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Kreisschreiben des

Bundesrathes an sämmtliche Kantonsregierungen, betreffend die Vollziehung des Fabrikgesezes.

(Vom 21. Mai 1880.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Das Bundesgesez über die Arbeit in den Fabriken hat in den verschiedenen Kantonen bis jezt eine ungleiche Anwendung gefunden ; die eidgenössischen Räthe haben deßhalb in der Dezembersession verflossenen Jahres folgendes Postulat aufgestellt.

,,Im vollen Vertrauen, daß der Bundesrath den Entwurf der Vollziehungsverordnung zum Bundesgeseze über die Arbeit in den Fabriken in seiner jezigen Gestaltung nicht zur Geltung bringe, sondern die dem Handelsdepartemente eingereichten Bemerkungen über denselben einläßlich prüfe und im wohlverstandenen Interesse aller Theile würdige und berücksichtige wird der Bundesrath eingeladen, jene Bemerkungen zuverwertenn und bald thunlichst durch geeignete Instruktionen der ungleichen Auslegung und Anwendung gewisser Paragraphen des in Frage liegenden Gesezes in den verschiedenen Kantonen vorzubeugen.*

Es ist I. Art. 1 des zitirten Gesezes in Bezug auf einzelne Industriezweige -- Mühlen, Bierbrauereien, Ziegeleien und Ausrüstereien -- in ganz verschiedener Weise angewendet worden. Während dieselben in den einen Kantonen als

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Fabriken im Sinne des Gesezes betrachtet werden, sind sie in andern Kantonen dem Geseze nicht unterstellt worden.

Es wird für die Unterstellung der Mehlmühlen und Bierbrauereien unter das Fabrikgesez vielfach auf die Gefahren hingewiesen, welche der Maschinenbetrieb in diesen Etablissementen darbiete, auf die Notwendigkeit, daß dieselben der Haftpflicht unterworfen seien.

Sodann wird hervorgehoben, daß kontinuirliche Arbeit bei diesen beiden Industriezweigen vorkomme und schüzende Bestimmungen schon aus diesem Grunde erforderlich seien.

Dem gegenüber kommt jedoch Folgendes in Betracht: Bei diesem industriellen Betriebe finden weder weibliche Arbeiter noch Kinder Verwendung. Im Artikel l des zitirten Gesezes ist die Beschäftigung der Arbeiter außerhalb ihrer Wohnung in geschlossenen Räumen als Kriterium einer Fabrik aufgestellt.

In Mühlen und Bierbraueren wird dagegen die Arbeit zu einem großen Theile im Freien verrichtet.

In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle haben laut Bericht der Fabrikinspektoren die Arbeiter im Arbeitslokal selbst oder in .der angrenzenden Wohnung ihres Prinzipals ihre Wohnung, Beköstigung und die ganze übrige Verpflegung.

Mit Rücksicht auf diese Verhältnisse haben wir beschlossen: Es seien Mehlmühlen und B i e r b r a u e r e i e n nicht als F a b r i k e n zu b e t r a c h t e n , w e n n nur e r w a c h s e n e m ä n n l i c h e Arbeiter in denselben beschäftigt werden und inderRegel beim A r b e i t g e b e r selbst Kost und Logis haben.

Insofern die Z i e g e l e i e n Motoren verwenden und eine größere Anzahl von Arbeitern beschäftigen, sind dieselben aus folgenden Gründen dem Fabrikgesez zu unterstellen: Sie beschäftigen eine Mehrzahl von Arbeitern -- Brenner -- Arbeiter an den Maschinen etc., außerhalb ihren Wohnungen in geschlossenen Räumen. Die von Motoren in Bewegung gesezten Maschinen der Ziegelei gehören zu den gefährlichem, und es ist daher einerseits auf möglichste Sicherung der Arbeiter und andererseits ia Unglüksfällen auf eine angemessene Entschädigung der Verunglükten, resp. ihrer Hinterlassenen, Bedacht zu nehmen.

Bimdesblatt. 32. Jahrg. Bd. III.

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98 Es kommt vor, daß in Ziegeleien zum Schleppen von Lasten junge Leute unter 18 Jahren, sowie auch Frauenspersonen verwendet werden. Diese Arbeit ist aber oft eine geradezu erschöpfende, und junge Leute unter 18 Jahren -- eventuell auch Frauenspersonen -- müssen daher in Ziegeleien vor Ueberarbeiten und Nachtarbeit geschüzt, insbesondere muß auch verhindert werden, daß zu diesen erschöpfenden Schlepparbeiten Kinder unter 14 Jahren verwendet werden können.

Wenn aber einerseits diese gewichtigen Gründe für Unterstellung der Ziegeleien unter das Fabrikgesez sprechen, so läßt sich dagegen auch nicht in Abrede stellen, daß sie auch eine Anzahl von Arbeitern beschäftigen, welche unter ganz ausnahmsweisen Verhältnissen arbeiten und welche daher auch eine ausnahmsweise Berüksichtigung verdienen. Es geschieht dies dadurch, daß diejenigen ZiegeleiArbeiter, welche entweder in den Thongruben oder auf den Schlagpläzen beschäftigt sind, als ,,Hilfsarbeiter" nach Art. 12 des Gesezesbetrachtet und deßhalb, so weit es sich um männliche Arbeiter oder um unverheiratete Frauenspersonen von mehr als 18 Jahren handelt, die Bestimmungen des Art. 11 des genannten Gesezes auf dieselben nicht angewendet werden sollen.

Die A u s r ü s t e r e i e n , , in denen das Nachstiken, Ausbessern, Ausschneiden, Höhlen, Bügeln und Legen der Stikereiwaaren besorgt wird, entsprechen laut Bericht der Fabrikinspektoren fast ausnahmslos den hygienischen Anforderungen.

Es finden sich in diesen Etablissementen weder Motoren noch Maschinen, die irgend welche Gefährde bedingen.

Die Zahl der in den Ausrüstereien beschäftigten Arbeiterinnen Deträgt nach Abzug der Nachstikerinnen, die jedenfalls als Hilfsarbeiterinnen zu betrachten, somit allgemeinen Vorschriften über Arbeitszeit nicht unterstellt sind, höchstens 2--3 °/o der Stikereiarbeiter.

Von diesen sind hinwieder kaum 1/io Arbeiterinnen unter 18 Jahren.

Die Zahl der Ausrüstereien mit 25 oder mehr Arbeiterinnen beträgt jedenfalls nicht mehr als 10 °/o der Gesammtzahl.

Die Arbeit der Ausrüsterinnen beansprucht in der Regel nicht alle Wochentage, sondern wird sehr häufig durch ein- bis mehrtägige Pausen unterbrochen.

Es ist durchaus unmöglich, die Arbeit an gewisse Zeiten zu binden, da, je nach der Art des augenbliklich in Arbeit befindlichen Artikels, das Bedürfniß sich außerordentlich mindern oder mehren,

99 ja sogar, wie beim Ausschneiden, Höhlen etc., zeitweise ganz wegfallen, zu andern Zeiten in ausgedehntem Maß bestehen kann, um so mehr, da die Lieferungsfristen für manche dieser in kleinen Quantitäten und für sofort vorkommenden Konsum angefertigten Modewaaren auf wenige Tage begrenzt sind.

Die Arbeit ist derart, daß sie leicht in Privatlokale verlegt und somit die Arbeiterzahl in dem Maße vermindert werden kann, daß ein als Fabrik erklärtes Etablissement vermöge seiner kleinen Arbeiterzahl wieder »^ gestrichen werden muß.

Deßhalb werden A u s r ü s t e r e i e n dem Fabrikgesez nicht unterstellt.

II. Verlängerung der Arbeitszeit.

Die Vorschrift im Art. 11, Alinea 4 des citirten Gesezes, wonach zu einer ausnahmsweisen oder vorübergehenden Verlängerung der Arbeitszeit eine amtliche Bewilligung einzuholen ist, hat in einzelnen Kantonen eine Anwendung gefunden, die mit dem Geseze nicht im Einklänge steht. Es wurden nämlich solche Verlängerungen auf unbestimmte Zeit bewilligt. Dies ist nicht zuläßig.

Die gesezliche Vorschrift, daß die Dauer der regelmäßigen Arbeit eines Tages nicht mehr als 11 Stunden betragen dürfe, würde theilweise illusorisch gemacht, wenn Art. 11, Alinea 4, in der angegebenen Weise angewendet würde. Da das Gesez ausdrüklich von einer ausnahmsweisen oder vorübergehenden Verlängerung spricht, muß diese jeweilen bei der Bewilligung limitirt werden, und die Regierungen haben darüber zu wachen, daß die Arbeitszeit nicht durch verschiedene, von mehreren Behörden ertheilte Bewilligungen über die gesezliche Zeit hinaus dauernd verlängert werde.

Es ist vorgekommen, daß der Fabrikant wochenlang zuwarten mußte, bis er von der Kantonsregierung auf sein Gesuch um Bewilligung der Verlängerung der Arbeitszeit Bescheid erhielt. Namentlich in Fällen von kurzen Lieferungsfristen können ihm durch solche Verzögerungen in unnüzer Weise bedeutende Verlegenheiten bereitet werden. Das Verlangen der Fabrikanten, daß auf solche Gesuche jeweilen mit thunlicher Beförderung geantwortet werde, halten wir, hauptsächlich im Hinblik auf die gegenwärtigen schwierigen Verhältnisse der Industrie, für völlig begründet, und^ ersuchen Sie, in vorkommenden Fällen dasselbe zu berüksichtigen.

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III. Sonntagsarbeit.

Es sind seit dem Inkrafttreten des Fabrikgesezes schon mehrere Gesuche eingegangen, daß die Erlaubniß zum Arbeiten an Sonntagen auch in Fällen ertheilt werden möchte, wo zwar kein koutinuirlicher Betrieb vorhanden ist, wo aber das ganze Jahr hindurch, oder auch nur während gewissen längern Zeiträumen das unabweisliche BedUrfniß nachgewiesen wird, einzelne Arbeiter während längerer Zeit im Tage mit Manipulationen zu beschäftigen, durch welche ein Zugrundegehen des zu verarbeitenden oder in Verarbeitung befindlichen Materials verhütet werden soll.

So verlangten die F a b r i k e n für k o n d e n s i r t e Milch, um ein Aussezen des eigentlichen Fabrikbetriebes an Sonn- und Feiertagen zu ermöglichen, die Erlaubniß, die eingehende Milch an diesen Tagen absieden zu dürfen.

G e r b e r e i e n begehrten für die warme Jahreszeit die Gestattung, ihre Häute, wenn solche in Ermanglung reichlich fließenden Wassers in die weit wärmern Gewässer eines Sees gelegt werden müssen, am Sonntag Morgen wenden zu dürfen, da sonst die eine Seite dem Uebergang in Fäulniß ausgesezt wäre.

Leim- und G e l a t i n e f a b r i k e n waren genöthigt, das gleiche Zugeständniß zu verlangen, um die zum Troknen auf Rahmen verlegten Fabrikate wenden zu können, so daß nicht einzelne nicht troknende Stellen bleiben, an welchen Zersezung eintreten würde.

Alle diese Fälle zeigen das Gemeinsame, daß nicht die Zubereitung und die Verarbeitung eines Rohstoffes beabsichtigt ist, sondern daß die Sonntagsarbeit, die auf einen Zeitraum von 1/a, höchstens 3 Stunden per Sonntag in der Regel beschränkt bleibt, einzig darauf abzielt, durch einzelne wenige Arbeiter Maßnahmen gegen das zu Grundegehen des Materials zu treffen, welche der Natur der Sache nach weder am Tage vor oder nachher vorgenommen , noch auch durch irgend welche Modifikationen im Fabrikationsverfahren ohne wesentlichen Nachtheil für Betrieb vermieden werden können.

Wir haben demnach beschlossen, Sonn- und Feiertagsarbeit, welche regelmäßig das ganze Jahr oder durch längere Perioden von einzelnen Arbeitern und während höchstens drei Stunden im Tag zu dem Zwek vorgenommen werden muß, der Verderbniß des in Eerarbeitung befindlichen Materials vorzubeugen, ist für sämmtliche Vtablissemente aller derjenigen Industriezweige gestattet, für welche beim Schweiz. Handels - und Landwirthschaftsdepartemeat die Bewilligung nachgesucht und der Beweis der Unvermeidlichkeit im Sinne obiger Voraussezung erbracht ist.

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Ueber andere Ungleichheiten in der Vollziehung des citirten Gesezes sind die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, und wir können deßhalb erst später über dieselben Beschlüsse fassen.

Bei diesem Anlasse empfehlen wir Sie, getreue, liebe Eidgenossen, nebst uns in den Machtschuz Gottes.

B e r n , den 21. Mai 1880.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schieß.

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