aktiv an einer Erhebung der bestehenden regulatorischen Vorgaben und Erkenntnisse mit dem Fokus Arzneimittel der traditionellen chinesischen Medizin. Im Oktober 2010 wurde in Strassburg eine Expertentagung durchgeführt, mit dem Ziel, Aktivitäten des EDQM zur Verbesserung der Sicherheit bei der Anwendung traditioneller aussereuropäischer Arzneimittel zu diskutieren. Experten und Expertinnen aus der Schweiz engagierten sich im Rahmen dieser Tagung. Die Präsentation der Regelungen der Schweiz stiess auf grosses Interesse. Im Expertenkomitee zur Reduzierung der Risiken für die öffentliche Gesundheit verursacht durch Arzneimittelfälschungen stellt die Schweiz für eine zweite Amtsperiode (2011­2013) den Vize-Vorsitz. Die Schweiz engagierte sich aktiv in den Projekten des Komitees wie Publikationen, der weiteren Verbreiterung eines Behörden-Netzwerks, genannt «Single Points of Contact», und an der Erarbeitung einer zentralen Europäischen Datenbank zur Erfassung von Arzneimittelfälschungen. Ausserdem war die Schweizer Expertin Teil einer Ausbildnergruppe, die Behördenvertreterinnen und -vertreter baltischer und skandinavischer Staaten im Mai 2011 in der Bekämpfung von Arzneimittelkriminalität trainierte.

Im Rahmen der alle drei Jahre stattfindenden Neuwahlen der Expertinnen und Experten der Europäische Pharmakopöe (Ph.Eur.) konnten
Ende 2010 80 Fachgremienmandate durch Schweizer Expertinnen und Experten besetzt werden. Dies verdeutlicht den hohen Stellenwert der Pharmakopöe und die Expertise, die unser Land in diesem pharmazeutischen Bereich aufweist. Als eines der weltweit wichtigsten Länder mit pharmazeutischer Industrie erbringen wir unerlässliche Beiträge zu dem sich ständig entwickelnden Regelungsbedarf im Arzneimittelsektor. Zusätzlich zur Ausarbeitung von neuen Vorschriften werden im Rahmen der Ph.Eur. bereits bestehende Vorschriften laufend überarbeitet. In diesem Zusammenhang wurden im Berichtsjahr zwei dringliche Änderungen der Ph.Eur. in Kraft gesetzt94. Die stete Anpassung der Pharmakopöe an den Stand von Technik und Wissenschaft gewährleistet eine angemessene Kontrolle der Rohstoffe und Präparate in einem globalisierten Markt und leistet einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Arzneimittelfälschungen.

93 94

SR 812.21 Die erste Änderung stellt sicher, dass in Heparinen aufgetretene gesundheitsgefährdende Verunreinigungen erkannt werden können. Mit der zweiten Änderung werden die Vorschriftentexte der Ph.Eur. den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die transmissiblen spongiformen Enzephalopathien sowie die weltweite Entwicklung in Bezug auf BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) angepasst und europaweit harmonisiert.

3054

Im Rahmen der Gruppe für die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Missbrauch und den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln (Pompidou-Gruppe) hat die Schweiz die Aktivität im Bereich «Herausforderung Sucht» weiter vertieft und ist einer von sieben Staaten, die an einer entsprechenden empirischen Studie teilnehmen. Während die Pompidou-Gruppe für die Schweiz das einzige Gremium ist, an dem sie sich mit anderen europäischen Staaten über drogenpolitische Themen austauschen kann, stehen der Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Gruppe die Foren der EU für den drogenpolitischen Austausch zur Verfügung. Entsprechend laufen in einigen Mitgliedstaaten der Pompidou-Gruppe derzeit Abklärungen betreffend den konkreten Nutzen eines weiteren Verbleibs in der Gruppe. Der geografische Schwerpunkt der Pompidou-Gruppe verschiebt sich allmählich, denn gleichzeitig sind im vergangenen Jahr zwei osteuropäische Staaten der Gruppe beigetreten, und andere Staaten haben ihr Interesse signalisiert. In der Berichtsperiode standen die Arbeiten der Gruppe ganz im Zeichen der alle vier Jahre stattfindenden Ministerkonferenz, die im November 2010 stattgefunden hat. Dort wurde das Arbeitsprogramm für die Jahre 2011­2014 verabschiedet, das die Grundlage der künftigen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bildet. Das Programm beinhaltet drei Prioritäten. Die erste Priorität betrifft die Menschenrechte, eine Kernkompetenz des Europarats. Die zweite Priorität, die «kohärente Politik im Suchtbereich», ist ein Versuch, sich auch gegenüber substanzunabhängigen Suchtfragen zu öffnen. Die dritte Priorität besteht bereits seit Jahren und betrifft die internationale Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Polizei-, Zoll- und Grenzkontrollbehörden, um dem Handel mit illegalen Substanzen effizient begegnen zu können. Die Schweiz hat sich aktiv an der Erarbeitung dieses Arbeitsprogramms beteiligt. Aus Schweizer Sicht sind die wichtigsten Punkte des neuen Programms die Verankerung der Menschenrechte in den drogenpolitischen Diskussionen sowie die kohärente Suchtpolitik, die einen Einblick in die Arbeiten anderer europäischer Staaten in diesem Bereich mit sich bringen soll. Auch bei der Erarbeitung der Erklärung, die anlässlich der Konferenz verabschiedet wurde, hat sich die Schweiz stark engagiert. Im Rahmen der Plattform «Flughäfen und Luftfahrt»
hat die Schweiz den Vorsitz der «Airports Group» für die kommenden vier Jahre übernommen. Die Airports Group besteht aus Zoll-, Grenzwacht- und Polizei-Vertreterinnen und Vertretern aus 34 Ländern und zielt auf die Harmonisierung und Verbesserung von Kontrollmassnahmen im Drogenbereich auf europäischen Flughäfen ab. Zum Thema «Vorläuferchemikalien» hat die Schweiz als Mitglied des Organisationskomitees eine Konferenz mit renommierten internationalen Drogenexperten organisiert. Im Rahmen des mediterranen Netzwerks MedNET war die Schweiz massgeblich beteiligt an der Organisation von zwei Konferenzen im Bereich Drogenbekämpfung für Polizei- und Zoll-Führungskräfte in Algerien und dem Libanon.

3.5

Tierschutz

Aufgrund der Budgetkürzungen für Aktivitäten ausserhalb der drei Kernbereiche des Europarates mussten alle Arbeiten im ständigen Ausschuss des Europäischen Übereinkommens vom 10. März 197695 zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen eingestellt werden. Das Büro des Ausschusses bemüht sich, eine alternative Finanzierung über ein Teilabkommen zu erreichen. Es stellt sich die 95

SR 0.454

3055

Frage, ob die Schweiz dies unterstützt und beitreten will. In Bezug auf die Arbeiten zum Europäischen Übereinkommen vom 6. November 200396 über den Schutz von Tieren beim internationalen Transport und des Europäischen Übereinkommens vom 18. März 198697 zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere gibt es in der Berichtsperiode demzufolge ebenfalls keine Neuigkeiten.

3.6

Umwelt und Naturschutz

Der Rat für die Paneuropäische Strategie zur Erhaltung der biologischen und landschaftlichen Vielfalt (zurzeit von der Schweiz präsidiert) trat im Rahmen der 5. Konferenz über die Biodiversität in Europa zusammen, die vom 22.­24. September 2009 in Lüttich (Belgien) stattfand. Diese Konferenz war der gesamteuropäischen Stärkung der Synergien zur Umsetzung des Übereinkommens vom 5. Juni 199298 über die biologische Vielfalt und der Vorbereitung der wichtigsten Fragen für die 10. Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkommens über die biologische Vielfalt gewidmet, die im Oktober 2010 in Nagoya (Japan) stattfinden wird.

Ein BAFU-Vertreter wirkte jeweils in den verschiedenen Expertengruppen99 der Berner Konvention100 mit. Am 16. November 2011 hat der Bundesrat den Entwurf für einen Änderungsantrag von Artikel 22 der Berner Konvention gutgeheissen und dem Generalsekretär des Europarates unterbreitet. Dieser Änderungsvorschlag soll es erlauben, auch nach der Ratifizierung der Konvention Vorbehalte anzubringen.

Im Frühjahr 2010 fand in Cordoba (E) das neunte und im Oktober 2011 in Evora (P) das zehnte Treffen zur Umsetzung der Europäischen Landschaftskonvention (SEV 176) statt; diese waren den Themen «Paysages et Infrastructures» und «Paysages multifonctionels» gewidmet und wurden von jeweils rund 250 Regierungsvertretern, Expertinnen und Experten und Teilnehmern aus Nichtregierungsorganisationen besucht. Die im Winter 2010/2011 durchgeführte Vernehmlassung bei Kantonen, Parteien und Verbänden zeigte ein positives Ergebnis, und der Bundesrat hat am 2. November 2011 die Botschaft zur Ratifizierung der Europäischen Landschaftskonvention dem Parlament zur Behandlung überwiesen.101 In den Berichtsjahren konsolidierte sich der neu geschaffenen Lenkungsausschuss für Kulturerbe und Landschaft, als dessen Vizepräsident für die Jahre 2008­2010 der Schweizer Vertreter für die Landschaftskonvention amtete.

96 97 98 99

SR 0.452 SR 0.457 SR 0.451.43 Expertengruppen zur Schaffung des Smaragd-Netzwerks für besonders schützenswerte Lebensräume und jene zur Schaffung des paneuropäischen ökologischen Netzwerks sowie der Spezialistengruppe für das Europäische Diplom für geschützte Gebiete; Letztere unter der Ägide des Präsidiums.

100 Übereinkommen vom 19. September 1979 über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer Lebensräume, SR 0.455 101 BBl 2011 8657

3056

3.7

Entwicklungsbank des Europarats

Die Entwicklungsbank des Europarates führte während der Berichtsperiode ihre Bestrebungen weiter, ihre Gouvernanz zu verbessern und die regionale und sektorielle Ausrichtung verstärkt auf transitions- und armutsrelevante Schwerpunkte zu fokussieren. Die Schweiz setzte sich in den Leitungsgremien der Institution sowie auf informeller Ebene mit gleichgesinnten Ländern stark für die Umsetzung anvisierter Reformen ein. Sie führte gleichzeitig eine umfassende Überprüfung der Schweizer Mitgliedschaft durch, die erlaubte, den Verbleib der Schweiz in der CEB zu bestätigen. Zudem verabschiedete der Gouverneursrat der CEB im Februar 2011 eine Kapitalerhöhung um 2,2 Milliarden Euro (von 3,3 auf 5,5 Mrd. Euro), die den Mitgliedsländern zur Zeichnung unterbreitet wurde. Entsprechend der Botschaft vom 8. September 2010102 zur Beteiligung der Schweiz an den Kapitalerhöhungen der multilateralen Entwicklungsbanken beteiligt sich die Schweiz nicht an der Kapitalerhöhung der CEB.

Im Übrigen ist die Schweiz dem Menschenrechtsfonds (HRTF) beigetreten. Dieser Fonds wurde 2008 vom Europarat, der Entwicklungsbank des Europarats und von Norwegen, dem Initiator und Begründer des Fonds, eingerichtet. Seither sind Deutschland, die Niederlande und Finnland und im Dezember 2010 auch die Schweiz beigetreten. Der HRTF finanziert Aktivitäten, mit denen die Bemühungen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention103 und weiterer Instrumente des Europarats zum Schutz der Menschenrechte unterstützt werden und die zum Fortbestand des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beitragen.

3.8

Nord-Süd-Zentrum

Der Bundesrat entschied am 28. September 2010, das Teilabkommen betreffend das Europäische Zentrum für globale Interdependenz und Solidarität, besser bekannt als Nord-Süd-Zentrum, per Ende 2010 zu kündigen. Vorgängig war eine grundlegende Überprüfung der Ziele und der Funktionsweise des Zentrums erfolgt, vor dem Hintergrund der Schweizerischen Prioritätensetzung im Europarat (Konzentration auf die Kernaufgaben der Organisation: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie). Diese Prüfung ergab, dass sich die Schweizer Mitgliedschaft beim Nord-Süd-Zentrum aus entwicklungspolitischer Sicht sowie aufgrund von Effizienzüberlegungen nicht mehr länger rechtfertigen lässt.

4

Kultureller Zusammenhalt und Pluralismus der Kulturen Eurimages

4.1

Der Lenkungsausschuss von EURIMAGES befasst sich mit der Unterstützung von europäischen Koproduktionen, Filmverleihern und Kinosälen. Neun Projekte mit Schweizer Beteiligung wurden für förderungswürdig befunden und dem Leitungsausschuss von Eurimages 2010 zur Begutachtung unterbreitet. Bei drei Projekten, 102 103

BBl 2010 6691 SR 0.101

3057

die schliesslich alle unterstützt wurden, handelte es sich um Schweizer Mehrheitsbeteiligungen mit Schweizer Regie. Unterstützt wurden insgesamt sechs Projekte mit einem Gesamtbetrag von 580 000 Euro zugunsten der Schweizer Produzenten.

4.2

Kultur und Kulturerbe

In der Berichtsperiode war die Schweiz im Lenkungsausschuss für Kultur auf verschiedenen Ebenen aktiv. Der Schweizer Delegierte wurde vom Steering Committee for Culture (CDCULT) für die Dauer eines Jahres zum Vizepräsidenten gewählt.

Das CDCULT prüfte die Ergebnisse seiner Projekte und Aktivitäten im Bereich der Kulturpolitik und des interkulturellen Dialogs, insbesondere: (1) Überprüfung nationaler Kulturpolitiken, (2) Projekt COMPENDIUM, (3) Filmpolitiken, (4) Interkulturelle Städte, (5) Kulturwege des Europarats. Unter anderem hat das CDCULT beschlossen, eine Studie über die Notwendigkeit, die Machbarkeit und die Kosten einer Revision des Europäischen Übereinkommens vom 2. Oktober 1992104 über die Gemeinschaftsproduktion von Kinofilmen vorzunehmen, und er hat den Vorschlag genehmigt, ein erweitertes Teilabkommen über die Kulturwege auszuarbeiten.

Im Bereich Kulturerbe engagiert sich die Schweiz im Lenkungsausschuss für Kulturerbe und Landschaft. Die Schweiz ist intensiv an der Weiterentwicklung des Projekts «European Heritage Net» (HEREIN) beteiligt. Es handelt sich um das europäische Netzwerk zum Kulturerbe. Zentrale Aufgabe des Instruments HEREIN ist das Monitoring für das Europäische Übereinkommen vom 3. Oktober 1985105 zum Schutz des baugeschichtlichen Erbes in Europa, das Europäische Übereinkommen vom 16. Januar 1992106 zum Schutz des archäologischen Erbes, die Europäische Landschaftskonvention (Ratifikation in der Schweiz im Gang) sowie die Rahmenkonvention über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft (von der Schweiz noch nicht ratifiziert). Die weiterentwickelte, webbasierte Plattform HEREIN3 wird die direkte Analyse strukturierter Daten erlauben, der dazu entwickelte HEREIN Thesaurus umfasst mittlerweile 14 Sprachen.

Im Zug der Reform der intergouvernementalen Strukturen des Europarates sollen die Lenkungsausschüsse für Kultur sowie für Kulturerbe und Landschaft per 2012 zusammengelegt werden.

4.3

Erziehungs- und Hochschulwesen

Die Berichtsperiode war ausgesprochen reich an Tätigkeiten. Am 15./16. April 2011 finanzierte und organisierte die Schweiz in Strassburg eine Expertenkonferenz über die demokratische Bildung unter dem Titel «Erlernen von Demokratie und Menschenrechten». Diese Veranstaltung bot Gelegenheit zu einem Überblick über die in den vergangenen Jahren in diesem Bereich geleisteten Arbeiten und war auch Anlass für Vorschläge zur Umsetzung der neuen Charta zur demokratischen Bildung. Im Herbst 2010 finanzierte und organisierte die Schweiz in Genf ein zwischenstaatliches politisches Forum zum Programm des Europarates für lebende Sprachen «Das Recht der Lernenden auf Qualität und Gleichstellung in der Bildung». Auch hier 104 105 106

SR 0.443.2 SR 0.440.4 SR 0.440.5

3058

konnte Bilanz gezogen werden über die Entwicklungen der letzten zehn Jahre; ausserdem konnten neue Ansätze für das weitere Vorgehen definiert werden. Der Ausschuss des Comité Directeur de l'Education (CDED), in dem die Schweiz vertreten ist, begann die Prüfung des Programms Pestalozzi (Weiterbildung für Lehrpersonen) im Hinblick auf eine effiziente und bedürfnisgerechte Ausgestaltung.

Der Leitende Ausschuss für Hochschulwesen und Forschung (CDESR) hielt im Jahr 2010 seine 9. und im Jahr 2011 seine 10. Plenarsession ab. Durch die Arbeiten dieses Ausschusses spielt der Europarat weiterhin eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Bologna-Reform, insbesondere durch seine Beteiligung in der «Bologna Follow Up Group». Diese Beiträge konkretisieren sich auch in Form von Arbeiten und Koordinationstätigkeiten zur Erleichterung des Erfahrungsaustausches im Hinblick auf die Erarbeitung der nationalen Qualifikationsrahmen für die Hochschulen in Übereinstimmung mit dem Qualifikationsrahmen des Europäischen Hochschulraums (EQF-EHAE). Dieser Rahmen ist abgestimmt auf den Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen (EQF-LLL). Der CDESR beteiligt sich an den verschiedenen Entwicklungsbereichen des Bologna-Prozesses: Anerkennung von Qualifikationen, Erarbeitung des Qualifikationsrahmens und Qualitätssicherung. Aufgrund einer Machbarkeitsstudie beschloss der CDESR die Durchführung eines Projekts über die Rolle der öffentlichen Hand in Bezug auf die akademischen Freiheit und die institutionelle Autonomie.

4.4

Jugend

Am 28. April 2010 luden das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) Fachleute, politische Entscheidungsträger sowie Vertreterinnen und Vertreter der Verwaltung nach Bern ein, um sie über die Aktivitäten des Europarates in Jugendfragen zu informieren. Das sehr erfolgreiche Treffen fand aus Anlass des Vorsitzes der Schweiz im Ministerkomitee des Europarates statt. Referentinnen und Referenten des Europarates sowie aus Belgien und der Schweiz nahmen am Anlass teil. Das Thema der Rechte von Jugendlichen und die Idee einer neuen europäischen Konvention über Jugendrechte standen unter anderem im Zentrum der Podiumsdiskussion, an der Nationalrätin Viola Amherd teilnahm.

Der Europäische Lenkungsausschuss für Jugendfragen (CDEJ) hat die vier Prioritäten des Jugendsektors des Europarates für die Jahre 2010­2012 festgelegt: Menschenrechte und Demokratie, gemeinsam in einer multikulturellen Gesellschaft leben, soziale Integration Jugendlicher, Politiken und Instrumente für Jugendliche und Kinder. Er richtete sich dabei nach den Prioritäten der «Agenda 2020: Orientierungshilfe für die Jugendpolitik des Europarates in den kommenden 10 Jahren», die an der Konferenz der Jugendminister vom Oktober 2008 in Kiew verabschiedet worden war.

Die Empfehlung (2010) 8 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zur Jugendinformation wurde im Juni 2010 vom Ministerkomitee verabschiedet.

Die Vorbereitungen zur nächsten Konferenz der Jugendminister, die am 24./25.

September 2012 in St. Petersburg stattfinden soll, werden weitergeführt. Das Hauptthema wird der Zugang zu den Jugendrechten im Zusammenhang mit der Umsetzung der Agenda 2020 sein. Unterthemen sind: soziale Eingliederung Jugendlicher, Demokratie (E-Demokratie) und Partizipation, gemeinsam in einer multikulturellen 3059

Gesellschaft leben. Das Schwergewicht liegt dabei auf dem Zugang zu bestehenden Rechten und weniger auf den Rechten der Jugendlichen. Die Konferenz bietet zudem Gelegenheit, Aktivitäten im Rahmen des 40-jährigen Bestehens des Jugendsektors des Europarates einzubinden.

4.5

Sport

Bis Ende 2011 hatten sich 34 Staaten dem «Accord partiel élargi sur le sport» (APES) angeschlossen; die Schweiz ist am 1. Januar 2008 beigetreten. Der Höhepunkt war die 18. Konferenz der Sportminister in Baku, an der auch die Schweiz teilgenommen hat. An dieser Konferenz haben die Sportminister zwei Resolutionen angenommen, die eine zur Förderung der Integrität des Sports, die andere bezüglich der Zusammenarbeit im Sport auf europäischer Ebene. Das Direktionskomitee des APES hat an dessen Sitzung vom 8. Juni 2011 eine Empfehlung für die Bekämpfung der Resultatmanipulation angenommen. Diese Themen, zusammen mit einer Machbarkeitsstudie zu einer Konvention für die Bekämpfung illegaler Wetten, sind die Prioritäten der Arbeit bis 2012 und werden an der nächsten Sitzung der Sportminister in Belgrad im März behandelt. Die Schweiz hat ausserdem an der «European Women and Sport Conference» teilgenommen, die vom 15.­18. September 2011 in London stattgefunden hat.

Die Schweiz arbeitet in verschiedenen Arbeitsgruppen mit, die im Rahmen Übereinkommens vom 16. November 1989107 gegen Doping geschaffen wurden. Sie kann so letztlich ihren Beitrag zur Weiterentwicklung des Welt-Anti-Doping-Programms leisten. Im Rahmen der Arbeitsgruppensitzungen werden die Positionen der Länder Europas abgestimmt, um gegenüber der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA einheitlich aufzutreten. Die Schweiz wirkt nunmehr im Rahmen des Programms «respect des engagements» bei der Evaluation der Erfüllung der Verpflichtungen anderer Staaten aus der Konvention mit. Der Direktor von Antidoping Schweiz wurde 2010 als Vorsitzender der Arbeitsgruppe «Wissenschaft» gewählt. Im Oktober und November 2011 befassten sich die Arbeitsgruppen vor allem mit der bevorstehenden Revision des WADA-Code. Die Schweiz konnte ihre Vorstellungen erfolgreich einbringen. Die gemeinsame Haltung der europäischen Staaten wurde Ende 2011 den Gremien der WADA zur Kenntnis gebracht.

Das Ständige Komitee, welches die Umsetzung des Übereinkommens vom 19. August 1985108 über Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen von Zuschauern bei Sportanlässen, insbesondere bei Fussballspielen überwacht, hat seine Aktivität hauptsächlich auf den Kampf gegen Gewalt im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen konzentriert. Die Schweiz ist dem Übereinkommen im November 1990 beigetreten und wird
vom Bundesamt für Polizei fedpol vertreten. 2010 hat sich das Ständige Komitee zwei Mal getroffen. Im ersten Meeting in Belgrad wurden die Empfehlungen über «supporters' charters» und «hospitality principles» angenommen und notifiziert. Die Schweiz präsentierte, wie vom Sekretariat des Ständigen Kommitees gewünscht, einen Einblick in den Schweizer Eishockey und dessen Sicherheitsfragen. Überhaupt wird vermehrt anderen Sportarten ebenfalls Beachtung geschenkt, reiste doch beispielsweise eine Delegation des Komitees für Vorberei107 108

SR 0.812.122.1 SR 0.415.3

3060

tungsarbeiten an die «Euro Basket» in Litauen. Das zweite Meeting, welches 2010 in Istanbul stattfand, stand im Zeichen der Vorbereitungen auf die EURO 2012 in Polen und der Ukraine. Schliesslich hat die Schweiz, wie üblich, den Fragebogen über die jährlichen Rapporte der Teilnehmerländer zuhanden des Ständigen Komitees ausgefüllt. In Istanbul wurde vom Komitee ebenfalls eine neue Arbeitsgruppe eingesetzt, welche eine Empfehlung zum Thema Fankultur erstellen wird. Der Schweiz respektive ihren Vertreterinnen und Vertretern wurde hierfür vom Vorsitzenden die Führung der Gruppe zugesprochen. Im Frühling 2011 hat sich das Ständige Komitee in Rom getroffen. Wie in Istanbul informierten die Ausrichter der EURO 2012 über den Vorbereitungsstand. Die Schweiz gab im Rahmen der zu erarbeitenden Empfehlung ein Update über die gemachten Arbeiten ab. Allen Teilnehmern der Arbeitsgruppe wurde von der Schweiz ein Entwurf zugestellt. Die Empfehlung soll «Dialogue and interaction with fans» heissen und anlässlich des nächsten Treffens verabschiedet werden. Das Ständige Kommitee schlug weiter vor, die bestehenden Empfehlungen zu straffen, zu aktualisieren und wo möglich zu vereinheitlichen. Damit soll auch die bessere Umsetzung und Lesbarkeit gesichert werden. Alle Empfehlungen sollen daher in Zukunft unter drei Themenbereiche zusammengefasst werden: «Policing, Safety and Hospitality» respektive «Customer care».

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