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Schweizerisches Bundesblatt.

32. Jahrgang. IV.

Nr. 49.

20. November 1880.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

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Schreiben des Bundesrathes an

das St. Galler Aktionskomite für sich und zuhanden des schweizerischen Spinner- und Webervereins und des aargauischen Handels- und Industrievereins, betreffend eine theilweise Abänderung des Fabrikgesezes.

(Vom 16. November 1880.)

Tit.

Mit Zuschrift vorn 5. Juni 1880 stellen Sie das Gesuch: "Der Bundesrath möchte sich von der h. Bundesversammlung die Vollmacht ertheilen lassen, sofort diejenigen Abänderungen im eidg. Fabrikgeseze vornehmen zu dürfen, die erforderlich sind, um die größten Härten des Gesezes zu mildern und der durch schwierige Verhältnisse bedrängten vaterländischen Industrie mehr freie Bewegung und Thätigkeit zu gestatten."

Es sind fünf Punkte, deren Revision Sie für nöthig erachten, und zwar : 1) Der sogenannte Normalarbeitstag (Art. 11).

2) Die Kinderarbeit (Art. 16).

3) Das Verbot der Sonntagsarbeit (Art. 14).

4) Die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb (Art. 5).

5) Die Strafbestimmungen (Art. 19).

Bundesblatt. 32. Jahrg. Bd. IV.

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324 Obwohl es nach unserer Ansicht nicht möglich ist, über die Wirkungen des Gesezes, welches am 1. Januar 1878, also vor kaum drei Jahren, in Kraft getreten ist, jezt schon ein abschließendes Urtheil abzugeben, so glaubten wir dennoch, im Hinblik auf die hohe Wichtigkeit der Industrie für die Volkswohlfahrt, eine Untersuchung im Sinne Ihres Gesuches anstellen zu sollen. Wir haben dabei die sämmtlichen Kantonsregierungen, denen die Vollziehung des Gesezes in erster Linie obliegt (Art. 17), sodann die schweizerischen Handels- und Industriegesellschaften um ihre Mitwirkung angegangen.

Die Kantonsregierungen, mit Ausnahme von drei, sprechen, sich in ihren Berichten gegen die Revision des Gesezes aus. In einer Anzahl von Berichten wird betont, daß die Fabrikanten nicht eine Abänderung des Gesezes, sondern eine schonende Anwendung desselben verlangen. Die drei Kantonsregierungen, welche die Revision empfehlen, wollen dieselbe nicht auf sämmtliche fünf Punkte, sondern nur auf einzelne, und zwar nicht die gleichen, ausdehnen.

Von zwei Kantonsregierungen stehen die Berichte noch aus.

Der Vorort des schweizerischen Handels- und Industrievereins stellt in seinem Berichte , mit welchem er die Wünsche der einzelnen Sektionen, welche im Allgemeinen zu Gunsten der Revision lauten, übermittelt, die Opportunität derselben in Frage und bemerkt, es dürfte mit der Revision zugewartet werden, bis die Arbeiter selbst nach derselben rufen. Lezteres ist bekanntlich bis jezt noch nicht geschehen.

Unter diesen Umständen könnten wir uns darauf beschränken, von der allgemeinen Ansicht, daß die Revision nicht als nothwondigund nicht als opportun erachtet werde, Vormerkung zu nehmen und damit die Untersuchung abzuschließen; allein im Hinblik auf die Wichtigkeit der Angelegenheit haben wir das gestellte Revisionsbegehren in allen Beziehungen noch einer eigenen nähern Prüfungunter werfen.

Das Ergebniß derselben ist in Kürze folgendes: Ad 1. Die eingehenden Diskussionen, welche in der Schweiz, hinsichtlich der Frage des Normalarbeitstages stattgefunden haben, sind ohne Zweifel noch in lebhafter Erinnerung. Aus ausländischen Gesezesbestimmungen hat man Argumente für und gegen denselben, hergeleitet. Gegenwärtig macht man neuerdings zu Gunsten der Revision des in Frage liegenden Gesezes geltend, daß ausländische Industriestaaten
der Arbeit der erwachsenen Männer keine Beschränkungen auferlegen , sondern höchstens der Arbeit der Frauen und Kinder. Daraus zieht man den Schluß, daß in andern Ländern die Fabrikarbeiter länger arbeiten als in der Schweiz.

325 Diese Schlußfolgerung ist nicht bei allen Industrien zutreffend.

Auch ist zu berüksichtigen, daß die Beschränkungen, welche in England, Deutschland, Oesterreich und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, sowie noch in andern Ländern, auf die Fabrikarbeit der Frauen und Kinder gelegt sind, in sehr vielen Fällen nothwendiger Weise auf die Arbeitszeit der Männer rükwirken.

Seitdem das eidg. Gesez über die Fabrikarbeit ins Leben getreten ist, schikt sich Frankreich an, den im Jahr 1848 eingeführten 12stündigen Normalarbeitstag zu reduziren. Am 11. Juni 1880 ist nämlich der französischen Deputirtenkammer von einer Spezialkommission derselben ein Bericht vorgelegt worden, mit dem Antrage , daß die Arbeitszeit in Fabriken 10 Stunden nicht überschreiten dürfe. Im Namen der französischen Regierung hat der Handelsminister erklärt, daß er sich im Grundsaze der Einschränkung der Arbeitszeit nicht entgegenstelle; indessen befürchte er, daß, wenn die Arbeitszeit auf einmal von 12 auf 10 Stunden reduzirt werde, ernste Störungen bei verschiedenen Industrien eintreten möchten; es empfehle sich deßhalb, in der Reduktion nicht weiter als auf 11 Stunden zu gehen.

Angesichts der Thatsache, daß in einzelnen Staaten bereits ein Normalarbeitstag wie bei uns oder selbst noch ein kürzerer faktisch besteht, und daß ein großer Industriestaat, wie Frankreich, ebenfalls auf dem Punkte ist, die tägliche Arbeitszeit in Fabriken auf 10, bezw.

11 Stunden zu reduziren, und daß laut den vorliegenden Berichten nur e i n e Kantonsregierung sich für eine Ausdehnung der Arbeitszeit ausspricht, scheint es nach unserer Ansicht nicht angezeigt, die in Frage liegende Vorschrift aufzuheben.

Im Hinblik auf jene Berichte können wir demnach die Befürchtung der Petenten nicht theilen, daß im elfstündigen Normalarbeitstag für die Industrie die größte Gefahr liege, im Kampfe mit der ausländischen Konkurrenz gänzlich zu unterliegen. Die Untersuchung stellt übrigens heraus, daß die Klagen, welche geltend gemacht worden sind, nicht sowohl auf die Zahl der zuläßigen Arbeitsstunden, als auf die Tageszeit, in welche dieselben verlegt werden müssen und auf die Schritte sich beziehen, welche nöthig sind, um eine Bewilligung für Verlängerung der Arbeitszeit auszuwirken. Einzelne Industrien haben sogar eine kürzere Arbeitszeit als 11 Stunden. Es
ist Sache der Vollziehungsbehörden, jene Klagen zu berüksichtigen und dem Art. 11 des Gesezes diejenige Anwendung zu geben, die einerseits den Bedürfnissen der Industrie Rechnung trägt, andererseits dem humanen Geiste des Gesezes entspricht.

Was uns betrifft, so werden wir darüber wachen, daß dies geschieht. .

32« Den Kantonsregierungen haben wir bereits früher empfohlen, den Begehreu der Industriellen hinsichtlich Arbeitsverlängerungen bei dringenden Arbeiten, wenn immer tlunlich zu entsprechen; immerhin in der Weise, daß die im Geseze vorgeseheneu Ausnahmen nicht zur Regel werden.

Aus den Berichten der Fabrikinspektoren ergibt sich, daß in einzelnen Kantonen die für Arbeitsverlängerung ertheilten Bewilligungen sehr zahlreich sind, und daß gerade diejenigen Industrien, welche als die notleidendsten erscheinen, vorzugsweise berüksichtigt worden sind. Nach Auffassung der betreffenden Regierungen liegt in solchen Bewilligungen das Mittel, die Nothinge einzelner Industriezweige inner den Schränken des bestehenden Gesezes zu erleichtern.

Ad 2. Unter den Gründen, welche den Bund veranlaßt haben, über die Arbeit in den Fabriken gesezliche Normen aufzustellen, steht die Kinderarbeit obenan. Die Grundsäze, welche im Art. 1(5 aufgestellt sind, empfahlen sich aus dem Gesichtspunkte einer vorsichtigen Volkswirtschaft und beruhen auf den Ergebnissen ärztlicher Untersuchungen, sowie auf dem humanen Gefühl des Sehuzes der Schwachen. Wenn es leider wahr ist, daß, wie die Petenten behaupten, der Mißbrauch der Kinderarbeit außerhalb der Fabriken sich zeige, so ist es gegenwärtig eben Aufgabe der Kantone, gegen denselben einzuschreiten. Jener Mißbrauch kann uns nicht veraulaßen, den Art. 16 des zitirten Gesezes zu beseitigen oder abzuschwächen, er weist vielmehr darauf hin, daß solche Bestimmungen wohl begründet sind.

Ad 3. In der Petition wird hinsichtlich des Verbotes der Sonntagsarbeit für Hilfsarbeiten bemerkt, daß aus demselben finden regelmäßigen Fabrikbetrieb oft empfindliche Störungen entstehen können.

Ueber die Frage der Hilfsarbeiteii werden noch nähere Untersuchungen angestellt, um jene sodann nach den speziellen Verhältnissen jedes einzelnen Industriezweiges zu regeln. Zu lezterem Zweke ist eine Revision des Gesezes nicht nöthig.

Hinsichtlich der Sonntagsarbeit berüksichtigt das Kreisschreiben, welches wir unterm 21. Mai laufenden Jahres an die Kantonsregierungen gerichtet haben (Bundesblatt Bd. III, S. 96) alle billigen Anforderungen der Industrie.

Ad 4. Im Art. 5 des in Frage liegenden Gesezes ist ein Spezialgesez über die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb vorgesehen. Es ist der Wunsch ein allgemeiner, daß dieses Gesez beförderlichst erlassen werde. Wir werden der Bundesversammlung in der nächsten Session einen bezüglichen Entwurf mit Bericht vorlegen.

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Ad 5. Es sind uns keine Fälle bekannt worden, laut welchen, wie in der Petition behauptet wird, die Straf bestini m ungen zu ganz bedauerlichen Mißgriffen geführt hätten ; auch sind uns keine Fälle bekannt, in denen die Gerichte den Standpunkt eingenommen hätten, als sei der B e s i z e r einer Fabrik unter allen Umständen für vorkommende Zuwiderhandlungen persönlich zu bestrafen. Wir theilen deßhalb die von Kantonsregierungen ausgesprochene Ansicht, daß zur Revision der Strafbestimmungen keine Veranlaßung vorliege, und daß, wenn wirklich Uebelstände in Folge unrichtiger Anwendung sich zeigen sollten, auf dem Wege .der Interpretatioa des Gesezes oder vermittelst Weisungen denselben leicht abgeholfen werden könnte.

Dies sind die Gründe, aus denen wir eine Abänderung des Gesezes, die übrigens nicht auf dem von Ihnen angegebenen, sondern nur auf dem für Erlaß von Gesezen durch die Verfassung festgestellten Weg vorgenommen werden könnte, der Bundesversammlung nicht vorschlagen.

Nachdem die Frage der legislatorischen Regelung der Arbeit in Fabriken anläßlich der Berathung des Art. 34 der Bundesverfassung, sodann bei Erlaß des in Frage liegenden Gesezes und endlich bei Anlaß der Abstimmung des Volkes über dasselbe allseitig und eingehend besprochen worden ist und das Volk bei der Abstimmung sein Jawort zum Geseze gegeben hat, entspricht es unseres Erachtens dieser Sachlage am besten, wenn wir gemeinsam dahin streben, das Gesez getreu zu vollziehen, dabei aber alle die Rüksichten, welche dasselbe gegenüber der Industrie in sich trägt, genau beachten. Wir werden unsererseits stetsfort mit aller Sorgfalt darüber wachen, daß bei Vollziehung des Gesezes mit Umsicht vorgegangen wird und daß jedem Schritt eine sorgfällige Prüfung vorangeht. Andererseits zählen wir auf den Geist der Solidarität zwischen Fabrikanten und Arbeitern, welche die beste Gewähr dafür bietet, daß die vorliegende Aufgabe eine Lösung findet, die im Interesse Aller liegt und zur Wohlfahrt unseres Landes beiträgt.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 16. November 1880.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schieß.

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Schreiben des Bundesrathes an das St. Galler Aktionskomite für sich und zuhanden des schweizerischen Spinner- und Webervereins und des aargauischen Handels- und Industrievereins, betreffend eine theilweise Abänderung des Fabrikgesezes. (Vom 16.

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