zu 07.455 Parlamentarische Initiative Ratifikation des Übereinkommens über den Mutterschutz (Nr. 183) der IAO Bericht vom 10. November 2011 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats Stellungnahme des Bundesrates vom 15. Februar 2012

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Gemäss Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes (ParlG) übermitteln wir Ihnen nachfolgend unsere Stellungnahme zum Bericht vom 10. November 2011 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats betreffend die Parlamentarische Initiative «Ratifikation des Übereinkommens über den Mutterschutz (Nr. 183) der IAO» (07.455).

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. Februar 2012

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Eveline Widmer-Schlumpf Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 22. Juni 2007 hat Nationalrätin Liliane Maury Pasquier die Parlamentarische Initiative «Ratifikation des IAO-Übereinkommens Nr. 183 über den Mutterschutz» eingereicht, die zum Ziel hat, den Bundesrat zur Ratifikation des Übereinkommens Nr. 183 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zu ermächtigen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) hat ihren Bericht sowie einen Entwurf für einen Bundesbeschluss verabschiedet, der in Artikel 2 eine Änderung des Bundesgesetzes vom 13. März 19641 über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG) enthält. Der Entwurf einer Gesetzesänderung beabsichtigt, die Rechtssicherheit zu verbessern, indem das Prinzip der Entlöhnung der Pausen für stillende Mütter ausdrücklich im Arbeitsgesetz festgehalten wird. Der Bundesrat soll beauftragt werden, die Details im Rahmen von Absatz 2 von Artikel 60 der Verordnung 1 vom 10. Mai 20002 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1) zu regeln. Der Bundesrat wird eingeladen, zu diesem Entwurf Stellung zu nehmen im Hinblick auf die Behandlung des Geschäfts im Nationalrat, die für die Frühjahrssession 2012 vorgesehen ist.

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Stellungnahme des Bundesrates

In seinem Bericht vom 15. Juni 2001 (BBl 2001 5867 ff.) hatte der Bundesrat das Übereinkommen Nr. 183 der IAO untersucht und empfohlen, das Übereinkommen nicht zu ratifizieren, hauptsächlich begründet durch das Fehlen einer Mutterschaftsversicherung in der Schweiz.

Wie der Berichtsentwurf der Kommission berechtigterweise festhält, hat sich die Situation in der Schweiz seit 2001 positiv verändert. Der Bundesrat teilt die Analyse der Situation, wie sie im Berichtsentwurf der Kommission beschrieben wird, und ist der Ansicht, dass das positive Recht der Schweiz weitgehend mit den Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 183 der IAO übereinstimmt.

Obwohl sich der Bundesrat dem Prinzip der Vertragsfreiheit, das unser privates Arbeitsvertragsrecht prägt, eng verpflichtet fühlt, nimmt er die von der SGK-N vorgeschlagene Änderung des ArG zur Ratifikation des Übereinkommens Nr. 183 der IAO zur Kenntnis. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Ratifikation dieses Übereinkommens im Rahmen einer kohärenten und solidarischen Politik in Sachen Mutterschutz und Gesundheit sowie zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfolgt. Gemäss dem aktuell gültigen System des privaten Arbeitsvertragsrechts wird die Bezahlung der Stillpausen zwischen den Sozialpartnern oder direkt zwischen den Parteien des Einzelarbeitsvertrages ausgehandelt. Soweit dieser Vertrag nichts anderes vorsieht, wird ein Arbeitnehmer nach Artikel 324a des Obligationenrechts (OR)3 für eine zeitlich begrenzte Absenz aus Gründen, die in seiner Person liegen (z.B. Krankheit, Unfall oder Ausübung eines öffentlichen Amtes), 1 2 3

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entlöhnt, sofern das Arbeitsverhältnis länger als drei Monate gedauert hat. In welchem Umfang die Stillpausen entlöhnt werden, kann allerdings nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des Bundesgerichts bezüglich Artikel 324a OR nicht beantwortet werden. Abgesehen davon sieht Artikel 35a Absatz 2 ArG vor, dass stillenden Müttern die erforderliche Zeit zum Stillen freizugeben ist. Gestützt darauf hat der Bundesrat in Artikel 60 ArGV 1 festgelegt, dass Stillzeit im Betrieb als Arbeitszeit gilt; verlässt die Arbeitnehmerin den Arbeitsort zum Stillen, ist die Hälfte dieser Abwesenheit als Arbeitszeit anzuerkennen. Von der Feststellung ausgehend, dass zwischen der Schweizer Rechtsordnung und den Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 183 nur eine geringe Abweichung besteht, ist der Bundesrat der Auffassung, dass eine Änderung von Artikel 35a Absatz 2 ArG nicht notwendig ist, um die Rechtssicherheit laut Empfehlung der SGK-N zu verbessern. Gemäss Artikel 40 Absatz 1 Buchstabe b ArG ist der Bundesrat zuständig zum Erlasse von Ausführungsbestimmungen zur näheren Umschreibung einzelner Vorschriften des Gesetzes. Dieser Ansatz entspricht der schweizerischen Ratifikationspraxis in Bezug auf Arbeitsnormen der IAO.

Artikel 40 Absatz 2 ArG besagt, dass der Bundesrat vor dem Erlasse von Bestimmungen die Kantone, die Eidgenössische Arbeitskommission und die zuständigen Organisationen der Wirtschaft anzuhören hat. Er wird an die Eidgenössische Arbeitskommission wegen der Erarbeitung einer Vorlage gelangen, die eine ausführliche Regelung der Bezahlung der Stillpausen gemäss Artikel 60 Absatz 2 ArGV 1 enthalten soll. Anschliessend wird er den Anforderungen des Gesetzes entsprechend die Vernehmlassungen durchführen. Er wird dabei den Wortlaut von Artikel 10 des Übereinkommens Nr. 183 berücksichtigen.

Die Änderung der Verordnung und die Ratifikation des Übereinkommens Nr. 183 der IAO werden nur relativ geringe Auswirkungen auf die Wirtschaft haben.

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Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat empfiehlt, auf die eingereichte Vorlage einzutreten und den Vorschlag der Minderheit abzulehnen. In Anbetracht der Erläuterungen unter Ziffer 2 schlägt der Bundesrat der SGK-N vor, den Artikel 2 des Entwurfs des Bundesbeschlusses zu löschen, da eine Anderung des ArG für die Ratifikation des Übereinkommens N. 183 nicht notwendig ist. Nach Anpassung der ArGV 1 wird der Bundesrat die Ratifikationsurkunde des Übereinkommens Nr. 183 dem Generaldirektor der IAO überreichen. Er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass die notwendigen Arbeiten bis Mitte 2013 abgeschlossen sein werden.

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