16.081 Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) vom 2. Dezember 2016

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbul-Konvention).

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

2. Dezember 2016

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Johann N. Schneider-Ammann Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2016-2225

185

Übersicht Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbul-Konvention) ist am 1. August 2014 in Kraft getreten. Es ist europaweit das erste bindende Instrument, das Frauen und Mädchen umfassend vor jeglicher Form von Gewalt, inklusive häuslicher Gewalt, schützt. Die Schweiz genügt den Anforderungen der Konvention.

Ausgangslage Die Konvention verfolgt das Ziel, jegliche Form von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu verhüten, zu bekämpfen und zu verfolgen. Sie will zudem einen Beitrag zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau leisten und die Gleichstellung von Frau und Mann fördern. Im Zentrum stehen dabei die Rechte, der Schutz und die Unterstützung der Opfer.

Inhalt der Vorlage Die Konvention enthält zum einen materielle Strafbestimmungen. Die Vertragsstaaten müssen namentlich psychische, physische und sexuelle Gewalt, Stalking, Zwangsheirat, die Verstümmelung weiblicher Genitalien sowie Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung strafbar erklären. Gewisse Straftaten müssen auch dann verfolgt werden, wenn sie im Ausland begangen wurden und dort nicht strafbar sind.

Zum anderen werden die Vertragsstaaten verpflichtet, präventive Massnahmen vorzusehen, wie beispielsweise die Durchführung von Sensibilisierungsprogrammen, die Sicherung der Aus- und Fortbildung von Berufsleuten sowie die Bereitstellung von Interventions- und Behandlungsprogrammen für Täter. Ferner sind die Opfer zu schützen und zu unterstützen, indem beispielsweise genügend Schutzunterkünfte und eine nationale Telefonberatung bereitgestellt werden. Zudem enthält die Konvention Bestimmungen über das Strafverfahren. Vorzusehen sind weiter Kontakt- und Näherungsverbote für Täter und ausreichend lange Verjährungsfristen der Straftaten. Im Bereich von Migration und Asyl werden unter anderem eigenständige Aufenthaltstitel für Gewaltopfer gefordert. Schliesslich behandelt die Konvention die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Vertragsparteien, die schnell und effizient abzuwickeln ist. Die Umsetzung der Konvention wird durch eine unabhängige Expertengruppe überwacht.

Die Ziele der Konvention, auf diesem wichtigen Gebiet die nationalen Gesetzgebungen im europäischen Raum und darüber hinaus zu harmonisieren, die Gewalt gegen Frauen und
die häusliche Gewalt auf einem europaweit vergleichbaren Standard zu verhüten und zu verfolgen und die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten zu intensivieren und zu vereinfachen, liegen auch im Interesse der Schweiz.

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Das schweizerische Recht vermag den Anforderungen der Konvention insgesamt zu genügen. Einzig die Frage, ob und gegebenenfalls wie das bestehende Angebot an Telefonberatungen auszubauen ist, ist vertieft abzuklären. Die entsprechenden Arbeiten sind im Gange. Der Beitritt zur Konvention wird dadurch nicht in Frage gestellt.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

Grundzüge des Übereinkommens 1.1 Ausgangslage und Entstehung 1.2 Überblick über den Inhalt des Übereinkommens 1.3 Würdigung des Übereinkommens 1.4 Das Vernehmlassungsverfahren 1.5 Das Verhältnis zur europäischen Union

191 191 192 192 192 193

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Übereinkommens 2.1 Kapitel I: Zweck, Begriffsbestimmungen, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung, allgemeine Verpflichtungen 2.1.1 Art. 1 Zweck des Übereinkommens 2.1.2 Art. 2 Geltungsbereich des Übereinkommens 2.1.3 Art. 3 Begriffsbestimmungen 2.1.4 Art. 4 Grundrechte, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung 2.1.5 Art. 5 Verpflichtungen der Staaten und Sorgfaltspflicht 2.1.6 Art. 6 Geschlechtersensible politische Massnahmen 2.2 Kapitel II: Ineinandergreifende politische Massnahmen und Datensammlung 2.2.1 Art. 7 Umfassende und koordinierte politische Massnahmen 2.2.2 Art. 8 Finanzielle Mittel 2.2.3 Art. 9 Nichtstaatliche Organisationen und Zivilgesellschaft 2.2.4 Art. 10 Koordinationsstelle 2.2.5 Art. 11 Datensammlung und Forschung 2.3 Kapitel III: Prävention 2.3.1 Art. 12 Allgemeine Verpflichtungen 2.3.2 Art. 13 Bewusstseinsbildung 2.3.3 Art. 14 Bildung 2.3.4 Art. 15 Aus- und Fortbildung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen 2.3.5 Art. 16 Vorbeugende Interventions- und Behandlungsprogramme 2.3.6 Art. 17 Beteiligung des privaten Sektors und der Medien 2.4 Kapitel IV: Schutz und Unterstützung 2.4.1 Art. 18 Allgemeine Verpflichtungen 2.4.2 Art. 19 Informationen 2.4.3 Art. 20 Allgemeine Hilfsdienste 2.4.4 Art. 21 Unterstützung bei Einzel- oder Sammelklagen 2.4.5 Art. 22 Spezialisierte Hilfsdienste

193

188

193 193 194 195 197 199 200 201 201 204 205 206 208 212 212 213 217 219 222 223 224 224 224 225 225 226

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2.4.6 2.4.7 2.4.8 2.4.9

2.5

2.6

Art. 23 Schutzunterkünfte Art. 24 Telefonberatung Art. 25 Unterstützung für Opfer sexueller Gewalt Art. 26 Schutz und Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen, die Kinder sind 2.4.10 Art. 27 Meldung 2.4.11 Art. 28 Meldung durch Angehörige bestimmter Berufsgruppen Kapitel V: Materielles Recht 2.5.1 Art. 29 Zivilverfahren und Rechtsbehelfe 2.5.2 Art. 30 Schadenersatz und Entschädigung 2.5.3 Art. 31 Sorgerecht, Besuchsrecht und Sicherheit 2.5.4 Art. 32 Zivilrechtliche Folgen der Zwangsheirat 2.5.5 Art. 33 Psychische Gewalt 2.5.6 Art. 34 Nachstellung (Stalking) 2.5.7 Art. 35 Körperliche Gewalt 2.5.8 Art. 36 Sexuelle Gewalt, einschliesslich Vergewaltigung 2.5.9 Art. 37 Zwangsheirat 2.5.10 Art. 38 Verstümmelung weiblicher Genitalien 2.5.11 Art. 39 Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung 2.5.12 Art. 40 Sexuelle Belästigung 2.5.13 Art. 41 Beihilfe oder Anstiftung und Versuch 2.5.14 Art. 42 Inakzeptable Rechtfertigungen für Straftaten, einschliesslich der im Namen der sogenannten «Ehre» begangenen Straftaten 2.5.15 Art. 43 Anwendung der Straftatbestände 2.5.16 Art. 44 Gerichtsbarkeit 2.5.17 Art. 45 Sanktionen und Massnahmen 2.5.18 Art. 46 Strafverschärfungsgründe 2.5.19 Art. 47 Von einer anderen Vertragspartei erlassene Strafurteile 2.5.20 Art. 48 Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren oder Strafurteile Kapitel VI: Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrecht und Schutzmassnahmen 2.6.1 Art. 49 Allgemeine Verpflichtungen 2.6.2 Art. 50 Soforthilfe, Prävention und Schutz 2.6.3 Art. 51 Gefährdungsanalyse und Gefahrenmanagement 2.6.4 Art. 52 Eilschutzanordnungen 2.6.5 Art. 53 Kontakt- und Näherungsverbote sowie Schutzanordnungen 2.6.6 Art. 54 Ermittlungen und Beweise 2.6.7 Art. 55 Verfahren auf Antrag und von Amtes wegen 2.6.8 Art. 56 Schutzmassnahmen 2.6.9 Art. 57 Rechtsberatung

227 228 229 230 231 232 233 233 235 236 237 237 238 239 241 241 243 243 244 244 245 246 246 248 249 249 249 251 251 252 253 255 256 256 257 259 263

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2.6.10 Art. 58 Verjährungsfrist Kapitel VII: Migration und Asyl 2.7.1 Art. 59 Aufenthaltsstatus 2.7.2 Art. 60 Asylanträge aufgrund des Geschlechts 2.7.3 Art. 61 Verbot der Zurückweisung 2.8 Kapitel VIII: Internationale Zusammenarbeit (Art. 62-65) 2.8.1 Art. 62-64 2.8.2 Art. 65 Datenschutz 2.9 Kapitel IX: Überwachungsmechanismus (Art. 66-70) 2.10 Kapitel X­XII: Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften, Änderungen des Übereinkommens und Schlussbestimmungen (Art. 71-81)

264 265 265 267 269 270 270 271 272

3

Auswirkungen 3.1 Finanzielle und personelle Auswirkungen auf den Bund 3.2 Finanzielle und personelle Auswirkungen auf die Kantone

275 275 275

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

276

5

Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Erlassform 5.3 Unterstellung unter die Ausgabenbremse

276 276 276 277

2.7

274

Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) (Entwurf)

279

Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention)

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Botschaft 1

Grundzüge des Übereinkommens

1.1

Ausgangslage und Entstehung

Gewalt gegen Frauen stellt eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten dar. Sie ist gleichzeitig Ursache und Folge der Ungleichbehandlung von Frau und Mann. Diese Art von Gewalt ist weltweit und namentlich auch in den Mitgliedstaaten des Europarats weit verbreitet. Der Europarat spielt bei der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt eine Vorreiterrolle.

Er verurteilt und bekämpft seit Jahren jede Form von Gewalt gegen Frauen 1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in verschiedenen jüngeren Urteilen2 Verletzungen der Konvention vom 4. November 19503 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt festgestellt. Der Gerichtshof befand, dass bestimmte Staaten ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen sind, weil sie auf die betreffenden Fälle nicht angemessen reagiert und namentlich keine präventiven Massnahmen ergriffen hatten. Das Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 20054 zur Bekämpfung des Menschenhandels und das Übereinkommen des Europarats vom 25. Oktober 20075 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch untersagen den Menschenhandel sowie die sexuelle Ausbeutung und den sexuellen Missbrauch von Kindern. Andere Formen von Gewalt wurden einzig mit der Empfehlung Rec (2002)5 des Ministerkomitees über die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen 6 abgedeckt. Deshalb setzte das Ministerkomitee des Europarats ein Expertenkomitee ein mit dem Auftrag, ein umfassendes Instrument auszuarbeiten, um Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten und zu bekämpfen, die Opfer zu schützen und die Täter zu verfolgen. Dieses Expertenkomitee erarbeitete zwischen April 2009 und Dezember 2010 das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbul-Konvention). Die Konvention wurde am 11. Mai 2011 in Istanbul zur Unterzeichnung aufgelegt. Die Schweiz hat sie am 11. September 2013 unterzeichnet. Die Konvention trat am 1. August 2014 in Kraft. Sie wurde bisher von 22 Staaten ratifiziert.7

1

2 3 4 5 6 7

Vgl. die Liste der Resolutionen und Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (2000­2012) im Anhang III des Handbuchs für Parlamentarierinnen und Parlamentarier unter www.ebg.admin.ch > Themen > Häusliche Gewalt > Internationales > Europarat.

Unter anderem das Leiturteil im Fall Opuz gegen die Türkei, Beschwerde Nr. 33401/02, 9. Juni 2009, Recueil des arrêts et décisions 2009-III, S. 169.

SR 0.101 In Kraft getreten für die Schweiz am 1. April 2013, SR 0.311.543 In Kraft getreten für die Schweiz am 1. Juli 2014, SR 0.311.40 www.coe.int Stand 20.10.2016

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1.2

Überblick über den Inhalt des Übereinkommens

Die Istanbul-Konvention ist europaweit das erste bindende Instrument, das Frauen und Mädchen umfassend vor jeglicher Form von Gewalt, inklusive häuslicher Gewalt, schützt. Die Grundsätze der Gleichstellung von Mann und Frau sowie das Diskriminierungsverbot sind explizit verankert (Art. 1­4). Erfasst werden alle Formen von Gewalt gegen Frauen, so namentlich psychische (Art. 33), physische (Art. 35) und sexuelle Gewalt (Art. 36), Stalking (Art. 34), Zwangsheirat (Art. 37), die Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 38) sowie Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung (Art. 39). Vereinzelt sind anstelle von strafrechtlichen auch nichtstrafrechtliche Sanktionen zulässig (Art. 78 Abs. 3 bezüglich der Artikel 33 und 34). Die Konvention enthält zudem Bestimmungen über Prävention (so z.B. bezüglich Sensibilisierung für das Thema, Art. 13; Aus- und Fortbildung von Berufsleuten, Art. 15; Behandlungsprogramme für Täter, Art. 16), Schutz und Unterstützung von Opfern (so z.B. genügend Schutzunterkünfte für Opfer, Art. 23; umfassende nationale Telefonberatung, Art. 24), Strafverfolgung und Schutzmassnahmen (so z.B. Kontakt- und Näherungsverbote für Täter, Art. 53; ausreichend lange Verjährungsfristen, Art. 58), Migration und Asyl (z.B. eigenständige Aufenthaltstitel für Opfer, Art. 59) sowie Regeln zur internationalen Zusammenarbeit (Art. 62­65).

Vorgesehen ist auch eine Überwachung der Umsetzung der Konvention durch eine Gruppe unabhängiger Expertinnen und Experten («GREVIO», Art. 66­70). Vorbehalte sind nur zu bestimmten Artikeln möglich (Art. 78). Die Mitgliedstaaten werden dazu ermuntert, die Konvention auf alle Opfer häuslicher Gewalt, also auch auf Männer und Knaben, anzuwenden (Art. 2 Abs. 2).

1.3

Würdigung des Übereinkommens

Die Istanbul-Konvention zeichnet sich durch ihren ganzheitlichen und globalen Ansatz bei der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus. In erster Linie sollen Frauen vor jeglicher Form von Gewalt, einschliesslich häuslicher Gewalt, geschützt werden. Die Ziele der Konvention, auf diesem wichtigen Gebiet die nationalen Gesetzgebungen im europäischen Raum und darüber hinaus zu harmonisieren, diese Art von Kriminalität auf einem europaweit vergleichbaren Niveau zu verfolgen sowie die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten zu intensivieren und zu vereinfachen, liegen auch im Interesse der Schweiz.

1.4

Das Vernehmlassungsverfahren

Mit Beschluss vom 7. Oktober 2015 hat der Bundesrat das Eidgenössische Justizund Polizeidepartement (EJPD) beauftragt, über den Entwurf und den erläuternden Bericht eine Vernehmlassung durchzuführen. Entsprechend hat das EJPD die Kantone, die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien sowie die interessierten Institutionen und Organisationen zur Stellungnahme bis am 29. Januar 2016 einge-

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laden. Es gingen insgesamt 84 Vernehmlassungsantworten ein, vereinzelt (4) wurde auf eine Stellungnahme verzichtet.8 Die Vernehmlassungsteilnehmer befürworten den Beitritt der Schweiz zur IstanbulKonvention sowie deren Umsetzung in ihrer grossen Mehrheit klar. Die meisten befürworten den Beitritt ausdrücklich, einige nur implizit, indem sie zu materiellen Einzelfragen der Konvention Stellung nehmen oder keine Bemerkungen anbringen.

Abgelehnt wird der Beitritt lediglich von neun Teilnehmern, darunter drei Kantone und eine Partei9.

Auf einzelne Kommentare und Kritikpunkte wird jeweils bei der Erörterung der betreffenden Bestimmungen eingegangen (vgl. Ziff. 2).

1.5

Das Verhältnis zur europäischen Union

Die Umsetzung der Konvention bereitet hinsichtlich der Vereinbarkeit des schweizerischen Rechts mit dem Recht der Europäischen Union (EU) keine Probleme. Der Rat der EU hat am 5. Juni 2014 Schlussfolgerungen verabschiedet, in denen er die Mitgliedstaaten auffordert, die Istanbul-Konvention zu unterzeichnen, zu ratifizieren und umzusetzen.10 Unter den Vertragsstaaten der Konvention befinden sich bereits etliche Mitglieder der EU, in verschiedenen anderen Mitgliedstaaten ist die Umsetzung des Übereinkommens im Gange. Im Übrigen liegt die Konvention auch für die EU zur Unterzeichnung auf (Art. 75 Abs. 1 der Konvention).

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Übereinkommens

2.1

Kapitel I: Zweck, Begriffsbestimmungen, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung, allgemeine Verpflichtungen

2.1.1

Art. 1 Zweck des Übereinkommens

Absatz 1 nennt die Zielsetzungen der Konvention. Diese werden in den nachfolgenden Artikeln konkretisiert. Die Umsetzung der Konvention soll durch einen Überwachungsmechanismus sichergestellt werden (Abs. 2).

8 9 10

Ergebnisbericht der Vernehmlassung unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2016 > EJPD LU, SZ, TG sowie SVP «Prévenir et combattre toutes les formes de violence à l'égard des femmes et des filles, y compris les mutilations génitales féminines», CL14-097EN.

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2.1.2

Art. 2 Geltungsbereich des Übereinkommens

Der Geltungsbereich der Konvention umfasst alle Formen von Gewalt gegen Frauen.

Die Konvention soll auf alle Opfer häuslicher Gewalt angewendet werden, insbesondere auf Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind. Sie gilt sowohl in Friedenzeiten wie auch in Konfliktzeiten.

Der Schwerpunkt der Anwendung der Konvention liegt auf der Gewalt gegen Frauen, einschliesslich häuslicher Gewalt, da die Opfer von Gewalt mehrheitlich Frauen sind. Der Begriff Frauen umfasst auch Mädchen unter 18 Jahren. 11 Den Vertragsstaaten steht es frei, ob und wie sie die Konvention auch auf Männer und Knaben anwenden wollen.12 Im schweizerischen Straf- und Zivilrecht sind die massgeblichen Bestimmungen grundsätzlich geschlechtsneutral formuliert und daher auf beide Geschlechter anwendbar. Da Frauen und Mädchen überproportional von Gewalt betroffen sind, sind Präventions- und sonstige Massnahmen häufig speziell auf diese zugeschnitten. Zunehmend gibt es jedoch auch männerspezifische Aktivitäten und Massnahmen (vgl. dazu namentlich die Ausführungen zu Art. 12 Abs. 4 und zu Art. 16)13.

Die Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts und das Römer Statut vom 17. Juli 199814 des Internationalen Strafgerichtshofs, auf die sich die Präambel der Konvention bezieht, bestätigen die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nach internationalem Recht für vorwiegend (aber nicht ausschliesslich) während bewaffneter Konflikte ausgeübte Gewalttaten. Die Artikel 7 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden) und 8 (Kriegsverbrechen) des Römer Statuts umfassen hauptsächlich gegen Frauen gerichtete Gewalttaten wie Vergewaltigung und sexuelle Gewalt. Dasselbe gilt für die Zusatzprotokolle I 15 und II16 vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 (nachfolgend Protokoll I und II). Denn Artikel 75 Ziffer 2 Buchstabe b Protokoll I und Artikel 4 Ziffer 2 Buchstabe e Protokoll II verbieten die Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art.

Die Konvention stellt die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz, insbesondere jene aufgrund des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs
sowie der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle, nicht in Frage. Nach Artikel 71 Absatz 1 der Konvention lässt diese die Pflichten aus anderen völkerrechtlichen Übereinkünften, die Bestimmungen zu durch die Konvention geregelten Fragen enthalten, unberührt. Im Einklang mit dem Wiener Übereinkommen vom 11 12 13

14 15 16

194

Art. 3 Bst. f der Konvention.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 36­37; www.coe.int > Explorer > Bureau des traités > Liste complète > 210 > Rapport explicatif Etliche Vernehmlasser befürworten ausdrücklich, dass die Konvention auf alle Opfer häuslicher Gewalt, namentlich auf Männer und Knaben, angewendet wird, vgl. Ergebnisbericht der Vernehmlassung unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2016 > EJPD SR 0.312.1 SR 0.518.521 SR 0.518.522

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23. Mai 196917 über das Recht der Verträge soll mit dieser Bestimmung gewährleistet werden, dass die Konvention gleichzeitig neben anderen ­ multilateralen oder bilateralen ­ Abkommen oder Instrumenten bestehen kann, welche Themen behandeln, die auch durch die Konvention abgedeckt werden. Diese Bestimmung entspricht dem übergeordneten Ziel der Konvention, die Rechte der Opfer von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu schützen und für sie ein möglichst hohes Schutzniveau zu gewährleisten.

Überdies gehen die Verpflichtungen der Konvention in Bezug auf die Strafverfolgung nicht über jene gemäss dem Römer Statut und dem Genfer Abkommen (IV) über den Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten (1949) und die Zusatzprotokolle I und II hinaus. In Artikel 44 der Konvention ist eine eingeschränkte Strafhoheit verankert, die verschiedenen Bedingungen unterliegt, welche das Weltrechtsprinzip nach Artikel 146 des Genfer Abkommens IV und den Artikeln 12 ff. des Römer Statuts einschränken. Das Schweizer Recht gründet ebenfalls auf einem «bedingten» oder «eingeschränkten» Universalitätsprinzip.18 Die Schweiz erfüllt die Anforderungen von Artikel 2.

2.1.3

Art. 3 Begriffsbestimmungen

Artikel 3 enthält Definitionen verschiedener konventionsrelevanter Begriffe.

Bestimmung der Begriffe «Gewalt gegen Frauen» (Bst. a) und «häusliche Gewalt» (Bst. b) Unter «Gewalt gegen Frauen» im Sinne von Buchstabe a ist eine Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (siehe Art. 1 Bst. b der Konvention) zu verstehen, die sich im öffentlichen oder privaten Leben ereignen kann. Der Begriff umfasst verschiedene Arten der Gewalt, die nach Schweizer Recht verboten sind, namentlich die häusliche Gewalt (Art. 111 ff., 122, 123, 126, 180, 181, 189, 190 StGB), die Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 124 StGB), die Zwangsheirat (Art. 181a StGB) oder die sexuelle Belästigung (Art. 193, 198 StGB), auch am Arbeitsplatz (Art. 4 des Gleichstellungsgesetzes vom 24. März 199519 (GlG).

Die Definition des Begriffs «Gewalt gegen Frauen» entspricht jener in den geltenden völkerrechtlichen Texten.20 Die einzige Neuerung besteht im Verweis auf die «wirtschaftlichen Schäden». Die Definition der «häuslichen Gewalt» nach Buchstabe b umfasst ebenfalls Handlungen «wirtschaftlicher» Gewalt. Gemäss dem erläuternden Bericht21 «kann ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und seelischer 17 18 19 20

21

SR 0.111 Vgl. Art. 264m des Strafgesetzbuches, StGB, SR 311.0, und Art. 10 Abs. 1bis des Militärstrafgesetzes vom 13. Juni 1927, MStG, SR 321.0.

SR 151.1 Empfehlung Rec (2002)5 des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten zum Schutz von Frauen vor Gewalt, Allgemeine Empfehlung Nr. 19 des CEDAWAusschusses zur Gewalt gegen Frauen (1992) sowie Art. 1 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziffern 40­41.

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Gewalt bestehen». In der Schweiz wird unter wirtschaftlicher Gewalt eine Form psychischer Gewalt verstanden. Diese kann z. B. darin bestehen, einer Person die Arbeit zu verbieten, sie zur Arbeit zu zwingen, ihren Lohn zu beschlagnahmen oder sie zur Mitunterzeichnung von Kreditverträgen zu zwingen.22 Ein Opfer solcher wirtschaftlicher Gewalt wird faktisch in seiner psychischen Integrität im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 des Opferhilfegesetzes vom 23. März 200723 (OHG) beeinträchtigt und kann sich demnach auf den Schutz durch dieses Gesetz berufen (siehe ebenfalls unter Bst. e). Vorausgesetzt wird allerdings, dass diese Gewalt eine gewisse Schwere aufweist, d. h. sie muss strafrechtlich relevant sein, z. B. im Sinne einer Drohung (Art. 180 StGB) oder einer Nötigung (Art. 181 StGB).

Nach Buchstabe b bezeichnet die «häusliche Gewalt» alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen. Ein gemeinsamer Wohnsitz von Opfer und Täter oder Täterin ist nicht vorausgesetzt. In der Schweiz enthalten die kantonalen Gesetze zur häuslichen Gewalt ähnliche Definitionen. Gemäss dem Gewaltschutzgesetz des Kantons Zürich24 zum Beispiel liegt häusliche Gewalt vor, «wenn eine Person in einer bestehenden oder einer aufgelösten familiären oder partnerschaftlichen Beziehung in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität verletzt oder gefährdet wird». Die betroffenen Personen müssen zum Zeitpunkt der Verletzung keinen gemeinsamen Haushalt führen. Das StGB erwähnt einen gemeinsamen Haushalt ausschliesslich im Zusammenhang mit Gewalttätigkeiten zwischen Personen, die nicht durch einen Ehevertrag oder eine eingetragene Partnerschaft gebunden sind.25 Wie von der Konvention gefordert, bildet der gemeinsame Wohnsitz im Schweizer Recht kein Merkmal der Begriffsbestimmung der häuslichen Gewalt.

Bestimmung der Begriffe «Geschlecht» (Bst. c) und «geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen» (Bst. d) Die Verpflichtung zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wird in der Konvention in den grösseren Rahmen der Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen und Männern integriert. Die Konvention stellt einen Zusammenhang her zwischen
dem Fortbestehen schädlicher Verhaltensweisen gegenüber Frauen und bestimmten unterschiedlichen Rollen, die die Gesellschaft Frauen und Männern zuordnet.26 Die Definition von «Geschlecht» unter Buchstabe c weist darauf hin, dass die Gesellschaft diese Unterschiede entwickelt hat. Auch im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 18. Dezember 197927 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) verweist der Begriff «Geschlecht» auf die Identität, die Attribute und die Rolle der Frauen und Männer, die von der Gesellschaft definiert werden, sowie auf die soziale und kulturelle Bedeutung, welche die 22

23 24 25 26 27

196

EBG, Informationsblatt Nr. 1 «Definition, Formen und Folgen häuslicher Gewalt», Bst. B, mit Verweisen, www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen > Informationsblätter.

SR 312.5 Gewaltschutzgesetz vom 19. Juni 2006 (SR/ZH LS 351), § 2. Siehe auch im Kanton Genf, Loi du 16 septembre 2005 (SR/GE F 1 30), Art. 2 Abs. 1.

Vgl. z. B. Art. 55a Abs. 1 Bst. a StGB, Art. 123 Ziff. 2 StGB oder Art. 126 Ziff. 2 StGB.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziffer 43.

SR 0.108, in Kraft getreten für die Schweiz am 26. April 1979.

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Gesellschaft den biologischen Unterschieden beimisst, was zu hierarchischen Beziehungen zwischen Frauen und Männern führt und sich in einer Verteilung der Macht und der Rechte zugunsten der Männer und zuungunsten der Frauen niederschlägt. 28 Nach Buchstabe d bezeichnet der Begriff «geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen» Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismässig stark betrifft. Er ist als Synonym zum Ausdruck «geschlechtsspezifische Gewalt» zu verstehen, der in verschiedenen in der Schweiz bereits anwendbaren völkerrechtlichen Texten gebraucht wird.29 Bestimmung der Begriffe «Opfer» (Bst. e) und «Frauen» (Bst. f) Der Begriff «Opfer» ist gemäss dem Anwendungsbereich der Konvention zu verstehen. Während nur Frauen und Mädchen unter 18 Jahren Opfer von «Gewalt gegen Frauen» im Sinne von Buchstabe a werden können, kann jede Person unabhängig von Geschlecht und Alter zu den Opfern «häuslicher Gewalt» im Sinne von Buchstabe b zählen.

Nach Artikel 1 OHG und Artikel 116 der Strafprozessordnung30 (StPO) gilt als Opfer die geschädigte Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Opferhilfe und besondere Rechte im Strafverfahren werden nur dann gewährt, wenn eine Straftat zu einer solchen Beeinträchtigung der Integrität des Opfers geführt hat. Bildet die wirtschaftliche Gewalt keine Straftat(vgl. die Ausführungen zu Bst. a), so wird sie durch grösstenteils kantonale Massnahmen gegen häusliche Gewalt erfasst. Der Opferbegriff nach Schweizer Recht ist demnach mit jenem der Konvention vereinbar.

Der Begriff «Frauen» umfasst nach Buchstabe f auch Mädchen unter 18 Jahren.

2.1.4

Art. 4 Grundrechte, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet dafür zu sorgen, dass jede Person, insbesondere Frauen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich frei von Gewalt leben kann (Abs. 1).

Der Anspruch auf körperliche und geistige Unversehrtheit gehört zu den zentralen Gehalten des Grundrechts auf Persönlichkeitsschutz. Der Anspruch auf Schutz gegen Eingriffe in die körperliche oder psychische Integrität wird in Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung31 (BV) gewährleistet. Das Recht auf körperliche Integrität schützt das Individuum vor Einwirkungen jeglicher Art, selbst wenn damit 28 29

30 31

Recommandation générale n° 28 du 16 décembre 2010 concernant les obligations fondamentales des Etats parties découlant de l'article 2 CEDEF, CEDAW/C/GC/28, Ziff. 5.

Unter Ziffer 44 des erläuternden Berichts zur Konvention wird auf die Allgemeine Empfehlung Nr. 19 des CEDAW-Ausschusses zum Thema Gewalt gegen Frauen (1992), die Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (1993) und die Empfehlung Rec (2002)5 des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten zum Schutz von Frauen vor Gewalt (2002) verwiesen.

SR 312.0 SR 101

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keine eigentliche Schädigung oder die Verursachung von Schmerzen verbunden ist.32 Demgegenüber schützt das Recht auf geistige Unversehrtheit die Entscheidungsfreiheit einer Person und gilt als Instrument zum Schutz vor Versuchen, Menschen psychisch unter Druck zu setzen.

Ferner müssen die Vertragsstaaten jede Form der Diskriminierung der Frau verurteilen bzw. verbieten und die erforderlichen Massnahmen zu ihrer Verhütung, namentlich durch die Verankerung des Grundsatzes der Gleichstellung von Frauen und Männern und die Sicherstellung der Verwirklichung dieses Grundsatzes, treffen (Abs. 2).

Artikel 8 Absatz 3 BV garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau. Die Verfassungsnorm schützt Frauen und Männer vor Benachteiligung wegen ihres Geschlechts. Eine ungleiche Behandlung ist nach der Rechtsprechung nur dann zulässig, wenn die Ungleichbehandlung sachlich angezeigt ist und zwingend nach Ausnahmen ruft. Als Gründe für eine Schlechterbehandlung gelten im Wesentlichen geschlechterspezifische, biologische Unterschiede, die im Einzelfall eine Gleichbehandlung ausschliessen. Artikel 8 Absatz 3 BV verleiht jeder Person gegenüber den staatlichen Organen das verfassungsmässige Recht, sich in einem konkreten Fall, aber auch in der Form der abstrakten Normenkontrolle gegen Ungleichbehandlungen zur Wehr zu setzen. Die Bestimmung weist die Gesetzgeber von Bund und Kantonen zudem an, die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen ­ insbesondere in Familie, Ausbildung und Arbeit ­ zu verwirklichen. Artikel 8 Absatz 3 BV ist somit die verfassungsrechtliche Grundlage für Massnahmen, welche die gesellschaftlich bedingten Ungleichheiten in allen Lebensbereichen beseitigen sollen.

Gestützt auf diesen verfassungsrechtlichen Auftrag sind die schweizerischen Gesetze sowohl in formeller (geschlechtsneutrale Ausgestaltung) als auch in materieller Hinsicht angepasst oder neu erlassen worden. So beispielsweise das GlG, das die Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben bezweckt und klare Vorgaben zur Gleichbehandlung ­ namentlich auch zur Lohngleichheit ­ im privatrechtlichen und im öffentlich-rechtlichen Bereich enthält. Das GlG liefert überdies die gesetzliche Grundlage für Finanzhilfen des Bundes zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern
im Erwerbsleben.

Der Nichtdiskriminierungsgrundsatz in Absatz 3 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Umsetzung der Konvention ohne Diskriminierung, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität, des Alters, des Gesundheitszustandes, einer Behinderung, des Familienstandes, des Migranten- oder Flüchtlingsstatus oder des sonstigen

32

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BGE 118 Ia 427, 434

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Status, sicherzustellen. Die Definition der Diskriminierung entspricht im Grundsatz jener von Artikel 14 EMRK.33 Auch der Nichtdiskriminierungsgrundsatz ist im schweizerischen Recht verankert.

Gemäss Artikel 8 Absatz 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Die Aufzählung der Merkmale in Artikel 8 Absatz 2 BV ist nicht abschliessend; unter das Diskriminierungsverbot fallen somit auch Tatbestände, die in Artikel 8 Absatz 2 BV nicht ausdrücklich genannt werden. Entscheidend ist, dass es sich um prägende Merkmale handelt, die als nicht oder nur schwer aufgebbare Bestandteile der Identität eines Menschen gelten. Das Diskriminierungsverbot richtet sich an den Staat und entfaltet keine direkte Drittwirkung unter Privaten. Damit diesem Grundrecht auch unter Privaten Nachachtung verschafft wird, hat der Gesetzgeber einerseits bereichsspezifische Gesetze geschaffen (Gleichstellungsgesetz, Behindertengleichstellungsgesetz etc.); darüber hinaus hat er das Grundrecht zum Teil durch Strafnormen geschützt (wie z.B. Art. 261bis StGB).34 Die Schweiz erfüllt damit die Voraussetzungen von Artikel 4 der Konvention.

2.1.5

Art. 5 Verpflichtungen der Staaten und Sorgfaltspflicht

Die Vertragsparteien werden verpflichtet, jede Beteiligung an Gewalttaten gegen Frauen zu unterlassen und sicherzustellen, dass staatliche Behörden, Beschäftigte, Einrichtungen und sonstige im Auftrag des Staates handelnde Personen im Einklang mit dieser Verpflichtung handeln (Abs. 1). Sie treffen die erforderlichen Massnahmen, um ihrer Sorgfaltspflicht zur Verhütung, Untersuchung und Bestrafung von in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Gewalttaten, die von Personen, die nicht im Auftrag des Staates handeln, begangen werden, und zur Bereitstellung von Entschädigungen für solche Gewalttaten nachzukommen (Abs. 2).

Die in Artikel 10 Absatz 2 BV verbriefte Garantie körperlicher und psychischer Unversehrtheit ist zum einen als Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates zu verstehen. Die Verfassungsnorm verpflichtet den Staat aber auch, konkrete Massnahmen 33

34

Vgl. Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 41 ff. Der Nicht-diskriminierungsgrundsatz findet sich auch in anderen internationalen Übereinkommen, namentlich in der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (SR 0.120, Art. 1 Abs. 3) und in den beiden UNO-Menschenrechtspakten von 1966, nämlich dem Internationalen Pakt vom 16. Dez. 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) (SR 0.103.1, Art. 2 Abs. 2 und Art. 3) und dem Internationalen Pakt vom 16. Dez. 1966 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) (SR 0.103.2, Art. 2 Abs. 1), sodann in weiteren universell gültigen Konventionen, die sich ganz spezifisch bestimmter Diskriminierungsprobleme annehmen.

Vgl. auch die parlamentarische Initiative «Kampf gegen die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung», 13.407, die verlangt, dass Art. 261bis StGB um die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung erweitert wird, und der Folge gegeben wurde.

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zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger zu ergreifen. Diese Schutzpflicht obliegt nicht nur den rechtsanwendenden Behörden, sondern auch dem Gesetzgeber. Dieser hat ­ vornehmlich auf dem Gebiet des Straf- und Strafprozessrechts sowie des Zivilrechts ­ die erforderlichen Gesetze erlassen, damit die Einzelnen vor Eingriffen in ihre Integrität geschützt sind und dieser grundrechtliche Schutz auch unter Privaten zum Tragen kommt.

Das schweizerische Strafrecht schützt alle Personen unabhängig von ihrem Geschlecht vor Eingriffen in die körperliche Integrität. Nebst den allgemeinen Straftatbeständen zum Schutz von Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB) ist insbesondere auch auf die Strafbestimmungen im Bereich der strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität (Art. 187 ff. StGB) hinzuweisen. Das StGB stellt im Weiteren Eingriffe in die psychische Integrität, welche eine Person in ihrer Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen und unter Druck setzen, unter Strafe (wie z.B. Drohung, Art. 180 StGB, Nötigung, Art. 181 StGB). Zu strafprozessualen Rechten und Schutzmassnahmen zugunsten der Opfer vgl. die Ausführungen unter Ziff. 2.6.8.

Das schweizerische Zivilrecht seinerseits enthält im Zivilgesetzbuch35 (ZGB) ein aus den Grundsätzen des Persönlichkeitsschutzes entwickeltes Instrumentarium, das zum Schutz gegen Gewalt, Drohungen und Nachstellungen (Stalking) eingesetzt werden kann (Art. 28b ZGB). Die von derartigen Persönlichkeitsverletzungen betroffenen Personen können namentlich gerichtliche Unterlassungsverfügungen gegen die Täterschaft erwirken, so beispielsweise Annäherungsverbote, Ortsverbote, welche Strassen, Plätze oder ganze Quartiere umfassen können, sowie Kontaktverbote, welche die Kontaktaufnahme mit dem Opfer auf telefonischem, schriftlichem oder elektronischem Weg untersagen. Das Gericht kann der verletzenden Person aber auch andere Verhaltensanweisungen auferlegen, die dem Schutz der gewaltbetroffenen Person dienen. Das Gericht kann die gewalttätige Person zudem gestützt auf Artikel 28b Absatz 2 ZGB aus der gemeinsamen Wohnung ausweisen. Zur Gewährung von Entschädigung und Genugtuung vgl. die Ausführungen unter Ziff. 2.5.2.

Schliesslich ist auch das Opferhilfegesetz zu erwähnen, das den Opfern von Straftaten fachliche Beratung und Unterstützung gewährleistet und zudem vorsieht, dass den Opfern
unter gewissen Voraussetzungen finanzielle Leistungen wie Soforthilfe, längerfristige Hilfe, Entschädigung und Genugtuung entrichtet werden (vgl. die Ausführungen unter Ziff. 2.5.2).

Die Schweiz erfüllt damit die Voraussetzungen von Artikel 5 der Konvention.

2.1.6

Art. 6 Geschlechtersensible politische Massnahmen

Artikel 6 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Geschlechterperspektive in die Durchführung und Auswertung der Auswirkungen des Übereinkommens einzubeziehen und politische Massnahmen der Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Stärkung der Rechte der Frauen zu fördern und wirksam umzusetzen (vgl. auch Art. 1 Bst. b und Art. 4 Abs. 2 der Konvention).

35

200

SR 210

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In der Schweiz ist der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann in Artikel 8 Absatz 3 BV verankert. Das gestützt auf den Verfassungsauftrag dieser Bestimmung verabschiedete GlG definiert den Auftrag und die Aufgaben des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) 36, eines Amtes im Eidgenössischen Departement des Innern (EDI).37 Auf kantonaler und kommunaler Ebene begründen ähnliche Gesetzesbestimmungen die Tätigkeit der Gleichstellungsbüros der Kantone und Gemeinden.

Das Parlamentsgesetze vom 13. Dezember 200238 (ParlG) sieht vor, dass der Bundesrat der Bundesversammlung seine Erlassentwürfe zusammen mit einer Botschaft, in der er insbesondere erläutert, welche Auswirkungen der Erlass auf die Gleichstellung von Frau und Mann hat, unterbreitet.39 Auf Grundlage dieses Gesetzes und in Einklang mit Artikel 6 der Konvention hat die Bundesverwaltung kürzlich Instrumente erarbeitet, die helfen sollen, die Geschlechterperspektive besser in den gesamten Gesetzgebungsprozess zu integrieren.40 Gemäss der Legislaturplanung 2015­2019 fördert die Schweiz unter anderem den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Zudem beugt sie Gewalt, Kriminalität und Terrorismus vor und bekämpft diese wirksam. Dazu soll unter anderem namentlich die Botschaft zur Genehmigung der Istanbul-Konvention verabschiedet werden (vgl. Ziff. 4).

Die Massnahmen im Rahmen dieser Leitlinie werden in Zusammenhang mit den Kapiteln II und III der Konvention erläutert (vgl. insbesondere die Erläuterungen zu Art. 7).

Die Schweiz wird damit den Vorgaben von Artikel 6 der Konvention gerecht.

2.2

Kapitel II: Ineinandergreifende politische Massnahmen und Datensammlung

2.2.1

Art. 7 Umfassende und koordinierte politische Massnahmen

Absatz 1 verlangt von den Staaten, zur Verhütung und Bekämpfung aller in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt landesweit wirksame, umfassende und koordinierte politische Massnahmen zu beschliessen und umzusetzen. In Absatz 2 wird gefordert, dass die Rechte der Opfer in den Mittelpunkt aller Massnahmen gestellt werden und dass die politischen Massnahmen mittels einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen allen einschlägigen Behörden, Einrichtungen und Organisationen umgesetzt werden. Nach Absatz 3 sollen dabei alle einschlägigen Institutionen und Organisationen einbezogen werden.

36 37 38 39 40

Art. 16 GlG.

Vgl. Organisationsverordnung vom 28. Juni 2000 für das Eidgenössische Departement des Innern (OV-EDI; SR 172.212.1), Art. 5.

SR 171.10 Art. 141 Abs. 2 Bst. i ParlG Siehe dazu die Antwort des Bundesrates auf die Anfrage Leutenegger Oberholzer, 13.1011, «Prüfung der Gleichstellungsrelevanz in Botschaften des Bundesrates».

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Zur Umsetzung der Aktionsplattform, die aus der UNO-Weltfrauenkonferenz von Peking (1995) hervorgegangen ist, hat der Bundesrat 1999 einen nationalen Aktionsplan zur Gleichstellung von Mann und Frau verabschiedet, der neunzehn Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen umfasst. Der Bund hat im Oktober 2014 eine Bilanz zu den Fortschritten bei der Umsetzung des Aktionsplans veröffentlicht41, die für viele staatliche und nichtstaatliche Akteure auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene und in Zusammenarbeit mit diesen verfasst wurde.

In einem Bericht des Bundesrats vom 13. Mai 200942 sind zwanzig Massnahmen zur Bekämpfung der Gewalt in Paarbeziehungen auf Stufe Bund enthalten. Eine ständige interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Leitung des EBG, in der weitere Bundesstellen vertreten sind (namentlich aus den Bereichen Justiz, Polizei, Migration, Gesundheit, Sozialversicherungen, Statistik Aussenpolitik), trifft sich jedes Jahr, um die Umsetzung der zwanzig Massnahmen und weitere hängige Geschäfte zu koordinieren.43 Die Kantone Genf44, Neuenburg45, Nidwalden46, Obwalden47, Wallis48 und Zürich49 haben besondere Gesetze verabschiedet, deren Ziel darin besteht, die Massnahmen zum Schutz vor häuslicher Gewalt auszubauen, zu institutionalisieren und zu koordinieren. In den Kantonen, die kein spezifisches Gewaltschutzgesetz kennen, sind entsprechende Regelungen in Polizeigesetzen, Sozialhilfegesetzen u. a. festgehalten.50 Oft wurden Institutionen und Verfahren (z. B. runde Tische) zur Koordination der Intervention der Behörden in den Bereichen Sicherheit, Strafverfolgung, Sozialund Opferhilfe, Migration und Menschenhandel geschaffen. Zu den Dienststellen, welche die Koordination auf Stufe Bund und Kantone sicherstellen, siehe die Erläuterungen zu Artikel 10.

41

42 43

44 45 46 47 48 49 50

202

Gleichstellung von Mann und Frau, Aktionsplan der Schweiz, Bilanz 1999­2014, www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu International/Umsetzung in der Schweiz Bericht vom 13. Mai 2009 über Gewalt in Paarbeziehungen, Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen, BBl 2009 4087.

Siehe den Zwischenbericht des Bundesrates vom 22. Februar 2012 zum Stand der Umsetzung der in seinem Bericht vom 13. Mai 2009 angekündigten Massnahmen, zuhanden der Rechtskommission des Nationalrates (RK-NR); BBl 2012 2419.

Loi sur les violences domestiques (LVD) du 16 septembre 2005, RS/GE F 1 30.

Loi sur la lutte contre la violence dans les relations de couple (LVCouple) du 30 mars 2004, RS/NE 322 05.

Gesetz zum Schutz der Persönlichkeit (Persönlichkeitsschutzgesetz, PschG) vom 25. Juni 2008, RS/NI 211.2.

Gesetz über den Schutz bei häuslicher Gewalt vom 21. Mai 2010, RS/OB 510.6.

Gesetz über häusliche Gewalt (GhG) vom 18. Dezember 2015.

Gewaltschutzgesetz (GSG) vom 19. Juni 2006, RS/ZH LS 351.

Ein Überblick zu kantonalen Gesetzen findet sich www.ebg.admin.ch > Themen > Häusliche Gewalt > Gesetzgebung.

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Der Fachbereich Häusliche Gewalt des EBG arbeitet im Bereich der Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt kontinuierlich mit kantonalen Konferenzen zusammen.51 Weiter unterstützt das EBG die Arbeit und die jährlichen nationalen Koordinationstreffen der Schweizerischen Konferenz gegen häusliche Gewalt (SKHG).

Eine kontinuierliche Zusammenarbeit besteht auch mit Dach- und Fachverbänden.52 Eine vom EBG jährlich durchgeführte nationale Fachtagung dient der Information, dem Austausch und der Diskussion aktueller Themen im Bereich der Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt zwischen Bund und Kantonen, Dachund Fachorganisationen sowie verschiedenen Berufsgruppen.

Der Bundesrat hat am 14. September 2012 für den Zeitraum von 2013 bis 2017 ein vom Staatssekretariat für Migration (SEM) in Zusammenarbeit mit dem EBG geleitetes Bundesprogramm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten 53 lanciert. Das Programm sieht nebst der Information und Sensibilisierung vor, dass in allen Regionen der Schweiz funktionierende Netzwerke gegen Zwangsheirat entstehen, in denen Lehrpersonen, weitere Berufsfachpersonen und Beratungsstellen in den Bereichen häusliche Gewalt und Integration zusammenarbeiten und sich regelmässig austauschen können.

Der Bund engagiert sich im Rahmen des Nationalen Programms Migration und Gesundheit54 seit 2003 mit Sensibilisierungs- und Präventionsmassnahmen gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien (FGM). Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das SEM finanzieren seit 2006 eine Vermittlungsstelle zur Prävention von Mädchenbeschneidung, die von Caritas Schweiz geführt wird. Zudem unterstützt der Bund Massnahmen in den Bereichen Information, Vernetzung und Wissenstransfer. Anfang 2012 wurde auf Initiative des BAG und des SEM eine «Nationale Arbeitsgruppe FGM» gegründet, mit dem Ziel, bestehende Massnahmen verschiedener Organisationen (Ebene Bund und nichtstaatliche Organisationen) zu bündeln und untereinander abzustimmen sowie Wissen zum Thema zu generieren.

Durch die Immigration aus Ländern mit hoher FGM-Prävalenz ist die Schweiz vermehrt mit FGM konfrontiert. Im Rahmen der Erstellung eines Berichts über die Massnahmen, die u.a. in Erfüllung der Motion Bernasconi55 in den letzten Jahren umgesetzt wurden, werden zurzeit die Ausrichtung der weiterführenden Massnahmen wie auch die Zuständigkeiten für die Umsetzung erarbeitet.

Die Schweiz wird den Vorgaben von Artikel 7 gerecht.

51

52

53 54 55

Namentlich mit der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und direktoren (KKJPD), der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und der ihr angegliederten Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK-OG) sowie der Konferenz der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KOKES) und der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten (SKG).

So mit der Dachorganisation der Frauenhäuser der Schweiz (DAO) und dem Fachverband Gewaltberatung Schweiz (FVGS), in dem die Beratungsstellen für gewaltausübende Männer und Frauen organisiert sind.

www.gegen-zwangsheirat.ch.

www.bag.admin.ch > Themen > Strategien & Politik > Gesundheitspolitik.

05.3235, «Sexuelle Verstümmelungen an Frauen. Sensibilisierungs- und Präventionsmassnahmen».

203

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2.2.2

Art. 8 Finanzielle Mittel

Gemäss Artikel 8 stellen die Vertragsparteien angemessene finanzielle und personelle Mittel für Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung aller in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt bereit. Zu berücksichtigen sind neben Behörden auch nichtstaatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen.

Gemäss dem erläuternden Bericht zur Konvention beschränkt sich die Tragweite dieser Verpflichtung auf die Zuweisung angemessener Mittel, d.h. der Zielsetzung oder der umgesetzten Massnahme angepasste Mittel.56 Es versteht sich von selbst, dass die Konvention keine numerischen Vorgaben über die Angemessenheit der Mittel festlegen kann. Die Bestimmung ist vielmehr als programmatische Aufforderung an die Staaten zu verstehen, im genannten Bereich Anstrengungen zu unternehmen. In besonderem Masse muss der programmatische Charakter von Artikel 8 der Konvention für ein Land mit föderalen Strukturen wie die Schweiz gelten, wo viele der genannten Massnahmen im Kompetenzbereich der Kantone angesiedelt sind, womit diese auch für die Bereitstellung von entsprechenden Ressourcen zuständig sind.

In der Schweiz fallen namentlich die Strafverfolgung, die Opferhilfe, die Arbeit mit Tatpersonen häuslicher Gewalt und die Bereitstellung von Schutzunterkünften für Gewaltopfer in den Kompetenzbereich der Kantone. Die Zuweisung angemessener Mittel für die Erfüllung dieser Aufgaben obliegt daher ihnen. Eine finanzielle Unterstützung durch den Bund kann punktuell geprüft werden. Namentlich betrifft dies die Einrichtung von Schutzunterkünften für Opfer im Sinne der Konvention (vgl.

dazu die Ausführungen zu Art. 23) und die Einrichtung einer schweizweiten Telefonberatung (vgl. dazu die Ausführungen zu Art. 24). Im Bereich der Opferhilfe beteiligt sich der Bund bereits finanziell an der Ausbildung von Fachleuten. Zudem kann er privaten, nicht gewinnorientierten Organisationen Finanzhilfen gewähren für Massnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor allen Formen körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, sexuellen Missbrauchs und sexueller Belästigung (vgl. dazu die Ausführungen zu Art. 13).

Auf Bundesebene nehmen verschiedene Departemente und Ämter Aufgaben im Bereich der Prävention und Bekämpfung der unter Artikel 3 genannten Gewaltformen wahr, namentlich das EDI57, das EJPD58 und das EDA59. Diese
Stellen koordinieren ihre Arbeit im Rahmen der interdepartementalen Arbeitsgruppe Häusliche Gewalt (IAHG) unter Federführung des Fachbereichs Häusliche Gewalt (FHG) des EBG (vgl. die Ausführungen zu Art. 10).

Es könnte geprüft werden, ob zusätzlich kriminalpräventive Massnahmen (Art. 7, 13­15 der Konvention) zur Verhütung, zum Schutz und zur Bekämpfung der durch dieses Übereinkommen erfassten Gewaltformen zu ergreifen sind und ob solche 56 57

58 59

204

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 66­67.

Bundesamt für Gesundheit (BAG), Bundesamt für Statistik (BFS), Bundesamt für Sozialversicherung (BSV), Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG).

Bundesamt für Justiz (BJ), Staatssekretariat für Migration (SEM), Bundesamt für Polizei (fedpol).

Abteilung Menschliche Sicherheit (AMS).

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Massnahmen von Dritten mit Finanzhilfen zu unterstützen sind. Gestützt auf Artikel 386 StGB kann der Bund Aufklärungs-, Erziehungs- und weitere Massnahmen ergreifen, die darauf hinzielen, Straftaten zu verhindern und allgemein der Kriminalität vorzubeugen. In einer Ausführungsverordnung könnten neben den Präventionsmassnahmen im Bereich der Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auch die Aufgaben der Koordinationsstelle (Art. 10 der Konvention) festgelegt werden.

Die Finanzhilfen des Bundes zur Unterstützung von nichtstaatlichen Organisationen oder deren regelmässigen Aktivitäten würden erst im Rahmen einer allfälligen Ausarbeitung der neuen Bestimmungen festgelegt.

Die Grundanforderung, Mittel zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt bereitzustellen, wird durch die Schweiz erfüllt. Dies gilt auch für die Berücksichtigung nichtstaatlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen.

2.2.3

Art. 9 Nichtstaatliche Organisationen und Zivilgesellschaft

Die Vertragsparteien anerkennen, fördern und unterstützen auf allen Ebenen die Arbeit einschlägiger nichtstaatlicher Organisationen und der Zivilgesellschaft, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen, und begründen eine wirkungsvolle Zusammenarbeit mit diesen Organisationen.

Die im Zusammenhang mit den Artikeln 7 und 10 angeführten politischen Massnahmen und Organe des Staates fördern die Zusammenarbeit und die Vernetzung von Bund, Kantonen und nichtstaatlichen Organisationen. Die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) werden auf nationaler und kantonaler Ebene in Gremien wie z. B. runden Tischen sowie Begleitgruppen zur Erarbeitung von Berichten und Studien oder zur Vorbereitung von Tagungen und zur Umsetzung von Projekten mit einbezogen.

Namentlich das Bundesprogramm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten 60 verfolgt das Ziel, die Kooperation aller beteiligten Partner und Institutionen zu ermöglichen.

Im Bereich der häuslichen Gewalt vernetzen die kantonalen Interventions- und Koordinationsstellen staatliche und private Institutionen, die in den verschiedenen Kantonen in der Bekämpfung häuslicher Gewalt tätig sind. Deren gesetzliche und institutionelle Verankerung, deren Prioritäten sowie personellen und finanziellen Ressourcen unterscheiden sich jedoch stark.

Die Schweiz wird dieser Bestimmung gerecht.

60

www.gegen-zwangsheirat.ch

205

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2.2.4

Art. 10 Koordinationsstelle

Die Vertragsparteien müssen eine oder mehrere Stellen auf Regierungsebene benennen oder errichten, die für die Koordinierung, Umsetzung, Beobachtung und Bewertung der politischen und sonstigen Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung aller von der Konvention erfassten Formen von Gewalt zuständig sind; diese Stelle oder diese Stellen koordinieren die in Artikel 11 genannte Datensammlung und analysieren und verbreiten ihre Ergebnisse (Abs. 1). Sie können auf nationaler oder regionaler Ebene errichtet werden. Die Vertragsparteien entscheiden über deren Grösse und Finanzierung und legen fest, welche Berichtspflichten bestehen und wem sie obliegen. Sie können neue Stellen gründen oder bereits bestehende mit der Erfüllung dieser Aufgaben betrauen.61 Diese Stellen sollen allgemeine Informationen über Massnahmen nach Kapitel VIII erhalten (Abs. 2) und mit den entsprechenden Stellen in anderen Vertragsstaaten direkt kommunizieren und Kontakte pflegen können (Abs. 3).

Koordination auf Bundesebene Der FHG des EBG wurde vom Bundesrat im Jahr 2003 geschaffen mit dem Auftrag, namentlich die Zusammenarbeit und Vernetzung innerhalb der Bundesverwaltung sowie zwischen Bund, Kantonen und NGOs zu fördern. Das EBG leitet die Interdepartementale Arbeitsgruppe Häusliche Gewalt (IAHG), welche die koordinierte Umsetzung und Begleitung der Massnahmen des Bundesrates im Bericht vom 13. Mai 200962 und anderer laufender Geschäfte sicherstellt. Wie im Zusammenhang mit Artikel 7 erläutert, sind in dieser Gruppe insbesondere folgende Bundesämter vertreten: das BAG, das die Massnahmen im Bereich der Prävention von weiblicher Genitalverstümmelung koordiniert63, das SEM, das in enger Zusammenarbeit mit dem EBG das Bundesprogramm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten für den Zeitraum 2013­2017 leitet64, das BJ, das verschiedene Projekte zum Opferschutz federführend betreut, sowie das BSV, das Koordinations- und Informationsaufgaben im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes wahrnimmt65 und namentlich die Nationalen Jugendschutzprogramme 2011­2015 koordinierte und umsetzte66.

Koordination auf internationaler Ebene Was die internationale Zusammenarbeit und die Koordination auf internationaler Ebene betrifft, erfasst die Tätigkeit des EBG alle Formen der Gewalt gegen Frauen.

Das EBG vertritt die Schweiz seit mehreren Jahren in der Kommission für die 61 62

63

64 65 66

206

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 70­71.

Bericht vom 13. Mai 2009 über Gewalt in Paarbeziehungen, Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen (in Erfüllung des Postulats Stump 05.3694 vom 7. Oktober 2005); BBl 2009 4087.

www.bag.admin.ch > Themen > Strategien & Politik > Nationale Gesundheitsstrategien > Nationales Programm Migration und Gesundheit > Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung > Massnahmen gegen weibliche Genitalverstümmelung.

www.sem.admin.ch > themen > integration > themen > zwangsheirat > Programm gegen Zwangsheirat > Zusammenarbeit verstärken. www.mariages-forces.ch www.bsv.admin.ch > sozialpolitische Themen > Kinder- und Jugendpolitik > Kinderschutz.

www.bsv.admin.ch > sozialpolitische Themen > Kinder- und Jugendpolitik > Jugendschutz.

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Gleichstellung von Frauen und Männern (Commission pour l'égalité entre femmes et hommes, GEC) des Europarates, der Nachfolgerin des Lenkungsausschusses für die Gleichstellung von Frauen und Männern (Comité directeur pour l'égalité entre femmes et hommes, CDEG). Dabei war es an der Erarbeitung der Empfehlung Rec (2002)5 zum Schutz von Frauen vor Gewalt beteiligt und hat die Antworten der Schweiz für die vier Monitoring-Runden zur Umsetzung der Empfehlung geliefert.

Unter der Leitung des BJ war das EBG mit dem EDA ausserdem Teil der Schweizer Delegation, die an der Ausarbeitung der Istanbul-Konvention beteiligt war. In der Organisation der Vereinten Nationen leitet das EBG die Erstellung der Berichte der Regierungen zur Umsetzung des CEDAW und der Aktionsplattform von Peking, die insbesondere die Gewalt gegen Frauen und Mädchen betreffen. Das BSV nimmt an den Arbeiten im Zusammenhang mit der Umsetzung der Strategie des Europarats für die Rechte des Kindes 2016-2021 teil; eines der fünf Hauptziele betrifft insbesondere Gewalt und Missbrauch von Kindern. Das BSV ist auch mit der Berichterstattung der Schweiz über die Umsetzung der Übereinkommens vom vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes67 (KRK) betraut. Das Bundesamt für Justiz ist im Staatenkomitee des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Lanzarote-Konvention), das die Umsetzung der Konvention in den Mitgliedstaaten überprüft, vertreten.

Koordination auf kantonaler Ebene Auf kantonaler Ebene finden sich verschiedene koordinierende Gremien: Die der Schweizerischen Konferenz der Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) angeschlossene Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz für das Opferhilfegesetz (SVK-OHG) koordiniert den Vollzug des Opferhilfegesetzes. Die Kantonale Konferenz der Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) führt die Schweizerische Kriminalprävention (SPK), die interkantonale Präventionsarbeit leistet. Die Schweizerische Konferenz gegen häusliche Gewalt (SKHG) vereint und koordiniert die kantonalen Interventions- und Kontaktstellen im Bereich der Prävention und Bekämpfung häuslicher Gewalt. In der Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz (DAO) sind die Frauenhäuser zusammengeschlossen. Der Fachverband Gewaltberatung Schweiz (FVGS)
vereint die Beratungsstellen für Gewalt ausübende Männer und Frauen. Die kantonalen und städtischen Gleichstellungsfachstellen sind in der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten (SKG) zusammengeschlossen.

Die Konvention verlangt zwar eine materielle Koordination, definiert diese aber nicht qualitativ und lässt den Vertragsstaaten diesbezüglich einen erheblichen Spielraum. Das EBG nimmt bereits heute eine weitgehende Koordinationsfunktion wahr.

Dennoch ist davon auszugehen, dass mit der Umsetzung und der Überwachung der Konvention zusätzliche Aufgaben und damit Mehrbelastungen des EBG anfallen, die mit zusätzlichen personellen Ressourcen aufgefangen werden müssen (vgl.

Ziff. 3).

Insgesamt wird die Schweiz den Anforderungen der Konvention gerecht.

67

SR 0.107, für die Schweiz in Kraft getreten am 26. März 1997.

207

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2.2.5

Art. 11 Datensammlung und Forschung

Die Vertragsparteien verpflichten sich gemäss Artikel 11, in regelmässigen Abständen statistische Daten von allen in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zu sammeln (Abs. 1a), sowie entsprechende Forschung zu fördern (Abs. 1b). Ferner müssen sich die Vertragsparteien bemühen, regelmässig bevölkerungsbezogene Studien durchzuführen, welche die Bewertung der Verbreitung und Entwicklung der oben genannten Formen von Gewalt erlauben (Abs. 2). Die gesammelten Daten müssen den in Artikel 66 genannten Expertengruppen zur Verfügung gestellt werden, um die internationale Zusammenarbeit und einen internationalen Vergleich zu ermöglichen (Abs. 3). Jede Vertragspartei stellt zudem sicher, dass die gesammelten Daten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden (Abs. 4).

Statistische Daten Die Schweiz verfügt über detaillierte statistische Daten zu Gewalt und zu häuslicher Gewalt. Diese Daten umfassen Gewalttätigkeiten, die laut Gesetz eine Straftat darstellen und von der Polizei registriert wurden (sog. Hellfeld). Das Merkmal «geschlechtsspezifisch» wird hingegen nicht statistisch erfasst und kann bei physischer, psychischer und sexueller Gewalt im häuslichen Bereich nur vermutet werden. Aussagen über geschlechtsspezifische wirtschaftliche Gewalt an Frauen sind nicht möglich.

Die wichtigste Datenquelle zu (häuslicher) Gewalt ist die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Um häusliche Gewalt zu beziffern, wird für einen abschliessenden Straftatenkatalog, der physische, psychische und sexuelle Gewaltstraftaten enthält, die Beziehung zwischen Opfer und Täter von den Polizeibeamten erfasst. Handelt es sich bei der beschuldigten Person um eine(n) aktuelle(n) oder ehemalige(n) Partner(in) oder um ein anderes Familienmitglied der geschädigten Person, so werden diese polizeilich registrierten Straftaten sowie die beschuldigte und die geschädigte Person dem häuslichen Bereich zugeordnet. Diese Zuordnung geschieht unabhängig vom Geschlecht und Alter der betroffenen Personen. Das BFS macht diese seit 2009 existierenden Daten der PKS jährlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Die veröffentlichten Daten enthalten Informationen über Geschlecht und Alter der beschuldigten und geschädigten Personen. Für die Themenbereiche Gewaltstraftaten allgemein, häusliche Gewalt und Straftaten gegen
die sexuelle Integrität werden die Daten im Jahresbericht und auf den Internetseiten des BFS68 detailliert ausgewiesen.

Die mit den PKS-Daten erstellten Jahres- und Kantonsvergleiche erlauben Aussagen über Verbreitung und Entwicklung der (häuslichen) Gewalt im Hellfeld.

Im Rahmen der Opferhilfestatistik werden die Beratungen, die auf einem Fall häuslicher Gewalt beruhen, gesondert ausgewiesen. Die Daten werden vom BFS publiziert. Alle Daten zum Thema Gewalt stehen in anonymisierter Form beim BFS zu Forschungszwecken zur Verfügung.

68

208

www.bfs.admin.ch

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Kantonale Statistiken erfassen insbesondere polizeiliche Schutzmassnahmen in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt.69 Neben der Erhebung von Daten zum Hellfeld werden auch solche zur nicht polizeilich registrierten Kriminalität (sog. Dunkelfeld) erhoben. Die erste für die Schweiz repräsentative Befragung zu häuslicher Gewalt wurde 1994 erstellt.70 2004 nahm die Schweiz unter Leitung der Universität Lausanne am «International Violence against Women Survey» teil.71 Zur sexuellen Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen liefert die Optimusstudie72 repräsentative Daten. Des Weiteren wurden Befragungen von Patientinnen und Patienten im Rahmen von Projekten an verschiedenen Spitälern der Schweiz durchgeführt, darunter zum Beispiel die repräsentative Befragung von Patientinnen an der Maternité Inselhof Triemli, Zürich, zu ihren Gewalterfahrungen (2003).73 Forschung Im Bereich der Forschung gibt es eine Vielzahl von Berichten und Studien zum Thema Gewalt gegen Frauen (und andere) und häusliche Gewalt. Mit deren Erstellung und Veröffentlichung wird ein Beitrag zur Information der Bevölkerung im Sinne von Artikel 11 Absatz 4 sowie zu deren Sensibilisierung gemäss Artikel 13 Absatz 2 geleistet.

Zu nennen sind beispielhaft: ­

69 70 71

72 73

74 75

76

Der Fachbereich Häusliche Gewalt des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung von Frau und Mann (FHG/EBG) finanziert und veröffentlicht regelmässig Studien, Berichte und Evaluationen, die als Grundlage für die Erarbeitung wirksamer Massnahmen und Instrumente dienen.74 Publiziert wurde auch eine Reihe von Gutachten zu unterschiedlichen Aspekten häuslicher Gewalt.75 Eine Serie von Informationsblättern beleuchtet in kurzer Form verschiedene Teilbereiche häuslicher Gewalt und nennt neuste Forschungsliteratur.76

Vgl. Informationsblatt Zahlen zu Häuslicher Gewalt in der Schweiz, www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Informationsblätter Häusliche Gewalt.

Gillioz Lucienne et al. 1997, Domination et violence envers la femme dans le couple, Lausanne.

Killias Martin, Simonin Mathieu et al 2004: Violence experienced by woman in Switzerland over their lifespan. Results of the International Violence against Women Survvey, Lausanne.

Averdijk, Müller-Johnson & Eisner 2012.

Vgl. Informationsblatt Zahlen zu Häuslicher Gewalt in der Schweiz, www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Informationsblätter Häusliche Gewalt.

www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt.

Gutachten zu rechtlichen Vorbedingungen für die Einführung eines Bedrohungsmanagements in der Schweiz; Gutachten zur Beurteilung des Schweregrades häuslicher Gewalt; Gutachten zur Anordnung von Pflichtberatung und Lernprogrammen im Rahmen strafrechtlicher Sanktionen; Gutachten zur zivilrechtlichen Ausgestaltung der elterlichen Kontakte zu Kindern in Fällen von Trennung nach häuslicher Gewalt.

www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt.

209

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­

Der Fachbereich Häusliche Gewalt des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung von Frau und Mann (FHG/EBG) veröffentlichte 2011 einen Bericht zum Forschungsbedarf zum Thema Gewalt in Paarbeziehungen.77 In diesem Bericht werden fünf Themenbereiche benannt, in welchen weiterer Bedarf an wissenschaftlichen Studien besteht.78

­

Zu den Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen wurde im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) 2013 eine Studie publiziert, welche diese auf einen Betrag in der Bandbreite von 164 bis 287 Millionen Franken pro Jahr beziffert79.

­

Das Bundesamt für Statistik (BFS) publizierte im Jahr 2012 eine erste vertiefte Auswertung der Daten der PKS für 2009­2012 für den Bereich häusliche Gewalt. Im Rahmen dieser Publikation wurden diese Daten zu den Bevölkerungsgruppen in Bezug gesetzt, um die Belastungsraten nach Geschlecht und Alter auszuweisen.80

­

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erarbeitete 2012 einen Bericht über den Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gewalt in der Familie, in dem die Mitbetroffenheit von Kindern bei häuslicher Gewalt mitberücksichtigt wurde.81

­

Das BSV veröffentlichte 2014 einen Bericht mit einer Übersicht zum internationalen Wissensstand zur wirksamen Gewaltprävention. In diesem Bericht werden u.a. die Erkenntnisse zu Programmen gegen Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen dargestellt.82

­

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) publizierte 2013 eine Studie zur Dualproblematik Gewalt in der Partnerschaft und Alkohol83 sowie weitere Arbeiten, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Alkohol/Drogen und Gewalt befassen.

­

Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) hat im Themenbereich «Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt» folgende Projekte gefördert: 84 ­ NFP 40 «Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität»

77 78

79 80 81 82 83

84

210

www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt.

Vorkommen, Muster, Dynamik und Auswirkungen von Gewalt in Paarbeziehungen; Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von gewaltbelasteten und gewaltfreien Beziehungen; Staatliche und zivilgesellschaftliche Präventions- und Interventionsmassnahmen; Paargewalt im Familiensystem: Paare und mitbetroffene Kinder; Paargewalt in Fachwelt und Öffentlichkeit.

www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt.

www.bfs.admin.ch > Statistiken finden > Kriminalität und Strafrecht.

www.bsv.admin.ch > Sozialpolitische Themen > Kinder- und Jugendpolitik > Kinderschutz.

www.jugendundgewalt.ch Daniela Gloor, Hanna Meier: Gewalt in der Partnerschaft und Alkohol ­ Häufigkeit einer Dualproblematik, Muster und Beratungssettings, Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit, Social Insight, Schinznach-Dorf, 2013.

www.snf.ch > Fokus Forschung > Themendossiers.

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­ ­

NFP 52 «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» NFP 60 «Gleichstellung der Geschlechter»85.

­

Im Rahmen der schweizerischen Opferbefragung 2011 wurde in Absprache mit der Kantonalen Konferenz der Polizeikommandanten (KKPKS) und unter Federführung des BJ eine Zusatzstudie zum Thema häusliche Gewalt durchgeführt, bei welcher das Ausmass der häuslichen Gewalt, das Anzeigeverhalten, die Intervention der Polizei und der Kontakt mit den Opferhilfestellen untersucht wurde. Diese Ergebnisse wurden in den Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr86 aufgenommen, der 2013 publiziert wurde87.

­

Im Auftrag des Bundesrates hat das SEM zu den Ursachen und Formen sowie zum Ausmass der Zwangsheiraten in der Schweiz 88 eine vertiefte Studie durchführen lassen, die als Grundlage für das Bundesprogramm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten (2013­2017) dient.

­

Im Bereich der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz haben in den Jahren 2006 und 2007 das EBG und das SECO 2020 erwerbstätige Personen telefonisch zur Häufigkeit sexueller Belästigungen am Arbeitsplatz in der Deutsch- und Westschweiz befragen lassen.89 Auf Grundlage einer ähnlichen Studie im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 60 «Gleichstellung der Geschlechter» konnte das Ausmass der sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz im Tessin aufgezeigt werden.90

­

Des Weiteren wurden in der Schweiz in den letzten 10 Jahren von Forschenden an Universitäten und Fachhochschulen sowie von Expertinnen und Experten zum Thema Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt verschiedene Studien und Fachartikel verfasst, die sich unter anderem auf folgende Aspekte konzentrieren: Ursachen, Evaluation von Massnahmen, Untersuchung der Einstellung des Verfahrens nach Artikel 55a StGB, Beratungsbedarf, Risikoabschätzung, Schweregrad, Tatmittel, Stalking, Kinder als Mitbetroffene häuslicher Gewalt, Gewalt gegen Kinder, Gewalt in jugendlichen Beziehungen, Migration und Anzeigeverhalten.

Die Schweiz erfüllt damit die Anforderungen von Artikel 11 der Konvention.

85

86 87 88 89 90

Vgl. Daniela Gloor, Hanna Meier: Betroffenensicht zu Recht und Interventionen bei Partnergewalt ­ auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter. Schinznach-Dorf, 2014.

09.3878 «Mehr Anzeigen mehr Abschreckung».

www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen.

Anna Neubauer, Janine Dahinden, «Zwangsheiraten» in der Schweiz: Ursachen, Formen, Ausmass, Bern 2012.

Silvia Strub, Marianne Schär Moser, «Risiko und Verbreitung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz», Bern, 2008.

Franziska Krings, Marianne Schär Moser, Audrey Moudon, «Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ­ wer belästigt wen, wie und warum? Besseres Verständnis heisst wirksamere Prävention», Oktober 2013.

211

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2.3

Kapitel III: Prävention

2.3.1

Art. 12 Allgemeine Verpflichtungen

In Artikel 12 sind die Grundsätze zur Erfüllung der konkreten Verpflichtungen festgehalten, die in den weiteren Artikeln des Kapitels III beschrieben werden.

Absatz 1 verlangt von den Vertragsparteien, die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um Vorgehensweisen, die auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen. Es liegt im Ermessen der Vertragsstaaten, welche Massnahmen getroffen werden. 91 Für Beispiele in der Schweiz siehe die Erläuterungen zu Artikel 14 im Bereich Bildung und zu Artikel 17 auf dem Gebiet der Medien.

Absatz 2 verpflichtet die Vertragsstaaten, Präventionsmassnahmen für alle in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zu ergreifen (siehe dazu die Ausführungen zu den Artikeln 13 ff.).

Nach Absatz 3 müssen die Vertragsstaaten dafür sorgen, dass die Präventionsmassnahmen die speziellen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen berücksichtigen.

Siehe dazu insbesondere die Erläuterungen zu den Artikeln 13 und 15.

In Absatz 4 wird unterstrichen, dass die Männer und die Knaben zur aktiven Beteiligung an der Verhütung der Gewalt ermutigt werden sollen. Die Gleichstellungsbüros versuchen allgemein, die Männer in ihre Arbeit zur Förderung der Gleichstellung von Frau und Mann einzubeziehen. Ein Beispiel dafür ist der «Geschlechterdialog», zu dem sich das EBG, der Dachverband männer.ch 92 und alliance F, der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen93, regelmässig treffen. Die Präsidenten der Dachverbände der Männerorganisationen nehmen ausserdem jedes Jahr an einem Arbeitstreffen mit den Präsidentinnen der Dachverbände der Frauenorganisationen unter der Leitung des EBG teil. Die EBG-Initiative «Make it work. Männerprojekte für mehr Gleichstellung im Erwerbsleben» vermittelt, wie Projekte, deren Zielgruppe Männer sind, mit Finanzhilfen nach dem Gleichstellungsgesetz realisiert werden können.94 Auf Gewaltprävention spezialisierte Männer arbeiten im Rahmen von Programmen und Diensten nach Artikel 16 spezifisch mit Tätern und Täterinnen.95 Im Rahmen der Schweizer Kampagne «Weisse Schleife» setzen sich Männer und Frauen für die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen ein.96 Zu Absatz 5, wonach die Vertragsparteien sicherstellen müssen, dass Kultur, Bräuche, Religion, Tradition oder die sogenannte
«Ehre» nicht als Rechtfertigung für in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallende Gewalttaten angesehen werden, vergleiche die Ausführungen zu Artikel 42.

Entsprechend den Anforderungen nach Absatz 6, nämlich Programme und Aktivitäten zur Stärkung der Rechte der Frauen zu fördern, konzentrieren sich die Gleichstellungsbüros auf Massnahmen, welche die Autonomie der Frauen gewährleisten, 91 92 93 94 95 96

212

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziffer 85.

www.maenner.ch.

www.maenner.ch.

www.ebg.admin.ch > Dienstleistungen > Projekte durchführen.

Siehe z. B. www.maennerbuero.ch.

www.white-ribbon.ch.

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namentlich auf wirtschaftlicher Ebene (z. B. Bekämpfung von Lohndiskriminierungen, Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie).

Die Schweiz erfüllt die Anforderungen von Artikel 12 der Konvention.

2.3.2

Art. 13 Bewusstseinsbildung

Die Vertragsparteien werden in Artikel 13 verpflichtet, regelmässig Kampagnen oder Programme zur Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen zu fördern oder solche durchzuführen, um in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein und das Verständnis für die unterschiedlichen Erscheinungsformen aller in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt, ihre Auswirkungen auf Kinder und die Notwendigkeit, solche Gewalt zu verhüten, zu verbessern (Abs. 1). Ferner stellen sie die umfassende Verbreitung von Informationen über verfügbare Präventionsmassnahmen in der breiten Öffentlichkeit sicher (Abs. 2).

Im Bereich der häuslichen Gewalt sensibilisieren das EBG und die kantonalen Interventionsstellen die Öffentlichkeit durch Veranstaltungen und die Verbreitung von Unterlagen (Informationsblätter97, Broschüren, Flyer usw.), die zum grossen Teil in der Datenbank «Toolbox Häusliche Gewalt»98 zur Verfügung stehen.

National wurden bislang drei grosse Kampagnen zu häuslicher Gewalt durchgeführt: «Halt Gewalt» der SKG, eine Kampagne, die 1997 mit Informationsmaterial (Plakate, TV-Spots, mehrsprachige Flyer, Postkarten, zwei CDs, eine Internetseite, Spots in den Kinos, Radiosendungen) und regionalen und lokalen Veranstaltungen über die Problematik informierte. Von 2003 bis 2005 fand die Kampagne «Stopp häusliche Gewalt» der Schweizerischen Verbrechensprävention statt. Die Tournee «Mobil gegen häusliche Gewalt» der Schweizer Sektion von Amnesty International wurde 2006 realisiert.

Seither haben verschiedene Kantone Sensibilisierungskampagnen für ein breites Publikum und schutzbedürftige Gruppen, wie die Migrantinnen, durchgeführt. So haben beispielsweise die Westschweizer Kantone Ende 2009 eine Plakatkampagne im öffentlichen Raum organisiert. Insbesondere der Kanton Genf hat 2011 und 2012 auf seinem Gebiet eine Sensibilisierungs- und Informationskampagne (Plakate, Spruchbänder auf den Trams, öffentliche Versammlungen) veranstaltet. «Willkommen zu Hause» ist eine interaktive Wanderausstellung zu Gewalt in Familie und Partnerschaft, die 2013 erstmals im Kanton Luzern und seither in mehreren Deutschschweizer Kanzonen erfolgreich gezeigt wurde.99 Ferner koordiniert der Christliche Friedensdienst (cfd) jedes Jahr im Umfeld des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen (25. November) die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt», an der sich auf regionaler Ebene unterschiedliche NGOs mit Veranstaltungen beteiligen.

97 98 99

Siehe insbesondere die Informationsblätter des EBG, www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen > Publikationen zu Gewalt.

www.ebg.admin.ch > Dienstleistungen > Toolbox Häusliche Gewalt www.gewaltpraevention.lu.ch > Willkommen zu Hause ­ Eine Ausstellung zu Gewalt in Familie und Partnerschaft > Weitere Informationen.

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Was die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz angeht, stellen das EBG und das SECO einen Ratgeber für am Arbeitsplatz sexuell belästigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine Informationsbroschüre für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie weitere Präventionsinstrumente wie Checklisten zur Verfügung. 100 In Verbindung mit den Finanzhilfen nach dem Gleichstellungsgesetz hat das EBG überdies zwei Websites101 für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziert; diese Websites sollen eine breite Öffentlichkeit für das Thema der sexuellen Belästigung sensibilisieren.

Der Bund engagiert sich seit 2008 in der Sensibilisierung von Personen, die von Zwangsheirat betroffen sein können sowie in der Weiterbildung von Fachpersonen, die mit dieser Problematik konfrontiert sind. 2012 wurde ein nationales Programm gegen Zwangsheiraten lanciert, welches als Ergänzung zum neuen Bundesgesetz vom 15. Juni 2012102 über Massnahmen gegen Zwangsheiraten dienen soll. Getragen wird das Programm vom SEM, in enger Zusammenarbeit mit dem EBG. Das Programm sieht vor, innerhalb von fünf Jahren (2013­2017) in allen Regionen der Schweiz funktionierende Netzwerke gegen Zwangsheirat aufzubauen. Diese sollen die Zusammenarbeit und den regelmässigen Austausch zwischen den verschiedenen Fachpersonen und Beratungsstellen fördern, die sich mit häuslicher Gewalt und Integration befassen. Das Programm hat zum Ziel, Präventionsmassnahmen und konkrete Angebote (Begleitung/Betreuung, Schutz, Schulung) für (potenziell) Betroffene und ihr Umfeld sowie Fachleute zu entwickeln.

Im Rahmen eines Modellversuchs gegen Zwangsheirat hat der Kanton Genf einen Workshop für Jugendliche organisiert, in dem unter anderem die Geschlechterstereotypen behandelt wurden. Im Kanton Basel-Landschaft beinhaltet das obligatorische Erstinformationsgespräch des kantonalen Amts für Migration mit ausländischen Personen, die neu für den Aufenthalt eingereist sind, nun auch Informationen über die Verhütung von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat. Die Interventionsstelle des Kantons Basel-Stadt informiert und sensibilisiert die Ausländerinnen und Ausländer an Informationsveranstaltungen für Ehe und Partnerschaft.

Seit 2003 wird auch das Thema Beschneidung weiblicher Genitalien, zuerst im Rahmen der Strategie Migration und Gesundheit 2002­2007, vom Bund (BAG) bearbeitet. Der
Bund engagiert sich seither mit Präventions- und Sensibilisierungsarbeit gegen die Beschneidung weiblicher Genitalien. Seit 2010 beteiligt sich auch das SEM an diesen Massnahmen des Bundes. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen wurde die Entwicklung von Informationsmaterialien für verschiedene Zielgruppen gefördert. Auch wurde eine Vermittlungsstelle für die Prävention von Mädchenbeschneidung unterstützt.

In erster Linie sind die Kantone für den Kindesschutz zuständig; ihre Dienststellen befassen sich mit fast allen Aspekten der Entwicklung des Kindes. Auf Stufe Bund ist das BSV für die Kinder- und Jugendpolitik, die Rechte des Kindes sowie den Schutz und die Förderung der Kinder und Jugendlichen zuständig. In diesem Zusammenhang stellt das BSV Informationen im Bereich des Kinder- und Jugend100 101 102

214

www.sexuelle-belaestigung.ch.

non-c-non.ch > je-subis-du-harcelement-sexuel; www.ladragueautravail.ch .

AS 2013 1035

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schutzes zur Verfügung und ergreift Massnahmen für eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure. Es steht auch in Kontakt und im Austausch mit den verschiedenen auf dem Gebiet des Kindesschutzes tätigen Bundesämtern sowie mit den Kantonen. Es kann den Kantonen Finanzhilfen für kantonale Programme im Bereich Aufbau und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendpolitik, u.a. Kinderund Jugendschutz103, gewähren. Es subventioniert darüber hinaus Organisationen, die sich schweizweit für die Verhütung der Misshandlung, des sexuellen Missbrauchs und der Vernachlässigung von Kindern einsetzen.

Der Bund kann gestützt auf die Verordnung vom 11. Juni 2010104 über Massnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie zur Stärkung der Kinderrechte gesamtschweizerische Programme oder Projekte mit Modellcharakter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen durchführen. Ferner kann er privaten, nicht gewinnorientierten Organisationen, die sprachregional oder gesamtschweizerisch tätig sind, Finanzhilfen gewähren. So subventioniert er das gesamtschweizerische Angebot «Beratung und Hilfe 147», das Kinder und Jugendliche u.a. bei Familienproblemen und Gewalterfahrungen berät. Gestützt auf die genannte Verordnung führt der Bund selber zwei Nationale Programme zur Prävention von Gewalt durch: So sensibilisierte er mit dem nationalen Programm «Jugend und Medien» (2011­2015)105 u.a.

zu Fragen der sexuellen und psychischen Gewalt an Kindern mittels neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit dem nationalen Programm «Jugend und Gewalt» (2011­2015)106 unterstützte er die Präventionsbemühungen der Kantone, Städte und Gemeinden im Bereich jugendlichen Gewaltverhaltens. Nach Abschluss dieser Programme hat der Bundesrat beschlossen, die Aktivitäten im Bereich des Jugendmedienschutzes weiterzuführen (vgl. auch Ziff. 2.3.6).

Die Kantone führen Sensibilisierungskampagnen durch, insbesondere über die gewaltfreie Erziehung. Die Fachstelle Kinderschutz des Kantons Solothurn beispielsweise hat im Jahr 2012 die Kampagne «Erziehung ohne Körperstrafen» lanciert. In der ersten Phase der Kampagne wurden die Fachpersonen der betroffenen Bereiche über das Ausmass und die Folgen des Phänomens sowie über die Rechtslage in der Schweiz informiert. Es wurde ihnen auch gezeigt, wie ohne Körperstrafen bestraft werden kann. In
einer zweiten Phase wurde eine fachliche Telefonberatung für Eltern eingerichtet, die ihre Kinder schlagen oder Gefahr laufen, es zu tun. Ziel der dritten Phase der Kampagne, die seit 2014 läuft, ist es, ein breites Publikum und insbesondere die Eltern zu informieren und unter dem Hinweis auf die Telefonhotline daran zu erinnern, dass der Einsatz von Gewalt in der Erziehung rechtswidrig ist.

Punktuell führen Kantone zudem Präventionsprogramme zu Gewalt in Teenagerbeziehungen an Schulen durch.107 Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen soll enttabuisiert werden und positive Verhaltensweisen in solchen Liebesbeziehungen sollen gefördert werden.

103 104 105 106 107

www.bsv.admin.ch > Sozialpolitische Themen.

SR 311.039.1 www.jugendundmedien.ch.

www.jugendundgewalt.ch.

Z.B. Kanton ZH: «Herzsprung ­ Freundschaft, Liebe, Sexualität ohne Gewalt» www.stadt-zuerich.ch.

215

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Auch die nichtstaatlichen Organisationen realisieren Präventionsprojekte. Seit 2013 führt die Stiftung Kinderschutz Schweiz eine nationale Sensibilisierungskampagne gegen Körperstrafen und für die gewaltfreie Erziehung durch. Seit 2015 sind Kinder im Kontext häuslicher Gewalt ein Schwerpunktthema der Stiftung Kinderschutz Schweiz, in dessen Rahmen verschiedene Sensibilisierungs- und Informationsprojekte lanciert wurden.108 Seit 2011 führt das National Coalition Building Institute Schweiz ein Projekt mit dem Titel «Keine Daheimnisse ­ Erhebe deine Stimme gegen Körperstrafen und hole Hilfe!»109 durch, das in und ausserhalb der Schule die Auseinandersetzung mit dem Thema fördert und Kinder und Jugendliche dafür sensibilisiert, dass Körperstrafen nicht in Ordnung sind.

Das SEM unterstützt in Zusammenarbeit mit den Kantonen und weiteren Partnern verschiedene Massnahmen und Programme, die zur Stärkung und zum Empowerment von Migrantinnen und dadurch vorbeugend zur Verhinderung von Gewalt an Frauen und Mädchen beiträgt. Im Rahmen der Integrationsförderungspolitik des Bundes werden Frauen als spezifische Zielgruppe der Integration definiert, deren besonderen Anliegen Rechnung getragen werden soll. Die staatliche Integrationsförderung schliesst somit geschlechtsspezifische Aspekte in ihrer Förderung von Migrantinnen und Migranten mit ein. Durch die kantonalen Integrationsprogramme (ab 2014) werden in den Bereichen Beratung und Erstinformation, Arbeit und Bildung, Verständigung und gesellschaftliche Integration genderspezifische Massnahmen durchgeführt (z.B. Sprachkurse für Frauen mit Kindern, Unterstützung von gut qualifizierten Migrantinnen etc.). Diese Massnahmen liegen im Zuständigkeitsbereich der Kantone. Sie werden vom Bund finanziell und strategisch unterstützt.

Die Tripartite Agglomerationskonferenz (TAK) lancierte im November 2013 den TAK-Dialog «Aufwachsen ­ gesund ins Leben starten». Er hat zum Ziel, dass in der Gesundheits- und Integrationspolitik von Bund, Kantonen und Gemeinden gemeinsam dafür gesorgt wird, dass alle Neugeborenen bestmögliche Chancen beim Start ins Leben haben. Die Berufsverbände aller Fachleute, die während der Schwangerschaft, während und nach der Geburt und im ersten Lebensjahr des Kindes mit den Familien in Kontakt stehen, unterstützen diese Bemühungen. Die TAK verabschiedete
am 27. Juni 2014 konkrete Empfehlungen, die sich an die staatlichen Akteure richten. Weiter nahm sie Empfehlungen zur Kenntnis, die sich an nichtstaatliche Akteure richten. Diese haben in Aussicht gestellt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Umsetzung der Empfehlungen beizutragen.

Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass die Durchführung und Verbreitung von Forschungsprojekten gemäss Artikel 11 ebenfalls der Bewusstseinsbildung dienen und damit präventive Wirkungen entfalten (vgl. Ausführungen unter Ziff. 2.2.5).

Mit dieser breiten Palette von Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen erfüllt die Schweiz die Anforderungen von Artikel 13 der Konvention.

108 109

216

www.kinderschutz.ch > Themen.

www.ncbi.ch > Projekte > Gewaltprävention > Keine Daheimnisse.

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2.3.3

Art. 14 Bildung

Die Lernmittel zu Themen wie gewaltfreier Konfliktlösung, geschlechtsspezifischer Gewalt und gegenseitigem Respekt, die in Absatz 1 genannt werden, müssen Teil der offiziellen Lehrpläne (auf Primär-, Sekundär- und Tertiärstufe) sein. Die Lehrkräfte müssen oder sollten sie im Unterricht einsetzen, die Konvention überlässt es «den Vertragsparteien, über die Art von Unterricht und das Alter der Lerngruppe zu entscheiden, für die sie diese Lernmittel als angemessen ansieht»110.

In der Schweiz ist das Bildungswesen vom Eintritt in die obligatorische Schule bis zur Tertiärstufe (Hochschulen und höhere Berufsbildung) eine Staatsaufgabe. Die Verantwortung für die obligatorische Schule obliegt den Kantonen (Art. 62 BV). Im nachobligatorischen Bereich (allgemeinbildende Schulen, Berufsbildung, Hochschulen) haben sowohl die Kantone als auch der Bund je ihre Zuständigkeiten und tragen damit die Verantwortung für diese Bildungsstufen gemeinsam.

Die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D-EDK) hat den Lehrplan 21 im Herbst 2014 zur Einführung freigegeben. Mit diesem ersten gemeinsamen Lehrplan für die Volksschule setzen die 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone den Auftrag von Artikel 62 BV um, die Ziele der Schule zu harmonisieren. 111 Die Frage, welcher Platz dem Thema der Gleichstellung von Frauen und Männern im Schulunterricht einzuräumen ist, wird zurzeit im Rahmen der Einführung dieses Lehrplans in den einzelnen Kantonen diskutiert.

Die Bildungsdepartemente der französischsprachigen Kantone realisieren seit 2006 zusammen mit den Westschweizer Gleichstellungsbüros das Projekt «L'école de l'égalité», in dem den Lehrpersonen eine Dokumentation mit Basisinformationen und Lehrmittel zur Verfügung gestellt werden.112 Der Kanton Genf hat im Jahr 2010 eine Reihe von Lehrmitteln und Dokumenten unter dem Titel «Balayons les clichés» (weg mit den Klischees) für die Lehrpersonen der verschiedenen Altersstufen veröffentlicht und über die Westschweizer Gleichstellungsbüros verteilt.113 Weitere Kantone, wie beispielsweise der Kanton Aargau, tragen mit Analysen und Publikationen ebenfalls zur Sensibilisierung der Schulleitungen und der Lehrerschaft bei. 114 Im allgemeinbildenden Unterricht der beruflichen Grundbildung gibt es zwei Lernbereiche: den Lernbereich «Sprache und Kommunikation» und den Lernbereich
«Gesellschaft». Letzterer beinhaltet u.a. den Aspekt «Ethik». Alle Lernenden der beruflichen Grundbildung erhalten diesen Aspekt vermittelt. In diesem Gefäss haben auch die angesprochenen Themen Platz.

Diese Themen können auch im Rahmen des Sexualunterrichts in der Schule behandelt werden. Die Schulen verfügen über Beratungsstellen für die Fälle von Misshandlungen oder ganz allgemein über einen Gesundheits- oder psychologischen Dienst, der den Kindern als erste Anlaufstelle dienen soll. In verschiedenen Kantonen werden Präventionsmassnahmen ergriffen (Broschüren, Informationsanlässe, 110 111 112 113 114

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 95 ff.

www.lehrplan.ch.

www.egalite.ch > nos projets > l'école de l`égalité.

www.egalite.ch > nos projets > Balayons les clichés.

www.ebg.admin.ch > Dienstleistungen > Toolbox Häusliche Gewalt.

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Rundschreiben, Ausbildung der Lehrpersonen, Leiterinnen und Leiter sowie Erzieherinnen und Erzieher, Theater, Filme, Wanderausstellungen usw.)

Ein in den Schulen sehr erfolgreiches Präventionsprojekt ist die interaktive Ausstellung für Kinder «Mein Körper gehört mir!». Das Projekt der Stiftung Kinderschutz Schweiz richtet sich an die 2. bis 4. Klasse der Primarschulen. Die Ausstellung bietet den Mädchen und Knaben einen Rahmen zum spielerischen und aktiven Umgang mit dem Thema der sexualisierten Gewalt und des sexuellen Missbrauchs.

Sie soll die Fähigkeiten der Kinder und ihre Rechte stärken und ihnen Handlungsoptionen aufzeigen. Das Projekt umfasst ein Weiterbildungsmodul für die Lehrpersonen und einen Informationsanlass für die Eltern. Die Lehrpersonen erhalten auch Unterlagen, um das Thema im Unterricht zu behandeln.115 An immer mehr Schulen sind Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter angestellt.

Damit werden die Kompetenz und die Kapazität für die Intervention und Prävention im sozialen Bereich und bei individuellen Entwicklungsproblemen ausgebaut und der Gewalt im schulischen und ausserschulischen Leben vorgebeugt. Nebst den schulischen Angeboten für Kinder gibt es auf kantonaler Ebene auch diverse Angebote für Vorschulkinder und Eltern (Information, Bildung, Beratung, Therapie).

In Absatz 2 wird die Pflicht zur Förderung der Grundsätze nach Absatz 1 auf informelle Bildungsstätten sowie Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und Medien ausgedehnt.

Die Förderung der Grundsätze der Gleichstellung von Frauen und Männern, nicht stereotyper Geschlechterrollen, des gegenseitigen Respekts und der gewaltfreien Lösung von Konflikten in zwischenmenschlichen Beziehungen wird in den genannten Bereichen auf verschiedenste Weise umgesetzt. Im Bereich Sport etwa kann das 2014 von der Stadt Genf durchgeführte Projekt «Genre et Sport» als Beispiel einer guten Praxis genannt werden.116 Ferner ist die Ethik-Charta zu erwähnen, die durch Swiss Olympic, das Bundesamt für Sport (BASPO) und die Schweizer Sportverbände getragen wird.117 Sie leitet das Handeln von den verschiedenen Akteuren im Sport an. Die Umsetzung der Ethik-Charta erfolgt bei der Verbandsplanung und bei nationalen und internationalen Sportanlässen, im täglichen Handeln und Tun sowie spezifisch in den Programmen und verschiedenen Aktivitäten
von Swiss Olympic und BASPO. Im Weiteren strebt das Sportförderungsgesetz vom 17. Juni 2011118 im Interesse der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Gesundheit der Bevölkerung, der ganzheitlichen Bildung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts u.a. das Ziel an, Verhaltensweisen zu fördern, mit denen die positiven Werte des Sports in der Gesellschaft verankert und unerwünschte Begleiterscheinungen bekämpft werden.119 Der Bund erreicht diese Ziele durch die Unterstützung und Durchführung von Programmen, Projekten und Massnahmen, namentlich im Bereich der Bildung, des Leistungssports, der Fairness und der Sicherheit im Sport sowie der Forschung. 120 In Bezug auf die Medien sind folgende Beispiele einer guten Praxis zu erwähnen: die 115 116 117 118 119 120

218

www.kinderschutz.ch www.ville-geneve.ch > Agenda et Actualités > Dossiers d'information > Genre et sports www.swissolympic.ch > Ethik > Ethik-Charta.

SpoFöG, SR 415.0.

Vgl. Art. 1 Abs. 1 Bst. d SpoFöG.

Vgl. Art. 1 Abs. 2 SpoFöG.

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Plattform «Medien und Geschlecht» des Schweizer Syndikats Medienschaffender, 121 die regelmässige Teilnahme der Schweiz am Global Media Monitoring Project,122 die Studien und Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen zuhanden der Medien anlässlich von Wahlen123 sowie der Preis «Femmes et Médias»124 der Konferenz der Westschweizer Gleichstellungsbüros.

Angesichts des Handlungsspielraums, der den Vertragsstaaten bei der Umsetzung von Artikel 14 gelassen wird,125 erfüllt die Schweiz die Anforderungen dieses Artikels.

2.3.4

Art. 15 Aus- und Fortbildung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen

Für Personen, die beruflich mit Opfern oder Tatpersonen gemäss der Konvention in Kontakt kommen, soll nach Absatz 1 ein Angebot an geeigneten Aus- und Fortbildungsmassnahmen zu den Themen der Konvention geschaffen werden. Betroffene Berufsgruppen sind Bedienstete der Justiz- und Strafverfolgungsbehörden, Rechtspraktiker sowie Fachkräfte in den Bereichen Gesundheit, Sozialarbeit und Bildung.126 Nach Absatz 2 werden die Vertragsparteien ermutigt, bei den Aus- und Fortbildungsmassnahmen nach Absatz 1 auch solche zur koordinierten behördenübergreifenden Zusammenarbeit zu erfassen.

Bundesebene Im Bereich der Aus- und Fortbildung sind die Bundeskompetenzen gering. Das Opferhilfegesetz (Art. 31 OHG) erlaubt dem Bund, Finanzhilfen für die Fachausbildung des Personals der Beratungsstellen und der mit der Opferhilfe Betrauten zu gewähren. Von dieser Möglichkeit wird seit Jahren regelmässig Gebrauch gemacht: Der Bund unterstützt zahlreiche Lehrgänge, Kurse und Seminare, welche die Opferhilfe und somit auch die häusliche Gewalt thematisieren. Diese Veranstaltungen werden von verschiedenen privaten und kantonalen Anbietern, insbesondere von Fachhochschulen, durchgeführt. Die Weisungen für die Ausrichtung von Finanzhilfen an diese Veranstaltungen wurden 2014 überarbeitet. Sie erlauben neu die Unterstützung eines breiteren Adressatenkreises (u.a. Personen, die bei ihrer Arbeit häufig mit Opfern i.S. des OHG und mit Opferberatungs- oder Entschädigungsstellen in Kontakt kommen, wie etwa Mitglieder der Kindes- und Erwachsenenschutzbehör121 122

123 124

125 126

www.ssm-site.ch > Mediathek > Dossiers > Dossier Medien und Geschlecht.

Die Schweiz nimmt regelmässig am Global Media Monitoring Project teil. Für die Ausgabe 2010 hat sie eine spezifische vertiefte Analyse durchgeführt, die an ein breites Publikum verteilt wurde. Link auf den Zusatzbericht zum Global Media Monitoring Project 2010, www.equality.ch > Publikationen > Wer macht die Nachrichten in der Schweiz?

Zusatzbericht zum Global Media Monitoring Projekt (GGMP).

Siehe z. B. das Dokument «Fakten zur Medienpräsenz von Kandidatinnen» sowie unter www.ekf.admin.ch.

Der Preis wird Journalistinnen und Journalisten verliehen, die aus berufsethischen Beweggründen die Gleichstellung von Frauen und Männern fördern, www.egalite.ch > Nos projets > Prix femmes&Médias.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 95.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 100.

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den, Hausärztinnen und Hausärzte, Gynäkologinnen und Gynäkologen, Fachleute von Anlaufstellen für Opfer mit besonderen Bedürfnissen, Lehrpersonen). Bei den Beratungsstellen und bei der Polizei ist das Thema Häusliche Gewalt schweizweit in die Grundausbildung integriert.

Zur Sensibilisierung der Gerichtsbehörden für die Problematik der häuslichen Gewalt hat die Universität St. Gallen auf Veranlassung des BJ und des EBG ein Weiterbildungsseminar für junge Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte konzipiert und 2012 sowie 2013 eine Einführungstagung und ein Vertiefungsseminar durchgeführt. Das EBG und das SEM haben im Jahr 2013 regionale Workshops für die kantonalen Migrationsbehörden und die Fachstellen (Frauenhäuser, Opferhilfestellen, Integrationsbüros) organisiert, um die Zusammenarbeit dieser Akteure bei der Prüfung von Härtefällen (im Sinne von Art. 50 Abs. 1 Bst. b des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 2005127, AuG), auf die sich Opfer häuslicher Gewalt berufen, zu verbessern. Auch das Bundesprogramm zur Bekämpfung von Zwangsheiraten für den Zeitraum 2013­2017 hat unter anderem zum Ziel, Weiterbildungs- und Schulungsangebote für Berufspersonen zu entwickeln.

Im Vorentwurf zum Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen128 schlägt der Bundesrat mit Artikel 28b Absatz 4 zweiter Satz ZGB die gesetzliche Verankerung der Aus- und Weiterbildung für Personen vor, die mit dem Schutz vor Gewalt, Drohungen und Nachstellungen betraut sind.

Im Rahmen eines Postulats129 ist der Bundesrat damit beauftragt worden, einen Bericht über die Möglichkeiten von Screenings zu innerfamiliärer Gewalt bei Kindern durch Gesundheitsfachpersonen zu verfassen und Empfehlungen zur Umsetzung zu entwickeln. Dabei wird er auch prüfen, ob den Gesundheitsfachpersonen in der Aus-, Weiter- und Fortbildung die notwendigen Kenntnisse und Handlungsmöglichkeiten vermittelt werden.

Beispiele einer guten Praxis in den Kantonen und Städten Auf Kantons- und Gemeindeebene gibt es eine Vielzahl von Aus- und Fortbildungsprogrammen für Fachpersonen zum Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie häusliche Gewalt. Im Sinne eines Tour d'Horizon werden im Folgenden einige beispielhaft aufgezählt.

Die Stadt Zürich hat einen Aktionsplan für die Gleichstellung von Frau und Mann eingeführt,
der einen strategischen Schwerpunkt auf die Sensibilisierung und Ausbildung der verschiedenen Beteiligten für die Früherkennung und Prävention häuslicher Gewalt setzt. Die Massnahmen richten sich an Schulen, Spitäler, Kindertagesstätten, Spitex-Organisationen und Gesundheitsdienste. Der Aktionsplan der Stadt Bern räumt der Sensibilisierung für die häusliche Gewalt und deren Prävention ebenfalls viel Platz ein.

127 128

SR 142.20.

www.bj.admin.ch > Sicherheit > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Schutz vor häuslicher Gewalt > Vernehmlassungsverfahren. Die entsprechende Vernehmlassung wird zurzeit ausgewertet.

129 Postulat Feri, 12.3206, «Grundlagen für ein Screening zu interfamiliärer Gewalt bei Kindern durch Gesundheitsfachpersonen».

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Die Abteilung für Gewaltmedizin des Westschweizer Universitätszentrums für Rechtsmedizin in Lausanne organisiert regelmässig Weiterbildungen, die die Erkennung von Gewalt sowie die Beratung und Unterstützung der Opfer behandeln und sich an das medizinische Personal und die Polizei richten.

Die Bildungsstelle Häusliche Gewalt des Kantons Luzern bietet Bildungs- und Schulungsmodule zur häuslichen Gewalt an. Sie informiert und sensibilisiert spezifische Berufsgruppen und die Öffentlichkeit für die Formen und Auswirkungen häuslicher Gewalt, nimmt Stellung zu aktuellen Entwicklungen, organisiert Veranstaltungen und entwickelt Projekte und Kampagnen zu häuslicher Gewalt allgemein.

Die Interventionsstelle Häusliche Gewalt des Kantons Bern hat Sensibilisierungsveranstaltungen für verschiedene Berufsgruppen (der Bereiche Schulmedizin, erste Hilfe, Beratung, Vormundschaft usw.) organisiert.

Die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt des Kantons Zürich stellt auf ihrer Website ein Manual für Fachleute zur Verfügung, das umfassende und aktuelle Informationen zu verschiedenen Aspekten des Schutzes vor häuslicher Gewalt beinhaltet.130 Auch die anderen kantonalen Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt organisieren kontinuierlich Veranstaltungen, die sich an unterschiedliche Berufsgruppen richten.

Im Bereich sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat die Konferenz der kantonalen Arbeitsinspektorate der Westschweiz und des Tessins (Conférence romande et tessinoise des offices cantonaux de protection des travailleurs, CRTI) 2009 mit Unterstützung des EBG Weiterbildungstage für die Arbeitsinspektorate der fünf Westschweizer Kantone organisiert. Im Rahmen einer Kampagne der Westschweizer Konferenz der Gleichstellungsbüros über das Gleichstellungsgesetz wurden von 2012 bis 2014 Weiterbildungstage organisiert, an denen Rechtsspezialistinnen und -spezialisten (Mitglieder der Schlichtungsbehörden, Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter, Anwältinnen und Anwälte) namentlich für den Begriff der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und für die Schutzpflicht der Arbeitgeber sensibilisiert wurden.

Im Bereich des Kinderschutzes führen die pädagogischen Hochschulen im Rahmen der Ausbildung und Weiterbildung von Lehrpersonen verschiedene Angebote zum Thema Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gewalt durch. Die
Stiftung Kinderschutz Schweiz hat 2011 und 2013 mehrere Leitfäden für Fachpersonen publiziert131. Das «Institut international des droits de l'enfant (IDE)» im Wallis132 entwickelt in Zusammenarbeit mit dem «Centre interfacultaire en droits de l'enfant de l'Université de Genève (CIDE)» eine Reihe von akademischen Ausbildungen, die zu verschiedenen Master- und Diplom-Abschlüssen sowie Zertifikaten im Bereich

130

www.kapo.zh.ch > Prävention > IST-Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt > Informationen für Fachpersonen > Manual für Fachleute.

131 Zur Sensibilisierung von Ärztinnen und Ärzten verschiedenster Fachrichtungen hat sie 2011 einen Leitfaden zu «Kindsmisshandlung ­ Kindesschutz» herausgegeben. 2013 hat sie zwei weitere Leitfäden für Fachpersonen publiziert: Einerseits zum Kindesschutz in der sozialarbeiterischen Praxis und andererseits zur Früherkennung von Gewalt an kleinen Kindern.

132 www.iukb.ch

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Kinderrechte und -schutz führen133. Auch NGOs bieten Schulungen zum Thema der Prävention des sexuellen Missbrauchs und der Misshandlung von Kindern an.134 Bei der höheren Berufsbildung (HBB), den Universitäten und (höheren) Fachhochschulen gibt es verschiedene Bildungsgänge und Nachdiplomstudien, die sich mit dem Thema befassen.

Im Rahmen des Bundesprogramms Chancengleichheit für Frau und Mann an den Universitäten, das vom Bund seit 2000 unterstützt wird, werden verschiedene Projekte und Aktivitäten finanziert. Dazu gehören auch die Erarbeitung und die Verbreitung von Verhaltensregeln und Reglementen zur Verhinderung von sexueller Belästigung, von Mobbing und Bedrohungen sowie weiteren Diskriminierungen.135 Das Thema wird in Vorträgen oder anlässlich von Aktionstagen regelmässig in Erinnerung gerufen. Auch die Eidgenössischen Technischen Hochschulen Zürich und Lausanne bieten Informationen und Anlaufstellen betreffend sexuelle Belästigung im Rahmen der Massnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit an den beiden Hochschulen.136 Die Anforderungen von Artikel 15 der Konvention werden damit erfüllt.

2.3.5

Art. 16 Vorbeugende Interventions- und Behandlungsprogramme

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, Programme für Täter und Täterinnen von häuslicher Gewalt (Abs. 1) oder von Sexualstraftaten (Abs. 2) einzurichten oder zu unterstützen, in enger Zusammenarbeit mit spezialisierten Hilfsdiensten für Opfer (Abs. 3). Die Personen, die mit den Täterinnen und Tätern arbeiten, müssen spezifisch ausgebildet sein und über die erforderlichen kulturellen und sprachlichen Kompetenzen verfügen. Die Teilnahme an den Programmen für Täter und Täterinnen erfolgt nach einer entsprechenden Entscheidung eines Gerichts oder auf freiwilliger Basis.137 Die Bekämpfung von Gewalttaten und deren Prävention sowie der Vollzug des Opferhilfegesetzes fallen weitgehend in den Zuständigkeitsbereich der Kantone. Die Finanzierung von allgemeinen Präventionsprogrammen und präventiven Interventions- und Behandlungsprogrammen ist deshalb in erster Linie ihre Aufgabe. Die Kantone stellen die notwendigen Angebote bereit; deren Ausbau ist je nach Kanton unterschiedlich. Fast alle Kantone verfügen über Koordinations-, Interventions- und Fachstellen gegen häusliche Gewalt sowie Beratungsstellen und Programme für 133

134 135 136

137

222

www.childsrights.org > IDE; www.unige.ch > L'Université se présente > Centres, instituts et programmes plurifacultaires > centre interfacultaire en droits de l'enfant > Le Centre.

Z. B. Castagna oder Limita (www.castagna-zh.ch; www.limita-zh.ch).

Beispiel für Verhaltenskodex an der Universität Zürich: www.uzh.ch > Universität > Leitbild und Grundsätze > Verhaltenskodex Gender Policy.

Internetseiten informieren über verschiedene Arten von Diskriminierung und verweisen auf Anlaufstellen: www.ethz.ch > Services und Ressourcen > Anstellung und Arbeit > Arbeitsumfeld > Chancengleichheit, www.helpme.epfl.ch.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 104.

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gewaltausübende Männer oder Frauen. Die kantonalen Interventions- und Koordinierungsstellen sind vernetzt und sorgen für regelmässigen fachlichen Austausch und Koordination. Gemäss dem Fachverband Gewaltberatung Schweiz (FVGS) bieten derzeit 31 Institutionen in der Deutsch- und Westschweiz solche Dienstleistungen an.138 2012 hat das EBG ein juristisches Gutachten veröffentlicht, in dem geprüft wird, auf welcher rechtlichen Grundlage die Gerichte die Teilnahme an Gewaltberatungen und Anti-Gewalt-Programmen anordnen können (insbesondere gestützt auf Art. 63 StGB «Ambulante Behandlung» und Art. 94 StGB «Weisungen»).139 Das EBG hat die Gründung des Fachverbandes Gewaltberatung Schweiz (FVGS), die Entwicklung von Qualitätsstandards und einer einheitlichen Statistik sowie die Durchführung von nationalen Koordinationstreffen der Täter- und Täterinnenberatungsstellen unterstützt.

Insgesamt erfüllt die Schweiz die Anforderungen von Artikel 16 der Konvention.

2.3.6

Art. 17 Beteiligung des privaten Sektors und der Medien

Im Sinne einer Selbstregulierung nach Absatz 1 hat der Schweizerische Presserat eine Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten angenommen, wonach die Mitglieder des Verbands zur Achtung der Menschenwürde verpflichtet sind. Bei einer Verletzung dieser Pflicht kann beim Schweizer Presserat, der zu Fragen der Berufsethik der Journalistinnen und Journalisten Stellung nimmt, Beschwerde eingereicht werden.140 Gemäss der Schweizerischen Lauterkeitskommission gilt geschlechterdiskriminierende Werbung als eine unlautere Geschäftspraxis; Unternehmen können gezwungen werden, auf solche Werbung zu verzichten. 141 Das EBG und das SECO empfehlen den Unternehmen, Massnahmen zur Prävention sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu ergreifen, und stellen Beispiele für Reglemente zur Verfügung, mit denen entsprechende Verfahren eingeführt werden können.142 Gemäss Absatz 2 entwickeln und fördern die Vertragsstaaten zusammen mit Akteuren des privaten Sektors bei Kindern, Eltern und Erziehern die Fähigkeiten für den 138 139

www.fvgs.ch > Beratungsstellen.

Siehe dazu ein Gutachten im Auftrag des EBG: Peter Mösch Payot, «Anordnung von Pflichtberatung und Lernprogrammen im Rahmen von strafrechtlichen Sanktionen, insb.

als Weisungen», 2011, unter EBG ­ Publikationen zu Gewalt.

140 www.presserat.ch.

141 Gemäss der Kommission «liegt geschlechterdiskriminierende Werbung vor, wenn Männern oder Frauen stereotype Eigenschaften zugeschrieben werden und damit die Gleichwertigkeit der Geschlechter in Frage gestellt wird; Unterwerfung oder Ausbeutung dargestellt oder zu verstehen gegeben wird, dass Gewalt oder Dominanzgebaren tolerierbar seien; [...]; zwischen der das Geschlecht verkörpernden Person und dem beworbenen Produkt kein natürlicher Zusammenhang besteht; die Person in rein dekorativer Funktion als Blickfang dargestellt wird [...]» (Grundsätze, Lauterkeit in der kommerziellen Kommunikation, Stand April 2008), www.faire-werbung.ch > Dokumentation > Grundsätze SLK.

142 www.ebg.admin.ch > Themen > Arbeit > Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz > Prävention im Unternehmen.

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Umgang mit dem Informations- und Kommunikationsumfeld. Hauptziel des Programms «Jugend und Medien»143, welches zwischen 2011 und 2015 vom BSV in Zusammenarbeit mit der Medienbranche und privaten Organisationen umgesetzt wurde, war die Förderung eines sicheren, altersgerechten und verantwortungsvollen Umgangs von Kindern und Jugendlichen mit digitalen Medien. Eltern, Lehr- und Fachpersonen bot das Programm gezielte Informationen und Weiterbildungen für eine geeignete Begleitung von Kindern und Jugendlichen. Nach Abschluss dieses Programms hat der Bundesrat beschlossen, den Jugendmedienschutz weiter zu verstärken. Künftig sollen Fachpersonen in der Jugendarbeit, in Heimen, Betreuungseinrichtungen oder Berufsschulen verstärkt unterstützt werden.144 Die Jugendkampagne «Echtes Leben» von Pro Juventute 2014145 zeigt auf, dass das vermeintlich perfekte Leben der anderen nicht der Realität entspricht, und bestärkt Jugendliche darin, dass sie nicht durch überhöhte Idealbilder unter Druck gesetzt werden. Ein jugendgerechter Spot, Schulplakate, Aktionen an Schulen, ein Comic, Merkblätter für Kinder und Jugendliche, für Eltern und für Lehrpersonen sowie Online-Informationen sensibilisieren für die Thematik und bestärken Jugendliche in ihrem Selbstbild.

2.4

Kapitel IV: Schutz und Unterstützung

2.4.1

Art. 18 Allgemeine Verpflichtungen

Artikel 18 statuiert allgemeine Verpflichtungen, die Opfer zu schützen und sie zu unterstützen. Die institutionelle Zusammenarbeit gemäss Absatz 2 wird in den Artikeln 7 und 10 der Konvention behandelt, die Unterstützung von Opfern gemäss Absatz 3 in den Artikeln 19­28 der Konvention, die Bereitstellung von Hilfsdiensten gemäss Absatz 4 in Artikel 22 der Konvention. Der Verpflichtung der Vertragsstaaten gemäss Absatz 5, ihren Staatsangehörigen und sonstigen schutzberechtigten Opfern konsularischen und sonstigen Schutz zu gewähren, wird mit Artikel 8 Absatz 2 OHG Rechnung getragen.

2.4.2

Art. 19 Informationen

Die Konvention verpflichtet die Vertragsparteien in Artikel 19 dazu, sicherzustellen, dass Opfer rechtzeitig angemessene Informationen über die Opferhilfe erhalten.

Diese Information hat in einer Sprache zu erfolgen, die das Opfer versteht.

Artikel 305 StPO enthält detaillierte Anweisungen an die Strafverfolgungsbehörden, Opfer namentlich über die Opferhilfe zu informieren. Da die Strafverfolgung im Wesentlichen eine kantonale Aufgabe ist, sind es die kantonalen Vollzugsbehörden, 143 144

www.jugendundmedien.ch.

www.bsv.admin.ch > Sozialpolitische Themen > Kinder- und Jugendpolitik > Jugendschutz > Umsetzung Programm Jugend und Medien - Nationales Programm zur Förderung von Medienkompetenzen.

145 www.projuventute.ch > Aktuelles > Kampagnen > Jugendkampagne «Echtes Leben»

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insbesondere die Polizei und die Staatsanwaltschaften, die die Opfer im konkreten Einzelfall informieren. Ist das Opfer damit einverstanden, so melden die Strafverfolgungsbehörden dessen Namen und Adresse einer Opferhilfe-Beratungsstelle. Zudem informieren die kantonalen Opferhilfe-Beratungsstellen sowohl auf Anfrage als auch durch generelle Informationen (Internetseiten, Flyer usw.).

Die Schweiz erfüllt die Anforderungen von Artikel 19 der Konvention.

2.4.3

Art. 20 Allgemeine Hilfsdienste

Absatz 1 verpflichtet die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass Opfer von Gewalttaten Zugang zu Hilfsangeboten erhalten. Die Unterstützung kann in verschiedenen Formen erfolgen, beispielsweise durch rechtliche und psychologische Beratung, finanzielle Unterstützung, Unterkunft, Ausbildung, Schulung sowie Hilfe bei der Arbeitssuche. Gemäss Absatz 2 müssen den Opfern angemessene medizinische Versorgung sowie Sozialdienste, die mit angemessenen Mitteln und genügend Fachpersonal ausgestattet sind, zur Verfügung stehen.

In der Schweiz werden diese Vorgaben insbesondere durch die Privat- und Sozialversicherungen erfüllt. Ergänzend sieht das Opferhilfegesetz für Opfer, die durch eine Straftat unmittelbar in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt worden sind, eine breite Palette von Dienstleistungen vor. Sie umfasst laut Artikel 2 OHG Beratung, Soforthilfe, längerfristige Hilfe (teils durch die Beratungsstellen der Kantone selbst erbracht, teils in Form von Kostenbeiträgen der Beratungsstellen an Dienstleistungen Dritter), Entschädigung und Genugtuung. Den Opfern stehen Beratung und Soforthilfe kostenlos zur Verfügung. Die Kostenbeiträge an die längerfristige Hilfe sowie die Entschädigung sind einkommensabhängig (Art. 16 und Art. 20 Abs. 2 OHG). Für die Entschädigung und die Genugtuung legt das Gesetz zudem Höchstwerte fest (Art. 20 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 2 OHG).

Damit erfüllt die Schweiz die Anforderungen von Artikel 20 der Konvention.

2.4.4

Art. 21 Unterstützung bei Einzel- oder Sammelklagen

Die Vertragsstaaten müssen dafür sorgen, dass die Opfer Informationen über geltende regionale und internationale Mechanismen für Einzel- oder Sammelklagen erhalten und Zugang zu diesen haben. Mit der Bestimmung soll auch gefördert werden, dass der Staat, Vereinigungen von Rechtsvertretern, relevante NGOs und sonstige denkbare Akteure sensible und sachkundige Unterstützung für die Opfer bei der Einreichung solcher Beschwerden bereitstellen.146 Wie in Zusammenhang mit den Artikeln 13 und 15 der Konvention erläutert, informieren der Bund und die Kantone die Öffentlichkeit und die Fachkreise über die Rechtslage in Bezug auf häusliche Gewalt sowie über die Behörden, die gegebenenfalls zu kontaktieren sind. Eine vom EDA in Zusammenarbeit mit dem Schweizeri146

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 130.

225

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schen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) entwickelte App für Smartphones mit dem Namen «Women's Human Rights» erleichtert den Zugang zu den völkerrechtlichen Texten über die Rechte der Frauen.147 Ein von der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen online gestellter Leitfaden regt die Anwendung des CEDAW in der Anwalts-, Gerichts- und Rechtsberatungspraxis an.148 Zudem beraten die Opferhilfestellen gestützt auf Artikel 12 OHG Opfer und helfen ihnen, ihre Rechte wahrzunehmen. Sie verfügen über eine Liste von spezialisierten Anwältinnen und Anwälten und kennen die in diesem Bereich aktiven NGOs.

Die Schweiz erfüllt die Anforderungen nach Artikel 21 der Konvention.

2.4.5

Art. 22 Spezialisierte Hilfsdienste

Absatz 1 verlangt die Bereitstellung von spezialisierten Hilfsdiensten, die regional angemessen verteilt sofort sowie kurz- und längerfristig Opfern zur Verfügung stehen.

Das Opferhilfegesetz überträgt den Kantonen die Aufgabe, fachlich selbstständige Beratungsstellen für Opfer im Sinne des schweizerischen Rechts zur Verfügung zu stellen. Diese Beratungsstellen haben den besonderen Bedürfnissen der verschiedenen Opferkategorien ­ beispielsweise Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind ­ Rechnung zu tragen (Art. 9 ff. OHG). Die Beratungsstellen erbringen folgende Dienstleistungen: Persönliche Beratung, Soforthilfe für die dringendsten Bedürfnisse (z.B. Notunterkunft, medizinische Massnahmen, erste anwaltliche Beratung), längerfristige Hilfe und Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter (Beizug von Fachleuten, z.B.

Psychiaterinnen) bis die übrigen Folgen der Straftat möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind und bis zur gesundheitlichen Stabilisierung des Opfers.

In der Regel verfügt jeder Kanton über mindestens eine Beratungsstelle. Die Kantone SG, AR und AI betreiben eine gemeinsame Beratungsstelle, ebenso die Kantone BS und BL sowie SZ und UR. Mehrere Kantone verfügen auch über spezialisierte Einrichtungen für bestimmte Opferkategorien (z.B. für Frauen oder Opfer sexueller Gewalt). Insgesamt bestehen schweizweit rund 60 solcher Institutionen. Den Opfern steht es frei, welche Beratungsstelle sie aufsuchen wollen (Art. 15 Abs. 3 OHG).

Absatz 2 fordert, dass für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder spezialisierte Hilfsdienste vorgesehen werden. Die SODK stellt auf ihrer Website die aktuelle Liste der kantonalen Opferhilfe-Beratungsstellen zur Verfügung.149 Aus dieser wird ersichtlich, welche Stellen sich gezielt an gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder richten. Es sind dies in erster Linie die ambulanten Beratungsstellen der Frauenhäuser sowie Beratungsstellen gegen sexuelle und häusliche Gewalt. Des Weiteren

147

Link auf die App: itunes.apple.com/WebObjects/MZStore.woa/wa/viewSoftware?id =695483339&mt=8.

148 www.efk.admin.ch.

149 www.sodk.ch.

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finden sich auch Opferhilfe-Beratungsstellen, deren Angebot sich gezielt an gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche richtet.

Die bestehenden Opferhilfe-Beratungsstellen genügen den Anforderungen von Artikel 22 der Konvention.

2.4.6

Art. 23 Schutzunterkünfte

Die Vertragsstaaten werden in Artikel 23 verpflichtet, geeignete und leicht zugängliche Schutzunterkünfte für Opfer im Sinne der Konvention in ausreichender Zahl einzurichten. Mit dem Begriff «in ausreichender Zahl» soll sichergestellt werden, dass den Bedürfnissen aller Opfer bezüglich verfügbarer Zufluchtsorte und spezialisierter Hilfe entsprochen werden kann. Die Zahl der Schutzunterkünfte sollte sich nach dem tatsächlichen Bedarf richten. Es bestehen also keine quantitativen Vorgaben, sondern lediglich Richtgrössen. Massgebend ist der länderspezifische Bedarf.150 Für die Einrichtung von Schutzunterkünften sind die Kantone zuständig. Es besteht ein entsprechendes Angebot an Frauenhäusern, wobei dieses in den einzelnen Kantonen unterschiedlich ausgebaut ist. Die SODK und das EBG haben zur Frage, ob regional ausreichend Schutzplätze für Gewaltopfer und ihre Kinder bereitstehen und ob die Finanzierung dieser Plätze längerfristig gesichert ist, im Mai 2015 eine Situations- und Bedarfsanalyse publiziert151, die den Kantonen die Grundlagen für eine regionale Überprüfung liefern soll.

In Bezug auf die Versorgungslage stellt der Bericht gewisse, regional unterschiedliche Kapazitätsengpässe in Frauenhäusern fest und enthält Hinweise auf deren Ursachen. Es fällt insbesondere die Problematik der fehlenden Anschlusslösungen auf, welche die Aufenthaltsdauer z.T. unnötig verlängern. Betreffend Finanzierung zieht der Bericht das Fazit, dass die Frauenhäuser vielerorts mit Ressourcenproblemen konfrontiert sind. Ebenso wird aufgezeigt, dass das Leistungsangebot der verschiedenen Frauenhäuser unterschiedlich ausgestaltet ist und dass mehr Ressourcen für die Leistungen der Dachorganisation der Frauenhäuser (Qualitätssicherung, statistische Grundlagen etc.) nötig wären. Eine darauf folgende Umfrage in den Kantonen ergab, dass die Versorgungslage an Schutzunterkünften (Frauenhäuser und weitere Angebote) von der grossen Mehrheit der antwortenden Kantone als angemessen beurteilt wird und allfällige bestehende Kapazitätsengpässe prioritär mit Massnahmen im vor- und nachgelagerten System (Prävention und polizeiliche Massnahmen sowie Wohnungsanschlusslösungen) angegangen werden sollten152. Als weitere Folgearbeit hat die SODK zusammen mit Expertinnen und Experten seitens der 150

Ziff. 135 des erläuternden Berichts zur Konvention verweist diesbezüglich auf den Abschlussbericht der Task Force des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (EG-TFV (2008)6), der eine sichere Unterkunft für Frauen in Frauenhäusern empfiehlt, die auf alle Regionen verteilt sind und eine Familie pro 10 000 Einwohner aufnehmen können.

151 www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Pulikationen > Publikationen zu Gewalt.

152 Dies deckt sich mit den diesbezüglichen Ergebnissen der Vernehmlassung, vgl. Ergebnisbericht unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2016 > EJPD.

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Leistungsbestellenden (Opferhilfe, Soziales) sowie seitens der Leistungserbringenden (Frauenhäuser) den ,,Leistungskatalog Frauenhäuser" ausgearbeitet, welcher im Sinne einer Empfehlung aufzeigt, was als Kernleistung der Frauenhäuser verstanden wird. Dieser Leistungskatalog bietet für Kantone, Städte und Gemeinden eine Grundlage für die Zusammenarbeit und insbesondere für die Finanzierung von Frauenhäusern153.

In der im Auftrag des BJ 2015 durchgeführten Evaluation des Opferhilfegesetzes 154 zeigte sich, dass das bestehende Angebot an Not- und Schutzunterkünften für Opfer häuslicher Gewalt nicht immer ausreicht. Das Evaluationsteam empfiehlt deshalb den Kantonen zu überprüfen, mit welchen Massnahmen Kapazitätsengpässe bei Notunterkünften vermieden werden können.

Der Bundesrat hat sich in seiner Antwort auf die Interpellationen Feri155 bereit erklärt, nach Vorliegen der entsprechenden Situations- und Bedarfsanalyse zu den Frauenhäusern (siehe oben) zu prüfen, ob er die Kantone allenfalls im Bereich der Koordination unterstützen kann. Das Postulat Feri befasst sich mit der Frage einer Anstossfinanzierung solcher Unterkünfte durch den Bund.156 Für Opfer im Sinne des OHG haben die OHG-Beratungsstellen bei Bedarf für eine Notunterkunft zu sorgen (Art. 14 Abs. 1 OHG). Je nach Situation, etwa wenn die Bedrohung nicht mehr aktuell ist und es vorwiegend um die Rehabilitation geht, kann dabei auch eine andere Unterkunft als ein Frauenhaus genügen.

Das schweizerische Recht genügt den Anforderungen von Artikel 23 der Konvention.

2.4.7

Art. 24 Telefonberatung

Artikel 24 verpflichtet die Vertragsstaaten, eine kostenlose, landesweite, vertrauliche und anonyme, sowie täglich rund um die Uhr erreichbare Telefonberatung für Opfer aller Formen von Gewalt gemäss Konvention einzurichten.

Die KKJPD hat die Errichtung einer kostenlosen, rund um die Uhr offenen nationalen Helpline für Opfer und Täter im Bereich häuslicher Gewalt geprüft. Sie hat im November 2013 beschlossen, das Projekt nicht weiter zu verfolgen. Ausschlaggebend für diesen Entscheid war insbesondere die Befürchtung, eine solche Helpline konkurriere bestehende Einrichtungen und bringe ­ bei hohen Betriebskosten ­ wenig Zusatznutzen zum bestehenden Angebot.

In der Schweiz gibt es (auch) für Gewaltopfer bereits Telefon-Hotlines, die aber die Anforderungen der Konvention nicht vollständig erfüllen. Die Dargebotene Hand beispielsweise deckt zwar das ganze Staatsgebiet ab und richtet sich an Personen in Krisensituationen (breites Beratungsangebot). Sie wird aber nicht von ausgebildetem 153 154 155

Leistungskatalog Frauenhäuser und weitere Informationen unter www.sodk.ch.

www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen.

13.4071 «Nationale Strategie für Frauenhäuser» und 13.4290 «Nationale Strategie für Männerhäuser».

156 16.3695 «Anstossfinanzierung für Unterkunftshäuser für von Gewalt betroffene Personen (Frauen, Männer, Kinder)».

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Personal bedient, ist ausgerichtet auf Zuhören, nicht auf Beratung und ist nicht völlig kostenlos (Gesprächsgebühren im Bagatellbereich). Gewisse Kantone haben der Dargebotenen Hand ein spezielles Mandat erteilt, um ein durchgehendes Angebot der Opferhilfestellen ausserhalb der Bürozeiten zu gewährleisten. Für Kinder und Jugendliche bietet die private Stiftung Pro Juventute seit Jahren über Telefon, SMS, Chat und Mail den professionell geführten Dienst «Beratung + Hilfe 147» an.

Im Durchschnitt nehmen täglich rund 400 Kinder und Jugendliche die Beratung in Anspruch, die rund um die Uhr kostenlos in drei der vier Landessprachen verfügbar ist. Durch dieses Angebot über die Telefonnummer 147 oder die Website 147 stellt die Stiftung Pro Juventute eine wichtige Schnittstelle zwischen den ratsuchenden Kindern und Jugendlichen und den Fachberatungsstellen dar.

Der Bundesrat hat am 27. Februar 2013 in Erfüllung des Postulats Fehr 157 einen Bericht158 verabschiedet. Gleichzeitig hat er dem EJPD verschiedene Prüfaufträge erteilt, die in Zusammenarbeit mit den Kantonen zu erfüllen sind. Im Rahmen dieser Arbeiten soll die Einführung einer einheitlichen Telefonnummer für die Opferhilfe geprüft werden. Die Opferhilfe steht männlichen und weiblichen Gewaltopfern zur Verfügung und beschränkt sich nicht auf Fälle häuslicher Gewalt. Das BJ hat eine Studie in Auftrag gegeben, welche die Machbarkeit und die Kosten einer für alle OHG-Beratungsstellen gültigen kostenlosen Telefonnummer untersuchen wird. Sie wird sich auch mit einem möglichen Ausbau dieser Nummer befassen (erweiterte Betriebszeiten bis zu einem Angebot rund um die Uhr). Die Ergebnisse werden im Frühjahr 2017 vorliegen. Sie sollen Bund und Kantonen eine Grundlage für das weitere Vorgehen verschaffen.159 Im schweizerischen Recht werden die Anforderungen von Artikel 24 der Konvention zurzeit noch nicht vollständig umgesetzt.

2.4.8

Art. 25 Unterstützung für Opfer sexueller Gewalt

Gemäss Artikel 25 haben die Vertragsstaaten dafür zu sorgen, dass für Opfer sexueller Gewalt geeignete und leicht zugängliche Krisenzentren in ausreichender Zahl eingerichtet werden, um ihnen (gerichts)medizinische Untersuchungen, Traumahilfe und Beratung anzubieten. Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, solche Zentren einzurichten und dafür Sorge zu tragen, dass sie in ausreichender Zahl vorhanden sind.160 In der Schweiz gibt es keine spezifischen Zentren, die all diese geforderten Dienstleistungen unter einem Dach anbieten. Die genannten Aufgaben werden vielmehr durch das Zusammenwirken mehrerer Institutionen, insbesondere der Beratungsstel157 158

09.3878 «Mehr Anzeigen, mehr Abschreckung».

www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen > Weitere Studien und Publikationen.

159 Eine beachtliche Anzahl von Vernehmlassern ist der Auffassung, dass die Neuorganisation der Telefonberatung bzw. ein Ausbau des Angebots unter Berücksichtigung der bestehenden kantonalen Strukturen zu prüfen sei, vgl. Ergebnisbericht unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2016 > EJPD.

160 Erl. Bericht zur Konvention, Ziff. 142.

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len und der Spitäler (vgl. die Ausführungen zu Art. 19 ff.), wahrgenommen. Die Strafverfolgungsbehörden informieren das Opfer über die Opferhilfe und leiten unter bestimmten Voraussetzungen Name und Adresse des Opfers an eine Beratungsstelle weiter (Art. 305 Abs. 2 und 3 StPO, Art. 8 Abs. 2 OHG; s. auch Art. 330 Abs. 3 StPO). Die Kantone haben gemäss OHG die Aufgabe, fachlich selbstständige Beratungsstellen für Opfer nach OHG-Recht bereitzustellen. Diese Beratungsstellen erbringen eine breite Palette von Dienstleistungen für die Opfer, so namentlich: persönliche Beratung, Soforthilfe für die dringendsten Bedürfnisse (z.B. Notunterkunft, medizinische Massnahmen161, erste anwaltliche Beratung), längerfristige Hilfe, Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe Dritter (z.B. Psychiater); auch spezifische Beratungsstellen sind vorhanden.

Die bestehende Infrastruktur genügt insgesamt den Anforderungen von Artikel 25.

2.4.9

Art. 26 Schutz und Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen, die Kinder sind

Gemäss Absatz 1 haben die Vertragsparteien dafür Sorge zu tragen, dass bei der Hilfe für Opfer, deren Kinder Zeuginnen und Zeugen von Gewalttaten wurden, die Rechte und Bedürfnisse Letzterer gebührend berücksichtigt werden. Absatz 2 legt fest, dass diese Massnahmen die altersgerechte psychosoziale Beratung für solche Kinder umfasst und dass das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigt wird.

In Artikel 149 StPO werden Schutzmassnahmen aufgeführt, die die Verfahrensleitung auf Gesuch hin oder von Amtes wegen treffen kann, um eine Zeugin oder einen Zeugen zu schützen, die oder der sich durch die Mitwirkung im Verfahren einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil aussetzt (Art. 149 Abs. 1 StPO). Namentlich kann die Verfahrensleitung der Zeugin oder dem Zeugen Anonymität zusichern, Einvernahmen unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit durchführen, die Personalien unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit feststellen, das Aussehen oder die Stimme der Zeugin oder des Zeugen verändern oder diese/-n abschirmen oder die Akteneinsicht der Parteien einschränken (Art. 149 Abs. 2 StPO). Die Zeugin oder der Zeuge kann sich ausserdem von einem Rechtsbeistand oder von einer Vertrauensperson begleiten lassen (Art. 149 Abs. 3 StPO). Für Zeuginnen, Zeugen oder Auskunftspersonen unter 18 Jahren kann die Verfahrensleitung zudem Schutzmassnahmen nach Artikel 154 Absätze 2 und 4 StPO anordnen (Art. 149 Abs. 4 StPO). So hat die erste Einvernahme so rasch als möglich stattzufinden (Art. 154 Abs. 2 StPO). Eine Gegenüberstellung mit der beschuldigten Person darf nur angeordnet werden, wenn das Kind dies ausdrücklich verlangt oder der Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann (Art. 154 Abs. 4 Bst. a StPO). Die minderjährige Zeugin oder der minderjährige Zeuge darf während des ganzen Verfahrens in der Regel nicht mehr als zweimal einvernommen 161

230

Vgl. auch Postulat der Sozialdemokratischen Fraktion, Cesla Amarelle, vom 26.11.2014, 14.4026 «Medizinische Versorgung bei häuslicher Gewalt. Politische Konzepte und Praktiken der Kantone sowie Prüfung eines ausdrücklichen Auftrages im Opferhilfegesetz», angenommen.

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werden (Art. 154 Abs. 4 Bst. b und c StPO). Ausserdem werden Einvernahmen von Kindern von einer zu diesem Zweck speziell ausgebildeten Ermittlungsperson im Beisein einer Spezialistin oder eines Spezialisten durchgeführt (Art. 154 Abs. 4 Bst. d StPO).

Die StPO legt zudem eine feste Altersgrenze für die Zeugeneigenschaft fest. Personen mit beschränkter Urteilsfähigkeit sollen nicht unter Wahrheitspflicht einvernommen werden. Aus diesem Grund sind Personen, die zur Zeit der Einvernahme das 15. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, nicht als Zeugen, sondern als Auskunftspersonen einzuvernehmen (Art. 178 Bst. b StPO).

Anspruch auf Opferhilfe haben auch der Ehegatte oder die Ehegattin des Opfers, dessen Kinder und Eltern sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen162 (vgl. dazu die Ausführungen zu Art. 20).

Bei Gefährdung des Kindeswohls sind auch zivilrechtliche Massnahmen möglich (vgl. dazu die Ausführungen zu Art. 31).

Eine altersgerechte psycho-soziale Beratung für von häuslicher Gewalt mitbetroffene Kinder gemäss Absatz 2 hilft diesen, das erlittene Trauma zu bewältigen. In der Schweiz gibt es punktuelle spezifische Angebote einer zeitnahen Kinderansprache nach einer polizeilichen Intervention wegen häuslicher Gewalt 163, deren Bedarf und Wirksamkeit betätigt wurden.164 Der Regierungsrat des Kantons Bern beispielsweise hat im Herbst 2014 die Umsetzungsplanung für den Kinderschutz bei häuslicher Gewalt beschlossen.165 Die Vorgaben von Artikel 26 der Konvention werden damit erfüllt.

2.4.10

Art. 27 Meldung

Wer Zeuge oder Zeugin einer Straftat nach dieser Konvention wird, oder wer Gründe zur Annahme hat, dass eine solche Straftat begangen werden könnte oder weitere Gewalttaten zu erwarten sind, soll laut Artikel 27 ermutigt werden, dies den zuständigen Behörden zu melden.

Auf Bundesebene und im kantonalen Recht existieren verschiedene Melderechte oder gar Meldepflichten bei schweren Gewalttaten (vgl. die Ausführungen zu Art. 28). Bei Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sind die wichtigsten Zeuginnen und Zeugen in der Regel die Opfer. Der Bundesrat listet in seinem Bericht vom 27. Februar 2013 zum Postulat Fehr166 eine Reihe von Massnahmen auf, die dem Anliegen von Artikel 27 ebenfalls Rechnung tragen können. Zu nennen sind beispielsweise die Stärkung der Beratungsstellen (bessere Information der 162 163 164

Art. 1 Abs. 2 OHG.

Beispielsweise in Zürich, Thurgau, Bern und Waadt.

Marie Meierhofer Institut für das Kind 2012, Bericht der Evaluation der Projekte KidsCare und KidsPunkt im Kanton Zürich. Indizierte Prävention für von Häuslicher Gewalt betroffene Kinder, www.mmi.ch.

165 Regierungsrat des Kantons Bern, Regierungsratsbeschluss 1393/2014 vom 26.11.2014.

166 www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen > Weitere Studien und Publikationen.

231

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Öffentlichkeit, gezielte Ausbildung bestimmter Personenkategorien), der erleichterte Zugang zu den Informationen über die Opferhilfe (einheitliche Telefonnummer für alle Opferberatungsstellenvereinfachter Zugang zu den Unterstützungsangeboten über das Internet), die Verfolgung der Umsetzung des neuen Strafprozessrechts und die Vornahme einer ersten Evaluation der Auswirkungen des neuen Opferhilferechts. Hemmnisse, die das Opfer von einer Anzeige abhalten können, sollen soweit als möglich beseitigt werden. Gleichzeitig haben die Untersuchungen im Rahmen dieses Postulates gezeigt, dass es gute Gründe geben kann, warum das Opfer eine Straftat nicht anzeigt.

Die Anforderungen von Artikel 27 der Konvention werden damit erfüllt.

2.4.11

Art. 28 Meldung durch Angehörige bestimmter Berufsgruppen

Gemäss Artikel 28 haben die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass es bestimmten Berufsgruppen, welche Vorschriften über die Vertraulichkeit unterstehen, trotzdem möglich ist, unter gegebenen Umständen Meldung an die zuständigen Organisationen und Behörden zu erstatten, wenn eine schwere in den Geltungsbereich des Übereinkommens fallende Gewalttat begangen worden ist und weitere schwere Gewalttaten zu erwarten sind. Den Angehörigen dieser Berufsgruppen soll es erlaubt sein, schwere Gewalttaten nach dieser Konvention den zuständigen Behörden anzuzeigen, ohne das Berufsgeheimnis zu verletzen (Melderecht). Die Einführung einer Meldepflicht ist dagegen durch die Konvention nicht bezweckt. Die Bestimmung zielt mehr darauf ab, das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Opfer zu schützen als eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. Die Vertragsparteien können Situationen oder Fälle festlegen, in denen diese Bestimmung gilt, indem sie beispielsweise die Meldung von der vorherigen Zustimmung des Opfers abhängig machen, mit Ausnahme einiger Sonderfälle wie beispielsweise bei minderjährigen Opfern.167 Personen, die dem Berufsgeheimnis nach Artikel 321 StGB unterstehen, haben die Möglichkeit, sich davon durch Einwilligung der Betroffenen oder schriftliche Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder Aufsichtsbehörde entbinden zu lassen (Art. 321 Ziff. 2 StGB). Weiter bestehen verschiedene gesetzliche Melderechte und -pflichten: Nach Artikel 364 StGB sind die zur Wahrung des Amts- oder Berufsgeheimnisses (Art. 320 und 321 StGB) verpflichteten Personen berechtigt, an einem Minderjährigen begangene strafbare Handlungen den Kindesschutzbehörden zu melden. Artikel 75 Absatz 3 StPO sieht zudem vor, dass die Strafbehörde, wenn sie bei der Verfolgung von Straftaten, an denen Minderjährige beteiligt sind, feststellt, dass weitere Massnahmen erforderlich sind, sofort die Kindesschutzbehörden informiert. Ferner können Opferhilfe-Beratungsstellen Anzeige erstatten oder die Kindesschutzbehörde informieren, wenn ein minderjähriges Opfer oder eine andere minderjährige Person ernsthaft gefährdet ist (Art. 11 Abs. 3 OHG). Viele kantonale Gesundheitsgesetzgebungen sehen gestützt auf Artikel 321 Ziffer 3 StGB weiter167

232

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 147­148.

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reichende Melderechte für Gesundheitsfachpersonen vor, und zwar auch dann, wenn es sich um erwachsene Opfer handelt. Vereinzelt ist sogar eine Meldepflicht verankert.

Schliesslich ist am 1. Januar 2013 das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht168 in Kraft getreten, das in Artikel 443 ZGB vorsieht, dass jede Person den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden Meldung erstatten kann, wenn eine Person hilfsbedürftig erscheint, wobei die Bestimmungen über das Berufsgeheimnis vorbehalten bleiben (Abs. 1). Wer in amtlicher Tätigkeit von einer solchen Person erfährt, ist meldepflichtig, und die Kantone können weitere Meldepflichten vorsehen (Abs. 2).

Die Bestimmung gilt über den Verweis von Artikel 314 Absatz 1 ZGB auch im Kindesschutzrecht. Mit der Motion Aubert Josiane169 wurde der Bundesrat zudem beauftragt, dem Parlament eine Änderung des ZGB oder eines anderen Bundesgesetzes vorzulegen, mit der eine allgemeine Meldepflicht gegenüber Kindesschutzbehörden mit gewissen klar umschriebenen Ausnahmen in allen Kantonen eingeführt werden kann. Der Bundesrat hat am 15. April 2015 vom Vernehmlassungsergebnis Kenntnis genommen und die Botschaft für eine entsprechende Änderung des ZGB verabschiedet.170 Die parlamentarischen Beratungen sind im Gange.

Die Anforderungen von Artikel 28 der Konvention werden damit erfüllt.

2.5

Kapitel V: Materielles Recht

2.5.1

Art. 29 Zivilverfahren und Rechtsbehelfe

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, die Opfer mit angemessenen zivilrechtlichen Rechtsbehelfen gegenüber dem Täter oder der Täterin auszustatten (Abs. 1).

Dieser Absatz hat programmatischen Charakter und ist auch im Kontext der nachfolgenden konkreten Bestimmungen zu sehen. Der Täter oder die Täterin soll verpflichtet werden können, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen oder künftig von einem bestimmten Verhalten abzusehen.171 Gemäss Artikel 28 Absatz 1 ZGB kann, wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen. Das Persönlichkeitsrecht schützt unter anderem die physische Persönlichkeit mit den Rechtsgütern körperliche Integrität und Bewegungsfreiheit sowie die soziale Persönlichkeit (z.B. Recht auf Ehre). Auch die Integrität des Gefühlslebens, welche z.B. durch Erzeugen von Angst beeinträchtigt werden kann, wird durch die Artikel 28­28l ZGB geschützt (Schutz der affektiven Persönlich-

168

Zivilgesetzbuch (Erwachsenenschutzrecht, Personenrecht, Kindesrecht), Änderung vom 19. Dez. 2008, BBl 2006 7001.

169 08.3790 «Schutz des Kindes vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch».

170 www.bj.admin.ch > Aktuell > News > Mehr Kindesschutz dank erweiterter Melderechte und Meldepflichten.

171 Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 157.

233

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keit).172 Der Kläger oder die Klägerin kann gemäss Artikel 28a Absatz 1 ZGB dem Gericht beantragen, eine drohende Verletzung zu verbieten, eine bestehende Verletzung zu beseitigen oder die Widerrechtlichkeit einer Verletzung festzustellen, wenn sich diese weiterhin störend auswirkt. Gemäss Artikel 28a Absatz 3 ZGB bleiben Klagen auf Schadenersatz und Genugtuung vorbehalten (siehe dazu die Ausführungen zu Art. 30). Der am 1. Juli 2007 in Kraft getretene Artikel 28b ZGB sieht zudem spezifische Massnahmen zum Schutz vor Gewalt, Drohungen und Nachstellungen im Nahbereich vor (siehe dazu die Ausführungen zu Art. 34).

Im Rahmen der Vorlage zur Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen173 hat der Bundesrat zudem weitere Massnahmen vorgeschlagen, mit denen der Zugang zum Zivilverfahren in den betreffenden Fällen erleichtert und Kostenhürden abgebaut werden. Zur Vorbereitung dieser Revision hat der Bundesrat ausserdem eine Evaluation des zivilrechtlichen Gewaltschutzes durchführen lassen 174.

Ferner werden die Vertragsstaaten verpflichtet, die erforderlichen Massnahmen zu treffen, damit die Opfer auch gegenüber den staatlichen Behörden Ansprüche geltend machen können, wenn diese die erforderlichen Präventions- und Schutzmassnahmen nicht ergriffen haben (Abs. 2). Dieser Absatz betrifft die sogenannte Staatshaftung. Wenn die staatlichen Behörden ihren Pflichten gemäss Artikel 5 der Konvention nicht nachgekommen sind, muss das Zivilrecht Rechtsbehelfe wie Schadenersatzklagen bereithalten, um diese Unterlassung zu erfassen.175 In der Schweiz ist das Staatshaftungsrecht zwar in öffentlich-rechtlichen und nicht in zivilrechtlichen Erlassen geregelt; daraus abgeleitete Ansprüche erfüllen aber die Anforderungen der Konvention. Im Bund gilt nach dem Verantwortlichkeitsgesetz vom 14. März 1958176 der Grundsatz der kausalen Staatshaftung. Der Bund haftet für den Schaden, den ein Beamter (heute Bundesangestellter) in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit Dritten widerrechtlich zugefügt hat (Art. 3 Abs. 1 VG). Die Widerrechtlichkeit ist bei der Verletzung von absolut geschützten Rechtsgütern wie dem Recht auf Leben sowie der körperlichen und seelischen Integrität regelmässig gegeben (vgl. dazu auch die Ausführungen zu Art. 30).177 Wird einem Beamten ein Unterlassen angelastet, muss zudem eine Handlungspflicht,
welche eine Garantenstellung begründet, bestanden haben. Vorausgesetzt wird die Verletzung einer Amtspflicht eines Beamten oder einer Schutzpflicht des Staates.178 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so haftet der Bund ohne Rücksicht auf das Verschulden des Beamten. Bei Verschulden des Beamten kommt unter Umständen zudem eine 172

173

174 175 176 177 178

234

Für Einzelheiten: Hausheer Heinz, Aebi-Müller Regina E., Das Personenrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 3. Aufl., Bern 2012, Rz. 12.41 ff.; Meili Andreas, in: Honsell Heinrich, Vogt Nedim Peter, Geiser Thomas (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 5. Aufl., Basel 2014, Art. 28 N 17.

www.bj.admin.ch > Sicherheit > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Schutz vor häuslicher Gewalt > Vernehmlassungsverfahren. Die entsprechende Vernehmlassung wird zurzeit ausgewertet.

www.bj.admin.ch > Sicherheit > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Schutz vor häuslicher Gewalt > Evaluationsbericht.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 162.

VG, SR 170.32.

BGE 132 II 449 E. 3.3.

BGE 133 V 14 E. 8.1; Ulrich Häfelin, Georg Müller, Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Zürich/St. Gallen 2010, Rz. 2249.

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Genugtuung nach Artikel 6 VG in Frage. Die Kantone sehen ähnliche Haftungsregimes wie der Bund vor.179 Die Anforderungen von Artikel 29 der Konvention werden somit erfüllt.

2.5.2

Art. 30 Schadenersatz und Entschädigung

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet dafür zu sorgen, dass Opfer vom Täter oder von der Täterin Schadenersatz fordern können (Abs. 1). Ausserdem soll ihnen in gewissen Fällen subsidiär eine angemessene staatliche Entschädigung gewährt werden (Abs. 2), wobei zu Letzterem ein Vorbehalt angebracht werden kann (Art. 78 Abs. 2 der Konvention).

Gemäss Artikel 41 Absatz 1 des Obligationenrechts180 (OR)wird, wer einem anderen widerrechtlich einen Schaden zufügt, ersatzpflichtig, wenn ihm ein Verschulden vorgeworfen werden kann. Eine Verletzung ist unter anderem dann widerrechtlich, wenn persönliche Rechtsgüter wie das Recht auf Leben oder die körperliche, geistige oder seelische Integrität betroffen sind; diese sind absolut geschützt.181 Wenn dem Geschädigten aus der Verletzung ein finanzieller Schaden (z.B. Heilungskosten, Verdienstausfall) entstanden ist, kann er für diesen von einem schuldhaft handelnden Täter Ersatz verlangen. Bei Körperverletzung (Art. 47 OR) sowie bei anderen schweren Persönlichkeitsverletzungen, welche nicht anders wiedergutgemacht wurden (Art. 49 OR), kann die geschädigte Person zudem Genugtuung verlangen.

Diese ist unabhängig von den wirtschaftlichen Folgen einer Verletzung zu leisten und soll die erlittene immaterielle Unbill ausgleichen.182 Voraussetzung ist, dass ein körperlicher oder seelischer Schmerz von einer gewissen Schwere erlitten wurde 183 oder eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung184 vorgelegen hat.

Opfer haben gemäss OHG Anspruch auf Entschädigung für den erlittenen Schaden (Art. 19 Abs. 1 OHG). Im Unterschied zur Konvention werden alle Opfer im Sinne von Artikel 1 OHG erfasst, nicht nur jene, die eine schwere Schädigung erlitten haben. Die Entschädigung beträgt höchstens 120 000 Franken (Art. 20 Abs. 3 OHG). Für Entschädigungen gemäss OHG gilt das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Art. 4 OHG).

Das Übereinkommen verlangt ausserdem, dass die Entschädigung innert angemessener Zeit geleistet wird (Abs. 3). Das OHG verpflichtet die Kantone, ein einfaches und rasches Verfahren für die Gewährung von Entschädigungen vorzusehen (Art. 29 OHG). Es besteht zudem die Möglichkeit, einen Vorschuss zu erhalten.

Die Anforderungen von Artikel 30 der Konvention werden damit erfüllt. Die Möglichkeit eines Vorbehalts zu Absatz 2 muss nicht in Anspruch genommen werden.

179 180 181

Pierre Moor, Droit adminstratif Vol. II, 3. Aufl., Bern 2011, 852 ff.

SR 220 Heierli Christian, Schnyder Anton K., in: Honsell Heinrich, Vogt Nedim Peter, Geiser Thomas (Hrsg.), Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 5. Aufl., Basel 2011, Art. 41 N 33; vgl. auch die Ausführungen oben zu Art. 29.

182 BGE 123 III 204 E. 2.e; Heierli Christian, Schnyder Anton K. (Fn. 154), Art. 47 N 4.

183 BGE 110 II 163 E. 2.c.

184 BGE 129 III 715 E. 4.4.

235

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2.5.3

Art. 31 Sorgerecht, Besuchsrecht und Sicherheit

Gewalttätige Vorfälle im Sinne der Konvention sind bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder zu berücksichtigen (Abs. 1).

In der Schweiz hat das Kindeswohl, das sich am übergeordneten Prinzip von Artikel 3 KRK orientiert, am 1. Januar 2000 mit Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung, Verfassungsrang erhalten. Gemäss Artikel 11 Absatz 1 BV haben Kinder und Jugendliche «Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung». Die Revision über die elterliche Sorge, die am 1. Juli 2014 in Kraft getreten ist, hält im Gesetz den Grundsatz ausdrücklich fest: Die elterliche Sorge dient dem Wohl des Kindes, dieses ist stets zu berücksichtigen (Art. 296 Abs. 1 ZGB). Die gemeinsame elterliche Sorge ist die Regel geworden: Die Kinder stehen, solange sie minderjährig sind, grundsätzlich unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Vater und Mutter. Wenn es zur Wahrung des Kindeswohls aber nötig ist, soll die elterliche Sorge einem Elternteil allein übertragen werden können (Art. 298 Abs. 1 und Art. 298b Abs. 2 ZGB). Da häusliche Gewalt nicht nur die gemeinsame elterliche Sorge in Frage stellt, sondern generell die Befähigung des Vaters oder der Mutter (oder auch beider), die elterliche Sorge auszuüben, wird sie in Artikel 311 Absatz 1 Ziffer 1 ZGB seit der Revision des Sorgerechts explizit als Grund aufgeführt, einem Elternteil oder beiden die elterliche Sorge zu entziehen.

Aus dem gleichen Grund kann das Sorgerecht von Anfang an vorenthalten werden.

Dabei spielt es keine Rolle, ob das Kind direkt Opfer häuslicher Gewalt wird oder ob es davon nur indirekt betroffen ist, weil sich die häusliche Gewalt gegen den andern Elternteil richtet.185 Auch bei der Ausgestaltung des Rechts auf persönlichen Verkehr (sog. Besuchsrecht) ist das Kindeswohl die oberste Richtschnur.186 Das Recht auf persönlichen Verkehr kann deshalb bei Gefährdung des Kindeswohls verweigert oder entzogen werden (Art. 274 Abs. 2 ZGB). Gewalttätige Vorfälle im Sinne der Konvention können damit in jedem Fall bei Entscheidungen über das Besuchs- oder Sorgerecht berücksichtigt werden.

Ferner müssen die Vertragsparteien sicherstellen, dass die Ausübung des Besuchsoder Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet (Abs. 2).

Eine Gefährdung der Rechte
und Sicherheit des Opfers gewalttätiger Vorfälle oder der Kinder bei Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts ist als unvereinbar mit dem Kindeswohl zu werten und damit von den Gerichten und Behörden im Rahmen der oben genannten Bestimmungen zu berücksichtigten. Für die Besuchsrechtsausübung kann die Kindesschutzbehörde darüber hinaus Ermahnungen und Weisungen erteilen, damit sich die Ausübung des persönlichen Verkehrs nicht nachteilig für das Kind auswirkt (Art. 273 Abs. 2 ZGB und Art. 307 Abs. 3 ZGB). In Frage kommen beispielsweise ein Besuchsrechtsbeistand, der mit den Eltern separate Gespräche

185

Botschaft vom 16. November 2011 zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Elterliche Sorge), BBI 2011 9077, 9105, 9109.

186 BGE 130 III 585 E. 2.1.

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führt, ein begleitetes Besuchsrecht187 oder die Verordnung einer Therapie188 oder Mediation189.

Die Voraussetzungen von Artikel 31 der Konvention werden damit erfüllt.

2.5.4

Art. 32 Zivilrechtliche Folgen der Zwangsheirat

Die Vertragsstaaten werden in Artikel 32 verpflichtet, dafür zu sorgen, dass unter Zwang geschlossene Ehen ohne unangemessene finanzielle oder administrative Belastung für das Opfer anfechtbar sind, für nichtig erklärt oder aufgelöst werden können.

Eine Ehe, die von einem der Ehegatten nicht aus freiem Willen geschlossen wurde, ist gemäss Artikel 105 Ziffer 5 ZGB ungültig. Dasselbe gilt grundsätzlich, wenn einer der Ehegatten minderjährig ist, es sei denn, die Weiterführung der Ehe entspreche den überwiegenden Interessen dieses Ehegatten (Art. 105 Ziff. 6 ZGB). Die Klage ist von der zuständigen kantonalen Behörde am Wohnsitz der Ehegatten von Amtes wegen zu erheben; überdies kann jedermann klagen, der ein Interesse hat.

Weiter werden die Behörden, die mit einer Zwangsehe in Kontakt kommen, verpflichtet, dies der für die Klage zuständigen Behörde zu melden (Art. 106 Abs. 1 ZGB). Die Klage kann jederzeit eingereicht werden (Art. 106 Abs. 3 ZGB). Das zuständige Gericht erklärt die Ehe für ungültig, für die Wirkungen auf die Ehegatten und die Kinder gelten sinngemäss die Bestimmungen über die Scheidung (Art. 109 Abs. 1 und 2 ZGB).

Die Anforderungen von Artikel 32 der Konvention werden damit erfüllt.

2.5.5

Art. 33 Psychische Gewalt

Die Vertragsstaaten werden in Artikel 33 verpflichtet, die vorsätzliche, ernsthafte Beeinträchtigung der psychischen Unversehrtheit einer Person durch Nötigung oder Drohung strafbar zu erklären. Die Staaten können eine Erklärung abgeben, wonach sie für dieses Verhalten andere als strafrechtliche Sanktionen vorsehen (Art. 78 Abs. 3 der Konvention).

Nach schweizerischem Strafrecht macht sich auf Antrag strafbar, wer jemanden durch schwere Drohung in Schrecken oder Angst versetzt (Art. 180 Abs. 1 StGB).

Von Amtes wegen wird die Tat namentlich dann verfolgt, wenn der Täter der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner, oder der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner im gemeinsamen Haushalt des Opfers ist und die Drohung während der Verbindung oder bis zu einem Jahr nach der Auflösung begangen wurde (Art. 180 Abs. 2 StGB). Absatz 2 ist damit spezifisch auf die von der Konvention erfassten Regelungsbereiche zugeschnitten. Strafbar macht sich ferner, wer jemanden durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile oder durch 187 188 189

BGE 122 III 404 E. 3.c.

Urteil des Bundesgerichts 5A_140/2010 vom 11. Juni 2010, E. 3.2.

Urteil des Bundesgerichts 5A_457/2009 vom 9. Dezember 2009, E. 4.1.

237

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andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden (Art. 181 Abs. 1 StGB).

Die psychische und seelische Unversehrtheit einer Person ist auch zivilrechtlich geschützt. Eine Verletzung der psychischen oder seelischen Integrität ­ etwa durch Erzeugen von Angst ­ gilt als Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Artikel 28 ZGB.190 Die widerrechtlich Verletzten können auf Unterlassung, Beseitigung oder Feststellung klagen (Art. 28a ZGB) sowie allenfalls Schadenersatz oder Genugtuung verlangen (Art. 28a Abs. 3 ZGB i.V.m. Art. 41 Abs. 1 und 49 bzw. 47 OR).191 Artikel 33 der Konvention wird im schweizerischen Recht vollständig abgedeckt. Da sowohl strafrechtliche wie auch zivilrechtliche Massnahmen vorgesehen werden, geht die schweizerische Regelung sogar über die Anforderungen der Konvention hinaus. Eine Erklärung im Sinn von Artikel 78 Absatz 3 der Konvention ist nicht notwendig.

2.5.6

Art. 34 Nachstellung (Stalking)

Artikel 34 verpflichtet die Vertragsstaaten, das vorsätzliche und wiederholte Bedrohen einer anderen Person, das diese um ihre Sicherheit fürchten lässt, strafbar zu erklären. Die Staaten können eine Erklärung abgeben, wonach sie für dieses Verhalten andere als strafrechtliche Sanktionen vorsehen (Art. 78 Abs. 3 der Konvention).

Das schweizerische Strafrecht kennt keinen expliziten Stalking-Straftatbestand. Ein entsprechender Vorstoss wurde vom Parlament abgelehnt.192 Stalking kann jedoch nach geltendem Strafrecht in seiner Gesamtheit oder durch einzelne einschlägige Verhaltensweisen strafrechtlich geahndet werden. Die am häufigsten vorkommenden Straftatbestände sind Drohung (Art. 180 StGB), Nötigung (Art. 181 StGB), Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179septies StGB), Ehrverletzungen (Art. 173­177 StGB), Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB), Sachbeschädigung (Art. 144 StGB), Körperverletzungen (Art. 122 f. StGB), Tätlichkeiten (Art. 126 StGB), Pornografie (Art. 197 StGB) und sexuelle Belästigungen (Art. 198 StGB).

Ausnahmslos von Amtes wegen verfolgt werden Nötigung, Pornografie und schwere Körperverletzung.

Über die von der Konvention diesbezüglich verlangten Massnahmen hinaus sieht auch das Zivilrecht Massnahmen zum Schutz vor (namentlich auch sog. weichem) Stalking vor. Der am 1. Juli 2007 in Kraft getretene Artikel 28b ZGB ermöglicht es gewaltbetroffenen Personen im Rahmen des Schutzes der Persönlichkeit, sich mittels zivilrechtlicher Massnahmen gegen eine Beeinträchtigung und Gefährdung ihrer physischen, psychischen, sexuellen oder sozialen Integrität durch Gewalt, Drohun190

Vgl. Hausheer Heinz, Aebi-Müller Regina E., Das Personenrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 3. Aufl., Bern 2012, Rz. 12.64 ff.

191 Vgl. dazu die Ausführungen zu Artikel 30.

192 Motion Fiala, 08.3495 «Stalking»; vgl. dazu auch die Motion Fiala, 13.3742 «StalkingThema nicht auf die lange Bank schieben» (abgelehnt) und das Postulat Feri, 14.4204 «Bekämpfung von Stalking in der Schweiz verbessern» (im Punkt 1 angenommen, wonach der Bundesrat beauftragt wird, in einem Bericht erfolgreiche nationale und internationale Massnahmen im Kampf gegen Stalking zusammenzustellen).

238

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gen oder Nachstellungen (Stalking) im engeren und weiteren sozialen Nahraum zu schützen. Artikel 28b ZGB erlaubt die Anordnung von Massnahmen unabhängig davon, in welcher rechtlichen und tatsächlichen Beziehung die betroffenen Personen zueinander stehen. Die Bestimmung listet in Absatz 1 Ziffern 1­3 Massnahmen auf, die durch das Gericht getroffen werden können, um eine drohende rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung abzuwenden oder eine bestehende Verletzung zu beseitigen. Zugunsten der klagenden Partei können dadurch beispielsweise Annäherungsverbote, Ortsverbote sowie Kontaktaufnahmeverbote durch das Gericht angeordnet werden. Diese Verbote können mittels vorsorglicher oder gar superprovisorischer Massnahmen prozessual sehr rasch in die Wege geleitet werden. Das Gericht kann die Verfügung zudem mit einer Strafandrohung nach Artikel 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen) verbinden, sodass der Täter durch den Umweg über das Zivilrecht zusätzlich strafrechtlich belangt werden kann.

Der Massnahmenkatalog ist nicht abschliessend: Das Gericht kann auch andere Massnahmen beschliessen, die geeignet sind, die klagende Person vor Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen zu schützen. So kann bei gewissen gewaltausübenden Personen als Massnahme auch eine fürsorgerische Unterbringung (Art. 426­439 ZGB) in Betracht kommen. Artikel 28b Absätze 2 und 3 ZGB ermöglicht eine Ausweisung aus der Wohnung, wenn Opfer und gewaltausübende Person zusammenleben und erlaubt zudem im Einverständnis mit dem Vermieter eine Übertragung des Mietvertrags. Ziel dieser Bestimmung ist es, dem Opfer eine Alternative zur Flucht zu bieten. Mit Absatz 4 werden die Kantone aufgefordert, eine Stelle zu bezeichnen, die im Krisenfall die sofortige Ausweisung der verletzenden Person aus einer gemeinsamen Wohnung verfügen kann. Die Kantone haben die Polizei mit dieser Aufgabe betraut; in einigen Kantonen wurden zudem eigene Gewaltschutzgesetze erlassen. Sind die beiden Personen miteinander verheiratet, können zudem die Massnahmen des Persönlichkeitsschutzes im Rahmen des Eheschutzes (Art. 172 Abs. 3 ZGB) oder im Scheidungsverfahren (Art. 276 ZPO193, vorsorgliche Massnahmen) geltend gemacht werden.

Das schweizerische Recht sieht sowohl strafrechtliche wie auch zivilrechtliche Massnahmen gegen Stalking vor und geht damit über die Anforderungen der Konvention hinaus. Eine Erklärung im Sinne von Artikel 78 Absatz 3 der Konvention ist nicht notwendig.

2.5.7

Art. 35 Körperliche Gewalt

Die Vertragsstaaten werden in Artikel 35 verpflichtet, das Verhalten, durch das einer anderen Person vorsätzlich körperliche Gewalt angetan wird, strafbar zu erklären.

Im StGB werden strafbare Handlungen gegen Leib und Leben umfassend pönalisiert. Im vorliegenden Zusammenhang stehen die Artikel 122 StGB (schwere Körperverletzung) und 123 StGB (Einfache Körperverletzung) im Zentrum. Sie erfüllen die Anforderungen der Konvention. Bezüglich Artikel 126 StGB (Tätlichkeiten) ist zu klären, ob die Konvention die Vertragsstaaten überhaupt dazu verpflichtet, diese 193

Schweizerische Zivilprozessordnung, Zivilprozessordnung, ZPO, SR 272.

239

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leichte Form körperlicher Gewalt ebenfalls strafbar zu erklären, und wenn ja, in welchem Umfang. Dies spielt vor allem im Zusammenhang mit Artikel 41 (Gehilfenschaft zu körperlicher Gewalt, s. Ziff. 2.5.13), Artikel 48 (Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren oder Strafurteile, s. Ziff. 2.5.20) und Artikel 55 (Verfahren auf Antrag und von Amtes wegen, s. Ziff. 2.6.7) eine Rolle.

Nach Artikel 126 StGB wird auf Antrag mit Busse bestraft, wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben. Als Tätlichkeit gilt der geringfügige und folgenlose Angriff auf den Körper oder die Gesundheit eines anderen Menschen. Das Bundesgericht nimmt, unabhängig von der Schmerzzufügung, eine Tätlichkeit dann an, «wenn das allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Mass einer Einwirkung auf den Körper eines anderen überschritten wird», dabei aber noch keine Schädigung bewirkt wird (z.B. Ohrfeige, Faustschläge, Fusstritte, heftige Stösse, Zerzausen einer kunstvoll aufgebauten Frisur, Haarabschneiden, Begiessen mit Flüssigkeiten usw.). Auch leichte gesundheitliche Beeinträchtigungen, die mindestens ein deutliches, freilich vorübergehendes Missbehagen verursachen, sind als Tätlichkeiten zu werten (z.B.

das gewaltsame oder hinterhältige Eingeben von flüssigen oder gasförmigen Stoffen, die zu Brechreiz, Husten oder Niesen führen oder die abführende Wirkung haben).194 Unter den Begriff Tätlichkeit fallen auch Handgreiflichkeiten, die Schrammen, Kratzer, Schürfungen, blaue Flecken, Quetschungen bewirken, die keine besondere Behandlung erfordern, rasch ausheilen und überdies nicht erhebliche Schmerzen hervorrufen.195 Gegenüber der einfachen Körperverletzung ist die Tätlichkeit dadurch abgegrenzt, dass sie noch keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben darf.

Im Erläuternden Bericht zur Konvention wird ausgeführt, dass ein Tatbestand für alle vorsätzlich verübten körperlichen Gewalttaten gegen eine andere Person unabhängig vom Kontext, in dem es zur Tat kommt, vorzusehen ist. Demnach umfasst der Begriff «körperliche Gewalt» Verletzungen des Körpers, die durch die unmittelbare und rechtswidrige Anwendung von körperlicher Kraft hervorgerufen werden, wozu auch zum Tode des Opfers führende Gewalt zählt.196 Daraus kann
geschlossen werden, dass die Kriminalisierung von Tätlichkeiten nach schweizerischem Recht, wie oben ausgeführt, von der Konvention nicht verlangt wird, weil der Tatbestand der Tätlichkeiten, negativ formuliert, gerade keine Verletzung des Körpers voraussetzt.

Artikel 35 der Konvention wird vom schweizerischen Strafrecht abgedeckt.

194

Roth Andreas, Keshelava Tornike, in: Niggli Marcel Alexander, Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht II, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 126 N 2 ff.

195 BGE 107 IV 40, 43; Roth Andreas A., Anne Berkemeier, in: Niggli Marcel Alexander, Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht II, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 123 N 8.

196 Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 187 und 188.

240

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2.5.8

Art. 36 Sexuelle Gewalt, einschliesslich Vergewaltigung

Die Vertragsstaaten werden in Artikel 36 verpflichtet, nicht einverständliche sexuelle Handlungen mit einer Person (Abs. 1 Bst. a und b) oder das Veranlassen einer Person zur Vornahme nicht einverständlicher Handlungen mit einer dritten Person (Abs. 1 Bst. c) strafbar zu erklären. Das Einverständnis muss freiwillig erteilt werden (Abs. 2). Die Verhaltensweisen nach Absatz 1 müssen auch dann strafbar sein, wenn sie gegen ehemalige oder gegenwärtige (Ehe)Partner oder (Ehe)Partnerinnen im Sinne des internen Rechts begangen werden (Abs. 3). Dieser Artikel deckt zwar alle Formen von sexuellen Handlungen ab, die einer Drittperson ohne deren freiwillige Zustimmung vorsätzlich aufgezwungen werden. Die Vertragsstaaten haben allerdings einen gewissen Spielraum, indem es ihnen überlassen ist, «über die genaue Formulierung in der Gesetzgebung sowie über die Faktoren zu entscheiden, die eine freie Zustimmung ausschliessen»197.

Die beschriebenen Verhaltensweisen sind nach dem 5. Titel des StGB (strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität) strafbar, so namentlich als sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB). Dies gilt unabhängig davon, ob sie in der früheren oder derzeitigen Ehe oder Partnerschaft begangen wurden. Das Erfordernis von Absatz 2 ist ebenfalls erfüllt, muss doch ein Einverständnis zu sexuellen Handlungen freiwillig sein, damit es tatbestandausschliessend wirkt.

Artikel 36 der Konvention wird im schweizerischen Strafrecht abgedeckt.

2.5.9

Art. 37 Zwangsheirat

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, die Person strafbar zu erklären, die eine erwachsene Person oder ein Kind vorsätzlich zur Eheschliessung zwingt (Abs. 1).

Ferner haben sie das vorsätzliche Locken einer erwachsenen Person oder eines Kindes in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates, um sie oder es zur Eheschliessung zu zwingen, strafbar zu erklären (Abs. 2).

Artikel 37 Absatz 1 Zwangsheirat ist in der Schweiz seit dem 1. Juli 2013 explizit als Straftat geregelt (Art. 181a StGB). Wer jemanden durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit nötigt, eine Ehe einzugehen oder eine Partnerschaft eintragen zu lassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft (Art. 181a Abs. 1 StGB). Strafbar macht sich auch, wer die Tat im Ausland begeht, sich in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird (Art. 181a Abs. 2 StGB; vgl. dazu auch Ziff. 2.5.16).

Artikel 37 Absatz 2 In Absatz 2 wird die Täuschung einer Person, um sie in einen Drittstaat (häufig das Land ihrer Vorfahren) zu locken mit dem Ziel, sie dort gegen ihren Willen zu ver197

Erläuternder Bericht zur Konvention Ziff. 193.

241

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heiraten, als Straftat umschrieben. Es ist nicht erforderlich, dass die Ehe geschlossen wird. Der Begriff «locken» bezeichnet jedes Verhalten, das es dem Täter ermöglicht, das Opfer dazu zu bringen, ins Ausland zu fahren, insbesondere durch Vorwände oder das Erfinden von Gründen, wie beispielsweise die Notwendigkeit, ein krankes Familienmitglied zu besuchen.198 Eine Vorbehaltsmöglichkeit ist nicht vorgesehen.

Die Umsetzung dieser Tatbestandvariante ins innerstaatliche Recht bedarf einer vertieften Prüfung: Das in Artikel 37 Absatz 2 umschriebene Verhalten bildet keine vollendete Zwangsheirat (Art. 181a Abs. 1 StGB), da diese auf der objektiven Seite eine Nötigung voraussetzt. Hingegen ist auch versuchte Zwangsheirat nach schweizerischem Strafrecht strafbar. Der Versuch unterscheidet sich vom vollendeten Delikt dadurch, dass der objektive Tatbestand nur zum Teil verwirklicht wird, während der subjektive Tatbestand hier wie dort erfüllt sein muss. Um als Versuch strafbar zu sein, muss der tatbestandsmässige Verwirklichungswille vorhanden sein. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt ein Versuch dann vor, wenn der letzte entscheidende Schritt getan wurde, von dem es nach dem Plan des Täters kein Zurück mehr gibt, es sei denn wegen äusserer Umstände. Zum Beginn der Ausführung zählt die Handlung, mit der der Täter «zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt». Unmittelbares Ansetzen zur Tatverwirklichung erfordert tatnahes Handeln, sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht.199 Gemäss Artikel 37 Absatz 2 der Konvention muss der Täter auf die betroffene Person einwirken mit der Absicht, diese in einem Drittstaat zwangsweise zu verheiraten. Sobald sich die betroffene Person aufgrund der Einwirkung auf die Reise ins Ausland begibt und der Täter mit dem Vorsatz handelt, diese Person dort zwangsweise zu verheiraten, ist die massgebliche Schwelle zum strafbaren Versuch der Zwangsheirat jedenfalls überschritten. Das gemäss Artikel 37 Absatz 2 der Konvention strafbar zu erklärende Verhalten wird somit vom schweizerischen Strafrecht grundsätzlich abgedeckt.

Die Konvention verlangt jedoch gemäss Artikel 37 Absatz 2 i.V.m. Artikel 41 Absatz 2 (vgl. die Ausführungen in Ziff. 2.5.13), dass auch der Versuch dieses Verhaltens, d.h. des Lockens, strafbar erklärt wird. Ob in der Schweiz getroffene
Reisevorbereitungen ebenfalls bereits als Versuch zu Artikel 181a StGB zu werten sind oder ob es sich noch um straflose Vorbereitungshandlungen handelt, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Die Annahme eines strafbaren Versuchs auf Schweizer Territorium dürfte angesichts der extensiven Praxis des Bundesgerichts in ähnlich gelagerten Fällen auch in diesem Stadium nicht von vornherein ausgeschlossen sein.200 Die Grenze dürfte dort erreicht sein, wo es zu keinen konkreten Reisevorbereitungen (wie z.B. Buchung eines Fluges) kommt.

Die Strafbarkeit des Versuchs von Artikel 181a StGB deckt die möglichen Sachverhalte, wie oben beschrieben, ausreichend ab. Eine zusätzliche Vorverlagerung der Strafbarkeit ins Vorfeld käme einem Gesinnungsstrafrecht gleich, das dem schweizerischen Strafrechtssystem zuwiderläuft.

198 199

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 195­197.

Niggli Marcel Alexander, Maeder Stefan, in: Niggli Marcel Alexander, Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, 3. Auflage, Basel 2013, Art. 22 N 16ff..

200 So die Botschaft zum Bundesgesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten vom 23. Februar 2011, BBl 2011 2221 f. mit Hinweisen.

242

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Gesamthaft gesehen vermag das schweizerische Recht den Anforderungen von Artikel 37 zu genügen.

2.5.10

Art. 38 Verstümmelung weiblicher Genitalien

Die Vertragsparteien haben die vorsätzliche Entfernung, Infibulation oder Durchführung jeder sonstigen Verstümmelung der gesamten grossen oder kleinen Schamlippen oder der Klitoris einer Frau oder eines Teils davon unter Strafe zu stellen (Bst. a). Ebenso ist das Verhalten strafbar zu erklären, durch das eine Frau dazu genötigt oder gebracht wird, sich einer dieser Handlungen zu unterziehen (Bst. b).

Dies deckt den Fall ab, dass jemand dem Täter oder der Täterin Hilfe leistet und eine Frau so dazu gezwungen wird, Tathandlungen nach Buchstabe a zu erleiden, oder dass jemand dem Täter oder der Täterin die erforderlichen Mittel dafür bereitstellt.201 Zudem ist das Verhalten, durch das ein Mädchen dazu verleitet, genötigt oder dazu gebracht wird, sich einer dieser Handlungen zu unterziehen (Bst. c), strafbar zu erklären. Zusätzlich zu den Tathandlungen nach Buchstabe b kommt in diesem Fall die Tathandlung des «Verleitens» hinzu.202 Seit dem 1. Juli 2012 ist Artikel 124 StGB in Kraft, wonach sich explizit strafbar macht, wer die Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, in ihrer natürlichen Funktion erheblich und dauerhaft beeinträchtigt oder sie in anderer Weise schädigt (Abs. 1). Ebenso macht sich strafbar, wer die Tat im Ausland begeht, sich in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird (Abs. 2, vgl. dazu auch die Ausführungen in Ziff. 2.5.16). Damit wird Buchstabe a erfüllt. Die Tatbestandsvarianten der Buchstaben b und c werden über den Tatbestand der Nötigung (Art. 181 StGB) sowie Mittäterschaft und Gehilfenschaft, allenfalls Anstiftung (Art. 24 und 25 StGB), zur Verstümmelung weiblicher Genitalien erfasst. Teilnahmehandlungen zu den Buchstaben b und c nach Artikel 41 der Konvention müssen im Übrigen nicht strafbar erklärt werden. Das schweizerische Strafrecht schützt Mädchen und Frauen gleichermassen vor Genitalverstümmelung.

Die Anforderungen von Artikel 38 der Konvention werden im schweizerischen Strafrecht vollständig abgedeckt.

2.5.11

Art. 39 Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, Zwangsabtreibung (Bst. a) und Zwangssterilisierung (Bst. b) unter Strafe zu stellen.

Nach schweizerischem Strafrecht macht sich strafbar, wer eine Schwangerschaft ohne Einwilligung der schwangeren Frau abbricht (Art. 118 Abs. 2 StGB). Zwangssterilisation ist als schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB) strafbar.

Artikel 39 der Konvention wird im schweizerischen Strafrecht vollständig abgedeckt.

201 202

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 200.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 201.

243

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2.5.12

Art. 40 Sexuelle Belästigung

Nach Artikel 40 haben die Vertragsstaaten jede Form von ungewolltem, sexuell bestimmtem verbalen, nonverbalen oder körperlichen Verhalten mit dem Zweck oder der Folge, die Würde einer Person zu verletzen, insbesondere wenn dadurch ein Umfeld der Einschüchterung, Feindseligkeit, Erniedrigung, Entwürdigung oder Beleidigung geschaffen wird, strafrechtlichen oder sonstigen rechtlichen Sanktionen zu unterstellen.

Im StGB gibt es zwei Tatbestände, welche sexuelle Belästigung zum Inhalt haben.

Auf Antrag wird mit Busse bestraft, wer vor jemandem, der dies nicht erwartet, eine sexuelle Handlung vornimmt und dadurch Ärgernis erregt und wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt (Art. 198 StGB). Wer eine exhibitionistische Handlung vornimmt, wird auf Antrag mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft (Art. 194 Abs. 1 StGB). Diskriminierung durch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann zudem gestützt auf die Artikel 4 und 5 GlG geahndet werden.

Die Konvention lässt den Vertragsstaaten relativ viel Freiraum bei der Umsetzung dieses Artikels.203 Zum einen können sie auch andere als strafrechtliche Sanktionen vorsehen. Zum anderen müssen bei strafrechtlichen Sanktionen weder der Versuch der sexuellen Belästigung noch Teilnahmehandlungen daran (Art. 41 der Konvention) strafbar erklärt werden. Ebenso wenig ist die sexuelle Belästigung als Offizialdelikt auszugestalten (Art. 55 der Konvention).

Deshalb genügt das schweizerische Recht den Anforderungen der Konvention.

2.5.13

Art. 41 Beihilfe oder Anstiftung und Versuch

Die Vertragsstaaten haben gestützt auf Artikel 41 Gehilfenschaft und Anstiftung bezüglich der Artikel 33 (psychische Gewalt), 34 (Nachstellung), 35 (körperliche Gewalt), 36 (sexuelle Gewalt), 37 (Zwangsheirat), 38 Buchstabe a (Genitalverstümmelung) und 39 (Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation) der Konvention sowie Versuch bezüglich der Artikel 35 (bei schwerer körperlicher Gewalt), 36, 37, 38 Buchstabe a und 39 der Konvention strafbar zu erklären.

Anstiftung und Gehilfenschaft zu einem Verbrechen oder Vergehen sind nach schweizerischem Strafrecht strafbar (Art. 24 und 25 StGB), der Versuch eines Verbrechens oder Vergehens ebenfalls (Art. 22 StGB). Versuch und Gehilfenschaft zu Übertretungen werden hingegen nur in den vom Gesetz ausdrücklich bestimmten Fällen bestraft (Art. 105 Abs. 2 StGB). Die Anstiftung zu einer Übertretung ist dagegen grundsätzlich strafbar.

Die Tatbestände des schweizerischen Rechts, die den in der Konvention abschliessend aufgezählten Delikten entsprechen, sind fast durchwegs Verbrechen oder Vergehen. Einzige Ausnahme sind Tätlichkeiten nach Artikel 126 StGB, die als Übertretung geahndet werden. Versuch einer und Gehilfenschaft zu einer Tätlichkeit 203

244

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 207.

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sind nach allgemeiner Regel bzw. in Ermangelung einer Sondervorschrift, nicht strafbar. Wie bereits unter Ziffer 2.5.7 dargelegt wurde, ist jedoch zur Umsetzung von Artikel 35 der Konvention die Kriminalisierung von Tätlichkeiten im Sinne von Artikel 126 StGB nicht vorausgesetzt.

Bezüglich der von der Konvention geforderten Strafbarkeit des Versuchs der körperlichen Gewalt (Art. 35) stellen sich von vornherein keine Probleme, weil die Vertragsparteien die Möglichkeit haben, versuchte körperliche Gewalt nur in schweren Fällen körperlicher Gewalt als Straftat zu umschreiben.204 Dazu gehört die Tätlichkeit a priori nicht.

Zu prüfen bleibt, ob auch die Gehilfenschaft zu körperlicher Gewalt hinreichend abgedeckt ist. Wie bereits erwähnt, ist im schweizerischen Strafrecht Gehilfenschaft zu schwerer wie auch zu leichter Körperverletzung strafbar (Art. 122 und 123 i.V.

m. Art. 25 StGB). Nicht strafbar ist hingegen Gehilfenschaft zu Tätlichkeiten (Art. 126 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 StGB). Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass die Konvention die Bestrafung der Tätlichkeiten nicht voraussetzt. Dies gilt folgerichtig auch für die Gehilfenschaft zu Tätlichkeiten.

Aus diesen Gründen erfüllt die Schweiz die Anforderungen der Konvention auch in diesem Punkt. Gleiches gilt, wie bereits unter Ziffer 2.5.9. dargelegt, für den Versuch der Tatbestandsvariante der Zwangsheirat nach Artikel 37 Absatz 2 der Konvention.

2.5.14

Art. 42 Inakzeptable Rechtfertigungen für Straftaten, einschliesslich der im Namen der sogenannten «Ehre» begangenen Straftaten

Die Vertragsstaaten müssen sicherstellen, dass in Strafverfahren betreffend Straftaten nach dieser Konvention Kultur, Bräuche, Religion, Tradition oder die sogenannte «Ehre» nicht als Rechtfertigung für solche Handlungen angesehen werden (Abs. 1). Zudem haben sie sicherzustellen, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person, die ein Kind zur Begehung einer Straftat gemäss Absatz 1 verleitet, nicht gemindert wird (Abs. 2).

Das schweizerische Strafrecht kennt keine der in Absatz 1 genannten Rechtfertigungsgründe. Tathandlungen nach Absatz 2 sind gemäss den allgemeinen Regeln über die Anstiftung oder mittelbare Täterschaft zum entsprechenden Delikt erfasst.

Die in der Konvention genannten Gründe wirken auch hier nicht rechtfertigend.

Artikel 42 der Konvention wird im schweizerischen Strafrecht abgedeckt.

204

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 214.

245

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2.5.15

Art. 43 Anwendung der Straftatbestände

Die im Übereinkommen umschriebenen Straftaten sollen gemäss Artikel 43 unabhängig von der Art des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer Anwendung finden.

Das StGB findet grundsätzlich unabhängig von der Art des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer Anwendung. Seit dem 1. April 2004 ist das Antragserfordernis für die Verfolgung von sexueller Nötigung und Vergewaltigung in der Ehe und in der Partnerschaft gestrichen. Hingegen kennt das StGB eine Verschärfung, wenn Täter und Opfer zueinander in Beziehung stehen. Nach Artikel 180 Absatz 2 StGB wird Drohung von Amtes wegen verfolgt, wenn der Täter Ehegatte des Opfers ist und die Drohung während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung begangen wurde (Art. 180 Abs. 2 Bst. a). Eine entsprechende Regelung gilt für eingetragene Partnerinnen und Partner (Art. 180 Abs. 2 Bst. abis) sowie für hetero- oder homosexuelle Lebenspartnerinnen und Lebenspartner, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen (Art. 180 Abs. 2 Bst. b). Die gleiche Regelung gilt auch bezüglich der einfachen Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 StGB) und der Tätlichkeit, sofern die Tätlichkeit wiederholt begangen wird (Art. 126 Abs. 2 StGB).

Diese Bestimmungen entsprechen dem Sinn und Zweck der Konvention.

Artikel 43 der Konvention wird im schweizerischen Strafrecht abgedeckt.

2.5.16

Art. 44 Gerichtsbarkeit

In Artikel 44 werden im Wesentlichen die in Europaratskonventionen üblichen Kriterien beschrieben, nach denen die Vertragsstaaten ihre Gerichtsbarkeit für Straftaten nach dieser Konvention zu begründen haben.

Absatz 1 verpflichtet die Vertragsstaaten, ihre Zuständigkeit zu begründen, wenn sich die Straftat in ihrem Hoheitsgebiet ereignet hat (Bst. a; Territorialitätsprinzip), wenn die Tat an Bord eines Schiffes, das die Flagge dieses Staates führt (Bst. b, Flaggenprinzip), oder an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht dieses Vertragsstaates eingetragen ist (Bst. c), begangen wird. Die Zuständigkeit der Schweizer Gerichte ergibt sich aus Artikel 3 StGB, Artikel 4 Absatz 2 des Seeschifffahrtsgesetzes vom 23. September 1953205 und Artikel 97 Absatz 1 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 1948206. Ferner haben die Vertragsparteien ihre Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die Straftat von einem ihrer Staatsangehörigen begangen wird (Bst. d). Die Zuständigkeit der Schweizer Gerichte wird in diesen Fällen durch Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a StGB (aktives Personalitätsprinzip) abgedeckt.

Schliesslich muss die Gerichtsbarkeit über Straftaten nach dieser Konvention begründet werden, wenn die Straftat von einer Person begangen wurde, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im jeweiligen Hoheitsgebiet hat (Bst. e). Gemäss Artikel 78 Absatz 2 Beistrich 2 kann sich jedoch jeder Vertragsstaat das Recht vorbehalten, diese Vorschrift nicht, nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten Bedingungen anzuwenden. Buchstabe e mit Vorbehaltsmöglichkeit ist eine in den 205 206

246

SR 747.30 SR 748.0

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Strafrechts-Konventionen des Europarats übliche Bestimmung. Im schweizerischen Strafrecht ist der gewöhnliche Aufenthalt per se kein Anknüpfungspunkt für die Ausübung der schweizerischen Gerichtsbarkeit. Massgebend sind namentlich der Ort der Begehung der Tat bzw. die Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer. Deshalb macht die Schweiz, wie beispielsweise auch im Fall der Lanzarote-Konvention207, von der genannten Vorbehaltsmöglichkeit Gebrauch.

Gemäss Absatz 2 sollen sich die Vertragsparteien bemühen, ihre Gerichtsbarkeit in den Fällen zu begründen, in denen die Straftat gegen einen ihrer Staatsangehörigen oder eine Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet hat, begangen wird. Während die erste Variante (passives Personalitätsprinzip) im schweizerischen Strafrecht umgesetzt wird (Art. 7 Abs. 1 i.V.m. mit Abs. 2 StGB), kennt es (analog zu Abs. 1 Bst. e) das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts auch auf der Opferseite nicht. Da die Bestimmung jedoch nicht zwingend formuliert ist, ergibt sich daraus kein Umsetzungsbedarf.

Absatz 3 verpflichtet die Vertragsstaaten, ihre Gerichtsbarkeit bezüglich der Artikel 36 (sexuelle Gewalt), 37 (Zwangsheirat), 38 (Genitalverstümmelung) und 39 (Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung zu begründen (Verzicht auf das Erfordernis der beidseitigen Strafbarkeit und auf die Berücksichtigung des gegebenenfalls milderen Rechts des Begehungsortes), und zwar unabhängig davon, ob die Straftaten im Hoheitsgebiet strafbar sind, in dem sie begangen wurden. Für Zwangsheirat und Genitalverstümmelung sieht das schweizerische Strafrecht entsprechende Bestimmungen vor. Demnach macht sich strafbar, wer die Tat im Ausland begangen hat, sich in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird (Art. 181a Abs. 2 StGB, Art. 124 Abs. 2 StGB). Artikel 5 StGB sieht den Verzicht auf die doppelte Strafbarkeit für bestimmte sexuelle Straftaten vor, wenn sie gegen Minderjährige, nicht jedoch gegen Erwachsene, im Ausland begangen wurden. Für die Tatbestände Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation gibt es ebenfalls keine entsprechenden Bestimmungen im StGB. Da im schweizerischen Strafrecht nur in wenigen, ausgewählten Fällen auf die beidseitige Strafbarkeit verzichtet wird, nimmt die Schweiz die Vorbehaltsmöglichkeit gemäss Artikel 78 Absatz 2 Beistrich 2 bezüglich
sexueller Gewalt gegen Erwachsene (Art. 189 und 190 StGB) sowie Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung (Art. 118 Abs. 2 StGB und Art. 122 StGB) in Anspruch.

Die Tatsache, dass eine Vorbehaltsmöglichkeit vorgesehen wird, zeigt, dass der durchgehende Verzicht auf die beidseitige Strafbarkeit auch in anderen Ländern des Europarats nicht vorgesehen ist.

Absatz 4 verpflichtet die Vertragsstaaten dafür zu sorgen, dass ihre Gerichtsbarkeit über Straftaten nach den Artikeln 36 (sexuelle Gewalt), 37 (Zwangsheirat), 38 (Genitalverstümmelung) und 39 (Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung) nicht davon abhängt, dass der Strafverfolgung eine Meldung des Opfers oder das Einleiten eines Strafverfahrens durch den Begehungsstaat vorausgegangen ist, sofern der Täter ein eigener Staatsangehöriger ist oder er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet hat. Da die entsprechenden Delikte im schweizerischen 207

SR 0.311.40, Art. 25 Abs. 1 Bst. e.

247

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Strafrecht als Offizialdelikte ausgestaltet sind, muss die Schweiz die Vorbehaltsmöglichkeit gemäss Artikel 78 Absatz 2 Beistrich 2 nicht in Anspruch nehmen.

Gemäss Absatz 5 muss jeder Vertragsstaat seine Zuständigkeit für Straftaten gemäss Konvention auch dann begründen, wenn sich der Verdächtige in seinem Hoheitsgebiet befindet und er nur deshalb nicht ausgeliefert wird, weil er Staatsangehöriger ist. Dieser Pflicht zur Strafverfolgung bei Nichtauslieferung («aut dedere aut iudicare») kommt die Schweiz aufgrund der Artikel 6 und 7 StGB nach. Artikel 7 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1982208 (IRSG) hält fest, dass kein Schweizer Bürger ohne seine Zustimmung zum Zweck der Strafverfolgung ausgeliefert werden darf. Das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957209 regelt die Auslieferung eigener Staatsangehöriger in Artikel 6. Hier findet sich bereits dieselbe Verpflichtung wie in der vorliegenden Konvention.

Artikel 44 der Konvention wird im schweizerischen Strafrecht, mit Inanspruchnahme der zwei genannten Vorbehaltsmöglichkeiten (Art 44 Abs. 1 Bst. e und Abs. 3), insgesamt erfüllt. Damit besteht innerstaatlich kein Revisionsbedarf.

2.5.17

Art. 45 Sanktionen und Massnahmen

Die Vertragsstaaten werden verpflichtet, sicherzustellen, dass die Straftaten nach dieser Konvention mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen bedroht werden, die ihrer Schwere Rechnung tragen; diese Sanktionen umfassen gegebenenfalls freiheitsentziehende Massnahmen, die zur Auslieferung führen können (Abs. 1).

Die Formulierung «gegebenenfalls» macht klar, dass es den Vertragsparteien überlassen ist, darüber zu entscheiden, welche der gemäss dem Übereinkommen umschriebenen Straftaten mit Freiheitsstrafe bedroht und als Auslieferungsdelikte ausgestaltet werden sollen.210 Die einschlägigen Delikte im schweizerischen Strafrecht werden, sofern die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion zwingend verlangt wird, praktisch ausnahmslos mit Freiheitsstrafen mit einem Höchstmass von mehr als einem Jahr bedroht und sind damit auslieferungsfähig. 211 Vereinzelte Übertretungen, beispielsweise solche nach Artikel 198 StGB, stehen Absatz 1 nicht entgegen, da die Staaten einen erheblichen Spielraum bei dessen Umsetzung haben.

Die Vertragsparteien können weitere Massnahmen in Bezug auf Täterinnen und Täter treffen, wie beispielsweise die Überwachung und Betreuung verurteilter Personen und den Entzug der elterlichen Rechte, wenn das Wohl des Kindes nicht auf andere Weise garantiert werden kann (Abs. 2). Solche Massnahmen stehen in der Schweiz zur Verfügung (vgl. dazu die Ausführungen unter Ziffer 2.5.3).

Artikel 45 der Konvention wird damit im schweizerischen Recht umgesetzt.

208 209 210 211

248

SR 351.1.

SR 0.353.1 Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 232.

Vgl. Art. 35 Abs. 1 Bst. a IRSG.

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2.5.18

Art. 46 Strafverschärfungsgründe

Alle Tatumstände, die gemäss Artikel 46 von den Vertragsstaaten bei der Festsetzung des Strafmasses als erschwerend berücksichtigt werden sollen, können nach schweizerischem Strafrecht grundsätzlich vom Gericht im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden (Art. 47 StGB). Vereinzelt sehen sodann gewisse Tatbestände für ein besonders verwerfliches Verhalten qualifizierte Strafdrohungen vor, so namentlich Artikel 189 Absatz 3 StGB (sexuelle Nötigung) und Artikel 190 Absatz 3 StGB (Vergewaltigung). Strafverschärfend wirkt sich in beiden Fällen ein grausames Handeln des Täters oder der Täterin wie namentlich die Verwendung einer gefährlichen Waffe oder anderer gefährlicher Gegenstände aus.

Damit genügt die Schweiz den Anforderungen der Konvention.

2.5.19

Art. 47 Von einer anderen Vertragspartei erlassene Strafurteile

Gemäss Artikel 47 muss die Möglichkeit bestehen, bei der Festsetzung des Strafmasses rechtskräftige Strafurteile anderer Vertragsparteien zu berücksichtigen.

Artikel 47 StGB deckt dies ab. Es besteht keine Verpflichtung, aktiv nach Verurteilungen im Ausland zu fahnden.212

2.5.20

Art. 48 Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren oder Strafurteile

Gemäss Absatz 1 haben die Vertragsstaaten die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um verpflichtende alternative Streitbeilegungsverfahren ­ einschliesslich Mediation und Schlichtung ­ wegen aller in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt zu verbieten. Gemäss den Erläuterungen muss der Staat dem Opfer den Zugang zu einem kontradiktorischen gerichtlichen Verfahren ermöglichen; die Re-Privatisierung von häuslicher Gewalt und von Gewalt gegen Frauen soll verhindert werden.213 Im schweizerischen Recht wird dieser Vorgabe folgendermassen Rechnung getragen: Bei Fällen von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen im Sinne der Konvention kann zunächst Artikel 55a StGB zur Anwendung gelangen. Diese Bestimmung gilt seit dem 1. April 2004 und besagt, dass die zuständigen Behörden Strafverfahren wegen einfacher Körperverletzung, wiederholten Tätlichkeiten, Drohung und Nötigung sistieren können. Voraussetzung ist einerseits, dass das Opfer der Ehegatte des Täters ist und die Tat während der Ehe oder innerhalb eines Jahres nach deren 212 213

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 250.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 252.

249

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Scheidung begangen wurde. Analoge Voraussetzungen gelten für eingetragene Partnerschaften und faktische Lebenspartnerschaften. Zweite und im Zusammenhang mit Artikel 48 Absatz 1 der Konvention wichtige Voraussetzung ist, dass das Opfer um die Sistierung ersucht oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmt (Art. 55a Abs. 1 StGB). Wenn das Opfer seine Zustimmung innerhalb von sechs Monaten seit der Sistierung widerruft, wird das Verfahren wieder an die Hand genommen (Art. 55a Abs. 2 StGB). Das bedeutet insgesamt, dass das Verfahren durchgeführt bzw. fortgesetzt werden muss, falls das Opfer keine Sistierung beantragt, den entsprechenden Antrag der Behörde ablehnt oder aber die Zustimmung widerruft. Zur vorgeschlagenen Revision von Artikel 55a StGB vgl.

die Ausführungen unter Ziffer 2.6.7.

Sind die Voraussetzungen von Artikel 55a StGB nicht erfüllt, so kann Artikel 316 StPO zur Anwendung gelangen: Gemäss dessen Absatz 1 kann die Staatsanwaltschaft, soweit Antragsdelikte Gegenstand des Verfahrens sind, die antragstellende und die beschuldigte Person zu einer Verhandlung vorladen mit dem Ziel, einen Vergleich, d. h. eine Einigung, zu erzielen. Kommt es zu einer Einigung, so zieht die geschädigte Person ihren Strafantrag zurück und die Staatsanwaltschaft stellt alsdann das Verfahren ein (Art. 316 Abs. 3 StPO). Die antragstellende Person ist nicht verpflichtet, an Vergleichsverhandlungen teilzunehmen.214 Eine solche Pflicht gilt ebenso wenig für Vergleichsverhandlungen gemäss Artikel 316 Absatz 2 StPO im Hinblick auf eine allfällige Strafbefreiung wegen Wiedergutmachung nach Artikel 53 StGB. Auch an einem Vergleich oder einer Mediation nach der Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009215 muss der oder die Geschädigte nicht mitwirken.216 Gemäss Absatz 2 müssen die Vertragsparteien sicherstellen, dass im Fall der Anordnung der Zahlung einer Geldstrafe die Fähigkeit des Täters, seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Opfer nachzukommen, gebührend berücksichtigt wird.

Das StGB sieht als pekuniäre Strafen die Geldstrafe und die Busse vor. Bei der Bemessung des Tagessatzes der Geldstrafe berücksichtigt das Gericht die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters im Zeitpunkt des Urteils (Art. 34 Abs. 2 StGB). Namentlich werden neben dem Einkommen und Vermögen,
dem Lebensaufwand sowie dem Existenzminimum auch allfällige Familien- und Unterstützungspflichten berücksichtigt. Bei der Bemessung einer Busse werden ­ wenn auch in einem etwas geringeren Umfang als bei der Geldstrafe ­ die Verhältnisse des Täters ebenfalls berücksichtigt (Art. 106 Abs. 3 StGB). Dadurch wird sichergestellt, dass der Täter seinen allfälligen Unterhalts- und Unterstützungspflichten dem Opfer gegenüber trotz der Verurteilung nachkommen kann. Dass Familienangehörige des Täters ­ und damit allenfalls das Opfer ­ von der Geldstrafe oder Busse mitbetroffen sind, ist allerdings nicht vollends zu vermeiden.

214

Gemäss Art. 316 Abs. 1 Satz 2 StPO gilt allerdings der Strafantrag als zurückgezogen und das Verfahren wird eingestellt, wenn die antragstellende Person der Vergleichsverhandlung unentschuldigt fernbleibt.

215 Vgl. Art. 16 f. JStPO, SR 312.1.

216 A. Donatsch, Th. Hansjakob, V. Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2. Auflage 2014, Art. 316 N 7 und 15.

250

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Die finanziellen Interessen des Opfers werden ausserdem durch Artikel 73 StGB geschützt: Sind bestimmte Voraussetzungen erfüllt, so spricht das Gericht dem Geschädigten auf dessen Verlangen bis zur Höhe des Schadenersatzes bzw. der Genugtuung, die gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzt worden sind, Vermögenswerte zu, die grundsätzlich dem Staat zustehen. So können die vom Verurteilten bezahlte Geldstrafe oder Busse, eingezogene Gegenstände und Vermögenswerte, Ersatzforderungen sowie der Betrag der Friedensbürgschaft der geschädigten Person zugesprochen werden (Art. 73 Abs. 1 StGB). Durch diese Regelung wird ein Ausgleich zwischen Täter und geschädigter Person herbeigeführt, und es wird verhindert, dass die geschädigte Person unter Umständen leer ausgeht.

Mit diesen Bestimmungen werden die Vorgaben von Artikel 48 der Konvention erfüllt.

2.6

Kapitel VI: Ermittlungen, Strafverfolgung, Verfahrensrecht und Schutzmassnahmen

Die in diesem Kapitel geforderten Massnahmen werden namentlich in der StPO, im ZGB und teilweise in den kantonalen Polizeigesetzen umgesetzt.

2.6.1

Art. 49 Allgemeine Verpflichtungen

Die Vertragsparteien haben nach Absatz 1 sicherzustellen, dass die Ermittlungen und Gerichtsverfahren ohne ungerechtfertigte Verzögerung durchgeführt und in allen Verfahrensabschnitten die Rechte des Opfers berücksichtigt werden.

Die ersterwähnte Verpflichtung wird im schweizerischen Recht durch das in Artikel 5 StPO verankerte Beschleunigungsgebot umgesetzt, wonach die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand nehmen und ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss bringen. Geschädigten Personen, die als Opfer von Straftaten im Sinne von Artikel 116 Absatz 1 StPO gelten, stehen gemäss Artikel 117 StPO besondere Schutz-, Aussageverweigerungs- und Informationsrechte zu. Weiter werden die Persönlichkeitsrechte der Opfer von den Strafbehörden auf allen Stufen des Verfahrens gewahrt (Art. 152 Abs. 1 StPO), und das Opfer kann sich bei allen Verfahrenshandlungen ausser von seinem Rechtsbeistand von einer Vertrauensperson begleiten lassen (Art. 152 Abs. 2 StPO). Die Aufzählung in Artikel 117 Absatz 1 StPO ist nicht abschliessend. In Artikel 117 Absatz 2 StPO werden ­ wiederum nicht abschliessend ­ zusätzliche Schutzbestimmungen zugunsten minderjähriger Opfer aufgeführt.

Absatz 2 verlangt, dass unter Berücksichtigung der wesentlichen Grundsätze der Menschenrechte und des geschlechtsbewussten Verständnisses von Gewalt für wirksame Ermittlungen und Strafverfolgungen gesorgt werden soll.

Diese Forderung wird durch die in den Artikeln 3­11 StPO festgelegten Grundsätze des Strafverfahrensrechts umgesetzt, die durch zahlreiche Bestimmungen der StPO

251

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konkretisiert werden.217 Fundamental sind dabei der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 3 Abs. 2 Bst. c StPO), der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 4 StPO) sowie die Unschuldsvermutung (Art. 10 Abs. 1 StPO). Im Zusammenhang mit der Geschlechtsspezifität verdient beispielsweise Artikel 335 Absatz 3 StPO besondere Erwähnung (besondere Zusammensetzung des Gerichts bei Sexualstraftaten).

Die Anforderungen von Artikel 49 der Konvention sind damit erfüllt.

2.6.2

Art. 50 Soforthilfe, Prävention und Schutz

Gemäss Artikel 50 haben die Strafverfolgungsbehörden schnell und angemessen zu handeln, indem sie den Opfern von Gewalt umgehend geeigneten Schutz bieten (Abs. 1). Die Strafverfolgungsbehörden sollen sich angemessen an der Prävention und am Schutz vor allen in den Geltungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt beteiligen, einschliesslich des Einsatzes vorbeugender operativer Massnahmen und der Erhebung von Beweisen (Abs. 2).

Gemäss Artikel 28b Absatz 4 ZGB haben die Kantone eine Stelle zu bezeichnen, die im Krisenfall die sofortige Ausweisung der verletzenden Person aus der gemeinsamen Wohnung verfügen kann. Für die Regelung der Einzelheiten des Verfahrens sind die Kantone zuständig. Der Kanton Bern beispielsweise hat diese in seinem Polizeigesetz218 (PolG BE) geregelt. Nach Artikel 29 Absatz 1 Buchstabe f PolG BE kann die Kantonspolizei eine Person von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten, wenn diese eine andere Person in der psychischen, physischen oder sexuellen Integrität gefährdet oder ernsthaft droht, die andere Person an Leib und Leben zu verletzen. Diese Bestimmung gilt insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt. Artikel 29a PolG BE bestimmt ausdrücklich für Fälle häuslicher Gewalt, dass eine Person für eine Dauer von 14 Tagen (Abs. 1) von der gemeinsamen Wohnung und deren unmittelbarer Umgebung weggewiesen oder ferngehalten werden kann. Ausserdem werden Opfer wie auch die fernzuhaltende Person auf Beratungsmöglichkeiten hingewiesen (Abs. 2). Weiter erlaubt Artikel 39 Absatz 1 Buchstabe d PolG BE der Polizei das Betreten und Durchsuchen von Räumlichkeiten, wenn Grund zur Annahme besteht, dass eine Person zum Schutz von Leib und Leben der Hilfe bedarf.

Im Rahmen der Vorlage zur Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen, hat der Bundesrat in Erfüllung der Motion Perrin219 vorgeschlagen, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die es erlaubt, potenzielle Täter sowie gegebenenfalls auch das Opfer mit einer elektronischen Vorrichtung zu versehen, die den Aufenthaltsort

217

Vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085, 1128 ff.

218 Polizeigesetz (PolG) vom 8. Juni 1997, BSG 551.1 219 09.4017 «Geschlagene Frauen schützen».

252

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bestimmt und an eine Zentrale übermittelt.220 Auf diese Weise könnte ein angeordnetes Rayon- und Annäherungsverbot besser durchgesetzt werden.

Die StPO sieht in den Artikeln 149 ff. diverse Massnahmen zum Schutz gewisser am Verfahren beteiligter Personen vor. So legt Artikel 153 Absatz 1 StPO beispielsweise fest, dass die Einvernahme von Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Integrität durch eine Person des gleichen Geschlechts durchgeführt wird, wenn dies vom Opfer verlangt wird. Einen weiteren Schutz bietet Artikel 221 Absatz 2 StPO: Danach kann Untersuchungs- oder Sicherheitshaft angeordnet werden, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung wahrmachen, ein schweres Verbrechen auszuführen.

Die Polizei und die Staatsanwaltschaft informieren das Opfer bei der jeweils ersten Einvernahme umfassend über seine Rechte und die Pflichten im Strafverfahren (Art. 305 Abs. 1 StPO). Das Opfer erhält ausserdem Informationen zu Opferberatungsstellen, zur Möglichkeit, Opferhilfeleistungen zu beanspruchen, sowie Angaben zur Frist für die Einreichung von Gesuchen um Entschädigung und Genugtuung (Art. 305 Abs. 2 StPO). Sofern das Opfer damit einverstanden ist, werden sein Name und seine Adresse einer Beratungsstelle gemeldet (Art. 305 Abs. 3 StPO).

Die Opferberatungsstellen schliesslich leisten bei Bedarf Unterstützung (Art. 9 ff.

OHG). Dazu können sie Dritte beiziehen. Die Unterstützung umfasst Soforthilfe und längerfristige Hilfe medizinischer, psychologischer, sozialer, materieller und juristischer Art. Die Leistungen der Opferhilfe sind jedoch subsidiär (Art. 4 OHG); grundsätzlich hat der Täter für die von ihm verursachten Schäden aufzukommen. Das Opfer wird zudem von Sozial- und oft auch Privatversicherungen unterstützt. Die Opferhilfe mildert allenfalls ungenügende Leistungen der primär Leistungspflichtigen.

Das schweizerische Recht erfüllt somit die Anforderungen von Artikel 50 der Konvention.

2.6.3

Art. 51 Gefährdungsanalyse und Gefahrenmanagement

Absatz 1 fordert, dass alle einschlägigen Behörden eine Analyse der Gefahr für Leib und Leben und der Schwere der Situation sowie der Gefahr von wiederholter Gewaltanwendung vornehmen, um die Gefahr unter Kontrolle zu bringen und erforderlichenfalls für koordinierte Sicherheit und Unterstützung zu sorgen.

In erster Linie obliegt diese Aufgabe den Kantonen. Die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) hat im Herbst 2014 bei allen Kantonen eine Umfrage zum Thema kantonales Bedrohungsmanagement (KBM) durchgeführt. Ein KBM ist definiert durch das Erkennen, Einschätzen und Entschärfen von Bedrohungen mittels systematischer, überinstitutioneller und professioneller Zusammenarbeit innerhalb der Kantone. Die Kantone sind unterschiedlich weit bei der Schaffung und Betreibung 220

www.bj.admin.ch > Sicherheit > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Schutz vor häuslicher Gewalt > Vernehmlassungsverfahren. Die entsprechende Vernehmlassung wird zurzeit ausgewertet.

253

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von KBM. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass es von besonderer Wichtigkeit ist, die eingebundenen Organisationen und Verantwortlichen über die Funktion und Relevanz eines Bedrohungsmanagements aufzuklären und dass es sich lohnt, auch nach einer ersten Informierung viel Netzwerkarbeit zu betreiben. Für den Datenaustausch zwischen der Polizei und weiteren involvierten Stellen (insb. Stellen nach Art. 28b ZGB, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Frauenhäuser, Opferberatungsstellen, Täterberatungsstellen, Eheschutzgerichte, Sozialdienste) sind primär die kantonalen Datenschutzgesetze massgebend (Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992221 über den Datenschutz, DSG, e contrario). Die SKP wird in Zukunft in erster Linie Netzwerkarbeit in Fachkreisen leisten und sich um die Sensibilisierung politischer Entscheidungsträger bemühen.

Auf Bundesebene beauftragt das Postulat Feri222 den Bundesrat, einen Grundlagenbericht zum Bedrohungsmanagement bei häuslicher Gewalt zu verfassen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Vorlage zur Motion Perrin (vgl.

Ziff. 2.6.2).

Gemäss Absatz 2 soll bei den in Absatz 1 genannten Analysen in allen Abschnitten der Ermittlungen und der Anwendung von Schutzmassnahmen gebührend berücksichtigt werden, ob der Täter oder die Täterin Feuerwaffen besitzt oder Zugang zu ihnen hat.

Artikel 31 des Waffengesetzes vom 20. Juni 1997223 (WG) sieht vor, dass die kantonalen Vollzugsbehörden Waffen aus dem Besitz von Personen beschlagnahmen, bei denen ein Hinderungsgrund nach Artikel 8 Absatz 2 WG vorliegt. Als Hinderungsgrund gilt insbesondere wenn eine Person Anlass zur Annahme gibt, dass sie sich selbst oder Dritte mit der Waffe gefährdet. Eine Drittgefährdung wird z. B. bei Personen angenommen, die bereits jemanden mit einer Waffe bedroht haben. Es geht hier häufig um Delikte im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Zudem darf die Person, die eine Waffe erwerben will, nicht wegen gewalttätiger oder gemeingefährlicher Handlung (z. B. Vorstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung) oder wegen mehrfacher Einträge (mindestens zwei) im Strafregister eingetragen sein. Die beschlagnahmten Waffen werden definitiv eingezogen, wenn die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung weiterbesteht.

Das Bundesgesetz vom 25. September 2015224 über Verbesserungen beim Informationsaustausch
zwischen Behörden im Umgang mit Waffen, welches am 1. Juli 2016 in Kraft getreten ist, bezweckt zudem eine Verbesserung des Informationsaustausches zwischen den verschiedenen militärischen und zivilen Behörden, die sich mit Waffen beschäftigen. Diese werden unverzüglich über Waffenbesitzerinnen und -besitzer informiert, bei denen ein Missbrauchspotenzial bestehen könnte, damit die Waffen umgehend entzogen werden können. Konkret wird in der StPO eine Meldepflicht statuiert. Die Verfahrensleitung hat die zuständige militärische Behörde über hängige Strafverfahren zu informieren, wenn aus dem Strafverfahren ernstzuneh221 222

SR 235.1 13.3441 «Bedrohungsmanagement bei häuslicher Gewalt. Überblick über die rechtliche Situation und Schaffen eines nationalen Verständnisses», vom Nationalrat angenommen am 5. Mai 2015.

223 SR 514.54 224 AS 2016 1831

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mende Anzeichen oder Hinweise bestehen, dass die beschuldigte Person sich selbst oder Dritte mit einer Feuerwaffe gefährden könnte. Die Teilrevision des WG schafft die rechtliche Grundlage, damit die zivilen oder militärischen Behörden aktiv über Verweigerungen oder Entzüge von Bewilligungen oder Abnahmen von Feuerwaffen in der vom Bund geführten Waffeninformationsplattform ARMADA orientiert werden. Die zuständigen Behörden haben damit die Möglichkeit zu prüfen, ob Gründe vorliegen, die einen Entzug der Waffe rechtfertigen. Ferner wurde eine rechtliche Grundlage für die Verbindung der kantonalen Waffenregister untereinander und die Anbindung der Waffeninformationsplattform ARMADA geschaffen. Im Rahmen eines Strafverfahrens können Waffen beschlagnahmt werden, wenn sie voraussichtlich einzuziehen sind (Art. 263 Abs. 1 Bst. d StPO). Die Einziehung erfolgt danach in Anwendung von Artikel 69 StGB. Findet kein Strafverfahren statt ­ beispielsweise, weil bei einem Antragsdelikt der Strafantrag fehlt und deshalb ein Strafverfahren gegen den Täter nicht möglich ist ­, so kann gestützt auf die Artikel 376 ff. StPO ein selbstständiges Einziehungsverfahren durchgeführt werden.

Die Schweiz erfüllt die Anforderungen der Konvention.

2.6.4

Art. 52 Eilschutzanordnungen

Die Vertragsparteien haben nach Artikel 52 sicherzustellen, dass die zuständigen Behörden die Befugnis erhalten, in Situationen unmittelbarer Gefahr anzuordnen, dass ein Täter oder eine Täterin häuslicher Gewalt den Wohnsitz des Opfers oder der gefährdeten Person für einen ausreichend langen Zeitraum verlässt, und dem Täter oder der Täterin zu verbieten, den Wohnsitz des Opfers oder der gefährdeten Person zu betreten oder Kontakt mit dem Opfer oder der gefährdeten Person aufzunehmen.

Es kann auf die Ausführungen zu Artikel 34 und Artikel 50 verwiesen werden. Um eine sofortige Intervention sicherzustellen, haben die Kantone gemäss Artikel 28b Absatz 4 ZGB Stellen bezeichnet, die im Krisenfall die sofortige Ausweisung der verletzenden Person aus einer gemeinsamen Wohnung verfügen können. Artikel 28b ZGB ermöglicht weiter die Anordnung von Annäherungsverboten, Ortsverboten sowie Kontaktaufnahmeverboten durch das Gericht. Diese Schutzmassnahmen können auch als vorsorgliche Massnahmen angeordnet werden, wenn die gesuchstellende Partei glaubhaft macht, dass eine Verletzung ihrer Persönlichkeit durch Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen tatsächlich droht oder bereits besteht (Art. 261 Abs. 1 ZPO). Bei besonderer Dringlichkeit kann das Gericht die vorsorgliche Massnahme sofort und ohne Anhörung der Gegenpartei anordnen (sog. superprovisorische Massnahme, Art. 265 Abs. 1 ZPO). Zudem sehen kantonale Polizeigesetze zur Gefahrenabwehr die Möglichkeit vor, Personen in Gewahrsam zu nehmen.

Die Voraussetzungen von Artikel 52 der Konvention sind damit erfüllt.

255

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2.6.5

Art. 53 Kontakt- und Näherungsverbote sowie Schutzanordnungen

Die Vertragsstaaten haben die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass angemessene Kontakt- und Näherungsverbote oder Schutzanordnungen für Opfer aller in den Geltungsbereich diese Konvention fallenden Formen von Gewalt zur Verfügung stehen (Abs. 1). Es werden verschiedene Kriterien für solche Verbote und Anordnungen aufgelistet (Abs. 2). Schliesslich haben die Vertragsparteien dafür zu sorgen, dass Verstösse gegen die Anordnungen nach Absatz 1 Gegenstand wirksamer, verhältnismässiger und abschreckender strafrechtlicher oder sonstiger rechtlicher Sanktionen sind (Abs. 3).

Zu den Kontakt- und Näherungsverboten sowie Schutzmassnahmen für Opfer kann auf die Ausführungen zu den Artikeln 34, 51 und 52 verwiesen werden.

Die Schutzmassnahmen nach Artikel 28b ZGB stehen unabhängig von anderen Verfahren zur Verfügung. Die Verbote und Anordnungen können mit der Androhung der Bestrafung nach Artikel 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen) versehen werden. Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft.

Opfern im Sinne des OHG und ihren Angehörigen (Art. 1 OHG) stehen die von den Kantonen bereitgestellten Opferberatungsstellen zur Verfügung (Art. 9 ff. OHG).225 Diese beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. Bei Bedarf sorgen die Beratungsstellen für eine Notunterkunft (Art. 14 Abs. 1 OHG). Die Hilfe der Beratungsstelle ist für das Opfer und seine Angehörigen unentgeltlich (Art. 5 OHG). Die Gerichte haben bei den zu treffenden Anordnungen den zentralen und auf Verfassungsstufe verankerten Grundsatz der Verhältnismässigkeit (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 BV) zu beachten, insbesondere in Bezug auf die Dauer der Massnahmen. Deren allfällige Befristung liegt im pflichtgemässen Ermessen der Gerichte.226 Ausserdem besteht die Möglichkeit der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 117 ff. ZPO).

Die Schweiz erfüllt damit auch die Anforderungen von Artikel 53 der Konvention.

2.6.6

Art. 54 Ermittlungen und Beweise

Die Vertragsparteien haben dafür zu sorgen, dass in Zivil- oder Strafverfahren Beweismittel betreffend das sexuelle Vorleben und Verhalten des Opfers nur dann zugelassen werden, wenn sie sachdienlich und notwendig sind. Damit soll die Zulässigkeit solcher Beweise in zivil- und strafrechtlichen Verfahren auf solche Sachver-

225 226

256

Liste der Beratungsstellen ist im Internet verfügbar: www.sodk.ch.

Parlamentarische Initiative Vermot-Mangold, 00.419 «Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft», Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 18. August 2005, BBI 2005 6871, 6885 f.

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halte eingeschränkt werden, in denen sie sich direkt auf einen der spezifischen zu klärenden Punkte beziehen.227 Im Strafprozess ist gemäss Artikel 3 StPO die Menschenwürde aller vom Verfahren betroffenen Menschen zu achten. Präzisierend dazu hält Artikel 152 Absatz 1 StPO fest, dass die Strafbehörden die Persönlichkeitsrechte des Opfers auf allen Stufen des Verfahrens wahren müssen. Gemäss Artikel 6 Absatz 1 StPO werden von den Strafbehörden nur für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsame Tatsachen abgeklärt. Folgerichtig wird in Artikel 139 Absatz 2 StPO festgehalten, dass über Tatsachen, die unerheblich sind, nicht Beweis geführt wird. Für Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Integrität, die Artikel 54 der Konvention insbesondere schützen will, gilt zudem Artikel 169 Absatz 4 StPO: Opfer können in jedem Fall die Aussage zu Fragen verweigern, die ihre Intimsphäre betreffen. Das Zeugnisverweigerungsrecht gilt auch für Fragen, bei denen kein Zusammenhang mit den zu untersuchenden Straftaten besteht, wie beispielsweise Fragen betreffend das allgemeine sexuelle Verhalten des Opfers. Die Regel in Artikel 169 Absatz 4 StPO ist absolut, sie geht der Aussagepflicht gemäss Artikel 168 Absatz 4 StPO vor.228 Im Zivilprozess werden die Parteien nur mit rechtserheblichen Tatsachen zum Beweis zugelassen (Art. 150 Abs. 1 ZPO), d.h. die Tatsachen müssen für die rechtliche Einordnung des Falls und den Entscheid des Gerichts relevant sein. Wann dies der Fall ist, ergibt sich aus dem materiellen Recht.229 Die Voraussetzungen von Artikel 54 der Konvention sind damit erfüllt.

2.6.7

Art. 55 Verfahren auf Antrag und von Amtes wegen

Die Vertragsparteien müssen sicherstellen, dass Ermittlungen und Strafverfolgungen bezüglich der Straftaten nach den Artikeln 35 (körperliche Gewalt), 36 (sexuelle Gewalt), 37 (Zwangsheirat), 38 (Genitalverstümmelung) und 39 (Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung) der Konvention nicht vollständig von einer Meldung oder Anzeige des Opfers abhängen und dass das Verfahren fortgesetzt werden kann, auch wenn das Opfer seine Aussage oder Anzeige zurückzieht (Abs. 1). Es kann ein Vorbehalt angebracht werden, wonach Artikel 55 Absatz 1 im Hinblick auf Artikel 35 der Konvention bezüglich Vergehen nicht oder nur bedingt Anwendung findet (Art. 78 Abs. 2 Beistrich 3).

Die massgeblichen Straftatbestände sind, mit teilweiser Ausnahme des Artikels 123 StGB (einfache Körperverletzung), als Offizialdelikte ausgestaltet. Im Einzelnen stellt sich die Rechtslage bezüglich Artikel 123 StGB (und 126 StGB, der für die Umsetzung des Übereinkommens an sich nicht vorausgesetzt ist, vgl. vorne unter Ziff. 2.5.7) wie folgt dar: Einfache Körperverletzung und Tätlichkeiten sind grundsätzlich Antragsdelikte.

227 228

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 278.

Vgl. Botschaft des Bundesrates zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085, 1200.

229 Christian Leu, in: Alexander Brunner, Dominik Gasser, Ivo Schwander (Hrsg.), Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) Kommentar, Zürich/St. Gallen 2011, Art. 150 N 48.

257

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Sie werden aber dann von Amtes wegen verfolgt (Art. 123 Ziff. 2 und Art. 126 Abs. 2 StGB), wenn der Täter: ­

die Tat an einem Wehrlosen oder an einer Person begeht, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat, namentlich an einem Kind,

­

der Ehegatte des Opfers ist und die Tat während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung begangen wurde,

­

die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner des Opfers ist und die Tat während der Dauer der eingetragenen Partnerschaft oder bis zu einem Jahr nach deren Auflösung begangen wurde,

­

die hetero- oder homosexuelle Lebenspartnerin oder der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Opfers ist, sofern Täter und Opfer auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Tat während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.

Bei Tätlichkeiten wird zudem vorausgesetzt, dass die Tat wiederholt begangen wurde.

Im Geltungsbereich der Konvention ist die einfache Körperverletzung (wie auch die Tätlichkeit) grundsätzlich ein Offizialdelikt. Es bleiben jedoch Randbereiche von konventionsrelevanten einfachen Körperverletzungen, die nur auf Antrag verfolgt werden (z.B. einfache Körperverletzungen gegen Frauen im öffentlichen Raum oder im privaten Raum unter Geschwistern). Da die Schweiz die Anforderungen der Konvention bezüglich Offizialdelikte zum grössten Teil erfüllt und demzufolge nur ein kleiner Teil konventionsrelevanter leichter Körperverletzungen Antragsdelikte sind, wäre es nicht sachgerecht, das differenzierte System des innerstaatlichen Rechts zu ändern. Deshalb nimmt die Schweiz die oben genannte Vorbehaltsmöglichkeit in Anspruch, wonach gewisse leichte Formen körperlicher Gewalt nicht von Amtes wegen verfolgt werden. Was (leichtere) Gewalt in Paarbeziehungen betrifft, ist auch Artikel 55a StGB einschlägig. Nach dessen Absatz 1 können Staatsanwaltschaft und Gerichte das Verfahren sistieren, namentlich bei einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3­5 StGB) und wiederholten Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 Bst. b, bbis und c StGB), wenn das Opfer der Ehegatte des Täters ist und die Tat während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung begangen wurde, wenn das Opfer die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner des Täters ist und die Tat während der Dauer der eingetragenen Partnerschaft oder bis zu einem Jahr nach deren Auflösung begangen wurde, oder wenn das Opfer die hetero- oder homosexuelle Lebenspartnerin bzw. der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Täters ist, und die Tat während der Dauer der Lebenspartnerschaft oder bis zu einem Jahr nach der Auflösung der Lebensgemeinschaft begangen wurde. Das Verfahren kann sistiert werden, wenn das Opfer darum ersucht oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmt (Abs. 1 Bst. b). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf die Behörde das Strafverfahren nicht gegen den Willen des Opfers fortsetzen.230 Ein Widerruf der Zustimmung ist während einer Frist von sechs Monaten möglich (Abs. 2). Erfolgt kein Widerruf, wird das 230

258

Urteil des Bundesgerichts 6S.454/2004 vom 21. März 2006 E. 3 mit Hinweis auf BBl 2003 1937, hier 1941; 6B_835/2009 vom 21. Dezember 2009, E. 4.2.

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Verfahren eingestellt (Abs. 3). Diese prozessuale Regelung im StGB nimmt auf die Interessen jener Opfer Rücksicht, die die Durchführung eines Strafverfahrens im sozialen Nahraum nicht wünschen. Sie bildet eine Ausnahme zum von der Konvention durchgehend geforderten Offizialprinzip, weshalb der anzubringende Vorbehalt auch diesbezüglich in Anspruch genommen wird.

Artikel 55a StGB soll jedoch im Rahmen der Vorlage zur Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen revidiert werden231. Mit dem Ziel, das Opfer zu entlasten, soll unter Anderem auch Artikel 55a StGB bzw. die entsprechende Parallelbestimmung des MStG wie folgt angepasst werden: Erstens soll der Entscheid über den Fortgang des Strafverfahrens nicht mehr ausschliesslich von der Willensäusserung des Opfers abhängig sein. Die Verantwortung über Sistierung, Wiederanhandnahme oder Einstellung des Verfahrens soll vielmehr bei den Behörden liegen, die neben der Erklärung des Opfers auch weitere Umstände berücksichtigen und würdigen können. Dabei soll auch das Verhalten der beschuldigten Person Berücksichtigung finden, so etwa der Umstand, dass diese ein Lernprogramm gegen Gewalt besucht. Zweitens sollen Verfahren bei Verdacht auf wiederholte Gewalt nicht mehr sistiert werden können. Wurde die beschuldigte Person bereits wegen eines Delikts gegen Leib und Leben, die Freiheit oder die sexuelle Integrität gegenüber dem aktuellen oder einem früheren Partner verurteilt, so soll eine Sistierung nicht mehr zulässig sein. Drittens soll das Opfer vor der Einstellung noch einmal angehört werden und seinen Willen zur Verfahrenseinstellung bestätigen müssen.

Mit diesen Gesetzesänderungen werden die Motion Keller-Sutter232 und die aus dem Bericht zur Motion Heim233 gewonnenen Erkenntnisse umgesetzt. Gleichzeitig würden damit die Anforderungen der Konvention in einem weitergehenden Ausmass erfüllt.

Nach Absatz 2 sehen die Vertragsstaaten für staatliche und nichtstaatliche Organisationen sowie Beraterinnen und Berater bei häuslicher Gewalt die Möglichkeit vor, Opfern in den Ermittlungen und Gerichtsverfahren beizustehen oder sie zu unterstützen, wenn diese darum ersuchen. Die Dienste sind nicht rechtlicher, sondern praktischer oder psychologischer Art.234 Opfer im Sinne der StPO können sich ausser von einem Rechtsbeistand auch von einer Vertrauensperson
begleiten lassen (Art. 152 Abs. 2 StPO).

Die Anforderungen von Artikel 55 der Konvention werden, mit Inanspruchnahme der genannten Vorbehaltsmöglichkeit, vollumfänglich erfüllt.

2.6.8

Art. 56 Schutzmassnahmen

Nach Absatz 1 haben die Vertragsparteien die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um die Rechte und Interessen der Opfer, insbesondere ihre besonderen Bedürf231

www.bj.admin.ch > Sicherheit > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Schutz vor häuslicher Gewalt > Vernehmlassungsverfahren. Die entsprechende Vernehmlassung wird zurzeit ausgewertet.

232 12.4025, «Opfer häuslicher Gewalt besser schützen».

233 09.3059, «Eindämmung der häuslichen Gewalt».

234 Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 282.

259

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nisse als Zeuginnen und Zeugen, in allen Abschnitten der Ermittlungen und des Strafverfahrens zu schützen. Insbesondere fordert die Konvention folgende Massnahmen: Nach Buchstabe a haben die Vertragsparteien dafür zu sorgen, dass die Opfer und ihre Familien sowie Zeuginnen und Zeugen vor Einschüchterung, Vergeltung und erneuter Viktimisierung geschützt werden. In den bereits an anderer Stelle erwähnten Artikeln 149 ff. StPO (siehe Erläuterungen zu den Art. 26 und 50) werden verschiedene Schutzmassnahmen aufgeführt, die die Verfahrensleitung auf Gesuch hin oder von Amtes wegen treffen kann. Es muss dabei Grund zur Annahme bestehen, dass unter anderem eine Zeugin oder ein Zeuge oder eine Auskunftsperson durch die Mitwirkung im Verfahren sich oder eine Person, die mit ihr oder ihm in einem bestimmten verwandtschaftlichen oder anderen Verhältnis steht (Art. 168 Abs. 1­3 StPO), einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil aussetzen könnte. Die Verfahrensleitung kann dazu die Verfahrensrechte der Parteien angemessen beschränken, namentlich indem sie der zu schützenden Person die Anonymität zusichert, Einvernahmen unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit durchführt, die Personalien unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit feststellt, Aussehen oder Stimme der zu schützenden Person verändert oder diese abschirmt oder die Akteneinsicht einschränkt (Art. 149 Abs. 2 Bst. a­e StPO). Gemäss Artikel 169 Absatz 3 StPO kann eine Person das Zeugnis verweigern, wenn ihr oder einer ihr im Sinne von Artikel 168 Absätze 1­3 StPO nahestehenden Person durch ihre Aussage eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben oder ein anderer schwerer Nachteil droht, der mit Schutzmassnahmen nicht abgewendet werden kann.

Das Opfer kann von den Strafbehörden verlangen, dass eine Begegnung mit der beschuldigten Person vermieden wird. Zu diesem Zweck kann die Einvernahme des Opfers unter Ausschluss der Parteien durchgeführt, das Aussehen oder die Stimme des Opfers verändert oder dieses abgeschirmt werden (Art. 152 Abs. 3 i.V.m.

Art. 149 Abs. 2 Bst. b und d StPO; siehe auch Ausführungen zu Bst. g).

Mit Buchstabe b werden die Vertragsstaaten verpflichtet, die Opfer über eine vorübergehende oder endgültige Freilassung oder über die Flucht des Straftäters oder der Straftäterin
zu informieren, zumindest in solchen Fällen, in denen die Opfer und ihre Familien in Gefahr sein könnten. Gemäss Artikel 214 Absatz 4 StPO wird das Opfer im Sinne der StPO über die Anordnung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sowie über eine Flucht der beschuldigten Person orientiert, falls es nicht ausdrücklich darauf verzichtet hat. Die Orientierung über die Aufhebung der Haft kann unterbleiben, wenn die beschuldigte Person dadurch einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt würde.

Informationen über die Freilassung einer verurteilten Person sind teilweise im kantonalen Recht vorgesehen. Artikel 21 des Gesetzes über den Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern235 sieht beispielsweise vor, dass Opfer im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 OHG auf begründetes Gesuch hin im Voraus über den Zeitpunkt und die Dauer von Hafturlauben und den Zeitpunkt einer Vollzugsunterbrechung, über die vorzeitige oder definitive Entlassung von Eingewiesenen und über 235

260

BSG 341.1

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eine Flucht von Eingewiesenen und deren Beendigung informiert werden. Auf Bundesebene ist seit dem 1. Januar 2016 Artikel 92a StGB in Kraft, der die Informationsrechte von Opfern und ihren Angehörigen regelt.

Gemäss Buchstabe c sollen Opfer über den Stand der Ermittlungen oder des Verfahrens informiert werden, von dem sie in ihrer Eigenschaft als Opfer betroffen sind.

Das heisst insgesamt, dass die Opfer über ihre Rechte und die ihnen zur Verfügung stehenden Dienste und über die auf Grund ihrer Anzeige veranlassten Massnahmen, die Anklagepunkte, den allgemeinen Stand der Ermittlungen oder des Verfahrens und ihre Rolle sowie über die ergangene Entscheidung unterrichtet werden.

Opfer im Sinne der StPO haben das Recht auf Information (Art. 117 Abs. 1 Bst. e StPO). Bei der jeweils ersten Einvernahme durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft (Art. 305 StPO) oder spätestens bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung (Art. 330 Abs. 3 StPO) wird das Opfer über seine Rechte und Pflichten im Strafverfahren, über die Adressen und Aufgaben der Opferberatungsstellen, über die Möglichkeit, Opferhilfeleistungen zu beanspruchen, und über die Frist zur Einreichung von Gesuchen um Entschädigung und Genugtuung informiert. Das Opfer erhält ausserdem Informationen zur Sistierung einer Untersuchung (Art. 314 Abs. 4 StPO), es werden ihm die Nichtanhandnahmeverfügung (Art. 310 i.V.m. Art. 321 Abs. 1 Bst. b StPO) und die Einstellungsverfügung mitgeteilt (Art. 321 Abs. 1 Bst. b StPO) sowie die Anklageschrift und ein allfälliger Schlussbericht übermittelt (Art. 327 Abs. 1 Bst. c StPO). Aus Artikel 105 Absatz 2 StPO ergibt sich ausserdem, dass auch dem Opfer, das sich (noch) nicht als Privatklägerschaft konstituiert hat, die ihm zur Wahrung seiner Interessen erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei zustehen, sofern es in seinen Rechten unmittelbar betroffen ist. Dabei geht es insbesondere um den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 107 StPO) und daraus folgend das Akteneinsichtsrecht (Art. 101 StPO). Als Privatklägerschaft erhält das Opfer Parteistellung und damit zusätzlich beispielsweise ein Teilnahmerecht bei Einvernahmen und Augenscheinen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte (Art. 147 StPO).

Die Privatklägerschaft wird zudem zur Hauptverhandlung vorgeladen (Art. 331 Abs. 4 StPO) und erhält das Urteil
des Gerichts eröffnet (Art. 351 Abs. 3 i.V.m.

Art. 84 StPO).

Gemäss dem erläuternden Bericht zur Konvention sollen auch die Angehörigen des Opfers angemessen informiert werden. Diese werden in der StPO an verschiedener Stelle explizit erwähnt. Als Angehörige des Opfers im Sinne der StPO gelten seine Ehegattin oder sein Ehegatte, seine Kinder und Eltern sowie Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen (Art. 116 Abs. 2 StPO). Sie erhalten gleich wie die Opfer Informationen über ihre Rechte und Pflichten im Strafverfahren und über die Opferhilfe (Art. 305 Abs. 4 StPO). Machen die Angehörigen des Opfers Zivilansprüche geltend, so stehen ihnen die gleichen Rechte zu wie dem Opfer (Art. 117 Abs. 3 StPO). Sie können sich als Privatklägerschaft konstituieren, soweit sie gegenüber der beschuldigten Person eigene Zivilansprüche geltend machen (Art. 122 Abs. 2 StPO). Auf diese Weise erhalten sie Parteistellung und die damit einhergehenden umfassenden Rechte.

Gemäss Buchstabe d haben die Vertragsstaaten den Opfern die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden, Beweismittel vorzulegen und ihre Ansichten, Bedürfnisse und Sorgen unmittelbar oder über eine Vermittlerin oder einen Vermittler vorzutra261

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gen und prüfen zu lassen. Gemäss der StPO muss sich das Opfer grundsätzlich als Privatklägerschaft konstituieren, damit es Parteirechte hat (Art. 104 Abs. 1 Bst. b und 118 ff. StPO). Allgemein wird das rechtliche Gehör einer Partei gewahrt, indem sie namentlich das Recht hat, die Akten einzusehen, an Verfahrenshandlungen teilzunehmen, einen Rechtsbeistand beizuziehen, sich zur Sache und zum Verfahren zu äussern und Beweisanträge zu stellen (Art. 107 Abs. 1 StPO). Als Partei kann das Opfer bei der Verfahrensleitung beispielsweise Eingaben machen (Art. 109 Abs. 1 StPO. In Buchstabe e werden die Vertragsparteien verpflichtet, den Opfern geeignete Hilfsdienste zur Verfügung zu stellen, damit deren Rechte und Interessen in gebührender Weise vorgetragen und berücksichtigt werden. Wie bereits erwähnt, kann sich gemäss der StPO ein Opfer als Privatklägerschaft am Verfahren beteiligen. Damit hat es das Recht, zur Wahrung seiner Interessen einen Rechtsbeistand beizuziehen (Art. 107 Abs. 1 Bst. c und Art. 127 StPO). Falls bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Verfahrensleitung der Privatklägerschaft zur Durchsetzung ihrer Zivilansprüche die unentgeltliche Rechtspflege gewähren (Art. 136 StPO, s. auch Ausführungen zu Art. 57).

Gemäss Buchstabe f sollen die Vertragsparteien sicherstellen, dass Massnahmen zum Schutz der Privatsphäre und des Bildes des Opfers getroffen werden können.

Das heisst, die öffentliche Verbreitung aller Informationen, die zur Identifizierung des Opfers führen könnte, soll verhindert werden. Das Opfer im Sinne der StPO hat das Recht auf Persönlichkeitsschutz (Art. 117 Abs. 1 Bst. a StPO). Erfordern es schutzwürdige Interessen des Opfers, so kann das Gericht die Öffentlichkeit ganz oder teilweise von Gerichtsverhandlungen ausschliessen (Art. 70 Abs. 1 Bst. a StPO, siehe auch Absatz 3). Gemäss Artikel 74 Absatz 4 StPO dürfen Behörden und Private ausserhalb eines öffentlichen Gerichtsverfahrens die Identität des Opfers nur unter genau genannten Voraussetzungen veröffentlichen.

Die Vertragsparteien haben gemäss Buchstabe g dafür zu sorgen, dass ein Kontakt zwischen Opfer und Täter in den Räumlichkeiten der Gerichte und der Strafverfolgungsbehörden soweit möglich vermieden wird. Die StPO regelt diesen Fall in Artikel 152 Absatz 3 i.V.m. Artikel 149 Absatz 2 Buchstaben b und
d. Danach kann das Opfer verlangen, dass die Strafbehörden eine Begegnung mit der beschuldigten Person vermeiden. Sie tragen in diesem Fall dem Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör auf andere Weise Rechnung. Die Behörden können das Opfer unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit einvernehmen, sie können dabei das Aussehen oder die Stimme des Opfers verändern oder es abschirmen. Mit «Begegnung» ist nicht nur die Gegenüberstellung, sondern jedes persönliche Aufeinandertreffen im Einflussbereich der Strafbehörden gemeint. Das heisst, diese haben durch geeignete organisatorische Massnahmen auch zu verhindern, dass das Opfer beispielsweise beim Warten auf die Einvernahme auf die beschuldigte Person trifft. Unter bestimmten Voraussetzungen kann allerdings eine Gegenüberstellung angeordnet werden (Art. 152 Abs. 4 und 153 Abs. 2 StPO; bei minderjährigen Opfern: Art. 154 Abs. 4 Bst. a StPO); dies wird von der Konvention nicht ausgeschlossen, indem der Kontakt «so weit wie möglich» vermieden werden muss.

Jede Vertragspartei stellt nach Buchstabe h sicher, dass den Opfern unabhängige und fähige Dolmetscherinnen und Dolmetscher zur Verfügung stehen, wenn die Opfer im Verfahren als Partei auftreten oder Beweismittel vorlegen. Gemäss Artikel 68 262

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Absatz 1 StPO zieht die Verfahrensleitung eine Übersetzerin oder einen Übersetzer bei, wenn eine am Verfahren beteiligte Person die Verfahrenssprache nicht versteht oder sich darin nicht genügend ausdrücken kann. Die Unabhängigkeit der übersetzenden Person wird dadurch garantiert, dass für sie die Ausstandvorschriften gelten (Art. 56 i.V.m. Art. 183 Abs. 3 i.V.m. Art. 68 Abs. 5 StPO). Die vorsätzlich falsche Übersetzung ist strafbar (Art. 184 Abs. 2 Bst. f StPO i.V.m. Art. 307 StGB). Als Übersetzerinnen und Übersetzer sind Personen zu ernennen, die die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen (Art. 68 Abs. 5 i.V.m. Art. 183 Abs. 1 StPO).

Falls das Opfer, das sich als Privatklägerschaft konstituiert, resp. sein gesetzlicher Vertreter aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten nicht in der Lage ist, sich im Verfahren zurecht zu finden und seine Rechte zu wahren, wird ihm allenfalls ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt (Art. 136 Abs. 2 Bst. c StPO). Zusätzliche Voraussetzungen sind dabei, dass die Privatklägerschaft nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Zivilklage nicht aussichtslos erscheint (Art. 136 Abs. 1 Bst. a und b StPO).

Gemäss Buchstabe i soll den Opfern ermöglicht werden, vor Gericht auszusagen, ohne dass sie im Gerichtssaal anwesend sein müssen oder zumindest ohne dass der mutmassliche Täter oder die mutmassliche Täterin anwesend ist. Dies soll insbesondere durch den Einsatz geeigneter Kommunikationstechnologie erreicht werden, soweit diese verfügbar sind. Diese Vorgaben werden von der StPO umgesetzt (s. auch Ausführungen zu Bst. a und g).

Absatz 2 verlangt besondere Schutzmassnahmen für Kinder. Zur Stellung von Kindern als Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren vergleiche die Erläuterungen zu Artikel 26. Sind die Kinder Opfer im Sinne von Artikel 116 Absatz 1 StPO, so stehen ihnen namentlich die bereits erwähnten besonderen Rechte gemäss Artikel 117 Absätze 1 und 2 StPO zu. Gemäss Artikel 319 Absatz 2 StPO kann die Staatsanwaltschaft unter bestimmten Voraussetzungen das Verfahren, an dem ein minderjähriges Opfer beteiligt ist, ausnahmsweise einstellen. Das Interesse des Staates an der Strafverfolgung wird zurückgestellt. Mit dieser Regelung wird der grossen Belastung, der ein Kind durch ein Strafverfahren ausgesetzt sein kann, Rechnung getragen.

Die Anforderungen von Artikel 56 der Konvention werden damit erfüllt.

2.6.9

Art. 57 Rechtsberatung

Die Vertragsparteien werden in Artikel 57 verpflichtet, ein Recht der Opfer auf Rechtsbeistand und auf unentgeltliche Rechtsberatung nach Massgabe ihres internen Rechts vorzusehen.

Das Opfer kann als geschädigte Person, als Zeuge oder als Privatklägerschaft zur Wahrung seiner Interessen einen Rechtsbeistand bestellen (Art. 127 Abs. 1 i.V.m.

Art. 105 StPO bzw. Art. 107 Abs. 1 Bst. c StPO). Zur Durchsetzung seiner Zivilansprüche kann die Verfahrensleitung der Privatklägerschaft zudem die unentgeltliche Rechtspflege gewähren (Art. 136 StPO). Diese umfasst gemäss Artikel 136 Absatz 2 Buchstabe c StPO auch die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands, wenn dies zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft notwendig ist. Weitere Voraus263

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setzungen sind, dass die Privatklägerschaft nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und dass die Zivilklage nicht aussichtslos erscheint (Art. 136 Abs. 1 Bst. a und b StPO).

Unter diesen Voraussetzungen kann dem Opfer nach Artikel 117 in Verbindung mit Artikel 118 Absatz 1 Buchstabe c ZPO ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt werden, wenn es ausschliesslich zivilrechtlich gegen die Täterin oder den Täter vorgeht. Sind die Voraussetzungen für die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes nicht erfüllt, so können die Kosten für einen Anwalt oder eine Anwältin allenfalls von einer Opferhilfeberatungsstelle übernommen werden (Art. 13 und 14 OHG). Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn sich das Opfer nur als Strafkläger-, nicht aber als Zivilklägerschaft am Strafverfahren beteiligt (Art. 119 Abs. 2 StPO), da es von der beschuldigten Person wirtschaftlich abhängig ist. Die Hilfe durch die Beratungsstellen nach OHG ist gegenüber der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Artikel 136 StPO subsidiär.

Artikel 57 der Konvention wird somit umgesetzt.

2.6.10

Art. 58 Verjährungsfrist

Die Vertragsstaaten haben dafür besorgt zu sein, dass die Verjährungsfristen für Straftaten nach den Artikeln 36 (sexuelle Gewalt), 37 (Zwangsheirat), 38 (Genitalverstümmelung) und 39 (Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung) der Konvention ausreichend lange sind und sich über einen der Schwere der Straftat entsprechenden Zeitraum erstrecken, um die Einleitung eines Verfahrens zu ermöglichen, nachdem das Opfer volljährig geworden ist. Es kann ein Vorbehalt angebracht werden, wonach diese Anforderung bezüglich der Artikel 37, 38 und 39 nicht, nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten Bedingungen angewendet wird (Art. 78 Abs. 2 Beistrich 4).

Nach Artikel 97 Absatz 2 StGB dauert die Verfolgungsverjährung bei sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187) und Abhängigen (Art. 188) sowie bei Straftaten namentlich nach den Artikeln 122, 124, 189­191 StGB, die sich gegen Kinder unter 16 Jahren richten, in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers. Ist das Opfer zum Zeitpunkt der Tat 16 Jahre alt oder älter, so dauert die ordentliche Verjährungsfrist 15 Jahre. Seit dem 1. Januar 2013 ist zudem Artikel 101 Absatz 1 Buchstabe e StGB in Kraft, der Artikel 123b BV konkretisiert. Danach tritt für an Kinder unter 12 Jahren begangene Straftaten gemäss Artikel 187 Ziffer 1, 189, 190, 191, 192 Absatz 1 und 193 Absatz 1 StGB keine Verjährung ein. Die Verjährungsfristen für die Verfolgung von Straftaten nach den Artikeln 36, 38 und 39 (betreffend Zwangssterilisierung, die als schwere Körperverletzung nach Artikel 122 StGB erfasst wird) sind damit genügend lang im geforderten Sinn.

Für die Tatbestände der Zwangsheirat (Art. 181a StGB, Art. 37 der Konvention) und der Zwangsabtreibung (Art. 118 Abs. 2 StGB, Art. 39 der Konvention) gilt die ordentliche Verjährungsfrist von 15 Jahren (Art. 97 Abs. 1 Bst. b StGB). Für die Zwangsabtreibung genügt diese Frist, da die Erfüllung des Tatbestandes bei kleinen Kindern biologisch ausgeschlossen ist. Hingegen stellt sich bei der Zwangsheirat die Frage, ob das geltende Recht den Anforderungen der Konvention genügt. In der 264

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Schweiz sind Heiraten mit Minderjährigen zivilrechtlich ungültig. Ist ein Kind bei der zwangsweisen Verheiratung im Ausland beispielsweise lediglich 10 Jahre alt und kommt es Jahre später in der Schweiz zu einer strafrechtlichen Verfolgung, so ist die ordentliche Verjährungsfrist von 15 Jahren genügend lange im Sinne der Konvention. Zudem entspricht sie im Ergebnis sogar der verlängerten Verjährungsfrist für bestimmte Delikte nach Artikel 97 Absatz 2 StGB, wonach die Verfolgungsverjährung mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers dauert.

Fälle, in denen das betroffene Kind in einer solchen Konstellation bei der Zwangsverheiratung noch wesentlich jünger ist, dürften in der Praxis kaum vorkommen.

Erst bei Zwangsverheiratungen von Kindern unter ca. fünf Jahren wäre die Verjährungsfrist im Hinblick auf Artikel 58 der Konvention problematisch. Von einem Vorbehalt zwecks Abdeckung dieses theoretischen Randbereichs ist abzusehen.

Damit werden die Anforderungen von Artikel 58 der Konvention erfüllt.

2.7

Kapitel VII: Migration und Asyl

2.7.1

Art. 59 Aufenthaltsstatus

Die Vertragsstaaten werden in Absatz 1 verpflichtet, Opfern von häuslicher Gewalt, deren Aufenthaltsstatus vom Ehemann oder von der Ehefrau bzw. vom Partner oder von der Partnerin abhängt, im Falle der Auflösung der Ehe oder Partnerschaft bei besonders schwierigen Umständen auf Antrag einen eigenen Aufenthaltstitel zu erteilen, unabhängig von der Dauer der Ehe oder Partnerschaft. Die Bedingungen für die Bewilligung und Dauer des eigenständigen Aufenthaltstitels werden durch das interne Recht geregelt. Zu Artikel 59 kann ein Vorbehalt angebracht werden, wonach er nicht oder nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten Bedingungen angewendet wird (Art. 78 Abs. 2 Beistrich 5).

Artikel 50 AuG verschafft Personen, die mit Schweizerinnen, Schweizern oder Niedergelassenen (C-Bewilligung) verheiratet sind, einen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach der Auflösung der Familiengemeinschaft, namentlich beim Vorliegen wichtiger persönlicher Gründe, die einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen. Wichtige persönliche Gründe können insbesondere vorliegen, wenn die Ehegattin oder der Ehegatte Opfer ehelicher Gewalt oder die Ehe nicht aus freiem Willen geschlossen wurde oder die soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährdet erscheint. Personen, die mit Jahres- oder Kurzaufenthalterinnen oder -aufenthaltern (B- und L-Bewilligung, Art. 44 und 45 AuG) verheiratet sind, steht dieser Rechtsanspruch hingegen nicht zu. Bei diesen Personengruppen liegt die Verlängerung der Bewilligung wegen wichtiger persönlicher Gründe im Ermessen der zuständigen Migrationsbehörden (Art. 77 der Verordnung vom 24. Oktober 2007236 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit, VZAE). Bei Ehegattinnen oder Ehegatten von vorläufig aufgenommenen Personen (Art. 85 Abs. 7 AuG) kann im Rahmen der Verlängerung der vorläufigen Aufnahme wie auch bei einer späteren Härtefallprüfung nach Artikel 84 Absatz 5 AuG wichtigen Gründen wie ehelicher Gewalt Rech236

SR 142.201

265

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nung getragen werden. Auch hier besteht kein Rechtsanspruch auf eine entsprechende Regelung.

Absatz 1 sieht zudem ein analoges Aufenthaltsrecht für Partnerinnen und Partner vor. In der Schweiz sollte hier der Begriff Konkubinatspartnerschaft verwendet werden, um Verwechslungen mit dem Begriff der eingetragenen Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare zu vermeiden. Dies bedeutet, dass in Fällen, in welchen eine ausländische Person im Familiennachzug zur Konkubinatspartnerin oder zum Konkubinatspartner zugelassen wird, für diese Person, wenn sie Opfer ehelicher Gewalt würde, nach einer Trennung eine Härtefallbewilligung erteilt werden kann.

In der Praxis sind diese Fälle selten, da Konkubinatspartnerinnen und Konkubinatspartner nur unter restriktiven Bedingungen überhaupt zum Familiennachzug zugelassen werden. Aufgrund von Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe b AuG besteht aber die rechtliche Grundlage für eine Zulassung wegen wichtiger persönlicher Gründe in einem solchen Fall. Es handelt sich jedoch nicht um einen Rechtsanspruch.

Das schweizerische Recht sieht je nach Aufenthaltsstatus der betroffenen Personen einen Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung vor oder nicht. Da Artikel 59 einen Rechtsanspruch statuiert und lediglich dessen Ausgestaltung dem innerstaatlichen Recht überlässt, nimmt die Schweiz die genannte Vorbehaltsmöglichkeit in Anspruch, wonach Konkubinatspartnerinnen und -partner sowie Ehefrauen und Ehemänner von Jahres- oder Kurzaufenthaltern oder -aufenthalterinnen oder von vorläufig aufgenommenen Personen, die Opfer von Gewalt in der Beziehung sind, bei Auflösung des Konkubinats oder der Ehe keinen Rechtsanspruch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben.

Absatz 2 bezieht sich auf den Fall, dass ein Opfer, das im Familiennachzug in die Schweiz kam, diese zusammen mit dem Ehegatten oder der Ehegattin bzw. der Partnerin oder dem Partner wieder verlassen muss, falls diese Person weggewiesen wird. Da die ausländerrechtliche Bewilligung einer sich im Familiennachzug in der Schweiz aufhaltenden Person von der Bewilligung der nachziehenden Person abhängt, soll mittels einer Vollzugsaussetzung ermöglicht werden, dass ein Opfer aus humanitären Gründen237 einen eigenständigen Aufenthaltstitel beantragen kann.

Macht ein Opfer während eines Ausweisungsverfahrens (in der schweizerischen
Terminologie ein Widerrufs- oder Wegweisungsverfahren) gegen beide Eheleute (oder Konkubinatspartner) gegenüber den Behörden die erlittene eheliche Gewalt geltend, so kann für das Opfer im Rahmen des laufenden Verfahrens eine eigenständige Bewilligung gemäss Absatz 1 der Konvention bzw. Artikel 50 AuG und Artikel 77 VZAE, geprüft werden. Einem Rechtsmittel kommt hier grundsätzlich aufschiebende Wirkung zu. Die Anforderungen von Absatz 2 werden damit erfüllt.

Absatz 3 verpflichtet die Vertragsstaaten, einem Opfer von häuslicher Gewalt oder Gewalt gegen Frauen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel auszustellen, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass der weitere Aufenthalt des Opfers aufgrund seiner persönlichen Lage (Bst. a) in der Schweiz erforderlich ist. Aspekte wie Gesundheit, Sicherheit, familiäre Situation oder die Situation im Herkunftsland sind zu berücksichtigen.238 Diese Aspekte entsprechen auch den Beurteilungskrite237 238

266

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 306.

Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 307.

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rien eines nachehelichen Härtefalls nach Artikel 50 Absatz 1 Buchstabe b und Absatz 2 AuG und Artikel 77 VZAE in Verbindung mit Artikel 31 Absatz 1 VZAE, nach welchen solche Fälle in der Schweiz beurteilt werden. Des Weiteren muss, als Alternative, einem Opfer ein verlängerbarer Aufenthaltstitel ausgestellt werden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass der Aufenthalt des Opfers für die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden bei den Ermittlungen oder beim Strafverfahren erforderlich ist (Bst. b). Für Opfer sowie Zeuginnen und Zeugen von Menschenhandel wird dies in Artikel 36 VZAE geregelt. In allen anderen Fällen, beispielsweise während eines hängigen Strafverfahrens wegen ehelicher Gewalt, kann gestützt auf Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe b AuG in Verbindung mit Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe d VZAE zur Wahrung des wichtigen öffentlichen Interesses der Notwendigkeit der Anwesenheit einer Ausländerin oder eines Ausländers im Rahmen eines Strafverfahrens eine ausländerrechtliche Bewilligung erteilt werden. Die Schweiz verfügt damit über die in Absatz 3 geforderten gesetzlichen Grundlagen.

Aus Absatz 4 fliesst die Pflicht der Vertragsstaaten, Massnahmen zu ergreifen, damit Opfer einer Zwangsheirat, die zum Zweck der Verheiratung ins Ausland gebracht wurden und die dadurch ihren Aufenthaltsstatus verloren haben, diesen wiedererlangen können, insbesondere im Falle der Auflösung der Ehe. Verlässt eine Ausländerin oder ein Ausländer die Schweiz, ohne sich abzumelden, so erlischt die Kurzaufenthaltsbewilligung nach drei Monaten, die Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung nach sechs Monaten (Art. 61 Abs. 2 AuG). Bei einer Abmeldung ins Ausland erlischt die Bewilligung sofort (Art. 61 Abs. 1 Bst. a AuG). Wiederzugelassen können Ausländerinnen und Ausländer werden, wenn sie vorher im Besitz einer Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung waren, ihr früherer Aufenthalt in der Schweiz mindestens fünf Jahre gedauert hat, nicht nur vorübergehender Natur war und ihre freiwillige Ausreise aus der Schweiz nicht länger als zwei Jahre zurückliegt (Art. 49 Abs. 1 VZAE). In allen anderen Fällen ist eine Zulassung im Rahmen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls denkbar (Art. 30 Abs. 1 Bst. b AuG). Da diese Bewilligungserteilungen im Ermessen der zuständigen Behörden liegen und keinen
Rechtsanspruch begründen, nimmt die Schweiz die genannte Vorbehaltsmöglichkeit in Anspruch.

Die Anforderungen von Artikel 59 der Konvention werden mit Inanspruchnahme der genannten Vorbehalte zu den Absätzen 1 und 4 erfüllt.

2.7.2

Art. 60 Asylanträge aufgrund des Geschlechts

Gemäss Absatz 1 müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass geschlechtsspezifische Gewalt eine Form der Verfolgung im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 des Abkommens vom 28. Juli 1951239 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention) darstellt und zur Vergabe des Flüchtlingsstatus führen kann240 und dass sie als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die ergänzenden oder subsidiären Schutz begründet.

239 240

SR 0.142.30 Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 311.

267

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In der Schweiz ist die Flüchtlingskonvention seit dem 21. April 1955 in Kraft. Auf nationaler Ebene wird geschlechtsspezifische Gewalt unter eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 3 Abs. 1 Asylgesetz241) subsumiert. Zudem verankert Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 AsylG durch den Zusatz «den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen» die ernsthaften Nachteile, welche ausschliesslich Frauen betreffen, im Gesetz.

Die Konvention sieht zudem für Frauen, welche die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, die jedoch bei einer Rückkehr in ihr Herkunfts- oder vorheriges Aufenthaltsland geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt wären, die Gewährung von internationalem Schutz vor. Diese Gewalt äussert sich in einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder einer ernsthaften Gefährdung des Lebens der betroffenen Person. Dieser Bestimmung wird durch die Garantien von Artikel 3 EMRK Rechnung getragen (vgl. auch Art. 61 der Konvention). Gemäss dieser Bestimmung darf niemand der Folter oder unmenschlicher bzw. erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt werden, und es darf keine Person ausgewiesen werden, wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass nach der Ausweisung eine nach Artikel 3 EMRK verletzende Behandlung droht. Zudem wird die individuelle Zumutbarkeit einer Wegweisung aus der Schweiz geprüft. So ist eine Wegweisung dann unzumutbar, wenn im Hinblick auf die Situation im Herkunftsland die persönlichen Verhältnisse der betroffenen Person derart ungünstig sind, dass das öffentliche Interesse am Wegweisungsvollzug gegenüber dem gegenläufigen privaten Interesse zurücktreten muss (Art. 83 Abs. 4 AuG). In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass der Bundesrat in Erfüllung von drei Postulaten242 in einem Bericht aufzeigt, wie der Status der vorläufigen Aufnahme im Asyl- und im Ausländergesetz verbessert oder allenfalls neu geregelt werden kann.

Absatz 2 verpflichtet die Vertragsstaaten zu einer geschlechtersensiblen Interpretation der Flüchtlingskonvention. Es sollen alle Aspekte, die zur Verleihung des Flüchtlingsstatus führen können, geschlechtersensibel ausgelegt werden. In der schweizerischen Gesetzgebung ist dies mit Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 AsylG umgesetzt. So müssen den frauenspezifischen Fluchtgründen in allen
Aspekten der Verfolgung Rechnung getragen werden.

Absatz 3 verpflichtet die Vertragsstaaten, eine geschlechtersensible Behandlung für alle Asylsuchenden während des Asylverfahrens sicherzustellen. Dies erstreckt sich auf die Bereiche Aufnahme, Hilfsdienste und Verfahren sowie die darin tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vertragsstaaten. Asylsuchende werden in nach Geschlecht getrennten Schlafräumen untergebracht.243 Bei einer Abnahme von Gegenständen dürfen Asylsuchende nur von Personen gleichen Geschlechts durchsucht werden.244 Alle asylsuchenden Personen haben durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung Zugang zum schweizerischen Gesundheitswesen und erhal241 242

AsylG, SR 142.31 11.3954 «Einschränkungen der vorläufigen Aufnahme», 13.3844 «Vorläufige Aufnahme.

Neue Regelung für mehr Transparenz und Gerechtigkeit», 14.3008 «Überprüfung des Status der vorläufigen Aufnahme und der Schutzbedürftigkeit».

243 Art. 4 der Verordnung des EJPD vom 24. November 2007 über den Betrieb von Unterkünften des Bundes im Asylbereich, VO EJPD, SR 142.311.23.

244 Art. 3 Abs. 2 VO EJPD.

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ten die notwendigen medizinischen Behandlungen.245 Die im Asylverfahren tätigen Personen werden speziell für den Umgang mit geschlechtsspezifischer Verfolgung geschult und sensibilisiert. Zudem existiert im zuständigen SEM eine interne Fachgruppe, die sich mit geschlechtsspezifischer Verfolgung befasst. Diese Fachgruppe erstellt Schulungsunterlagen sowie Arbeitsinstrumente und ist Anlaufstelle für entsprechende Fragestellungen.

Des Weiteren wurde in Artikel 17 Absatz 2 AsylG die Kompetenz zum Erlass von ergänzenden Bestimmungen über das Asylverfahren, insbesondere um der speziellen Situation von Frauen und Minderjährigen im Verfahren gerecht zu werden, an den Bundesrat delegiert. Dieser hat auf Verordnungsebene spezielle Verfahrensvorschriften für die Asylverfahren von Frauen erlassen. In Artikel 5 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999246 über Verfahrensfragen (AsylV 1) wird der Anspruch auf ein eigenes Verfahren für alle Ehepaare, Familienmitglieder und eingetragene Partnerinnen und Partner festgehalten, und alle Ehepartner werden bei den Befragungen zu den Asylgründen separat befragt. Artikel 6 AsylV 1 regelt, dass bei Vorliegen konkreter Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung die asylsuchende Person in einer geschlechtsidentischen Befragungsrunde angehört wird.

Die Schweiz erfüllt somit die Voraussetzungen von Artikel 60 der Konvention.

2.7.3

Art. 61 Verbot der Zurückweisung247

Absatz 1 fordert von den Vertragsparteien Massnahmen, um den Grundsatz des Verbots der Zurückweisung in Übereinstimmung mit bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten. Absatz 2 legt fest, dass schutzbedürftige Opfer von Gewalt gegen Frauen, unabhängig von ihrem Status oder Aufenthalt, unter keinen Umständen in einen Staat zurückgewiesen werden dürfen, in dem ihr Leben gefährdet wäre oder in dem sie der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen werden könnten.

In der Schweiz ist sowohl die Geltung und Umsetzung der Flüchtlingskonvention (namentlich Art. 33) als auch der EMRK (namentlich Art. 3) gewährleistet. Das Rückschiebungsverbot ist zudem im nationalen Recht in Artikel 5 AsylG verankert.

Das Rückschiebungsverbot gilt für alle Menschen, somit auch in allen ausländeroder asylrechtlichen Situationen, und muss bei jeder Rückführung beachtet werden.

Somit hat die Schweiz alle gesetzgeberischen und sonstigen Massnahmen getroffen, um das Non-Refoulement-Prinzip bei Opfern von Gewalt gegen Frauen anzuwenden.

Die Anforderungen von Artikel 61 der Konvention werden damit erfüllt.

245

Art. 3 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung, KVG, SR 832.10, i.V.m. Art. 1 Abs. 2 Bst. c der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung, KVV, SR 832.102.

246 SR 142.311 247 In der Schweiz Rückschiebungsverbot oder Non-Refoulement-Prinzip genannt.

269

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2.8

Kapitel VIII: Internationale Zusammenarbeit (Art. 62­65)

2.8.1

Art. 62­ 64

Die durch die Konvention begründete internationale Zusammenarbeit betrifft administrative, strafrechtliche und zivile Aspekte. Artikel 62 deckt entsprechend dem aktuellen Usus in den neuen Rechtsinstrumenten des Europarates und der UNO alle drei Bereiche ab. Ziel der Konvention ist es, die Grundlage für eine Zusammenarbeit zu schaffen, mit der die Hindernisse bei der raschen Verbreitung von Informationen und Beweisen möglichst beseitigt werden. Die Verpflichtung zur Kooperation hat allgemeine Geltung. Nach Artikel 62 Absatz 1 handelt es sich hierbei um die Verhütung, Bekämpfung und Verfolgung aller in den Anwendungsbereich der Konvention fallenden Formen von Gewalt (Bst. a), um Schutz und Hilfe für die Opfer (Bst. b), um die Führung der Ermittlungen oder des Verfahrens in Bezug auf die betreffenden Straftaten (Bst. c) sowie um die Durchsetzung einschlägiger von den Justizbehörden der Vertragsparteien erlassener Zivil- und Strafurteile (Bst. d). Die Schweiz ist Vertragsstaat verschiedener internationaler Instrumente, die die internationale Zusammenarbeit im Sinne von Artikel 62 fördern.248 Artikel 62 Absatz 2 ist an Artikel 11 Absätze 2 und 3 des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren249 angelehnt. Er soll es dem Opfer erleichtern, Anzeige zu erstatten, indem ihm die Möglichkeit gegeben wird, diese bei den zuständigen Behörden seines Wohnsitzstaates zu erstatten. Diese Behörden können dann entweder ein Verfahren einleiten oder aber die Anzeige an die Behörden des Staates weiterleiten, in dem die Taten begangen wurden. Die Weiterleitung erfolgt im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen der zwischen den beteiligten Staaten geltenden Kooperationsverträge.250 Artikel 62 Absatz 3 betrifft die Drittstaaten, die der Konvention beitreten und nicht Vertragsparteien der einschlägigen Rechtsinstrumente sind. Die Schweiz muss keinen Vertrag abschliessen, um mit den anderen Staaten in Strafsachen zusammenzuarbeiten. Das Schweizer Recht erlaubt eine solche Zusammenarbeit und legt die entsprechenden Bedingungen fest (IRSG).

248

Europäisches Übereinkommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen, SR 0.351.1, und das entsprechende Zweite Zusatzprotokoll, SR 0.351.12; Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, SR 0.353.1, und die entsprechenden Zusatzprotokolle, SR 0.353.11, SR 0.353.12, SR 0.353.13, SR 0.353.14; Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern (Haager Kindesschutzübereinkommen, HKsÜ) SR 0.211.231.011; Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen, SR 0.211.231.01.

249 32001F0220 2001/220/JI: Rahmenbeschluss des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren.

250 Erläuternder Bericht zur Konvention, Ziff. 330.

270

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Nach Absatz 4 schliesslich bemühen sich die Vertragsparteien, die Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in Entwicklungshilfeprogramme zugunsten von Drittstaaten aufzunehmen.

Im strafrechtlichen Bereich ist die Schweiz im Zusammenhang mit den Artikeln 63 und 64 insofern tätig, als die Strafverfolgungsbehörde einer ausländischen Behörde unaufgefordert, also ohne vorheriges Ersuchen, Informationen und Beweismittel übermitteln kann, die sie im Rahmen ihrer eigenen Strafuntersuchung erhoben hat, wenn diese Übermittlung aus ihrer Sicht für die Einleitung eines Strafverfahrens oder die Erleichterung einer hängigen Strafuntersuchung geeignet ist.251 Auch im Bereich des zivilen Kindesschutzes werden Informationen ins Ausland übermittelt, wo das Schutzinteresse des betreffenden Kindes dies erfordert. Erhält eine Schweizer Behörde Informationen vom Ausland, so übermittelt sie diese selbstverständlich den zuständigen Schweizer Behörden, damit diese sie im betreffenden zivilen, strafrechtlichen oder administrativen Verfahren verwenden können.

In den Artikeln 62 und 63 wird auch die Vollstreckung von Urteilen und anderen behördlichen Anordnungen angesprochen. Für den Bereich des Zivilrechts gilt hier das Bundesgesetz vom 18. Dezember 1987252 über das Internationale Privatrecht (IPRG). Im Verhältnis zu den EU- und EFTA-Staaten (mit Ausnahme von Liechtenstein) ist für die Anerkennung und Vollstreckung einzelner Ansprüche (z.B. Schadenersatz, Genugtuung) das Lugano-Übereinkommen253 massgebend. Daneben gibt es auch einzelne bilaterale Abkommen. Spezifische multilaterale Übereinkommen zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schutzanordnungen, denen die Schweiz beitreten könnte, gibt es zurzeit noch nicht. Die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht prüft aber zurzeit die Opportunität eines internationalen Rechtsinstruments im besagten Bereich254. Die Schweiz ist an den Arbeiten beteiligt. Ein Teilbereich wird bereits durch die bestehenden Haager Übereinkommen im Bereich des Kindeschutzes abgedeckt.255 Die Anforderungen der Artikel 62­64 der Konvention, die über weite Strecken nicht verpflichtend ausgestaltet sind, werden damit erfüllt.

2.8.2

Art. 65 Datenschutz

Gemäss Artikel 65 werden personenbezogene Daten nach Massgabe der Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus dem Übereinkommen vom 28. Januar 1982256 zum Schutz des Menschen bei automatischer Verarbeitung personenbezogener Daten vom 28. Januar 1981 (SEV Nr. 108) gespeichert und verwendet.

251 252 253

Art. 67a IRSG.

SR 291 Übereinkommen vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, SR 0.275.12.

254 www.hcch.net > projets > projets législatifs > ordonnance de protéction 255 Namentlich das Bundesgesetz über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen vom 21. Dezember 2007, SR 211.222.32.

256 SR 0.235.1

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Diese Übereinkommen ist in der Schweiz am 1. Februar 1998 in Kraft getreten. Es bezweckt, den Schutz der Rechte jedes Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten im privaten wie im öffentlichen Bereich zu erweitern. Es zielt darauf ab, in allen Mitgliedstaaten einen minimalen Persönlichkeitsschutz bei der Verarbeitung von Personendaten sowie eine gewisse Harmonisierung des Schutzsystems sicherzustellen; zudem garantiert es den grenzüberschreitenden Verkehr personenbezogener Daten in dem Sinne, dass keine Vertragspartei die Weitergabe von Informationen an eine andere Vertragspartei verbieten darf, die den minimalen Schutz gemäss diesem Übereinkommen gewährleistet. Das SEV Nr. 108 wird durch das Zusatzprotokoll vom 8. November 2001257 zum Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten bezüglich Aufsichtsbehörden und grenzüberschreitender Datenübermittlung ergänzt.

In der Schweiz wird der Schutz von Personendaten im DSG258 geregelt. Dieses Gesetz bezweckt den Schutz der Persönlichkeit und der Grundrechte natürlicher und juristischer Personen, über die Privatpersonen oder eidgenössische Organe Daten (einschliesslich besonders schützenswerter Daten oder Persönlichkeitsprofile) bearbeiten. Geschützt werden soll insbesondere das durch Artikel 13 Absatz 2 BV garantierte Recht auf Selbstbestimmung im Datenbereich. Das Gesetz entspricht den Anforderungen des SEV Nr. 108.

Sowohl das SEV Nr. 108 wie auch das DSG werden zurzeit revidiert.

Damit sind die Anforderungen von Artikel 65 der vorliegenden Konvention erfüllt.

2.9

Kapitel IX: Überwachungsmechanismus (Art. 66­70)

Die Konvention sieht einen relativ weitgehenden Überwachungsmechanismus vor, der die Durchführung des Übereinkommens durch die Vertragsparteien bezweckt.

Dieser beruht auf zwei Pfeilern: einer Gruppe unabhängiger Expertinnen und Experten, die mit dem Überwachungsverfahren zur Durchführung des Übereinkommens beauftragt sind, der GREVIO (Art. 66), und einer politischen Instanz, dem Ausschuss der Vertragsparteien (Art. 67). Darin entspricht der Mechanismus jenem für das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels.259 Die GREVIO besteht aus mindestens 10 und höchstens 15 Mitgliedern; bei der Zusammensetzung wird auf die Ausgewogenheit der Vertretung der Geschlechter und der geografischen Verteilung sowie auf multidisziplinäres Fachwissen geachtet.

Die Mitglieder werden vom Ausschuss der Vertragsparteien unter Kandidatinnen und Kandidaten, die von den Vertragsparteien ernannt werden, für eine einmal verlängerbare Amtszeit von vier Jahren gewählt und unter den Staatsangehörigen der Vertragsparteien ausgewählt (Art. 66 Abs. 2). Für die Wahl der GREVIOMitglieder gelten genaue Kriterien: Sie werden aus einem Kreis von Personen mit hohem sittlichen Ansehen ausgewählt, die über anerkannte Fachkenntnisse auf dem 257 258 259

272

SR 0.235.11 SR 235.1 SR 0.311.543

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Gebiet der Menschenrechte, der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Gewalt gegen Frauen und der häuslichen Gewalt oder der Unterstützung und des Schutzes von Opfern verfügen oder über Berufserfahrung in den von der Konvention erfassten Bereichen (Art. 66 Abs. 4 Bst. a). Zusätzlich müssen die Expertinnen und Experten alle unterschiedliche Staatsangehörigkeiten besitzen und einerseits die hauptsächlichen Rechtssysteme und andererseits einschlägige Akteure und Stellen auf dem Gebiet der Gewalt gegen Frauen und der häuslichen Gewalt vertreten (Art. 66 Abs. 4 Bst. b, c und d). Sie vertreten nicht die Staaten, welche sie ausgewählt haben, sondern gehören der GREVIO in ihrer persönlichen Eigenschaft an und sind unabhängig und unparteiisch bei der Ausübung ihres Amtes (Art. 66 Abs. 4 Bst. e). Der Ausschuss der Vertragsparteien, zusammengesetzt aus Vertreterinnen und Vertretern der Vertragsparteien der Konvention (Art. 67 Abs. 1), ist hauptsächlich damit beauftragt, die Mitglieder der GREVIO zu wählen. Er stellt eine gleichberechtigte Teilnahme aller Vertragsparteien am Überwachungsverfahren sicher und stärkt gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien und zwischen ihnen und der GREVIO.

Das von der GREVIO geleitete Überwachungsverfahren beginnt damit, dass die Vertragsstaaten einen ersten Bericht über Massnahmen zur Umsetzung der Konvention vorlegen (Art. 68 Abs. 1). Zur Erleichterung der Monitoringarbeiten der Vertragsparteien beziehen sich die späteren Bewertungsverfahren nicht mehr auf die ganze Konvention, sondern konzentrieren sich auf besondere Bestimmungen, die die GREVIO in Zyklen auswählt und auf Grundlage thematischer Fragebögen evaluiert (Art. 68 Abs. 3). Unterstützend kann die GREVIO in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden Länderbesuche durchführen, wenn die gewonnenen Informationen unzureichend sind (Art. 68 Abs. 9). Auf der Grundlage aller erhaltenen Informationen, einschliesslich jener der nichtstaatlichen Organisationen, der Zivilgesellschaft, der nationalen Institutionen für den Schutz der Menschenrechte sowie anderer Organe des Europarats wie dem Menschenrechtskommissar, beschliesst die GREVIO ihren Bericht und ihre Schlussfolgerungen bezüglich der von der betreffenden Vertragspartei getroffenen Massnahmen (Art. 68 Abs. 5, 8, 11). Die Schlussfolgerungen der
GREVIO sind das Ergebnis eines Dialogs mit der Vertragspartei und werden mit dem Bericht veröffentlicht. Um diesem Dialog politisches Gewicht zu verleihen, kann der Ausschuss der Vertragsparteien, dem der Bericht übergeben wurde, Empfehlungen zu bestimmten Massnahmen aussprechen (Art. 68 Abs. 12).

Ein Mehrwert des Überwachungsmechanismus der Konvention besteht im besonderen Verfahren, mit dem die GREVIO ermächtigt wird, die Vorlage eines Berichts der betroffenen Vertragspartei über die von ihr getroffenen Massnahmen zu verlangen, um das Eintreten schwerwiegender, massiver oder dauerhafter Phänomene in Zusammenhang mit allen in den Anwendungsbereich der Konvention fallenden Gewalttaten zu verhindern. Die Voraussetzung für die Anforderung eines Sonderberichts ist, dass die GREVIO verlässliche Informationen erhält, die auf eine Situation hindeuten, in der die Probleme die unmittelbare Aufmerksamkeit erfordern. Auf der Basis der erhaltenen Informationen kann die GREVIO eine Untersuchung durchführen lassen. In Ausnahmefällen kann diese Untersuchung auch einen Besuch im betroffenen Land umfassen (Art. 68 Abs. 13­15). Je nach Ergebnissen geben die

273

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Schlussfolgerungen dieses Sonderverfahrens Anlass zu Empfehlungen, die dem Ausschuss der Vertragsparteien und dem Ministerkomitee übermittelt werden. 260 Eine weitere Besonderheit und ein weiterer Mehrwert des Überwachungsmechanismus bestehen darin, dass die GREVIO allgemeine Empfehlungen zur Durchführung der Konvention verabschieden kann. Die allgemeinen Empfehlungen haben für sämtliche Vertragsparteien eine gemeinsame Bedeutung und betreffen nicht ein bestimmtes Land im Speziellen. Obwohl diese allgemeinen Empfehlungen nicht verbindlich sind, dienen sie den Vertragsparteien doch als wichtige Referenz für ein besseres Verständnis der Themen der Konvention und bieten Richtlinien dazu (Art. 69).261 Angesichts der entscheidenden Rolle der nationalen Parlamente bei der Durchführung der Konvention, welche in zahlreichen Fällen rechtliche Änderungen erfordern kann, ist vorgesehen, dass ihnen die Berichte und Schlussfolgerungen der GREVIO unterbreitet werden müssen (Art. 70).

Die Umsetzung dieses Überwachungsmechanismus durch die Schweiz soll sich eng an der Praxis bezüglich anderer Übereinkommen des Europarates orientieren, welche die Menschenrechte schützen und durch die Schweiz ratifiziert worden sind, 262 denn diese Überwachungssysteme haben als Modell gedient. Die Umsetzung wird dadurch vereinfacht werden, dass sich das Bewertungsverfahren auf thematische Fragebögen abstützt anstatt auf ausführliche periodische Berichte. Ebenso wird die Tatsache, dass die Besuche vor Ort nur subsidiär und ausnahmsweise erfolgen, die Arbeit der nationalen Behörden erleichtern.

2.10

Kapitel X­XII: Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften, Änderungen des Übereinkommens und Schlussbestimmungen (Art. 71­81)

Diese Bestimmungen enthalten im Wesentlichen die auch in anderen Übereinkommen des Europarats üblichen Modalitäten hinsichtlich Beilegung von Streitigkeiten (Art. 74), Unterzeichnung und Inkrafttreten (Art. 75), Beitritt zum Übereinkommen (Art. 76), räumlicher Geltungsbereich (Art. 77), Vorbehalte (Art. 78 und 79), Kündigung (Art. 80) und Notifikation (Art. 81).

Das Übereinkommen tritt in Kraft, sobald es von mindestens 10 Staaten ratifiziert wurde, darunter mindestens 8 Mitgliedstaaten des Europarats (Art. 75 Abs. 3). Die Konvention ist am 1. August 2014 in Kraft getreten. Der Beitritt steht auch NichtMitgliedstaaten des Europarats offen, die sich nicht an der Ausarbeitung des Über260

Dieses Sonderverfahren ist an das Untersuchungsverfahren gemäss dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW, Art. 8) angelehnt, das für die Schweiz am 29. Dez.

2008 in Kraft getreten ist, SR 0.108.1.

261 Dieses Verfahren ist ebenfalls an das CEDAW angelehnt (Art. 21 Abs. 1). Im Europarat erarbeitet die europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) gleichfalls Empfehlungen zu allgemeinen politischen Massnahmen, welche sich an die Regierungen der Mitgliedstaaten richten.

262 So das genannte Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels oder das von der Schweiz am 21. Oktober 1998 ratifizierte Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, SR 0.441.1.

274

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einkommens beteiligt haben; sie können dem Übereinkommen auf Einladung des Ministerkomitees beitreten (Art. 76). Das Übereinkommen kann jederzeit, mit einer Frist von drei Monaten, mittels Notifikation an das Generalsekretariat des Europarats gekündigt werden (Art. 80).

Mit Ausnahme der ausdrücklich vorgesehenen Vorbehalte sind Vorbehalte zu diesem Übereinkommen nicht zulässig (Art. 78 Abs. 1). Die möglichen Vorbehalte werden abschliessend aufgezählt (Art. 78 Abs. 2). Ferner kann sich jeder Vertragsstaat das Recht vorbehalten, für die in den Artikeln 33 und 34 der Konvention genannten Handlungen nichtstrafrechtliche anstelle von strafrechtlichen Sanktionen vorzusehen (Art. 78 Abs. 3). Die in Artikel 78 Absätze 2 und 3 genannten Vorbehalte sind für einen Zeitraum von fünf Jahren nach dem Tag des Inkrafttretens des Übereinkommens für die betreffende Vertragspartei gültig; sie können für Zeiträume der gleichen Dauer verlängert werden (Art. 79 Abs. 1). Achtzehn Monate vor Ablauf des Vorbehalts setzt der Generalsekretär des Europarats die betreffende Vertragspartei darüber in Kenntnis; spätestens drei Monate vor Ablauf des Vorbehalts notifiziert die Vertragspartei dem Generalsekretär, dass sie diesen Vorbehalt aufrechterhält, ändert oder zurücknimmt (Art. 79 Abs. 2).

3 3.1

Auswirkungen Finanzielle und personelle Auswirkungen auf den Bund

Der Beitritt zur Istanbul-Konvention hat nur geringfügige finanzielle und personelle Auswirkungen auf den Bund. Eine gewisse Mehrbelastung bewirken werden namentlich die Überwachung der Umsetzung der Konvention (vgl. Ziff. 2.9) sowie die von der Konvention geforderte Schaffung einer Koordinationsstelle, die für die Koordinierung, Umsetzung, Beobachtung und Bewertung der Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der in der Konvention erfassten Formen von Gewalt gegen Frauen zuständig ist (vgl. Ziff. 2.2.4). Der FHG des EBG ist am besten geeignet, die beiden genannten Aufgaben zu übernehmen. Er verfügt über das fachliche Wissen und das Netzwerk auf Bundes- wie Kantonsebene, die notwendig sind für eine erfolgreiche Umsetzung der Konvention, die Beobachtung der laufenden Massnahmen und Entwicklungen sowie für die Berichterstattung an die für die Kontrolle der Umsetzung der Konvention zuständige Expertengruppe des Europarates. Für die Erfüllung dieser Aufgaben ist mit einem zusätzlichen Ressourcenbedarf des EBG im Umfang von einer Stelle und mit vermehrtem Sachaufwand zu rechnen.

3.2

Finanzielle und personelle Auswirkungen auf die Kantone

Eine allfällige Mehrbelastung der Kantone kann sich aufgrund der eventuellen Schaffung einer einheitlichen Telefon-Hotline ergeben. Ein allfälliger Zusatzaufwand aufgrund der intensivierten internationalen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung und im Bereich der Prävention dürfte mit den bestehenden Ressourcen zu bewältigen sein.

275

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4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Botschaft vom 27. Januar 2016263 zur Legislaturplanung 2015­2019 und im Bundesbeschluss vom 14. Juni 2016264 über die Legislaturplanung 2015-2019 angekündigt.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7a Abs. 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997265).

5.2

Erlassform

Internationale Verträge werden dem fakultativen Referendum unterstellt, wenn sie unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen, wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn ihre Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV). Die vorliegende Konvention wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, kann aber jederzeit gekündigt werden und sieht keinen Beitritt zu einer internationalen Organisation vor. Nach Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Der vorliegende völkerrechtliche Vertrag macht keinen Erlass von Bundesgesetzen erforderlich, er enthält jedoch wichtige rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Artikel 164 Absatz 1 BV. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

263 264 265

276

BBl 2016 1105, hier 1186 BBl 2016 5183, hier 5189 SR 172.010

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5.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredits oder Zahlungsrahmens enthält.

277

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