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Schweizerisches Bundesblatt.

32. Jahrgang. II.

Nr. 17.

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17. April

1880.

Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend seine Geschäftsführung im Jahre 1879.

Tit.!

Nach Vorschrift des Artikels 102, Ziffer 16 der Bundesverfassung-, haben wir die Ehre, Ihnen hiemit unsern Bericht über die Geschäftsführung im Jahr 1879 zu erstatten.

VII. Geschäftskreis des Justiz- und

Polizeidepartements.

.A-. Justizverwaltung-.

I. Gesezgebung.

1. Nach Abschluß des leztjährigen Geschäftsberichtes konnte der Entwurf eines s c h w e i z e r i s c h e n O b l i g a t i o n e n - und H a n d e l s r e c h t e s in beiden Sprachen zum Druke gegeben werden.

Während desselben ergaben sich indeß noch mancherlei Unebenheiten in beiden Redaktionen, die theilweise unter Zuzug von Experten noch ausgeglichen wurden. Mitte August kam der Druk zum Abschlüsse, und es fand die Verbreitung des Entwurfes in ausgedehntestem Umfange statt. Im Laufe des Sommers wurde noch die Botschaft bearbeitet, so daß in der Wintersession die Vorlage dieser wichtigen gesezgeberischen Arbeit an die Bundesversammlung erfolgen konnte. Inzwischen wurden auch die Einleitungen getroffen zu der Uebersezung in die italienische Sprache, wofür tüchtige Kräfte gewonnen sind. Bis zur Abfassung des gegenwärtigen Berichtes sind auch diese Arbeiten so weit gediehen, daß der Druk der italienischen Uebersezung hat beginnen können.

Bundesblatt. 32. Jahrg. Bd. II.

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582 2. Der Entwurf zu einem B u n d e s g e s e z e ü b e r die p e r s ö n l i c h e H a n d l u n g s f ä h i g k e i t hat im Laufe des Jahre» vielfache Verhandlungen erfordert. Im Mai wurde derselbe noch von einer Spezialkommission einläßlich durchberathen ; nachdem er auch von unserer Seite einer reiflichen Prüfung unterstellt worden, hat dessen Vorlage mit Botschaft vom 7. November (Bundesbl. 1879, III, 8. 764 und 889) an die eidgenössischen Räthe stattfinden können.

Auch diesem Entwurfe wurde durch Mittheilung an die obersten.

Gerichte und an die Regierungen sämmtlicher Kantone, sowie an, die Handelsgerichte, Handelskammern und Private etc. eine ausgedehnte Verbreitung gegeben.

3. Ueber den Stand der Arbeiten betreffend den Entwurf zu einem B u n d e s g e s e z ü b e r das B e t r e i b u n g s v e r f a h r e n und den K o n k u r s haben wir der Bundesversammlung am 28. November 1879 (Bundesblatt 1879, III, S. 1022) einen besondern Bericht erstattet. Seither sind die Arbeiten für einen Entwurf zu diesem Geseze wesentlich gefördert worden.

4. Das Postulat der Bundesversammlung vom 20. Dezember 1878, Ziffer 4 (Amtl. Samml. n. F., Ili, S. 670) hat mit Botschaft vom I.März 1879 und mit dem B u n d e s g e s e z e b e t r e f f e n d B e s o l d u n g der B e a m t e n d e r B u n d e s g e r i c h t s k a n z l e i , vom 28. März 1879, seine Erledigung gefunden. Nachdem die Referendumsfrist unbenuzt abgelaufen, wurde dieses Gesez mit dem 1. Januar 1880 vollziehbar erklärt. (Amtl. Samml. n. F., IV, S. 215.} 5. Ueber das zweite Postulat vom 20. Dezember 1878, Ziffer 3, haben wir mit Botschaft vom 7. März 1879 einen ersten Entwurf zu einem B u n d esges.ez e ü b e r die K o s t e n der B u n d e s r e c h t s p f l e g e den eidg. Räthen vorgelegt; nachdem derselbe in der Märzsession zur Ergänzung zurükgewiesen worden, wurde mit Botschaft vom 4. November 1879 ein neuer Entwurf vorgelegt, welcher noch beim Nationalrathe pendent ist. Die zwei Berichte , und Entwürfe sind gedrukt im Bundesblatt 1879, Bd. I, S. 389 und Bd. IH, S. 655.

6. Betreffend das B u n d e s g e s e z ü b e r die z i v i l r e c h t lichen V e r h ä l t n i s s e d e r s c h w e i z e r i s c h e n N i e d e r g e l a s s e n e n und A u f e n t h a l t e r hat zwar der Nationalrathin der Dezembersession eine einläßliche
Berathung walten lassen, allein den aus diesen Berathungen hervorgegangenen Entwurf am 9. Dezember mit 84 gegen 21 Stimmen verworfen. Hierauf haben sich am 17. Dezember beide Räthe auf den Beschluß geeinigt, daß

583 dieser Gesezesentwurf an den Bundesrath zurükzuweisen sei, um denselben in geeignetem Zeitpunkte wieder einzubringen.

7. Dem Auftrage der Bundesversammlung vom 19. Dezember 1878 entsprechend, haben wir mit Botschaft vom 7. März 1879 über die R e v i s i o n des Art. 65 der B u n d e s v e r f a s s u n g Bericht erstattet. Die aus den Verhandlungen der eidgenössischen Räthe am 28. März 1879 hervorgegangene abgeänderte Redaktion von Art. 65 der Bundesverfassung ist am 18. Mai der Abstimmung des Volkes unterstellt und mit 200,458 Stimmen gegen 181,588 angenommen worden. Die bezüglichen Aktenstüke sind gedrukt im Bundesblatt 1879, Bd. I, S. 281, 553. 645, 657; Bd. II, S. 850; Amtl. Samml. n. F. IV, S. 68, 193 und 195.

II. Gewährleistung von Kantonsverfassungen.

1. Die Landsgemeinde des Kantons Uri hat am 4. Mai 1879 ein ,,Gesez b e t r e f f e n d R e o r g a n i s a t i o n des G e r i c h t sw e s e n s a angenommen, wodurch die §§ 74 und 86 der in Kraft bestehenden K a n t o n s v e r f a s s u n g t h e i l w e i s e a b g e ä n d e r t wurden. Die nachgesuchte Gewährleistung wurde entsprechend unserem Antrage vom 8. Juli am 17. Dezember 1879 ertheilt.

Bundesbl. 1879, III, 89; A. S. n. F. IV, 404.

2. Der Große Rath des Kantons G e n f erließ am 26. April 1879 z w e i V e r f a s s u n g s g e s e z e , das eine behufs Einführung des fakultativen Referendums, das andere zum Zweke der Eintheilung der Wahlkreise für die verfassungsmäßigen Abstimmungen (mit Ausnahme der Wahl des Staatsrathes, welche auch fernerhin in einer Generalversammlung [conseil général] in der Stadt Genf stattfindet). Diese beiden Verfassungsgeseze wurden mit Botschaft vom 18. Juli/15. August 1879 den eidg. Räthen vorgelegt und erhielten am 17. Dezember 1879 die eidg. Gewährleistung. Bundesbl. 1879, III, 105 und 207; A. S. n. F. IV, 408.

3. Nachdem die am 29. Mai 1879 vom Großen Rathe des Kantons N e u e n b u r g beschlossene R e v i s i o n von Art. 39 der V e r f a s s u n g im Sinne der Einführung des fakultativen Referendums vom Volke angenommen worden, wurde sie mit Botschaft vom 27. November den eidg. Räthen vorgelegt und ebenfalls am 17. Dezember 1879 unter die Gewährleistung des Bundes genommen.

Bundesbl. 1879, III, 983; A. S. n. F. IV, 406.

4. Am 31. Januar 1879 genehmigte der Große Rath des Kantons T e s s i n ein V e r f a s s u n g s d e k r e t , betreffend Reduzirung

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der Mitgliederzahl des Großen Rathes, Verminderung der Wahlkreise, und Feststellung des Grundsazes, daß die Mitglieder des Großen Rathes nach der Zahl der Angehörigen des Kantons Tessin (anime di Ticinesi attinenti) und der Schweizerbürger, welche gemäß der Bundesverfassung niedergelassen (domiciliati) sind, gewählt werden müssen. Bei der Volksabstimmung vom 9. März 1879 wurde zwar dieses Dekret angenommen, allein die eidg. Räthe lehnten am 23. Dezember 1879 in Folge unserer Botschaft vom 12. gl. Mts. und in Uebereinstimmung mit unserem Antrage die eidg.

Gewährleistung ab. Die Gründe sind aus der erwähnten Botschaft ersichtlich. Bundesbl. 1879, HI, 1190.

III. Konkordate.

1. Das U e b e r e i n k o m m e n z w i s c h e n den K a n t o n e n Zürich und Aargau, betreffend die Patentirung von H e b a m m e n , vom 8./9. Januar 1879, erhielt am 24. gl. Mts. unsere Genehmigung und wurde in die eidg. amtliche Sammlung n. F., Bd. IV, S. 14 aufgenommen.

2. Seit mehreren Jahren haben bekanntlich Verhandlungen stattgefunden zum Zweke des Abschlusses eines K o n k o r d a t e s b e t r e f f e n d die Errichtung einer oder mehrerer i n t e r kantonaler Rettungsanstalten für j u g e n d l i c h e Verbrecher. In Folge des Bundesbeschlusses über die neue Organisation des Bundesrathes vom 2. August 1878, Art. 25, Ziff. 5 (Arntl. Samml.

n. F. EU, 489) ist diese Angelegenheit mit dem 1. Januar 1879 an das Justiz- und Polizeidepartement übergegangen. Nachdem das eidg.

Departement des Innern mit Kreisschreiben vom 13. Mai 1878 den vom Berichterstatter einer im Jahr 1875 bestellten Kommission ausgearbeiteten Konkordatsentwurf mit Kostenberechnung nebst einem bezüglichen Gutachten des schweizerischen Vereins für Straf- und Gefängnißwesen den sämmtlichen Kantonen zum Zweke ihrer Meinungsäußerung mitgetheilt hatte, waren nun zunächst die Antworten der Kantone zu prüfen. Es ergab sich hieraus, daß die große Mehrzahl der Kantone entweder ihre Betheiligung ablehnte oder in unsichere Ferne schob, während nur 8 bis 10 Kantonsregierungen ihre Geneigtheit aussprachen, auf Grundlage des vorliegenden Entwurfes einzutreten. Die verschiedenen Gesichtspunkte, die in den Antworten der Kantone zur Geltung kamen, erforderten indeß eine neue Prüfung der im Entwurfe enthaltenen Grundsäze. Das Departement ergänzte daher zunächst die frühere Kommission und besammelte dieselbe am 10. November zu einer weitern Berathung.

Bei der allgemeinen Diskussion trat jedoch immer klarer die Ueber-

585 zeugung zu Tage, daß der Konkordatsweg mit großen Hindernissen verbunden und daß es wünschbar sei, vorerst einen Versuch zu machen, ob das angestrebte Ziel nicht auf einem andern Wege erreicht werden könne. Der Grundgedanke, daß es unstatthaft sei, minderjährige Verurtheilte mit altern in gleichen Räumen unterzubringen, fand allgemeinen Beifall, während der Vorschlag, eine besondere gemeinschaftliche interkantonale Anstalt durch gemeinsames Aufbringen der Mittel zu gründen und einzurichten, dieselbe gemeinsam zu verwalten und zu benuzen, nicht die gewünschte Unterstüzung erhielt. Es schien, daß eine vom Bunde, von einem Kanton, oder selbst von einer der öffentlichen Kontrole unterstellten Privatgesellschaft errichtete Anstalt von den Kantonen gegen angemessenes Kostgeld wohl lieber benuzt werden würde. Im Verlaufe der Diskussion wurde ferner auch darauf hingewiesen, daß der Stand Aargau die Gebäulichkeiten der Festung Aarburg leer stehen habe und wohl geneigt sein möchte, dieselben unter annehmbaren Bedingungen zur Verfügung zu stellen, sowie daß auch andere schweizerische Rettungsanstalten, wie z. B. die Bächtelen, von gemeinnüzigen Gesellschaften eingerichtet worden sind und in gedeihlicher Weise sich entwikelt haben.

Im Hinblike hierauf ertheilte die Kommission ihrem Mitgliede Herrn Ständerath Birmann den Auftrag : mit der schweizerischen gemeinnüzigen Gesellschaft in Verbindung zu treten und wo möglich auszuwirken, daß dieselbe die Errichtung einer neuen oder die Urnwandlung einer schon bestehenden Anstalt zum Gegenstande ihrer Bestrebungen mache. Im Uebrigen wurde auf den Fall hin, daß diese Bemühungen nicht zum Ziele führen sollten, der Konkordatsentwurf durchberathen und definitiv festgestellt.

IV. Verhältnisse zu auswärtigen Staaten, a. Verträge und Konventionen.

1. Die im lezten Geschäftsberichte erwähnte Lostrennung des N i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g e s mit I t a l i e n d. d. 22. Juli 1868, von dem Handelsvertrage mit diesem Staate, zum Zwek der Verlängerung des erstem, ist mit der gegenseitigen Erklärung vom 28. Januar 1879 vollzogen worden. (A. S. n. F. IV, 103.)

2. Die Frage betreffend die Revision oder Verlängerung des N i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g e s mit F r a n k r e i c h vom 30. Juni '1864 ist noch nicht definitiv erledigt. Die Antworten der Kantone, welche auf das im lezten Geschäftsberichte erwähnte Kreisschreiben eingiengen, lassen eine Revision nicht als Bedürfniß erscheinen.

586 Es wird daher in erster Linie angestrebt, den Niederlassungsvertrag von der Giltigkeitsklausel des Handelsvertrages mit Frankreich loszulösen und denselben (ähnlich wie es mit dem Niederlassungsvertrage mit Italien geschehen) mittels einer besondern Uebereinkunft zu verlängern und mit einer besondern Kündigungsformel zu ergänzen.

3. Die Voraussezungen, welche, in Vollziehung des Postulates vom 22. August 1878, den Abschluß eines N i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g e s mit R u m ä n i e n möglich machen würden, sind auch im Laufe des Jahres 1879 noch nicht eingetreten.

4. Dagegen wurde am 14. September 1879 ein N i e d e r l a s s ù n,g s v e r t r a g m i t S p a n i e n abgeschlossen, welcher mit Botschaft vom 22. November den eidg. Räthen vorgelegt wurde und am 13. Dezember ihre Ratifikation erhalten hat. (Bundesbl.

1879, III, 901.) Die Ratifikation Spaniens ist noch nicht angezeigt worden.

5. Der Vertrag zwischen der Schweiz und B e l g i e n vom 11. Dezember 1862 (Amtl. Samml. VII, 484) regelt neben den Handelsverhältnissen auch das N i e d e r l a s s u n g s - und K o n s u l a r w e s e n . Nachdem nun in Folge der Revision des schweizerischen Zolltarifes mit Rüksicht auf Art. XI des Vertrages der leztere gekündigt werden mußte, schien auch dieRevision desselben bezüglich der beiden andern Materien nöthig zu werden. Es kam jedoch das Uebereinkommen zu Stande, daß vom Ablauf des Vertrages an (18. November 1879) beide Staaten in Bezug auf a l l e V e r h ä l t n i s s e , welche in demselben geordnet sind, sich gegenseitig auf dem Fuße der Gleichstellung mit der meistbegünstigten Nation behandeln. (Amtl. Samml. n. F. IV, 447.)

6. Die Unterhandlungen betreffend einen neuen A u s l i e f e r u n g s v e r t r a g m i t G r o ß b r i t a n n i e n haben noch z u keinem definitiven Resultate geführt. Es wurde daher mit Uebereinkunft vom 8. Dezember 1879 die Giltigkeitsdauer des alten Vertrages um weitere 12 Monate, vom 22. Dezember 1879 hinweg, verlängert. (Amtl. Samml. n. F. IV, 385 bis 392.)

7. Bezüglich der Revision des A u s l i e f e r u n g s v e r t r a g e s m i t d e n N i e d e r l a n d e n haben"zwar verschiedene Verhandlungen stattgefunden. Es hat sich jedoch ergeben, daß gemäß den Art. 8 und 9 der niederländischen Strafprozeßordnung die Bestrafung ·eines Niederländers nur wegen einiger weniger im Auslande begangener Verbrechen (nämlich wegen Mordes, Brandstiftung, aus-

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gezeichneten Diebstahls, Fälschung in- oder ausländischer Wechsel, oder Inverkehrsezung gefälschter Wechsel}, nicht aber wegen der meisten im Vertragsentwurfe vorgesehenen Verbrechen gestattet ist.

Im Interesse der öffentlichen Sicherheit mußten wir aber verlangen, daß die Niederlande sich verpflichten sollten, dortige Staatsangehörige, die in der Schweiz ein im Vertrage vorgesehenes Verbrechen begangen und sich der Beurtheilung in der Schweiz durch die Flucht nach der Heimat entzogen haben, selbst zu bestrafen oder dieselben zur Bestrafung an den Ort der That auszuliefern.

8. Die Uebereinkunft mit B e l g i e n , D e u t s c h l a n d und L u x e m b u r g , betreffend Vereinfachung des Verfahrens über die Gestaltung und Ausführung des Transites der Individuen, welche von Belgien, Holland und Luxemburg an die Schweiz, oder von der Schweiz an diese Staaten ausgeliefert werden, hat immer noch nicht zum Abschlüsse gebracht werden können.

9. Auf den Antrag der b e l g i s c h e n R e g i e r u n g und mit Zustimmung sämmtlicher Kantonsregierungen ist eine Uebereinkunft abgeschlossen und mit dem 1. November 1879 in Vollzug gesezt worden, wonach ein wechselseitiger A u s t a u s c h der in e i n e m S t a a t e gegen A n g e h ö r i g e d e s a n d e r n Staates e r l a s s e n e n S t r a f u r t h e i l e durch unsere Vermittlung stattfinden soll. Schweizerischerseits wird das mit Italien und Deutschland vereinbarte Formular, das im Bundesblatt 1869, II, 68 abgedrukt ist, verwendet. Von Seite der belgischen Gerichte wird ein etwas abweichendes Formular benuzt, das jedoch alle wesentlichen Rubriken unseres Formulars enthält. (Bundesbl. 1879, III, 173 und 641.)

10. Nach näherer Prüfung des von den schweizerischen und italienischen Delegirten unter Ratifikationsvorbehalt abgeschlossenen M o d u s v i v e n d i b e t r e f f e n d d i e O r g a n i s a t i o n d e r Polizeiverhältnisse auf der internationalen Station Chiasso, und nachdem inzwischen auch die Pinolinie gesichert worden war, wurde im Einverständnisse mit der Regierung von Italien von einem besondern Abkommen bezüglich der Station Chiasso Umgang genommen, dagegen Einleitung getroffen zum Abschlüsse eines förmlichen Vertrages, in welchem gleichzeitig auch die Polizeiverhältnisse auf der internationalen Station Luino geordnet werden sollen.
Siehe Art. 3 und 4 des Staatsvertrages zwischen der Schweiz und Italien, betreffend den Anschluß der Gotthardbahn an die oberitalienischen Eisenbahnen bei Chiasso und Pino, vom 23. Dezember 1873, amtl. Samml. XI, 478.

588 11. Das Bundesgericht machte die Anregung, ob nicht mit Deutschland eine U e b e r e i n k u n f t b e t r e f f e n d g e g e n s e i t i g e A n e r k e n n u n g der zu erlassenden Scheidungsurtheileabgeschlossen werden sollte. Da die deutschen und speziell die preußischen Gerichte verschiedener Ansicht darüber sind, ob dasScheidungsurtheil eines auswärtigen Gerichtes im Tnlande vollziehbar sei, so fand jener Gedanke auch in Berlin günstige Aufnahme, zumal dabei wesentlich die Interessen der Deutschen in der Schweiz, gewahrt werden können. Die bezüglichen Unterhandlungen sind bereits im Gange.

12. Gleichzeitig ist auch der Abschluß eines V e r t r a g e s zwischen der Schweiz und Deutschland, betreffend die Zwa, n g s v o l l s t r e k u n g in b ü r g e r l i c h e n R e c h t s s t r e i t i g k e i t e n , angeregt worden. Diese Angelegenheit befindet sich indeß noch im Stadium der Vorprüfung der zu behandelnden Fragen.

13. Behufs der Vollziehung der im lezten Geschäftsberichte erwähnten, seit dem 1. Januar 1879 in Kraft getretenen U e b e r einkunft mit dem deutschen Reiche, betreffend den direkten Geschäftsverkehr zwischen den b e i d s e i t i g e n G e r i c h t s b e h ö r d e n (Amtl. Samml. n. F.

III, 661), blieb noch der Austausch von Verzeichnissen der Gerichte übrig. Das Verzeichniß der schweizerischen Gerichte aus dem Jahre 1868 wurde auf Grundlage neuer Mittheilungen der Kantone revidirt. Mit Rüksicht auf den Umstand, daß mit dem 1. Oktober 1879 eine einheitliche Gerichtsorganisation und Prozeßordnung im ganzen deutschen Reiche in Vollziehung kamen, wurde die Aufstellung eines Verzeichnisses der deutschen Gerichte nach Maßgabe dieser neuen Organisation gewünscht, wodurch dessen Mittheilung an die Kantone verzögert wurde. Sie wird aber nächstens stattfinden können.

14. Aus unserer Botschaft vom 2. Dezember 1879 (BundesbL III, 909) ist bekannt, daß es endlich gelungen ist, am 23. Juli 1879 mit Frankreich eine U e b e r e i n k u n f t b e t r e f f e n d die Nationalität der K i n d e r und den M i l i t ä r d i e n s t der S ö h n e von in der Schweiz n a t u r a l i s i r t e n F r a n z o s e n abzuschließen. Bekanntlich hat die Bundesversammlung am 18. Dezember 1879 diese Uebereinkunft ratifizirt, dagegen ist zur Zeit der Abfassung dieses Berichtes die Ratifikation von Seite Frankreichs noch nicht erfolgt, obwohl die Regierung ihren Antrag auf Ratifikation schon Anfangs Dezember 1879 der Abgeordneten-Kammer vorgelegt hat.

589 b. Spezielle Fälle internationaler Natur.

15. In dem durch den Geschäftsbericht pro 1877 (Bundesbl.

1878, H, 474, Ziff. 6) bekannten Prozeß der E r b e n H a u e n stein, betreffend ihre Berechtigung zu der in Virginien ihnen angefallenen Erbschaft, bestehend in Grundstüken, hat der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in der Oktober-Session 1879 das von den Erben und von dem Bundesrathe gegen das Urtheil des Appellationsgerichtes von Virginien angehobene Kassationsbegehren als begründet erklärt und den Prozeß zur neuen Beurtheilung an die Gerichte dieses Staates zurükgewiesen. Dieses Urtheil ist wesentlich wie folgt begründet: Das Appellationsgericht von Virginien sei damit einverstanden, daß wenn die Rechte der Erben Hauenstein nach dem Vertrage zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von 1847 zu beurtheilen wären, ihrem Begehren um Ausfolgung der Erbschaft entsprochen werden müßte. Dieses sei auch nach Maßgabe des Vertrages von 1850 der Fall.

Gemäß Art. 5 desselben haben die beidseitigen Angehörigen das Recht, Grundeigentum, zu dessen Naturalbesiz sie in dem andern Staate als Fremde nicht zugelassen würden, zu verkaufen und dessen Erlös außer Landes zu ziehen, und zwar sei ihnen dieses Recht in ganz absoluter Weise zugesichert. Die einzige Beschränkung, welche der Art. 5 aufstelle, betreffe die Zeit, innert welcher dasselbe ausgeübt werden könne. Diese Frist richte sieh allerdings nach der Gesezgebung des betreffenden Staates oder Kantons. Aus dem Umstände aber, daß in der Gesezgebung eines Einzelstaates eine solche Frist nicht aufgestellt' worden, folge nicht, daß das Recht selbst nicht ausgeübt werden könne.

Vielmehr seien in diesem Falle die Betreffenden an gar keine Frist gebunden, in dem Sinne, daß sie ihre Ansprüche, wann es ihnen beliebe, geltend machen können. In diesem leztern Falle befinde sich der Staat Virginien.

Die Gesezgebung dieses Staates, welche das fragliche Grundeigenthum dem Fiskus zuweisen würde, könne dem Vertrag nicht entgegen gehalten werden, da gemäß Art. 6 der Vereinigten Staaten-Verfassung alle unter der Autorität der Vereinigten Staaten bereits gemachten oder noch zu machenden Verträge das h ö c h s t e L a n d e s g e s e z und für die Richter eines jeden Staates bindend sein sollen, wenn auch Etwas in der Konstitution oder in den Gesezen
irgend eines Staates dagegen wäre. Die Verfassung, die Geseze und «V ertrage der Vereinigten Staaten seien für jeden einzelnen Staat ebenso verbindlich, wie dessen eigene Verfassung und Gesez-

590 gebung. Dieses sei ein Fundamentalgrundsaz des amerikanischen Bundesrechtes. Die Vereinigten Staaten seien kraft der Verfassung berechtigt, alle Fragen, welche überhaupt durch internationale Verträge geordnet werden können, auf diesem Wege in für das ganze Laud verbindlicher Weise zu regeln und durch Vertrag insbesondere zu bestimmen, daß Ausländer mit Bezug auf den Erwerb, Besiz und die Veräußerung von Grundeigenthum gleich den Bürgern des eigenen Landes zu "behandeln seien. Eine solche Regelung könne auch nur von der Zentralregierung ausgehen, da gemäß Art. l, Abschnitt 10 der Verfassung, den Einzelstaaten verboten sei, mit einem fremden Staate in irgend einen Vertrag, ein Bündniß oder eine Verbindung einzutreten. Hiernach habe die Regierung der Vereinigten Staaten den Vertrag mit der Schweiz innerhalb ihrer Kompetenz abgeschlossen ; der oberste Gerichtshof sei daher verpflichtet, ihm volle Geltung zu verschaffen.

16. Die Stadt F l o r e n z gab im Jahr 1875 70,000 Obligationen auf den Inhaber, 'jede zum Nominalwerthe von Fr. 500, aus, welche zu 5 °/o verzinslich sein und in halbjährlichen Ausloosungen während 50 Jahren zurükbezahlt werden sollten. Zur Sicherung der Titelinhaber wurde der Ertrag des Stadt-Octroi, abzüglich des an die Regierung fallenden Canons, verschrieben ,,als Pfand, Cession, Zahlungshingabe oder unter irgend einem andern Titel, mit der Wirkung, daß den Inhabern stets ein absolutes und ausschließliches Vorrecht auf den erwähnten Ertrag, sowohl gegenüber der Stadt, als auch gegenüber allen und jeden Gläubigern derselben gesichert bleiben soll." Diese Obligationen wurden in deiForm von Zahlungsanweisungen an den Gemeindekassier (delegazioni sul tresoriere comunale), damals die toskanische Nationalbank, ausgestellt.

In der Folge konnte die Stadt Florenz ihren ökonomischen Verpflichtungen nicht mehr genügen. Der Ernst der Situation und die Bedeutung der Stadt veranlaßten daher die italienische Regierung , einen außerordentlichen Delegirten zu bestellen, welcher im Juni 1878 verfügte, daß die Rükzahlungen von Obligationen der Gemeinde, sowie die Zahlungen von Prämien und Zinsen einzustellen seien. Der Repräsentant der Inhaber der Delegationen von 1875, Ritter Lucchi, erhob hierauf gegen die Gemeinde und deren Schazmeister gerichtliche Klage, dahin gehend, daß- die erwähnte
Verfügung aufzuheben sei, und daß die Obligationsinhaber berechtigt erklärt werden möchten, den Ertrag des Octroi bei dem Schazmeister zu erheben. Das Civilgericht von Florenz^ erklärte diese Klage begründet, worauf Hr. Lucchi die vorhandenen Summen

591 aus dem Octroi (Fr. 24,000) saisiren ließ und ihre Deposition bei dem Credito mobiliare erwirkte.

Am 12. März 1879 erklärte jedoch der Appellationshof von Florenz die Pfandbestellung auf den Ertrag des Octroi als ungiltig und hob die erwirkte Saisie auf, indem er gleichzeitig die Restitution der fraglichen Gelder in die Gemeindekasse verfügte.

Da bei den Delegationen vom Jahr 1875 große schweizerische Kapitalien engagirt sind, so wurde in diesem Stadium unsere Intervention angerufen. Wir mußten uns darauf beschränken, unsere Gesandtschaft in Uebereinstimmung mit den Repräsentanten von Oesterreich und Frankreich in Rom einzuladen, den Interessenten eine gewisse moralische Unterstüzung angedeihen zu lassen.

Am 27. November 1879 gab der Kassationshof von Florenz sein Haupturtheil, indem er die Verpfändung des Octroi als unstatthaft erklärte, im Wesentlichen gestüzt auf folgende Begründung: Nach wissenschaftlichen Grundsäzen, die auch von den obersten Gerichtshöfen des Königreiches anerkannt worden, seien die ,,Steuern'' nichts Anderes, als von den Steuerpflichtigen eingehobene Beiträge zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gemeinde und zur Beschaffung der nöthigen Mittel behufs steter Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung, sowie der Freiheit und Sicherheit der Personen und des Eigenthums. Daraus folge, daß die Steuern nicht ein Vermögen bilden, worüber die Gemeinden frei verfugen könnten, in dem Sinne, daß dieselben ihrer Bestimmung, nämlich den öffentlichen Zweken zu dienen, entzogen und auf kürzere oder längere Zeit zur Sicherung und zur Bezahlung von Privatgläubigern verwendet werden dürften. Wenn eine solche Verpfändung als zuläßig anerkannt werden müßte, so käme man zu dem Absurdum, daß eine Gemeinde gezwungen wäre, eine Steuer im Interesse ihrer Gläubiger beizubehalten, selbst wenn dieselbe zu lästig, nicht mehr zwekmäßig oder selbst schädlich wäre, obschon man anerkenne, daß die Gemeinden berechtigt seien, nicht blos Steuern zu dekretiren, sondern auch solche zu ermäßigen oder ganz aufzuheben.

Es könne nicht eingewendet werden, daß die Bezahlung der fälligen Schulden einer Gemeinde zu den ,,notwendigen Auslagen" gehöre, die gesezlich auf dem Wege der Besteurung erhoben werden können. Wenn der Betrag der Steuer in die Kassa der Gemeinde einbezahlt sei, habe die leztere ihn allerdings
zu den nothwendigen Auslagen zu verwenden, also auch zur Bezahlung ihrer Schulden. Allein daraus folge nicht, daß eine Gemeinde berechtigt sei, den Ertrag der Steuern zum Voraus durch Verpfändung sich selbst zu entziehen, so daß die Kasse nicht in der

592 Lage wäre, die Mittel zur Dekung der drängendsten Bedürfnisse des öffentlichen Dienstes und zur Erhaltung der eigenen politischen Existenz der Gemeinde zur Verfügung zu haben.

Die Geseze vom 27. März 1871 und 27. Mai 1875 können nicht angerufen werden, um zu beweisen, daß die Ausstellung von Zahlungsanweisungen an die Steuereinnehmer nicht verboten sei.

Durch diese Geseze sei lediglich der Regierung und der unter ihrer Garantie stehenden Depositen- und Leihkasse ein singuläres Recht geschaffen worden, um ihnen das Mittel zu geben, für die Verbindlichkeiten, welche die Gemeinden ihnen gegenüber haben, sich stets befriedigt zu machen. Die Gemeinde Florenz hätte, um Zahlungsanweisungen ausstellen zu können, nicht blos die Ermächtigung der Provinzialdeputation, die allerdings vorgelegen habe, einholen müssen, sondern auch diejenige der gesezgebenden Behörden, welchen allein das Recht zustehe, für Steuern ausnahmsweise die freie Verfügung und Veräußerung von Seite einer Gemeinde zu bewilligen.

Schließlich könne man sich nicht darauf berufen, daß die Gemeinde Florenz den Einzug des Octroi von der Regierung gepachtet habe, und daß somit der Uebersehuß in das freie Verfügungsrecht der Gemeinde übergehe, da nicht bewiesen sei, daß für die Gemeinde aus dem Betriebe dieser Pacht ein Uebersehuß über den Betrag des Canon resultire, und nicht ein unsicherer Gewinn aus dem Pachtverhältnisse, sondern der Ertrag des Octroi selbst, verpfändet worden sei.

17. Ranieri Alessio M a l f a n t i , geboren 1856 im ehemals toskanischen Gebiete, Sohn eines daselbst niedergelassenen Bürgers von Sonvico. Tessin, wurde zum italienischen Militärdienste gerufen, gestüzt darauf, daß sein Vater schon vor der Geburt dieses Sohnes in Folge 10jährigen ununterbrochenen Aufenthaltes in Toskana das dortige Bürgerrecht erworben habe, weßhalb der Sohn Malfanti auch als Italiener zu betrachten sei. Der Sohn trat zwar in den Militärdienst, optirte aber gemäß Art. 4 des schweizerisch-italienischen Niederlassungsvertrages für die schweizerische Nationalität.

Die diplomatische Verwendung behufs seiner Freilassung blieb ohne Erfolg. Die italienische Regierung .wies darauf hin, daß nach Art. 14 des Rekrutirungsgesezes von 1876 der Petent die Klage auf Anerkennung seiner schweizerischen Nationalität bei den Gerichten erheben müsse.
Unter Mithilfe des schweizerischen Konsulates in Livorno wurde diese Klage eingeleitet und von dem Appellationshofe von Lucca mit Urtheil vom 23. Dezember 1878 wie folgt entschieden :

593 Es frage sich, ob Malfanti als Sohn eines Italieners oder als Sohn eines Schweizer geboren sei. Eine positive Vorschrift für den Entscheid dieser Frage sei in dem Geseze, welches zur Zeit seiner Geburt bestanden, nicht enthalten. Laut der toskanischen Gerichtspraxis habe aber ein Fremder durch 10jährigen Wohnsiz blos das Einwohnerrecht erworben, wodurch er im Civilrecht den Einheimischen gleichgestellt worden. Um jedoch die toskanische Nationalität mit dem Genuß der öffentlichen oder politischen Rechte zu erwerben, sei noch nöthig gewesen, daß er den Willen, auf sein ursprüngliches Heimatrecht zu verzichten, bestimmt kund gegeben habe.

Ohne dieses sei angenommen worden, daß er seine heimatliche Nationalität beibehalten habe. Ein Doppelbürgerrecht sei nicht anerkannt worden. Der Sohn, welcher einem in Toskana wohnhaften fremden Vater daselbst geboren worden, habe, sofern er mit seinen Eltern im Großherzogthum den Aufenthalt fortgesezt, ebenfalls das Einwohnerrecht erhalten, sei aber berechtigt geblieben, nach Eintritt seiner Volljährigkeit für eine andere Nationalität zu optiren. Nun habe der Vater Malfanti allerdings im Jahr 1842, nicht aus Handelsrüksichten, sondern zur Ausübung seines Berufes als Maurer in Toskana sich niedergelassen, eine Familie gegründet und seither stets dort gewohnt, ohne je die Absicht zu äußern, den Aufenthalt in Toskana aufzugeben. Daraus folge aber noch nicht, daß er auf seine schweizerische Nationalität habe verzichten wollen. Vielmehr ergebe sich das Gegentheil aus der Thatsache, daß er in seine Heimatgemeinde die Steuern bezahlt habe. Er habe also zur Zeit der Geburt seines Sohnes blos den Wohnsiz in Toskana gehabt, aber nicht aufgehört, ein Fremder, resp. Schweizer zu sein. In Folge dessen sei der Sohn Malfanti gernäß Art. 8 des italienischen Civilgesezbuches und gemäß Art. 4 des Niederlassungsv Ertrages zwischen der Schweiz und Italien berechtigt gewesen, für die schweizerische Nationalität zu optiren.

Das italienische Kriegsministerium hat dieses Urtheil anerkannt und Malfanti aus der Armee entlassen.

18. Im April 1878 wurde die Gesandtschaft in Berlin beauftragt, bei dem Auswärtigen Amte des Deutschen Reiches die Besprechung und Erledigung einiger Fragen polizeilicher Natur, betreffend die A n w e n d u n g v o n Art. 7 , A b s a z 3 d e s s c h w e i z e
r i s c h d e u t s c h e n N i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g e s anhängig z u machen. Diese Verhandlung steht im Zusammenhang mit derjenigen, welche im Jahr 1878 aus Anlaß einiger Spezialfälle mit der königlich bayerischen Regierung geführt und deren Resultat im lezten Geschäftsberichte (Bundesblatt 1879, Band II, Seite 639) dargestellt wurde. Das Auswärtige Amt sezte sich mit allen

594 Staaten des Deutschen Reiches in's Vernehmen, so daß nun eine Verständigung in Aussicht steht, die für alle deutschen Staaten wie für alle schweizerischen Kantone maßgebend sein wird.

TMo Zunächst ist eine Verständigung darüber erzielt, daß, im Falle wegen Mangels noch giltiger unverdächtiger Heimaturkunden die Frage der Üebernahmepflicht zu behandeln ist, die Erledigung dieser Frage künftig in der Regel auf dem kürzern Wege der direkten Korrespondenz zwischen den Behörden der betheiligten Staaten und nur dann auf diplomatischem Wege zu erfolgen hat, wenn besondere Gründe dieses als wünschenswert!» erscheinen lassen, oder zwischen jenen Behörden eine Einigung nicht zu erzielen gewesen ist.

Dabei fragte es sich aber, welche Behörden in den einzelnen deutschen Staaten, und welche in den schweizerischen Kantonen befugt seien, verbindliche Erklärungen darüber auszustellen, ob Jemand Angehöriger des Deutschen Reiches oder Bürger in einem schweizerischen Kantone sei. Das Justiz- und Polizeidepartement ersuchte sämmtliche Kantonsregierungeu mit Kreisschreiben vom 2. September 1879 um Bezeichnung einer solchen Amtsstelle. Es geschah dieses in der Weise, daß die Mehrzahl der Regierungen die oberste Polizeibehörde des Kantons hiefür als kompetent bezeichnete, und daß einige wenige diese Kompetenz sich selbst reservirten.

Inzwischen ließ uns das Auswärtige Amt des Deutschen Reiches das ,,Verzeichniß der in den Bundesstaaten zur Ertheilung von ,,Anerkenntnissen und zur Entscheidung über die Staatsangehörig,,keit zuständigen Behörden"· zukommen, worauf wir im Anfange des laufenden Jahres das Verzeiehniß der ,,schweizerischen Behörden, ,,welche kompetent sind, über die Staatsangehörigkeit in der Schweiz ,,Erklärungen und Anerkenntnisse auszustellen", mittheilen konnten, welches indeß selbstverständlich mit der Erläuterung begleitet werden mußte, daß mit der Anerkennung eines Individuums als Bürger eines Kantons implicite auch die schweizerische Staatsangehörigkeit festgestellt sei.

Ein weiterer Gegenstand dieser Verhandlung bildet die Bezeichnung der Amtsstellen an den beidseitigen Grenzen, welchen (bei nachgewiesener oder durch Korrespondenz festgestellter Staatsangehörigkeit) die aus Deutschland ausgewiesenen Schweizer oder die aus der Schweiz ausgewiesenen Deutschen zuzuführen und zu übergeben sind. Auch
diese Amtsstellen sind gegenseitig bezeichnet, aber noch nicht definitiv festgestellt.

Bei gleichem Anlaß wird auch der von verschiedenen Seiten gestellte Antrag seine Erledigung finden, dahin gehend, daß der

595 aus dem andern Staate ausgewiesene Landesangehörige durch die zuständige inländische Grenzbehörde, sobald die Staatsangehörigkeit festgestellt ist, übernommen werden müsse, ohne Rüksieht darauf, daß zwischen inländischen Behörden über den Unterstüzungswohnsiz resp. über die Gemeindeangehörigkeit noch Zweifel walten.

19. Ein im April 1879 ausgestellter p r e u ß i s c h e r Heimats c h e i n gewährte der neun Jahre alten Inhaberin das Recht, während drei Jahren in die königlich preußischen Staaten zurükzukehren, in dem Sinne, daß nach Ablauf dieser drei Jahre die Eigenschaft der preußischen Staatsangehörigkeit nicht weiter daraus hergeleitet werden könne.

Wir sahen uns veranlaßt, bei dem auswärtigen Amte des deutschen Reiches gegen die Ausstellung von Heimatscheinen mit der Androhung des Verlustes der Staatsangehörigkeit nach Ablauf einer gewissen Frist zu reklamiren, weil eine solche Klausel weder mit dem Art. 7 des schweizerisch-deutschen Niederlassungsvertrages, noch mit der deutschen Reiehsgesezgebung vereinbar sei und die schweizerischen Behörden nicht angehalten werden können, solche Papiere, die sie und die Inhaber mit Inkonvenienzen bedrohen, als genügende Legitimationspapiere zu behandeln.

Es wurde ein neuer Heimatschein ertheilt, der unbeschränkt lautet und lediglich die Erklärung enthält, daß die Inhaberin durch Abstammung die Eigenschaft einer Preußin besize.

Nach einer weitern Mittheilung der schweizerischen Gesandtschaft in Berlin ist. eine Verfügung getroffen, womit allgemein das alte Formular der Heimatscheine berichtigt und mit der neuen Gesezgebung in Uebereinstimmung gebracht worden ist.

Nach § 21, Lemma 2 des deutschen Reichsgesezes über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit, vom 1. Juni 1870 (schweizerisches Bundesblatt 1870, Bd. III, S. 176), zählen nur die m i n d e r j ä h r i g e n Kinder zur Familie des Vaters. Gemäß Reichsgesez vom 17. Februar 1875 beginnt aber das Alter der Großjährigkeit im ganzen Umfange des deutschen Reiches mit dem vollendeten 21. Lebensjahre. Es haben somit alle Glieder einer deutschen Familie mit dem Eintritt in dieses Alter besondere Heimatscheine zu beschaffen.

Uebrigens ist gegenüber einzelnen Bestimmungen des vorerwähnten deutsehen Reiehsgesezes vom 1. Juni 1870 daran zu erinnern, daß nach Art. 7, Absaz 2 des Niederlassung'svertrages zwischen der Schweiz und Deutschland vom 27. April 1876 (Amtl.

Samml. n. F., Bd. H, S. 567) jeder Deutsche in Deutschland wieder 0

598 aufgenommen werden muß, so lange er nicht in der Schweiz oder in einem dritten Staate, heimatberechtigt geworden ist, selbst wenn er nach deutscher Gesezgebung das deutsche Staatsbürgerrecht verloren hätte. In diesem Sinne kann also ein Deutscher, der in der Schweiz wohnt, nicht mehr heimatlos werden, nur muß er, wenn der Verlust der deutschen Angehörigkeit droht, jedenfalls nach Deutschland zurükkehren.

Ein wesentlicher Schuz kann auch darin gefunden werden, daß die Kantone alle Deutschen anhalten, sich in die Matrikel desjenigen deutschen Konsulates eintragen zu lassen, welchem der Kanton zugetheilt ist. (§ 21 des oben erwähnten Reichsgesezes vom 1. Juni 1870.)

20. Von den Schweiz. Repräsentanten in B e r l i n , W i e n , P e t e r s b u r g etc. wurden wir darauf aufmerksam gemacht, daß öfters Schweizer auf Grund ihrer Militärbüchlein neue Pässe oder Unterstüzung verlangen. Unsere Instruktionen gingen dahin, daß das Dienstbüehlein nicht die Bedeutung eines Legitimationspapiers haben, sondern blos ein Ausweis über geleisteten Militärdienst resp. Militärpflichtersaz sein. soll.

21. Verschiedene Ansuchen um unsere Vermittlung behufs V o l l z i e h u n g kantonaler Z i v i l u r t h e i l e i.n a u s w ä r t i g e n S t a a t e n mußten abgelehnt werden, da nicht die Regierungen über die Vollzieh barkeit fremder Urtheile entscheiden können, sondern die Gerichte. Es hat daher die betreffende Partei selbst die nöthigen Schritte bei dem kompetenten Gerichte zu thun und die vorgeschriebenen Formen zu erfüllen. Für die Vollzieh barkeit eines Zivilurtheils in Frankreich sind die Vorschriften des Vertrages mit diesem Staate vom 15. Juni 1869, Art. 15 bis 19, und das erläuternde Protokoll zu Art. 16 (A. S. IX, S. 1014 und 1031) maßgebend. Da ähnliche Verträge mit andern Staaten nicht bestehen, so sind überall die Vorschriften der Geseze über den Zivilprozeß derjenigen Staaten, in denen die Urtheile vollzogen werden sollen, zu beobachten.

22. Die Gesandtschaft der V e r e i n i g t e n S t a a t e n von H o r d a m e r i k a hat für die A u s s t e l l u n g o d e r E r n e u e r u n g von P ä s s e n für Angehörige der Vereinigten Staaten folgende Instruktion ausgegeben : ,,Pässe werden nur auf schriftliches Gesuch ertheilt, welches von dem Petenten unterzeichnet und beschworen und mit dem Bürgereide, wie ihn das Gesez vorschreibt, sowie mit einem Aus-

597 weise über die Identität der Person begleitet sein muß. Solche Begehren müssen vor einem Konsularbeamten der Vereinigten Staaten oder bei dieser Gesandtschaft p e r s ö n l i c h gemacht -werden.

,,Was man gewöhnlich ,,Erneuerung eines Passes" nennt, ist in Wirklichkeit die Ausstellung eines neuen Passes, welche nur auf schriftliches Ersuchen in vorher erwähnter Weise erfolgen kann.

,,Die staatliche Gebühr für einen Paß beträgt 26 Franken.

Dazu kommt eine weitere Gebühr für die Abnahme der geforderten Eide.

,,Wenn der Petent behauptet, ein naturalisirter Bürger zu sein, so hat er auch das Original oder eine beglaubigte Abschrift des gerichtlichen Dekretes vorzulegen, .wodurch er als Bürger erklärt worden ist.

,,Für jede volljährige Person, welche nicht die Ehefrau oder im Dienste desjenigen ist, mit dem sie reist, muß ein besonderer Paß ausgestellt werden.tt 23. Die schwedische Regierung übermachte auf Gesuch der Kommission des i n t e r n a t i o n a l e n Kongresses für V e r b e s s e r u n g des S t r a f - und Gef ä o g n i ß w e s e n s , welcher im August 1878 in Stockholm versammelt war, den von diesem Kongresse genehmigten Entwurf des Réglementes für die aufzustellende permanente Kommission, über dessen wesentlichen Inhalt im lezten Geschäftsberichte referirt wurde. In Uebereinstimmung mit der frühern Haltung in dieser Angelegenheit erklärten wir die Bereitwilligkeit der Schweiz, auf Grundlage des erwähnten Réglementes an die Kosten der internationalen Kommission beizutragen. Nach neuern Mittheilungen werden im Herbst 1. J. Abgeordnete derjenigen Regierungen, welche dem genannten Réglemente im Prinzipe beigetreten sind, in Bern zusammenkommen, behufs Ausführung dieses Réglementes und definitiver Organisation des internationalen Gefäugnißwesens.

24. Viele und zum Theil schwierige Verhandlungen veran]aßten mehrere Fälle betreffend R ü k t r a n s p o r t von g e i s t e s k r a n k e n P e r s o n e n o d e r v e r l a s s e n e n K i n d e r n , indem oft über die Frage der heimatlichen Angehörigkeit Zweifel auftauchten und, wenn diese beseitigt waren, bezüglich der Bezahlung der Kosten neue Schwierigkeiten entstanden.

Zur möglichsten Vermeidung solcher Verhandlungen haben.·wir am 22. Juli 1879 ein neues Kreisschreiben (Bundesblatt Bundesblatt. 32. Jahrg. Bd. II.

40

598

1879, III, 134) erlassen, um zu konstatiren, daß der seit 1858 mit F r a n k r e i c h bestehende Modus vivendi (Bundesblatt 1878, III,.

7631 g e g e n s e i t i g e V e r g ü t u n g sowohl der Kosten für die Verpflegung, als auch derjenigen für den Heimtransport von geisteskranken Personen und verlassenen Kindern stipulirt.

Was dagegen die Verpflegung g e w ö h n l i c h e r K r a n k e r und die Beerdigung von verstorbenen Angehörigen des andern Staate» betrifft, so findet in dieser Beziehung gegenseitig keine Vergütung der Kosten statt.

25. Für das Verhältniß zu O e s t e r r e i c h - U n g a r n ist der Art. 7 des Niederlassungsvertrages vom 7. Dezember 1875 (A. S. n. F. II, 148) jezt allgemein maßgebend, wonach für die V e r p f l e g u n g v o n m i t t e l l o s e n E r k r a n k t e n oder V e r u n g l ü k t e n , m i t I n b e g r i f f d e r G e i s t e s k r a n k e n , gegenseitig keine Kosten vergütet werden und ein Regreß nur statthaft ist, soweit er gegen den Verpflegten oder gegen dritte Verpflichtete von Erfolg sein kann. -- Dagegen werden die Kosten für Verpflegung verlassener Kinder vergütet. (Scherno.)

In Folge von Art. 7 des Niederlassungsvertrages mit OesterreichUngarn sind außer Kraft getreten : Das Kreisschreiben vom 2. November 1857 (Bundesblatt 1867r IH, 223) und dazu gehörige Modifikation vom 24. April 1872 (A. S. X, 775); das Kreisschreiben vom 6. Dezember 1867 (Bundesblatt 1867,, m, 223), und das spezielle Abkommen zwischen dem Kanton Bern und Oesterreich (A. S., Vffl, 383).

Dagegen bleiben zur Zeit als maßgebend in Kraft : der bereits erwähnte Art. 7 des Niederlassungsvertrages und das Kreisschreiben vom 23. August 1871 (Bundesblatt 1871, DI, 162), sowie auch die Grundsäze, welche in den öffentlichen Krankenanstalten der österreichischen Länder beobachtet werden und im Bundesblatt 1871, Bd. III, S. 175 abgedrukt sind.

599

T. Rekurswesen. Anwendung der Bundesverfassung und der Bnndesgeseze.

1. Statistik.

1. Im Jahre 1879 waren mit Einschluß der aus dem Vorjahre pendent gebliebenen Fälle 119 R e k u r s e (1878: 95; 1877: 65) zu behandeln, wovon 98 erledigt wurden und 21 als pendent auf das Jahr 1880 übergingen.

In 36 Rekurse traten wir materiell nicht ein, theils weil ausschließlich die kantonalen Behörden oder das Bundesgericht für den Entscheid kompetent waren, theils weil da, wo unsere Kompetenz matériel wirklich begründet erschien, der kantonale Instanzenzug noch nicht erschöpft war.

Die übrigen 62 erledigten Rekurse betrafen dem Gegenstande nach : 7 Verweigerung und Entzug der Niederlassung; 1 Verweigerung des Aufenthaltes; 2 Besteuerung der Niedergelassenen; 6 Verweigerung von Ausweisschriften in der Heimat und Rükhaltung von solchen am lezten Wohnorte; 34 Beeinträchtigung der Handels- und Gewerbefreiheit; 4 Stimmrecht und Wahlen; 3 Verlezung der Glaubens- ,und Gewissensfreiheit ; 2 Begräbnißwesen ; l Wiederherstellung von Klöstern^ l Bürgerrecht; l Sequestrirung eines Konsulatsarchives.

Es blieben 50 Beschwerden übrig, welche materiell zu erledigen waren (1878: 27; 1877: 20); 43 derselben wurden abgewiesen und 7 begründet erklärt. Daneben waren noch in 5 Fällen, die durch Nichteintreten erledigt wurden, förmliche und motivirte Entscheide nöthig. Von den auf das Jahr 1880 übergegangenen Rekursen ist die Mehrzahl in den ersten Wochen dieses Jahres ebenfalls erledigt worden.

Die Bundesversammlung hatte sich im Jahr 1879 mit 14 Beschwerden und Rekursen zu befassen (1878: 12; 1877: 6). 7 der-

600

selben erledigte sie durch Nichteintreten, in 5 Fällen wurden die Beschlüsse des Bundesrathes bestätigt, und die übrigen zwei Rekurse blieben pendent.

2. Kompetenzfragen.

2. Auf die Reklamation gegen das p r o j e k t i r t e Gesez des Kantons Genf über die Bewilligung des Aufenthaltes und der Niederlassung wurde nicht eingetreten, bis dasselbe vom Großen Rathe definitiv festgestellt und angenommen worden, weil der Bundesrath nicht in das Gesezgebungsrecht der Kantone eingreifen, sondern im Sinn von Art. 43 der Bundesverfassung nur fertige kantonale Geseze seiner Prüfung unterstellen kann. Der Reklamant wurde daher angewiesen, seine Gründe zunächst bei dem Großen Rathe des Kantons Genf geltend zu machen.

3. Im Jahr 1874 wurde auf Begehren der französischen Rer gierung eine gewisse J o h a n n a Maria S c h m i d t , geboren und eingebürgert zu Moudon, Kts. Waadt, welche in Paris in eine Irrenanstalt aufgenommen werden mußte, durch den Polizeiinspektor von Moudon heimgeholt und im Spital für Geisteskranke des Kantons Waadt zu Cery untergebracht, wo sie im Dezember 1875 starb. Später ergab es sich, daß die Familie Schmidt auch der Gemeinde Zollikofen, Kantons Bern, bürgerlich angehört. Die Regierung des Kantons Waadt verlangte daher von derjenigen des Kantons Bern den Ersaz der Hälfte der Verpflegungskosten in Paris und Cery, sowie der Kosten des Heimtransportes und der Beerdigung der J. M. Schmidt und der Kosten, welche der uneheliche Knabe einer Tochter der leztern der Gemeinde Moudon verursacht hatte.

Die Regierung des Kantons Bçrn anerkannte jedoch, gestüzt auf die Armengesezgebung dieses Kantons, nur den Beitrag für eine beschränkte Zeit der Verpflegung in C e r y , weßhalb der Staatsrath des Kantons Waadt sich veranlaßt sah, bei dem Bundesgerichte einen staatsrechtlichen Rekurs gegen den Kanton Bern einzugeben.

Mit Entscheid vom 28. September 1878 erklärte sich jedoch das Bundesgericht (Amtliche Sammlung seiner Entscheidungen, Band IV, S. 360) inkompetent, indem es unterschied zwischen den V erpfleg ungs ko sten für die Johanna Maria Schmidt und für ihren Enkel und zwischen denjenigen Kosten, welche durch den H e i m t r a n s p o r t der erstem von Paris nach Cery entstanden sind. Der Entscheid über die Verpflegüngskosten -wurde an das kompetente Zivilgericht verwiesen. Bezüglich ' der Transportkosten dagegen zog

601 das Bundesgericht in Erwägung, daß es sich entweder um eine Frage der internationalen Polizei, oder um eine solche über die Anwendung des Vertrages mit einem fremden Staate betreffend die Niederlassung (Gesez über die Organisation der Bundesrechtspflege, Art. 59, Ziff. 10) handle, und daß der Entscheid im einen wie im andern Falle in die Kompetenz des Bundesrathes oder der Bundesversammlung gehöre.

Der Bundesrath erklärte sich am 4. April 1879 auch seinerseits inkompetent, gestüzt auf folgende Erwägungen : 1. Die Heimschaffung der geisteskranken Johanna Maria Schmidt aus Frankreich in ihre Bürgergemeinde Moudon ist allerdings nach Vorschrift des Vertrages über Niederlassung zwischen der Schweiz und Frankreich erfolgt, und die Gemeinde Moudon hat eine internationale Verpflichtung erfüllt, indem sie die Kosten der Heimschaffung übernahm und bezahlte. Damit hat aber die ganze internationale Seite dieser Angelegenheit ihre Erledigung gefunden.

2. Die später von der Gemeinde Moudon erhobene, zur Zeit noch schwebende und im Urtheil des Bundesgerichtes vom 28. September 1878 an den Bundesrath zur Entscheidung überwiesene Frage beschlägt kein internationales Verhältniß, sondern eine interne Streitigkeit zwischen zwei schweizerischen Gemeinden, resp. Kantonen, und formulirt sich folgendermaßen : Ist die Gemeinde Zollikofen, resp. der Kanton Bern, wo die Johanna Maria Schmidt ebenfalls verbürgert war, verpflichtet, die Hälfte der von der Gemeinde Moudon für die Heimschaffung der genannten Person aus Frankreich ausgelegten Kosten zu ersezea?

Offenbar gehört diese Streitfrage nicht zu den A d m i n i s t r a t i v s t r e i t i g k e i t e n , welche nach Art. 113 der Bundesverfassung und Art. 59 des Gesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege der Kompetenz des Bundesrathes unterworfen sind.

3. Niederlassungs- und Aufenthaltsverhältnisse.

a. P r ü f u n g k a n t o n a l e r G e s e z e.

4 . D a s neue G e s e z d e s K a n t o n s G e n f b e t r e f f e n d die Aufenthalts- und Niederlassungsbewillig u n g e n , vom 8. M ä r z 1879, erhielt, ungeachtet der von Hrn. L o u i s D é n é r é a z , H. H e ß und andern Niedergelassenen und Aufenthaltern im Kanton Genf dagegen eingelegten Beschwerde, am 15. April unsere Genehmigung. Bezüglich des Art. 5, wonach

602 für die Aufenthaltsbewilligung Fr. 1. 50 Rp. per J a h r und P e r s o n bezahlt werden muß, fanden wir zwar eine solche Taxe etwas hoch und für die Klasse von Leuten, um die es sich hier meistens handelt, belästigend. Da jedoch das in Art. 47 der Bundesverfassung vorgesehene Bundesgesez noch nicht zu Stande gekommen ist, so waren wir nicht in der Lage, hierüber maßgebend zu entscheiden. Betreffend den Art. 6 fügten wir die ausdrükliche Bemerkung bei, daß wir voraussezen, es werde für die Niederlassungsbewilligung nur e i n m a l eine Gebühr gefordert und es bestehe die Niederlassungsbewilligung in Kraft, so lange die Papiere, auf welche gestüzt sie gegeben worden, giltig seien, oder die Inhaber im Kanton Genf wohnen.

Die Herren Heß und Genossen beschwerten sich gegen dieses Gesez auch noch bei der Bundesversammlung. Sie machten geltend , daß die Befreiung der Genfer Bürger von einer Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung eine ungleiche Behandlung der Schweizer involvire , die mit Art. 4 , 45 und 60 der Bundesverfassung im Widerspruch stehe, sowie mit dem bundesräthlichen Kreissehreiben vom 31. Januar 1876; ferner daß nicht die A b g a b e der Legitimationspapiere gefordert werden könne, indem es genüge, daß der Petent sie b e s i z e , und daß die Gebühr von Fr. 1. 50 Rp.

für die Aufenthaltsbewilligung für jedes Jahr und jede Person zu hoch sei etc. Wir beantworteten mit Botschaft vom 15. April 1879 alle diese Einreden (Bundesblatt 1879, Bd. II, S. 677), und die Bundesversammlung genehmigte unsere Gesichtspunkte mit Beschluß vom 20. Juni 1879, indem sie auf die erwähnten Beschwerden nicht eintrat und in den Erwägungen ausdrüklich erklärte, daß das angeführte Gesez nichts enthalte , was mit der Bundesverfassung im Widerspruch stünde. (Bundesbl. 1879, Bd. III,S. 23.)

5. Der Kantonsrath von A p p e n z e 11 A. R h. genehmigte am 20. Januar 1879 eine y er o r dnu n g t) e t r er f en d d a s P o l i z ei w e s e n. Mit Rüksicht auf die darin enthaltenen Bestimmungen über-Niederlassung:undAufenthalt,,.sowie über Hausirhandel und Gewerbebetrieb, legte die Regierung dieselbe zur Genehmigung vor. ; Der Inhalt von Art.13,.dieser. Verordnung gab zu einigen Erörterungen Anlaß. Er wurde jn dem Sinne abgeändert, daß die Ausländer bezüglich der Niederlassungsbewilligungen nicht nach Maßgabe der
Bundesverfassung, sondern nach Maßgabe der Verträge zu behandeln -'seien , und Saß: die Bewilligung der Niederlassung an Schweizer nicht von der Beibringung einer Bescheinigun; über den Besiz der bürgerlichen Rechte und Ehren und von der Vorlage der Zivilstandsakten · abhängig gemacht werden

603

·dürfe, indem gemäß Lemma 2 von Art. 45 der Bundesverfassung der Ausweis über den Besiz der bürgerlichen Rechte und Ehren nur a u s n a h m s w e i s e , also nur wenn begründete Zweifel walten, verlangt werden darf, und die Zivilstandsakten blos behufs ·der Eintragung in das Stimmregister und für die Zweke des Zivil.standsamtes gefordert werden können. .Bezüglich der Bestimmungen über Hausirhandel und Gewerbebetrieb wurde auf das Kreisschreiben ·vom 20. Januar 1875. (Bundesbl. 1875, Bd. I, S. 91) verwiesen.

b. E r w e r b und E n t z u g der Niederlassung und d e s i>A u f en t h a l t es.

6. Der Franzose H e i n r i c h A d l e r wurde mit seiner Beschwerde gegen den Entzug der Niederlassung in St. Gallen am 6. Juni 1879 mit folgender Begründung abgewiesen: 1) Nachdem der Rekurrent durch Urtheil des Kriminalgeriehts des Kantons Appenzell A. Rh. des leichtsinnigen Bankerotte als schuldig erklärt, zu 10 Tagen Gefängniß und vierjähriger Herabsezung der bürgerlichen Ehren und Rechte verurtheilt worden, er somit in Folge eines strafgerichtlichen Urtheils nicht im Besize der bürgerlichen Rechte und Ehren ist, so kann ihm gemäß Art. 45 der Bundesverfassung die Niederlassung entzogen werden.

2) Gemäß Art. l des Niederlassungsvertrags zwischen der Schweiz und Frankreich kann der niedergelassene Franzose unter keinen Umständen eine bessere Behandlung beanspruchen als der Schweizer, und überdies ist in Art; 5 des nämlichen Vertrages vorgesehen, daß der Franzose durch gerichtliches Urtheil oder gemäß den Gesezen und Verordnungen über die Sitten- und Armenpolizei weggewiesen werden könne.

7. Der P o l e Bercowiecz genoß mit Familie im Kanton Zürich längere Zeit als politischer Flüchtling Aufenthalt. Es ergab sich jedoch, daß er diese Eigenschaft nicht besize. Da er keine ordentlichen Papiere beibringen konnte $ und nachdem er wegen betrügerischer Manöver 'in Anklage gekommen, wurde er ausgewiesen.

Auf seine Beschwerde wurde aus folgenden Gründen nicht eingetreten: Wenn B. nicht politischer Flüchtling wäre (wie von der Polizeidirektion in Krakau bezeugt worden) , so hätte er zur Rechtfertigung seiner Niederlassung gemäß Art. 45 der Bundesverfassung und Art. l des Niederlassungsvertrages mit Rußland einen Heimat-

604

schein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift vorzulegen.

Da er dieses nicht könne, so habe er keinen Anspruch auf den Sehuz des erwähnten Vertrages. Wenn aber B. polnischer politischer Flüchtling wäre (wie er behauptete), so könnte er ein förmliches R e c h t auf Niederlassung nicht ansprechen. Die Frage,, ob das Asyl aus andern als politischen Gründen einem Flüchtling zu entziehen sei, liege lediglich in der Kompetenz der kantonalen Behörden. Nachdem die Obsorge für die polnischen Flüchtlinge wieder an die Kantone zurükgegeben worden, könne der Bundesrath, so lauge keine Momente politischer Natur in Frage liegen,, keinen Kanton anhalten, solche Flüchtlinge, für deren Ausweisungsie Gründe zu haben glauben, gegen ihren Willen auch fernerhin zu dulden.

8. In dem Amtsblatte des K a n t o n s U n t e r w al den n./W, vom 19. April 1879 erschien folgende Publikation des kantonalen Polizeiamtes : ,,Gemäß Schlußnahme des Regierungsrathes vom 7. dieß ist solchen Aufenthaltern, welche von der Kranken verpflegungsanstalfc fremder Arbeiter wegen körperlicher Umstände, Krankheit u. drgL nicht aufgenommen werden müssen, der Aufenthalt im Kanton nicht zu gestatten.tl Auf eine bezügliche Reklamation der R e g i e r u n g von U n t e r w a i d e n o./W. erklärten wir am 8. Juli 1879 diesen Beschluß als unzulässig, indem wir uns mit Schreiben an die Regierung von Nidwaiden wie folgt aussprachen : Zunächst erscheint uns die Ansicht, daß wir nicht kompetent seien, auf Fragen einzutreten, welche die Aufenthalter betreffen, nicht begründet. Durch Art. 59, Ziffer 5 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege, vom 27. Juni 1874 (AmtL Samml. neue Folge, Bd.; I, S. 136), sind vielmehr alle Fragen, welche bezüglich der Rechte der Niedergelassenen aus den Art. 43, 45 und 47 der Bundesverfassung abgeleitet werden können, in unsere Kompetenz gelegt. Der Art. 47 der Bundesverfassung: bezieht sich aber ausdrüklich auch auf die Aufenthalter, indem er das Recht zum Aufenthalte in einem andern Kanton prinzipiell als selbstverständlich voraussezt und nur den Unterschied desselben von der Niederlassung und die nähern Vorschriften über die bürgerlichen und politischen Rechte der schweizerischen Aufenthalter einem Buridesgesezè vorbehält. Da der Art. 47 " der Bundesverfassung durch Ziffer 5 von Art. 59 des erwähnten Bundesgeseze» nicht beschränkt werden konnte, so versteht es sich von selbst,

605 daß unter der an lezterer Stelle allgemein gebrauchten Bezeichnung ,,Niedergelassenen" auch die ,, Aufen thaï ter" Inbegriffen und daß somit auch die Rechte der Aufenthalter nach Maßgabe von Art. 85, Ziffer 12, und Art. 102, Ziffer 2 der Bundesverfassung in die Kompetenz des Bundesrathes, beziehungsweise der Bundesversammlung gelegt sind.

Was den materiellen Inhalt der Schlußnahme vom 7. April dieses Jahres betrifft, so ist es zunächst selbstverständlich, daß die freie Bewegung der Individuen von Kanton zu Kanton nicht durch kantonale Verordnungen beschränkt werden darf. Auch dürfen die Kantone ihr Gebiet dem Aufenthalte der Schweizer anderer Kantone und den ihnen gleichgestellten Angehörigen fremder Staaten nicht verschließen. Es sind dies allgemein anerkannte Grundsäze, die auch unter den schweizerischen Kantonen um so mehr Geltung haben müssen, als durch Art. 45 der Bundesverfassung j e d e m S c h w e i z e r ausdrüklich das Recht gewährleistet ist, innerhalb des schweizerischen Gebietes an jedem Orte sich niederlassen zu dürfen und zwar ohne andere Bedingungen zu erfüllen, als daß er einen Heimathschein besizt, oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift. Nun versteht es sich doch von selbst, daß derjenige, welcher die Niederlassung wünscht, in der Regel zuerst persönlich kommen muß und eine Zeit lang wenigstens als Aufenthalter leben wird, bevor die Niederlassung geordnet ist.

Ebenso ist nicht zu übersehen, daß auch einem Handwerker die Niederlassung gegeben werden muß, wenn er sie verlangt, denn Art. 45 garantirt sie j e d e m Schweizer. Es kann somit schon von diesem Gesichtspunkte außer dem Heimatschein nicht noch der Nachweis für körperliches Wohlbefinden gefordert werden.

Das Bundesgesez über die Kosten der Verpflegung armer Angehöriger anderer Kantone, vom 22. Juni 1875 (Affiti. Samml.

neue Folge, Bd. I, S. 743), Welches in Art. l vorschreibt: ,,die Kantone haben dafür zu sorgen, daß unbemittelten Angehörigen anderer Kantone, welche erkranken, und deren Rükkehr in den Heimatkanton ohne Nachtheil für ihre oder Anderer Gesundheit nicht geschehen kann, die erforderliche Pflege und ärztliche Besorgung zu Theil werden," beruht auf den gleichen Gesichtspunkten, da es keinen Unterschied macht zwischen Niedergelassenen und Aufenthaltern, sondern alle Schweizer gleich behandelt
wissen will.

c. R ü k h a l t u n g öde^ V e r w e i g e r u n g der A u s w e i s papiere.

9. Die 13 Beschwerden dieser Art gegen Verfügungen kantonaler Behörden wurden sämmtlich im Sinne der Entscheide der

606 Bundesversammlung in Sachen Weber (Bundesblatt 1875, Band H, Seite 667 und 671) und Schmid (Bundesblatt 1876, Band I, Seite 115, 740, 841 und 969) erledigt und zwar sowohl gegenüber dem Heimatkanton, als auch gegenüber dem Kanton des lezten Wohnortes. Das Konsulat in Besancon machte die Mittheilung, daß viele schweizerische Arbeiter schriftenlos daselbst erscheinen und angeben, daß sie ihre Kantone ohne Papiere haben verlassen müssen, weil sie die Steuern oder Militärtaxen nicht haben bezahlen können. Durch eine allgemeine Verfügung seien jedoch alle fremden Arbeiter aufgefordert worden, ihre Position zu ordnen.

Die obersten Polizeibehörden der Kantone Bern und Neuenburg wurden daher eingeladen, die nöthigen Anordnungen zu treffen, damit Papiere, wie Zivilstandsakten, Heimatscheine oder Militär büchlein etc., nicht weiter mit Sequester belegt, sondern aushin gegeben werden.

Immerhin wurde daran festgehalten, daß aus s t r a f r e c h t l i c h e n Gründen Legitimationspapiere zurükbehalten werden können. Da das Strafrecht Sache der Kantone ist, so können ihnen über die Handhabung der Strafjustiz keine Vorschriften gegeben werden.

d. A u f e n t h a l t s g e b ü h r e n .

10. Die im lezten Geschäftsberichte unter dieser Rubrik er· wähnte Beschwerde des Peter S e r o d i n o und m e h r e r e r a n d e r n Tessiner im K a n t o n Genf, betreffend die Höhe und Bezugsart der Aufenthaltsgebühren im Kanton Genf, ist von der Bundesversammlung gleichzeitig mit den Beschwerden der Herren Heß und Dénéréaz gegen das neue Gesez des Kantons Genf, betreffend die Aufenthalts- - , und Niederlassungsbewilligungejn (siehe oben 3 a, Ziffer 4) und zwar ebenfalls in abweisendem Sinne entschieden worden. (Bundesblatt 1878^ Bd. IV, S. 433 und 1879 Bd. IH, S. 23.)

Die Bundesversammlung zog in Betracht, daß der Große Rath des Kantons Genf, in dem seit der Eingabe der Rekurrenten erlassenen und von uns genehmigten neuen Geseze den Begehren der Petenten, soweit sie begründet und in dieser Instanz zulässig erschienen, billige Rechnung getragen habe.

e . S t e u e r.p f l i c h t d e r N i e d e r g e l a s s e n e n .

11. Der Rekurs .des .Herrn Ch^istia-n, V p g e l i aus dem Kanton Berh^ niedergelassen in Heitenried, Kantons Freiburg, gegen die Besteuerung der Niedergelassenen zu Gunsten der Gemeinde, ist durch die Verhandlungen in der Bundesversammlung bekannt. Der

607

Entscheid des Bundesrathes vom 15. Juli 1879 ist von den eidg.

Käthen am 19. Dezember 1879 bestätigt worden. (Bundesblatt 1879, Band III, Seite 692.)

12) Die Herren F r i e d r i c h M ü h l e m a n n und 25 andere im Sensebezirk, Kantons Freiburg, niedergelassene Grundeigentümer und Pächter beschwerten sich gegen die Beschlüsse der Gemeinden Alterswyl, Taffers, St. Antoniën und St. Urs, welche Ortschaften zusammen die Pfarrei Taffers bilden, betreffend eine Erhöhung der Steuern vom Grundeigentum und Kapitalvermögen zu Gunsten der Armenkassen und behufs Dekung der Defizite der gleichen Kassen.

Der Thatbestand ist in dem Entscheide des Bundesgerichtes vom 25. Mai 1878 enthalten (Amtliche Sammlung dieser Entscheide, Band IV, Seite 202), womit die Einsprache der Rekurrenten bezüglich der Kirchensteuern als unbegründet erklärt wurde. Mit unserm Entscheide vom 15. Juli 1879 wurden sie auch abgewiesen, soweit ihre Beschwerde auf die Armensteuern sich bezog.

Wir fanden nämlich, die Frage, ob die Rekurrenten, als in der Pfarrei Taffers niedergelassene Schweizerbürger, zur Bezahlung der Armensteuern verpflichtet seien, obschon die Niedergelassenen daselbst keine Armenunterstüzung genießen, sei zu bejahen und die von den Rekurrenten aus den Ar.t. 43, 45 und 47 der Bundesverfassung abgeleiteten gegentheiligen Schlüsse seien unrichtig. Die Bundesverfassung schreibt keineswegs die Gleichheit aller Schweizer (Bürger und Niedergelassenen) bezüglich der Armenunterstüzung am Wohnorte vor. Der Art. 45 anerkennt im Gegentheil ausdrüklich die Unterstüzungspflicht der H e i m a t g e m e i n d e und schreibt zu Gunsten der in Armüth gefallenen Niedergelassenen den einzigen Vorbehalt vor, daß sie nicht ausgewiesen werden dürfen, als wenn sie in d a u e r n d e r Weise der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last gefallen seien und ihre Heimatgemeinde troz amtlicher Aufforderung eine angemessene Unterstüzung verweigert. Auf der andern Seite sind die Niedergelassenen verpflichtet, an alle Staats- und Gemeindesteuern beizutragen, welche die Kantone kraft des Besteuerungsrechtes ihren 'Angehörigen auflegen.

4. Handels- und Gewerbefreiheit.

13) In Folge des Bundesbeschlusses vom 21. August 1878 über die Organisation uäd den Geschäftsgang des Bundesrathes ist die Behandlung der Rekurse betreffend die Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 und-39 der Bundesverfassung) seit 1. Januar 1879 an das Justiz- und Polizeidepartement übergegangen. (Amtl. Samm-

608

2 -- -- 1

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Pendent.

2

Begründet. 1

Abweisung. 1

Hausirhandel Handel mit Lebensmitteln, Getränken, Medikamenten etc.

Besteuerung von Gewerben .

Vertrieb von Anlehensloosen .

Banknotenwesen .

Versicherungswesen , Agenturen Betrieb von Wirtschaften Engagiren von Reisenden .

Alpen- und Waldbetrieb . .

Schmiedegewerbe . . . .

Bäkereigewerbe Maßregeln gegen die Phylloxéra Straßenpolizei

Nichteintreten.

lung ru F. III, S. 480.) Das Handelsdepartement, welches bis zu dem genannten Zeitpunkte diese Geschäfte zu besorgen hatte, glaubte in seipem Geschäftsberichte pro 1878 eine Abnahme der Beschwerden über wirkliche oder vermeintliche Verlezung des Art. 31 der Bundesverfassung konstatiren zu können. Allein diese Voraussezung hat sich nicht bestätigt, indem statt 38 Beschwerden dieser Art im Jahre 1878 im Laufe des Jahres 1879 deren 51 zu behandeln waren. Ueber die Gegenstände und die Art und Weise der Erledigung verweisen wir auf folgende Uebersicht: ti> g

44

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1 -- -- -- -- -- -- -- -- --

-- -- --

4

3

-- -- -- 1

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51

Im Einzelnen werden folgende Entscheide herausgehoben : a. G e w e r b e s t e u e r .

14. Die Käsehändler P a q u e t t e und V u l l i e t in Pontarlier,.

Frankreich, errichteten im Bahnhofe zu Romont, Kantons Freiburg,, eine Niederlage, von wo aus sie die in der Schweiz aufgekauften

609 Käse nach Italien und Frankreich wieder verkauften. Gestüzt auf das Freiburgische Steuergesez von 1869 wurden sie zur Bezahlung einer jährlichen Gewerbesteuer angehalten. Sie beschwerten sich dagegen unter Berufung auf Art. 31 der Bundesverfassung, auf den Niederlassungsvertrag und auf Art. 26 des Handelsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich. Die Abweisung erfolgte am 27. August 1879 mit folgender Begründung: 1) daß die von dem Einnehmer der Gemeinde Romont an die Rekurrenten erlassenen Zahlungsaufforderungen die Art der von ihnen geforderten Steuer ausdrüklieh als eine solche ,,sur le commerce et l'industrie"1 bezeichnet, somit gemäß Art. 59, Ziffer 3 und Ziffer 10 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege die Kompetenz des Bundesrathes als begründet erscheint.

2) daß nach Art. 31, litt, e der Bundesverfassung die Besteuerung des Gewerbebetriebes den Kantonen ausdrüklich vorbehalten ist, mit der einzigen Einschränkung, daß sie nicht durch ihr Uebermaß den Grundsaz der Handels- und Gewerbefreiheit selbst beeinträchtigen darf.

3) daß die Höhe der von den Rekurrenten gelorderten Steuern die Gewerbefreiheit nicht beeinträchtigt und der Art. 26 des Handelsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich von 1864 hier keine Anwendung findet, indem dieser Artikel lediglich auf die Aufnahme von Bestellungen sich bezieht.

15. Das P o l i z e i r e g l e m e n t des K a n t o n s G e n f b e t r e f f e n d die H a u s i r e r und A u s v e r k ä u f e r , von 1879, enthielt die Bestimmung, daß Personen, die seit mehr als einem Jahr im Kanton Genf niedergelassen seien, nur die Hälfte der Gebühren zu bezahlen haben, und daß das Hausirpatent nicht einen Monat übersteigen dürfe, wenn der Petent nicht seit mehr als einem Jahr im Kanton niedergelassen gewesen. Diese Bestimmungen wurden als mit Art. 45 und 31 der Bundesverfassung unvereinbar erklärt, weil alle diese Personen gleich behandelt und die verfassungsmäßigen Rechte, welche Art. 31 gewähre, Jedermann sogleich mit dem Erwerbe der Niederlassung bewilligt werden müssen. Es beginne kein anderes verfassungsmäßiges Recht erst nach einer gewissen Zeitdauer, als das Stimmrecht, was aber offenbar hier nicht in Betracht komme. 24. Januar 1879.

b. B e s t e u e r u n g der B a n k n o t e n e m i s s i o n .

16. Der Rekurs der B a n k k o m m i s s i o n der B a n k in St. G a l l e n und des V e r w a l t u n g s r a t h e s d e r T o g g e n burger-

610

b a n k in Lichtensteig ist auch von der Bundesversammlung als unbegründet erklärt worden. Bundesblatt 1878, IV, Seite 534. -- 1879, H, Seite 952 und 970. -- 1879, m, Seite 21.

17. Dagegen ist der Rekurs des V e r w a l t u n g s r a t h e s der Bank für G r a u b ü n d e n gegen das Gesez dieses Kantons, betreffend Ausgabe von Banknoten, noch nicht definitiv erledigt.

Nachdem mit Beschluß vom 2'L Februar 1879 dieser Rekurs in bedingter Weise begründet erklärt worden (Bundesblatt 1879, HI, Seite 683), erhob die Regierung von Graubünden Beschwerde bei der Bundesversammlung. Deren Behandlung wurde jedoch im Dezember vom Nationalrathe verschoben.

c. H a u s i r h a n d e l .

18. Nach einer Verordnung des K a n t o n s S c h w y z ist das Aufnehmen von Bestellungen nach Mustern als Hausirgewerbe erklärt, für welches ein Patent, bis längstens 6 Monate giltig, gelöst und eine Gebühr in der ersten Klasse von 40 bis 300 Franken bezahlt werden muß.

Ein Bürger des Kantons Aargau, welcher mit Mustern von Kleiderstoffen hausirte, wurde mit Fr. ÌOO besteuert. Er rekurrirte, weil er blos 8 Tage im Kanton Schwyz hausire.

Der Rekurs wurde am 18. Juli 1879 als unbegründet erklärt, weil die Besteuerung des fraglichen Gewerbes weder im Widerspruche stehe mit Art. 31 der Bundesverfassung, noch mit dem interpretirenden Beschlüsse der Bundesversammlung vom 28. Juni 1878 (Bundesblatt 1878, II, 892 und Amtl. S. n. F. Ili, 448). Das Gleiche sei auch der Fall mit Bezug auf die Höhe der Taxe im Spezialfalle (Bundesrathsbesehluß vom 8. Oktober 1879, Bundesblatt 1879, H, 449).

19. Ein Tuchhändler in Zürich, der gegen das gleiche Gesez des K a n t o n s S c h w y z .sich beschwerte, weil er genöthigt sei, das Patent für ein halbes Jahr zu lösen und Fr. 100 Gebühr zu bezahlen, obschon der Reisende nur zwei Bezirke des Kantons besuche und blos 3 bis 4 Wochen dazu bedürfe, wurde ebenfalls abgewiesen.

(27. Dezember 1879.)

20. Die Beschwerde der Herren D i e r a u e r und G e n o s s e n in Oberutzwyl, Kantons St. Gallen, gegen Art. 4, Ziffer 2, und Art. 16 des St. Gallischen Gesezes über den Marktverkehr und das Hausiren, in Kraft seit 13. Januar 1879, ist aus den Verband lungen in der Bundesversammlung bekannt. Es bleibt hier blos zu bemerken, daß der Entscheid des Bundesrathes vom 31. Januar

611 1879 (Bundesblatt 1879, IH, 679)-am 17. Dezember 1879 von den eidg. Räthen bestätigt wurde. Der Bericht der ständeräthlichen Kommission ist gedrukt im Bundesblatt 1879, HI, 1152.

d. W i r t h S c h a f t s w e s e n .

21. Die Beschwerde eines Berners, welchem ein Wirthschaftspatent verweigert worden war, weil seine Frau keinen guten Leumund besize, wurde abgewiesen, weil die Vorschrift in § 4 des b e r n i s c h e n G e s e z e s .über das W i r t h s c h a f t s w e s e n , daß nicht nur der Bewerber um ein Wirthschaftspatent, sondern daß auch dessen Familienangehörige in unbescholtenem Rufe stehen müssen, nicht im Widerspruche sei mit dem in Art. 31 der Bundesverfassung enthaltenen Grundsaze der Gewerbefreiheit, da sie einen rein polizeilichen Charakter habe und lediglich eine Garantie für untadelhafte Führung der Wirthschaft bezweke. (27. Dezember 1879.)

22. In .einem Entscheide vom 4. April 1879 sprachen wir uns dahin aus, daß die Vorschrift in Art. 8 der P o l i z e i v e r o r d n u n g des K a n t o n s A p p e n z e l l A./Rh. vom 20. Januar 1879, wonach die Betreibung einer Wirthschaft mit der Bekleidung einer Polizeidienerstelle unvereinbar sein soll, ebensowenig dem Grundsaze der Gewerbefreiheit widersprechen könne, als die im gleichen Artikel enthaltene Bestimmung, daß an Polizeidiener keine Jagdpatente ertheilt werden dürfen, indem hiemit nicht das Gewerbewesen geordnet worden, sondern lediglich die Bedingungen der Wählbarkeit der Polizeidiener, worüber dem Bundesrathe keine Kontrole zustehe, d$ das Polizeiwesen ausschließlich Sache der Kantone sei.

«l 23. Da in Art. 31 der Bundesverfassung Verfügungen "der Kantone über die Ausübung von Handel und Gewerben ausdrüklich vorbehalten sind, so erscheint die Handels- und Gewerbefreiheit nicht verlezt, wenn ein Kanton die Bewilligung zum Betriebe einer Wirthschaft an die Bedingung knüpft, daß die betreffende Liegenschaft in polizeilicher und sanitariscber Beziehung entsprechend gefunden werde. (3. Oktober 1879.)

24. Dagegen wurde in der Begründung eines abweisenden Entscheides der Regierung des Kantons Aargau, dahin gehend, der Rekurrent sei körperlieh zur Betreibung einer Wirthschaft nicht befähigt, es befinde sich im Dorfe schon eine genügende Zahl von Wirthschaften u. drgl., eine unzulässige Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit entgegen dem Art. 31 der Bundesverfassung gefunden. (25. Juli 1879.)

612 25. Der Rekurs des Vereins w a a d t l ä n d i s c h e r G a s t - , S p e i s e - und K a f e w i r t h e gegen unsern Entscheid vom 27. Mai 1879, betreffend die behauptete übermäßige Besteuerung ihrer Gewerbe, wurde von der Bundesversammlung am 22. Dezember 1879 als unbegründet abgewiesen. Der Entscheid ist gedrukt im Bundesblatt 1879, IH, 887.

26. Herr G ü r t l e r - G y s i n , Wirth in Basel, führte Beschwerde über einen Beschluß der Regierung von Baselstadt, durch welchen er mit seinem Gesuche um Bewilligung der Erstellung und Betreibung einer Bierwirthschaft während der Dauer des eidgenössischen Schüzenfestes in Basel auf seinem in unmittelbarer Nähe des Festplazes befindlichen Grund und Boden darum abgewiesen worden, weil bereits durch frühere Verfügungen die Erstellung von provisorischen Wirthschaftsbauten untersagt sei. Rekurrent fand hierin eine Verlezung von Art. 31 der Bundesverfassung, indem ihm die nachgesuchte Bewilligung weder aus allgemeinen Gründen der Baupolizei, noch wegen Mangels der in § 7 des baselstädtischen Wirthschaftsgesezes vom 14. November 1863 vorgeschriebenen Requisite verweigert werden könne.

Die Beschwerde wurde am 24. Juni 1879 als unbegründet abgewiesen, gestüzt auf folgende Erwägungen: 1) Durch den Art. 31 der Bundesverfassung ist zwar die Freiheit der Gewerbe im Prinzip gewährleistet, jedoch unter Vorbehalt von Verfügungen über die Ausübung derselben und mit der Beschränkung, daß durch diese Verfügungen der Grundsaz selbst nicht beeinträchtigt werden darf.

2) Die eben erwähnten Verfügungen über die Ausübung der Gewerbe liegen gemäß Art. 3 der Bundesverfassung in der Kompetenz der Kantone, indem der Art. 31 den Bundesbehörden nur die Kognition darüber zuweist, zu prüfen, ob sie die Gewerbefreiheit verlezen.

3) Im vorliegenden Falle liegt eine Verlezung des Grundsazes der Gewerbefreiheit nicht vor, weil a. die Konzession des Wirthschaftsrechtes auf dem Festplaze des eidgenössischen Schießens vor. Seite der Regierung des Kantons Baselstadt an das Festkomite unzweifelhaft in der Kompetenz der Regierung lag ; b. das Festkomite für die Uebernahme dieser Wirthschaft notorisch freie Konkurrenz eröffnete und bei der Uebertragung derselben an einen bestimmten Festwirth innerhalb der Bedingungen der Konzession handelte ;

613 c. der Ausschluß anderer Wirtschaften selbstverständlich einen Bestandtheil der Konzession an das Festkomite bildet, somit der Umstand, daß auch der Rekurrent, dem übrigens die gesezlichen Requisite nicht abgestritten werden, an die Zustimmung des Festkomites verwiesen wird, keine Beeinträchtigung verfassungsmäßiger Rechte gegenüber seiner Person zur Folge hat, zumal es nicht um die Ausübung eines bleibenden Gewerbes, sondern blos um ein ausnahmsweises Verhältniß von kurzer Dauer sich handelt.

4) Es liegt in der Natur der Organisation von Festen, welche eine große Volksmasse herbeiziehen, daß, behufs Erhaltung der guten Ordnung, besondere Polizeimaßregeln getroffen werden müssen ; die bezüglich der Ausübung des Wirthschaftswesens auf dem Festplaze oder in der unmittelbaren Umgebung des Festplazes aufgestellten Beschränkungen rechtfertigen sich somit auch durch die gegebenen Verhältnisse des Spezialfalles.

e. V e r k a u f g e i s t i g e r G e t r ä n k e .

27. H e r r A l o i s H u b e r in E s c h e n b a c h , Kantons Luzern, und Genossen beschwerten sich, daß ihre Forderungen im Konkurs des B. von Fluh, gewesenen Löwenwirths in Sächseln, für gelieferten Branntwein und andere geistige Getränke, gestüzt auf Art. 21 des Wirthschaftsgesezes des Kantons Unterwaiden o/W. vorn 22. Januar 1876, von der Masse weggewiesen worden sei, und daß sowohl das Kantonsgericht als auch der Kantonsrath diesen Artikel, in einer Weise interpretirt haben, wonach für Lieferungen der erwähnten Art im Kanton Unterwaiden o/W. kein Recht zu halten wäre.

Der Rekurs wurde am 8. Juli 1879 begründet erklärt und der Art. 21 des obwaldischen Wirthschaftsgesezes vom 22. Januar 1876 im Sinne der folgenden Erwägungen aufgehoben : 1) Der Art. 21 des Wirthschaftsgesezes des Kantons Unterwaiden o/W., welcher lautet : ,,Bezüglich aller Forderungen für ^Branntwein und andere gebrannte Wasser wird kein Rechtsschuz ,,gewährt", hat durch Urtheil des Obergerichtes vom 4. November 1878 und durch Beschluß des Kantonsrathes vom 3. März 1879 die Interpretation erhalten, daß bezüglich aller Forderungen für Branntwein und andere gebrannte Wasser ohne Unterschied kein Rechtsschuz gewährt werde, und daß auch Forderungen, welche aus dem Großhandel mit Spirituosen, aus Lieferungen von größern Quantitäten, in Fässern, an Wirthe, Spirituosenhändler u. s. w.

herrühren, unter die erwähnte Rechtsregel gestellt werden.

Bundesblatt. 32. Jahrg. Bd. U.

.

41

614

2) Es ist einleuchtend, daß eine so weit gehende Rechtsverweigerung den Handel, speziell das Kreditgeschäft mit Spirituosen, wenn nicht verunmöglicht, doch in hohem Grade erschwert und beeinträchtigt und deßhalb mit dem Prinzipe der Handelsfreiheit im Sinne von Art. 31 der Bundesverfassung im Widerspruche steht.

3) Der obwaldischen Gesezgebung bleibt immerhin vorbehalten, für die Ausübung des Wirthschaftsgewerbes und für den Kiemverkauf von. Branntwein und andern Spirituosen die angemessenen Vorschriften aufzustellen.

f. S a l z r e g a l .

28. Die Beschwerde der Herren W e l t e r und F o r s t e r in H a u p t w e i l , Kantons Thurgau, gegen einen Beschluß der Regierung dieses Kantons, womit ihnen untersagt wurde, Abgangsalz als Dunger aus den Salinen direkt zu beziehen, wurde am 4. April 1879 abgewiesen, weil gemäß Art. 31 der Bundesverfassung die Kantone befugt seien, den Salzhandel als Regal zu behandeln, und weil ihnen somit auch zustehen müsse, den Umfang des Regales innerhalb der Schranken der Bundesverfassung festzustellen und für die Vollziehung die nöthigen Vorschriften zu erlassen. Im vorliegenden Falle sei aber eine unstatthafte Ausdehnung des Regals nicht vorhanden.

g. A u s w a n d e r u n g s a g e n t u r .

29. In Anwendung eines Dekretes des Kantons Bern vom Jahr 1852 wurde der Auswanderungsagent Hr. W i r t h - H e r z o g in Aarau von dem Polizeirichter des Amtes Thun zu einer Buße von Fr. 200 verurtheilt, weil er eine Einladung zur Auswanderung nach Queensland und Südaustralien in das Emmenthaler Blatt hatte einrüken lassen. Er verlangte im Beschwerdewege die Aufhebung jenes Dekretes und des Urtheils, wurde jedoch abgewiesen, in Erwägung : 1) daß das in Art. 34 der Bundesverfassung über den Geschäftsbetrieb der Auswanderungsagenten vorgesehene eidg. Gesez, zur Zeit noch nicht erlassen ist, somit gemäß Art. 2 der Uebergangsbestimmungen zur Bundesverfassung in der vorliegenden Materie das kantonale Gesez in Kraft fortbesteht und anzuwenden ist; 2) daß der Grundsaz der Handels- und Gewerbefreiheit nach Art. 31 der Bundesverfassung durch den Entscheid des Polizeirichters von Thun, vom 26: Dezember 1878, nicht als verlezt

615

erscheint, weil der zitirte Verfassungsartikel den Kantonen die Aufstellung von Vorschriften über Ausübung deï Gewerbe ausdrüklich einräumt, und weil anderseits die Vorschrift, wegen deren Uebertretung der Rekurrent gestraft wurde, nicht als eine absolut verbietende, sondern lediglich als eine Kontrol-maßregel aufzufassen ist, welche zum Schuze gegen Täuschungen des Publikums dienen soll. (28. Oktober 1879.)

h. S c h m i e d e g e w e r b e .

: 30. Gestüzt auf Art. 138 des Gemeiiidegesezes des Kantons Freiburg , wonach der Gemeinderath darüber zu wachen hat, daß Fabriken und Werkstätten , welche einen ungesunden oder unangenehmen Geruch verbreiten, in angemessene Entfernung von Wohnungen verlegt, oder wenn dies nicht der Fall ist, die darin zu verrichtenden Arbeiten so ausgeübt werden, daß sie den Nachbarn keine Unannehmlichkeiten oder Schaden verursachen, sowie daß die lärmenden Werkstätten in abgelegene Quartiere verlegt werden, wurde dem Hrn. F a s e l in Freiburg die Errichtung einer Baute behufs Herstellung einer Schmiede untersagt. Sein Rekurs wurde ebenfalls unbegründet erklärt, indem wir fanden, daß eine solche Vorschrift innerhalb der durch Art. 31 der Bundesverfassung den Kantonen vorbehaltenen Kompetenzen zu Verfügungen über die Ausübung der Gewerbe bleibe, und daß damit das Prinzip der Gewerbefreiheit nicht verlezt werde, sowie daß die Frage, ob im Spezialfalle dieses kantonale Gesez richtig angewendet worden sei oder nicht, den kantonalen Behörden zum Entscheide zustehe , indem die Vollziehung der ' kantonalen Geseze j die mit der Bundesverfassung nicht im Widerspruche stehen, in der Kompetenz der Kantone liege.

i. P a t e n t e n .t z u g.

31. Ein f r e i b u r g i s c h e r A d v o k a t wurde im Jahr 1872 wegen Angriffes auf die Schamhaftigkeit zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt und in Folge dessen von der Liste der Advokaten gestrichen, indem gemäß Art. 30 des Strafgesezbuches des Kantons Freiburg mit dieser Strafart stets auch der Verlust der bürgerlichen Rechte verbunden ist. Im Jahre 1879 wurde er zwar von dem Kantonsgerichte wieder in den vollen Besiz der bürgerlichen und politischen Rechte eingesezt, allein der Staatsrath weigerte sich, ihn auch wieder in die Advokatenliste einzutragen. Er beschwerte sich gestüzt auf Art. 2, 4, 5, 31 und 33 der Bundesverfassung und gestüzt auf die Gesezgebung des Kantons Freiburg, wonach er mit der Rehabilitation auch das Recht zur Ausübung seines Berufes erhalten habe.

616

Diese Beschwerde wurde, soweit sie auf die Art. 31 und 33 der Bundesverfassung sich bezog, abgewiesen. Gründe: ' 1) Die Betreibung des Advokatenberufes fällt nicht unter den Begriff von Handel und Gewerbe, deren Freiheit in Art. 31 der Bundesverfassung von Bundeswegen gewährleistet ist. Nach Art. 33 der Bundesverfassung sind die Kantone vielmehr berechtigt, einen Ausweis über die Befähigung zu verlangen, und in Abgang entgegengesezter Bundesvorschriften können dieselben auch weitere Bedingungen feststellen, welche die Eigenthümlichkeit des Advokatenberufes und dessen Beziehungen zur staatlichen Organisatioû als nöthig erscheinen lassen. .Wenn daher die Gesezgebung des Kantons Freiburg für die Ausübung dieses Berufes den Besiz eines unbescholtenen Leumundes fordert, so ist eine solche Vorschrift nicht bundesrechtswidrig. Ueber die Frage aber, -ob der Rekurrent kraft der ihm ertheilten Rehabilitation dieser Forderung genüge, steht der Entscheid lediglich, den kantonalen Behörden zu.

2) Soweit die Beschwerde auf die Art. 2, 4 und 5 der Bundesverfassung und auf Verfassung und Gesezgebung des Kantons Freiburgi sich bezieht, ist dieselbe gemäß Art. 59, litt, a des Bundesgesezeg über die Organisation der Bundesrechtspflege an das Bundesgericht zu adressiren.

32. Dem P l a z i r u n g s a g e n t e n M e y e r in Lausanne wurde das Patent entzogen, weil er und dessen Frau wegen Vertrauensmißbrauches zum Nachtheile eines Dienstmädchens bestraft worder waren. Seine Beschwerde wurde am 8. August 1879 abgewieser mit folgender Begründung: 1) Art. 31 der Bundesverfassung gewährleistet die Gewerbe freiheit nicht in unbedingter Weise, sondern sieht polizeiliche Ver fügungen über die Ausübung von Gewerben vor. Die waadtländisch< Gesezgebung ist daher ermächtigt, für die Ausübung des Gewerbei der Plazirung von Dienstboten gewisse persönliche Garantien zi verlangen.

2) Nachdem nun durch definitives gerichtliches Urtheil konstatir ist, daß der Rekurrent gerade in seinem Plazirungsgeschäfte de Gehilfenschaft bei einem Vertrauensmißbrauche sich schuldig gemach hat, so befindet er sich nicht mehr im Falle, die Bedingungen zi ·erfüllen, welche das Gesez des Kantons Waadt für die Ausübung diese Gewerbes aufstellt. Das hiefür nöthige Patent ist ihm daher mi Recht entzogen worden.

617 k. B e s c h r ä n k u n g der Gewerbefreiheit.

33. F ü r s t Y o u s s o u p o f f , wohnhaft in Nyon, wurde vom Präfekten zu einer Buße von 50 Fr. verfällt, weil er im Widerspruch mit einem Beschlüsse des Staatsrathes des Kantons Waadt vom 4. September 1877, betreffend Maßnahmen zur Verhütung der Phylloxéra, Obstbäume uiid Sträucher aus Frankreich auf seine Liegenschaften eingeführt hat. Sein Rekurs wurde von dem Polizeigericht zu Nyon materiell begründet gefunden, aber wegen Nichtbeachtung der gesezlichen Rekursfrist als verspätet abgewiesen.

Unter Berufung auf Art. 31 und 69 der Bundesverfassung verlangte er die Aufhebung der Buße .vom Bundesrathe.

Mit Beschluß vom 8. Juli 1879 wurde diese Beschwerde abgewiesen mit folgender Begründung: Der in Art. 31 der Bundesverfassung enthaltene Grundsaz der Handels- und Gewerbefreiheit kommt hier nicht in Frage, indem der Rekurrent nicht in der Ausübung eines Handelsgeschäftes oder eines Gewerbes beeinträchtigt wurde; vielmehr handelt es sich lediglich um die Vollziehung einer kantonalen Polizeiverordnung, resp. um die Frage des Fortbestandes einer solchen. Der Umstand, daß Art. 69 der Bundesverfassung dem Bunde die Gesezgebung betreffend Verfügungen gegen gemeingefährliche Epidemien zuweist, kann ebenfalls nicht in Betracht kommen, indem der Bund selbst ein dicßfälliges Gesez bis jezt noch nicht erlassen hat, und überdioß durch den Bundesbesehluß vom 21. Februar 1878 und das Vollziehungsreglement des Bundesrathes vom 18. April 1878 (A. S.

.n. F. III, 337 und Bundesbl. 1878, II, 535) die Kantone zum Erlaß von Verfügungen der in Frage stehenden Art besonders ermächtigt worden sind. Uebrigens können die Bundesbehürden sich nicht in den Gang des kantonalen Gerichtsverfahrens einmischen und die Folgen der Versäumniß von Präclusivfristeu aufheben.

34. Am 25. Februar 1877 wurde B e r u h a r d Cav o r z a s i o in C o l d r e r i o , Kantons Tessin, zum Mitglied e des Geineiiiderathes gewählt. Diese Wahl wurde jedoch kassirt, weil Caverzasio den Beruf eines Bakers betreibe und deßhalb gemäß Art. 46, litt, e, des Tessinischen Gemeindegesezes nicht wahlfähig sei. Herr Caverzasio rekurrirte, weil die Art. 4 und 31 der Bundcsverfassung verlezt seien. Der Bundesrath wies jedoch am 8. Juli 1879 den Rekurs ab im Sinne der folgenden Erwägungen : 1) Wenn Art. 46,
litt, e, des tessinischen Gesezes über die Gemeindeorganisation, vom 13. Juni 1854, eine Inkompatibilität zwischen dem Amte eines Gemeinderathsmitgliedes und dem Berufe

618 eines Bakers aufstellt, so geschieht dieses nicht aus rein willkürlichen Gründen, sondern mit Rüksicht auf die Kontroikompetenzen der Gemeinderäthe über das Bäkergewerbe. Durch die von dem Bundesrathe bei früheren Anläßen ausgesprochene Unzuläßigkeit einer Mehlund Brodtaxe wird dieses Kontrollrecht nicht berührt; vielmehr ist damals anerkannt worden, daß eine amtliche Kontrole über Qualität und Gewicht des Brodes nicht ausgeschlossen sei.

2) Art. 31 der Bundesverfassung, welcher hier vornehmlich in Betracht fällt, erscheint nicht als verlezt, weil der Rekurrent an der Ausübung des Bäkerberufes in keiner Weise gehindert wird.

Auf der andern Seite darf aber dieser Gesichtspunkt auf die Organisalion der Gemeindebehörden nicht einwirken und den Gese7gebcr auch nicht verhindern, gewisse positive oder negative Eigenschaften oder Garantien von den zu wählenden Genieindebeamten zu verlangen.

3) Immerhin mag der Staatsrath in Erwägung ziehen, ob zur Zeit, nachdem die Taxation der Brod- und Mehlpreise durch die Gemeinderäthe weggefallen ist, die weitere Festhaltung der durch Art. 46, litt, e, des Tessiner Gesezes vom 13. Juni 1854 aufgestellten Inkompatibilität noch gerechtfertigt sei.

5. Glaubens- und Gewissensfreiheit.

3 5 . J o h . H e r z o g , P f a r r e r i n G a n s i n g e n , Kantons Aargau, wurde von dem Regierungsrathe des Kantons Aargau mit einem ernstlichen Verweise und mit einer Ordnungsbuße von Fr. 50 bestraft, weil er bei der Beerdigung des Georg Zumsteg von Gansingen die Exequien unterlassen hatte.

Er rekurrirte an den Bundesrath, weil er durch den Zwang, kirchliche Gnadenmittel da zu spenden, wo er deren Ertheilung mit den kirchlichen Vorschriften im Widerspruche erachte, in seiner Gewissensfreiheit beeinträchtigt werde. Auch seien die Exequien durch kein staatliches Gesez vorgeschrieben.

Der Bundesrath wies jedoch am 1. März 1879 die Beschwerde aus folgenden Gründen ab : 1) Die Aufsicht über das Kirchenwesen liegt in der Souveränetät der Kantone; die Bundesbehörden sind daher in der Regel nicht kompetent, in die Ausübung, derselben durch die kantonalen Behörden gegenüber von Kirchendienern und Inhabern von Pfarreien sich einzumischen.

2) Eine solche Einmischung wäre nur statthaft, wenn verfassungsmäßige Grundsäze verlezt worden wären. Dieses ist jedoch hier

619 nicht der Fall, indem dadurch, daß ein Pfarrer angehalten wird, die ihm gemäß seinem Amte obliegenden üblichen Beerdigungsfeierlichkoiten zu halten, die verfassungsmäßig gewährleistete Gewissensfreiheit nicht verlezt wird, zumal aus der Erklärung der Regierung von Aargau bestimmt hervorgeht, daß die Abhaltung von Exequien auf Verlangen allerdings mit zu den Pflichten der Geistlichen der aargauischen katholischen Staatskirche gehört.

36. Dagegen wurde der Rekurs des Jos. R o h n e r , P f a r r e r in K l i n g n a u , gegen einen Entscheid der Regierung des Kantons Aargau, wodurch ihm ein ernstlicher Verweis ertheilt und eine Ordnungshuße von Fr. 50 aufgelegt wurde, weil er sich geweigert hatte, dem Thierarzt Keller in Klingnau, der sich selbst entleibt hatte, eine kirchliche Beerdigung angedeihen zu lassen, mit Beschluß vom 4. Juli als begründet erklärt und der bezügliche Entscheid der Regierung des Kantons Aargau aufgehoben.

°Hr. Rohner hatte geltend gemacht, es stehe außer allem Zweifel, daß Keller vorsäzlich und in zurechnungsfähigem Zustande sich getödtet habe. Die vorsäzlichen Selbstmörder seien aber laut Vorschrift der katholischen Kir.che von dem kirchlichen Begräbnisse ausgenommen. Außerdem habe Keller die Religion und den christlichen Glauben in unerhörter Weise verhöhnt. Auch habe die Ehefrau Keller seine Mitwirkung nicht begehrt, und die Kirchenpflege sei mit seinem Vorgehen einverstanden gewesen. Hierdurch habe er weder eine kantonale noch eine eidgenössische Gesezesvorschrift verlezt.

Die Regierung des Kantons Aargau berief sich darauf, daß es im Kanton Aargau zu den ordentlichen amtlichen Funktionen der Pfarrgeistlichen gehöre, zur schiklichen Beerdigung aller Verstorbenen mitzuwirken. Auch habe Rekurrent schon wiederholt bei der Beerdigung von Selbstmördern mitgewirkt.

Der Beschluß des Bundesrathes stüzt sich auf folgende Motive: 1) Der Rekurrent hat allerdings als ein in der aargauischen Staatskirche angestellter Pfarrer alle diejenigen kirchlichen Funktionen zu verrichten, welche ihm sein Amt überbindot, und es sind im Unterlassungsfalle gemäß der aargauischen Kirchenorganisation der Kirchenrath und in zweiter Instanz der Regierungsrath zuständig, gegen den fehlbaren Geistlichen einzuschreiten.

2) Allein es besteht keinerlei Verordnung oder bestimmte Vorschrift, daß die
Geistlichen den Leichenbegängnissen von Selbstmördern beizuwohnen haben. Die Verordnung des Regierungsrathes des Kantons Aargau vom 23. Januar 1833 Tautet lediglich dahin,

620 daß Leichname von Selbstmördern auf den gewöhnlichen Begräbuißpläzen beerdigt werden sollen.

Der Regierungsrath leitet sowohl in der Motivirung seiner Schlußnahme als auch in seinem Berichte über den Rekurs die Verpflichtung der Geistlichen, an Leichenbegängnissen von Selbstmördern zu assistiren, aus dem Art. 53 der Bundesverfassung ab; allein dieser Artikel ist weit davon entfernt, nur die Beerdigung unter kirchlicher Assistenz als eine schikliche zu erklären, gegentheils stellt er die Verfügung über die Begräbnißpläze unter die b ü r g e r l i c h e n Behörden und macht d i e s e n zur Pflicht, dafür zu sorgen, daß jeder Verstorbene schiklich beerdigt werde.

3) Nachdem somit für den Rekurrenten keine Amtspflicht bestand, an dem Leichenbegängniß des Thierarztes Keller kirchliche Funktionen zu verrichten, fällt die Beurtheilung seiner Handlungsweise unter den Gesichtspunkt des Art. 49 der Bundesverfassung, wonach niemand zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen werden darf.

37. J o h a n n H e r i von Nieder-Gerlafingen, Solothurn, trug vor: Durch Verordnung vom 26. September 1876 habe der Regierungsrath des Kantons Solothurn in den dortigen Primarschulen einen sog. konfessionslosen Religionsunterricht als obligatorisches Lehrfach eingeführt. Dieser Unterricht finde in Nieder-Gerlafingen je am Mittwoch und Samstag von 8 bis 9 Uhr Vormittags statt.

Da jedoch der Lehrer hiebei Ansichten geäußert habe, die mit seinen (des Petenten) religiösen Anschauungen im Widerspruch stehen, so habe er seinen Knaben Felix jeweilen erst um ü Uhr in die Schule geschikt. Der Lehrer habe jedoch den Knaben regelmäßig zurükgewiesen und ihn für den betreffenden Tag als ,,unbegründet abwesend" notirt. Wegen 33 solcher Schulversäumnisse während des Winters 1876 auf 1877 sei Rekurrent von dem Friedensrichter von Nieder-Gerlafingen in Anwendung von § 11 des solothurnischen Schulgesezes in mehreren Malen zusammen zu Fr. 92 Buße verurtheilt worden. Er habe indeß weder bei der Regierung, noch bei dem Großen Rathe Gehör gefunden. Joh. Heri "stellte das Gesuch, daß die fraglichen Urtheile, weil den Art. 27 und 49 der Bundesverfassung widerstreitend, aufgehoben werden möchten.

Die Regierung von Solothurn ergänzte die thatsächlichen Verhältnisse dahin, daß ein großer Thëil der Bestrafungen wirkliche Schulversäumnisse
an den Freitagen betreffe, wo der Knabe Heri statt die Schule, in welcher an diesen Wochentagen k e i n Religionsunterricht ertheilt werde, den konfessionellen Religionsunterricht des römisch-katholischen Pfarrers in Kriegstetten besucht habe, und

621 daß Rekurrent seinen Knaben seit Beginn des Sommerhalbjahres 1877 zu dem nämlichen Lehrer in den konfessionslosen Religionsunterricht geschikt habe, ohne eine Klage vorzubringen.

Der Bundesrath zog am 26. April 1879 in Betracht: 1) Art. 49 der Bundesverfassung, auf den sich Rekurrent beruft, schreibt ausdrüklich vor: ,,es dürfe Niemand zur Theilnahme ,,an einer Religionsgenossenschaft oder an einem religiösen UnterDichte oder zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen ,,oder wegen Glaubensansichten mit Strafe irgend welcher Art ,,belegt werden"; und ferner: ,,Ueber die religiöse Erziehung der Kinder bis zum ,,erfüllten 16. Altersjahre verfügt im Sinne vorstehender Grundsäze der Inhaber der väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt.

2) Die Handlungen, welche dem Rekurrenten zur Last gelegt werden, und für die er auch in Strafe genommen worden ist, sind sonach nicht als Widersetzlichkeiten gegen begründete Verfügungen der kantonalen Behörden aufzufassen, sondern lediglich die Geltendmachung des im vorstehend zitirten Verfassungsartikel garantirten Rechtes, die religiöse Seite der Kindererziehung vom Standpunkte der väterlichen Gewalt aus zu leiten und zu regeln.

3) Von diesem Standpunkte aus war Rekurrent nicht zu einer Strafe heranzuziehen, wenn er seine Kinder nicht an einem religiösen Unterricht theilnehmen lassen wollte, welcher mit seiner, des Vaters, Ueberzeugung im Widersprüche stand.

Gestüzt auf diese Erwägungen erklärte der Bundesrath den Rekurs für begründet und die entgegenstehenden Verfügungen der kantonalen Behörden, soweit sie wirklich unter den Gesichtspunkt des Rekurses fallen, als aufgehoben.

38. Die G e m e i n d e B ö s i n g e n hatte im Jahr 1875 in Anwendung der Bestimmungen des Dekrets des Staatsrathes von Freiburg vom 25. Januar 1875 die Errichtung eines neuen Friedhofes beschlossen, weil der alte zu klein geworden war. Zu diesem Zweke wurde der allseitig als günstig gelegen erkannte Fuhra-Aker angekauft. In Folge von Verhandlungen mit der p r o t e s t a n t i s c h e n S c h u l g e m e i n d e F end r i g e n , einer Abtheilung der Gemeinde Bösingen, sollte ein Theil desselben als öffentlicher Friedhof dienen, der übrige Theil aber den Angehörigen der reformirten Konfession zur alleinigen Benuzung eingeräumt werden. Indeß ließ sich über die Theilung eine Einigung nicht erzielen ; es wurde daher am 5. August 1877 der ganze neue Friedhof von den Gemeindebehörden von Bösingen als öffent-

622 lieber Friedhof erklärt, welchen Beschluß der Staatsrath am 19. November 1877 genehmigte. Im Jahr 1878 wurde dann der alte Friedhof von der römisch-katholischen Korporation käuflich erworben und als Privatfriedhof benuzt. Auch dieser Kauf wurde gemäß den Bestimmungen des oberwähnten Dekretes vom 25. Januar 1875 der Genehmigung des Staatsrathes unterbreitet und von demselben am 22. Juni 1878 gutgeheißen. Gegen diese Verfügungen wandte sich die réformiste Schulgemeinde Fendrigen an den Staatsrath, und nachdem dieser die Beschwerde abgewiesen, im Rekurswege an den Bundesrath, indem sie hauptsächlich geltend machte, daß insofern ein neuer öffentlicher Friedhof erstellt, der alte aber der römisch-katholischen Korporation als Eigenthuin zugeschrieben wilrrle, dieses bei Anwendung von Art. 11 der Verordnung vom 25. Januar 1875 (laut welchem die Aufnahme in die Privatfriedhöfe von dem Willen der Konzessionsinhaber abhängt) zur Folge hätte, daß Konfessionslose, Juden, Selbstmörder u. s. w., nicht nur mit den Protestanten auf dem gleichen Friedhofe, sondern auch in Reih und Glied mit denselben beerdigt werden müßten. Hierin liege eine Verlezung des Art. 53 der Bundesverfassung, sowie der im Kreisschreiben des Bundesrathes an die Kantonsregierungen vom 4. Januar 1875 betreffend das Begräbnißwesen enthaltenen Grundsäze.

Der Staatsrath von Freiburg bemerkte, daß die Einräumung des alten Friedhofes an die römisch-katholische Korporation in Anwendung der von dem Bundesrathe und der Bundesversammlung genehmigten Verordnung vom 25., Januar 1875 erfolgt sei, und deßhalb von einer Verlezung des Art. 53 der Bundesverfassung nicht die Rede sein könne.

Der Bundesrath beschloß am 18. Juli 1879: Der Artikel 11 der Verordnung vom 25. Januar 1875 wird aufgehoben und der Rekurs im Uebrigen als unbegründet abgewiesen.

Die seinem Entscheide zu Grunde gelegten Erwägungen lauten: 1) Der Art. 53 der Bundesverfassung stellt die Begräbnißpläze unter die Verfügung der bürgerlichen Behörden, welche dafür zu sorgen haben, daß jeder Verstorbene schiklich beerdigt werde.

2) Aus diesem Saze kann die Forderung nicht abgeleitet werden, daß alle in einer Gemeinde Verstorbenen auf dem g l e i c h e n Begräbnißplaze beerdigt werden müssen , und daß die Anlage von Privatfriedhöfen unstatthaft sei. (Vergleiche die Botschaft des Bundesrathes
vom 24. Mai 1875 im Bundesblatt 1875, Bd. III, S. 4 ff.)

3) Die Grundsäze des Bundesrechtes werden somit dadurch nicht verlezt, daß in der Gemeinde Bösingen em neuer öffentlicher

623

Begräbnißplaz angelegt und der alte Pfarreikirchhof gegen Entgelt an die katholische Kirchgenossenschaft zum Zweke der Anlage eines Privat-, resp. Korporationsfriedhofes abgetreten wird.

4) Dagegen stellt der Art. 53 der Bundesverfassung die Begräbnißpläze i m A l l g e m e i n e n unter das Verfügungsrecht der bürgerlichen Behörden, ohne irgendwelche Ausnahmen zu bezeichnen.

Daraus muß gefolgert werden, daß die bürgerlichen Behörden unter allen Umständen befugt, seien, vom polizeilichen und sanitarischen Standpunkte aus, oder hinsichtlich der Art und Weise der Leichenbestattung. oder gegen unzuläßige und Aergerniß erregende Ausschließungen oder Ausscheidungen a u c h boi P r i v a t - und O O · K o r p o r a t i o n s - Friedhöfen einzuschreiten. Dieser Vorbehalt ist um so notwendiger, wenn, wie im vorliegenden Falle, der Gebrauch der Privatanlage verallgemeinert und der großen Mehrheit der Gemeindeeinwohner zugänglich gemacht werden soll.

O o ö 5) Mit den eben entwikelten Grundsäzen steht nun der Art. 11 der freiburgischen Verordnung vom 25. Januar 1875, betreffend Friedhofpolizei, wonach die Aufnahme und die Erlaubniß zu den Beerdigungen in Privat- und Korporationsfriedhöfen den Konzessionsinhabern zustehen und im Falle einer Verweigerung die Beerdigung auf den öffentlichen Friedhuf vorwiesen würde, nicht in Uebereinstimmung ; derselbe kann somit bundesrechtlich nicht gutgeheißen werden. Vielmehr bleibt f ü r den S p e z i a l f a l l die Berufung an die bürgerlichen Behörden vorbehalten.

39. Ein mit dem vorangehenden ganz gleicher Rekurs lag auch v o n d e n r e f o r m i r t e n E i n w o h n e r n i n d e r G e m e i n d e U e b e r s t o r f , Kantons F r e i b u r g , vor, welche sich ebenfalls beschwerten, daß der Staatsrath dieses Kantons eine Ausscheidung von zwei Kirchhöfen in der Gemeinde Ueberstorf zugelassen habe. Diese Gemeinde kaufte nämlich im Jahr 1877 ein Grundstük, genannt ,,die Würri, behufs der Anlage eines o f f e n tl i e h e n Kirchhofes. Später verkaufte die Gemeinde den alten Kirchhof an die römisch-katholische Korporation behufs eines P r i v a t kirchhofes für die Angehörigen dieser Korporation. Die reformirten Einwohner beschwerten sich, weil in dieser Weise den Protestanten ein Kirchhof bliebe, in den auch alle andern Todten aufgenommen werden müßten, welche die
Katholiken nicht neben ihren im wahren Glauben gestorbenen Religionsgenossen dulden wollten. Diese Beschwerde wurde gleichzeitig an das Bundesgericht und an den Bundesrath adressirt. Das erstere erklärte sich inkompetent mit Entscheid vom 16. November 1878 (Amtliche Sammlung dieser Entscheide, Band IV, S. 572). Wir unsererseits erledigten

624 diesen Rekurs am 18. Juli 1879 im gleichen Sinne, wie denjenigen der reformirten Schulgemeinde Fendrigen.

40. Der Rekurs der Munizipalitäten L u g a n o , B e l l i n z o n a und a n d e r e r G e m e i n d e n , s o w i e mehrerer Vereine u n d z a h l r e i c h e r B ü r g e r d e s K a n t o n s T e s s i n gegen das vom Großen Rathe dieses Kantons am 25. Januar 1879 angenommene Gesez, womit die Aufnahme neuer Ordensglieder in die Kapuzinerklöster gestattet wird, ist am 31. Oktober 1879 dahin erledigt worden, daß der Staatsrath des Kantons Tessin eingeladen wurde, dafür Sorge zu tragen, daß die Niederlassung landesfremder Kapuziner in den tessinischen Klöstern und Stationen unterbleibe, widrigenfalls der Bundesrath die Handhabung des Art. 51, Absaz 2 der Bundesverfassung beantragen würde. -- Mit Rüksicht auf die Wichtigkeit dieser Angelegenheit und auf dio Zahl der Beschwerdeführer ist dieser Entscheid in extensogedruktt und in das Bundesblatt (1879, III, 625) aufgenommen worden.

Uebrigens ist zu bemerken, daß die Munizipalität der Stadt Lugano gegen diesen Entscheid an die Bundesversammlung rekurrirt hat.

41. Nachdem in öffentlichen Blättern mit einer gewissen. Beharrlichkeit mitgetheilt worden, daß seit einiger Zeit im K a n t o n Freiburg Jes uiten in S c h u l e und Kirche thätig seien, ersuchte das Justiz- und Polizeidepartement gegen Ende August 1879 den Staatsrath des Kantons Freiburg, unter Hinweisung auf Artikel 51 der Bundesverfassung, um Bericht über die thatsäch liehe Richtigkeit jener Angaben. Dieser Bericht ging dahin: Die Jesuiten haben keinerlei Niederlassung im Kanton Freiburg; sie besizen daselbst kein Grundeigenthu ; sie können keine Gemeinschaft gründen und verrichten auch gar keine religiösen oder erzieherischen Funktionen. Mit Bezug auf den leztern Punkt wurde die Erläuterung beigefügt, daß von den im Jahr 1847 aus Freiburg ausgewiesenen Jesuiten eine gewisse Zahl Freiburger gewesen seien. Sie haben sich nach der Provinz ihres Ordens in Deutschland gewendet.

Nachdem in Folge der neuern Ereignisse in Deutschland ihre Provinz aufgelöst und die fremden Priester ausgewiesen worden, seien die Einen auf fremde Missionen verreist und Andere, wovon die meisten invalid, seien in ihre Heimat zurükgekehrt und in die Weltgeistlichkeit eingetreten. In dieser Weise befinden sich
drei alte Jesuiten, Bürger des Kantons Freiburg, seit vielen Jahren als einfache Weltgeistliche im Kanton; sie erklären, daß sie keinerlei Beziehungen zum Orden mehr haben und nur dem Diozesanbischof unterstellt seien. Der Eine, ein Greis von 76 Jahren, zu kirchlichen Funktionen unfähig, sei vom Bischöfe selbst in den bischöflichen O

ö

625 Palast aufgenommen worden ; der Zweite sei in Würdigung seines Alters vom Bischof als geistiger Direktor und Verwalter des Klosters der Bernhardinerinnea Fille-Dieu bei Romont ernannt worden, und der Dritte sei Almosuer der St. Ursulinerinnen. Leztere halten zwar ein Mädchenpensionat und eine von etwa 60 Kindern besuchte Primarschule, allein der Religionsunterricht sei der gleiche wie derjenige in den Religionsstunden der Pfarrei; die Lehrerinnen seien alle patentirt und ihre Schulen seien den kantonalen Gesezen und Reglementen, sowie derUeberwachung des Kreisinspektors, unterstellt Mit Rüksicht auf diese bestimmten Erklärungen der Regierung des Kantons Freiburg nahmen wir einstweilen Umgang von weitern Maßnahmen.

6. Stimmrecht und Wahlangelegenheiten.

42. Die Herren Großrath N i k i a u s F r e y in Ettisxvyl, Kantons Lftizern, und Genossen erhoben Einsprache gegen die Giltigkeit der Bezirksrichter- und Friedensrichterwahlen vom Jahre 1877 in dem B e z i r k e W i l l i s a u und speziell in der Gemeinde Willisau-Land, weil die Herren Jos. Peter, Gemeindepräsident, Franz Meier, Gemeindeammann und Longin Korner, Gemeindeschreiber, das Bureau gebildet und mitgestimmt haben, während sie in dieser Gemeinde weder stimm- noch wahlfähig seien, da sie nicht in Willisau-Land, sondern in der Gemeinde Willisau-Stadt wohnen. Aus dem gleichen Grunde wurde auch die Wahl des genannten Hrn. Jos. Peter zum Bezirks(Orts-) Richter, sowie zum Friedensrichter für den Kreis WillisauLand angestritten.

Der Große Rath des Kantons Luzern wies diese Einsprachen ab, indem er in Betracht zog: ,,daß die Herren Peter, Meier und Körner in ihrer Stellung als Mitglieder des Gemeinderathes laut Vorschrift des Organisationsgesezes verpflichtet gewesen seien, bei der Leitung der Gemeindeversammlung von Willisau-Land theilzuaehmen; ,,daß Verfassung und Geseze zwar die Wählbarkeit zum Ortsuud Friedensrichter an die Stimmberechtigung knüpfen; ,,daß aber die Verhältnisse der Gemeinden Willisau-Stadt und Willisau-Land ganz außerordentliche seien, indem jene vollständig von lezterer umgeben sei, resp. als natürlicher Mittelpunkt erscheine und von jeher als Amtssiz der Gemeinde Willisau-Land betrachtet worden sei; ,,daß nachgewiesenermaßen seit mehr als einem halben Jahrhundert, und selbst auch unter der neuen Verfassuug (von 1875)

626 solche Wahlen von Beamten, die nicht in der Gemeinde selbst, sondern in Willisau-Stadt gewohnt, getroffen worden seien, ohne daß Jemand dagegen Beschwerde erhoben habe.

Im Uebrigen anerkannte der Große Rath als zwekrnäßig, diesen Widerspruch zwischen den natürlichen Verhältnissen und dem Geseze zu lösen, und beauftragte in Dispositiv II des gleichen Dekretes vom 29. Mai 1878 den Regierungsrath, ihm Bericht und Antrag zu bringen, in welcher Weise die Stimmrechts- und Steuerverhältnisse in den Gemeinden Willisau-Stadt und Willisau-Land . definitiv geordnet werden können.

Der Bundesrath wies am 4. Februar 1879 den Rekurs ab im Sinne der folgenden Erwägungen : 1) Gemäß Art. 59, Lemma 2, Ziffer 9 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege sind Beschwerden gegen die Giltigkeit k a n t o n a l e r W a h l e n und Abstimmungen als Administrativstreitigkeiten erklärt, deren Erledigung nach Blaßgabe von Art. 85, Ziffer 12 und Art. 102, Ziffer 2 der Bundesverfassung in die Kompetenz des Bundesrathes, beziehungsweise der Bundesversammlung gelegt ist.

2) Gemäß §§ 88 und 89 der Verfassung des Kantons Luzern sind diejenigen Kantonsbürger und niedergelasseneu Schweizerbürger in Gemeindeangelegenheiten stimmberechtigt und wahlfähig, welche seit drei Monaten in der Gemeinde wohnen und die Requisite der kantonalen allgemeinen Stimmfähigkeit besizen.

3) Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß die Herren Peter, Meier und Korner die allgemeine Stimmfähigkeit besizen, dagegen muß auch ohne weiteres zugegeben werden, daß sie der zweiten Forderung der Verfassung in der Gemeinde Willisau-Land nicht genügen, weil sie nicht in dieser Gemeinde, sondern in der Gemeinde Willisau-Stadt wohnen.

4) Nachdem dessenungeachtet im Juni 1875 bei den gemäß § 89 der neuen Verfassung des Kantons Luzern stattgefundenen Erneuerungswahlen Herr Peter als Gemeinderathspräsident, Herr Meier als Gemeindeammann uud Herr Körner als Gemeindeschreiber von Willisau-Land für eine neue Amtsdauer von vier Jahren gewählt und seither allseitig in den diesen Aemtern zukommenden Funktionen anerkannt worden sind, war es ganz hiermit übereinstimmend und theilweise durch die Verfassung geboten, daß sie bei den Richterwahlen im Juni und Juli 1877 die ihren Amtsstellen zukommenden Funktionen weiter versehen haben.

627 Angesichts dieser Thatsachen und der im Entscheide des Großen Rathes aufgeführten ausnahmsweisen, aber lange Zeit allgemein geduldeten Verhältnisse, erscheint es nicht als gerechtfertigt, jeue Wahlen zu kassiren, zumal der Große Rath des Kantons Luzern von sich aus bereits diejenige Verfügung getroffen hat, welche nöthig ist, um für die Zukunft eineu völlig verfassungsmäßigen Zustand zu schaffen.

5) Indeß ist es immerhin geboten, in einer bestimmteren Weise dafür zu sorgen, daß die bestehenden Uebelstände in kürzester Frist und jedenfalls vor den nächsten Neuwahlen gehoben werden.

Im Sinne der leztern Erwägung lud der Bundesrath die Regierung von Luzern ein, ihre Anträge gemäß Dispositiv II des großräthlichen Dekretes vom 29. Mai 1878 in der Weise zu befördern, daß die laut § 89 der Verfassung im Juni 1879 stattfindende Erneuerung der Gemeindebehörden auch in der Gemeinde WillisauLand in völliger Uebereinstimmung mit der Verfassung stattfinden könne.

43. Unsere Entscheide vom 10./24. August 1877 und 18. Februar 1878, betreffend die Kantonsrathswahlen von 1877 in B a a r (Geschäftsberichte pro 1877 und 1878; Bundesblatt 1878 II, 8. 502, Ziffer 20, und 1879, II, S. 609, Ziffer 24), veranlaßten noch einen Rekurs der R e g i e r u n g des K a n t o n s Zug an die Bundesversammlung, über die Frage, welche Gesezgebung für die Stimmberechtigung von Konkursiten maßgebend sei, ob diejenige des Konkursortes oder diejenige d e s Wohnortes. D a jedoch kurrirten Beschlüssen des Kantonsrathes nachträglich durch Anordnung der Ersazwahlen sich unterzogen hatte, so trat die Bundesversammlung am 18. Juli 1879, in Uebereinstimmung mitunsermm Antrage, auf diesen Rekurs, weil gegenstandslos geworden, nicht weiter ein. Unser Bericht und der Bundesbeschlußß sind gedrukt im Bundesblatt 1879, II, S. 922 und III, S. 19.

44. Herr Dr. V a s s a l l i in Vicosoprano, Graubünden, beschwerte sich, daß er von dem Vorstaude dieser Gemeinde, gestüzt auf ein Gemeindestatut, im Widerspruch mit der Kantons- und der Bundesverfassung mit Fr. 1. 50 gebüßt worden sei, weil er au zwei Abstimmungen über kantonale Beschlüsse, sowie au der Nationalrathswahl vom Oktober 1878 nicht Theil genommen habe. Diese Bußen seien auch von der Regierung bestätigt worden.

Der Bundesrath trat jedoch auf die Beschwerde nicht ein, weil die Frage, ob die Vorschrift betreffend Aufstellung von Bußen in

628

k a n t o n a l e n und e i d g e n ö s s i s c h e n W a h l s a c h e n mit der Kantonsverfassung, resp. mit der Bundesgesezgebung im Widerspruche stehe, gemäß Art. 59, litt, a des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege in die Kompetenz des Bundesgerichtes gehöre. Gemäß Ziffer 9 des gleichen Art. 59 seien nämlich dem Bundesrathe nur solche Beschwerden vorbehalten, welche auf die Giltig k eit kantonaler Wahlen sich beziehen, während eine Frage solcher Art hier nicht vorliege. Was die Buße wegen Nichttheiluahme bei der N a t i o n a l r a t h s w a h l betreffe, so finden gemäß Art. l des Bundesgesezes über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen vom 19. Juli 1872 auf diese Wahlen die Vorschriften der kantonalen Geseze Anwendung, soweit sie nicht durch das Bundesgesez beschränkt seien. Das leztere enthalte jedoch keine Vorschriften über das Verbot von Bußen. (24. Juni 1879.)

7. Bürgerrecht.

45. C h a r l e s H o s e h aus Württemberg wünschte sich im Kanton Waadt zu naturalisiren. Das Gesez dieses Kantons erklärt jedoch jede Naturalisation ohne Wirkung, so lange der Petent nicht den solennen Bürgereid geleistet hat, wozu er das Alter von mindestens 20 Jahren erfüllt haben muß, während Hosch nur 15x/a Jahre alt und durch einen Vormund repräsentirt war.

Auf die bezügliche Einfrage der Regierung des Kantons Waadt wurde wie folgt geantwortet: Die Naturalisirung des Charles Hosch biete vom bundesrechtlichen Standpunkte aus keinerlei Bedenken, indem sowohl die Vorschriften des Bundesgesezes vom 3. Juli 1876, als auch diejenigen der Anleitung zu dem bezüglichen Verfahren, welche in den Beschlüssen des Bundesrathes vom 29. März 1877 und vom 5. Juli 1878 (Bundesbl. 1878, Bd. III, Seite 447) liegen, erfüllt seien. Auch sei die Entlassung des Hosch aus dem württembergischen Staatsverbande den Vorschriften des deutschen Reichsgesezes über den Erwerb und den Verlust der Reichsangehörigkeit, vom 1. Juni 1870, § 15 (Bundesbl. 1870, Hl, 176) entsprechend. Wenn aber die Gesezgebung des Kantons Waadt dieser Naturalisation gewisse Hindernisse entgegenstelle, so bleibe nichts Anderes übrig, als daß Hosch die Naturalisation in einem andern Kantone erwerbe, oder daß diejenige im Kanton Waadt suspendirt bleibe, bis er den Vorschriften des waadtländischen Gesezes geniigen könne. Heimatlosigkeit von
Angehörigen des deutschen Reiches könne angesichts der Bestimmungen des Art. 7, Abs. 2 des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Deutschland, vom 27. April 1876, in

629 Verbindung mit § 21 des oben zitirten deutschen Reichsgesezes überhaupt nicht mehr eintreten, indem jeder Deutsche, den Nachweis der Identität vorausgesezt, so lange in der ursprünglichen Heimat wieder aufgenommen werden müsse, als er nicht in der Schweiz oder in einem dritten Staate naturalisât worden sei.

(4. Februar 1879.)

46. Verschiedene A u s l ä n d e r machten Eingaben, um sich als wahrscheinliche Heimatlose darzustellen und ihre Einbürgerung in der Schweiz oder die Beschaffung von Papieren aus ihrer ursprünglichen Heimat zu verlangen. -- In solche Begehren wird nicht eingetreten, weil es eigene Aufgabe der Ausländer ist, ihre bürgerrechtliche Stellung selbst zu ordnen und sich entweder direkt oder durch Vermittlung der Repräsentanten ihres Landes gehörige Papiere zu beschaffen. Wenn sie hierin säumig sind oder es gänzlich unterlassen, so haben die Kantone nach allen Niederlassungsverträgen das Recht zur Ausweisung. Es ist indeß, um dieser äußersten Maßregel vorzubeugen, sehr zu empfehlen, daß die Kantone alle Fremden anhalten, bei der Gesandtschaft oder bei einem Konsulate ihres Landes sich immatrikuliren zu lassen.

Es ist dieses Verfahren namentlich auch zu empfehlen mit Bezug auf n a t u r a l i s i r t e N o r d a m e r i k a n e r . Einige Spezialfälle, ähnlich denjenigen der Frau Mathe geb. Kühn (Bundesbl.

1878, Bd. H, S. 508, Nr. 28) und des Johann Lerch (Bundesbl.

1879, Bd. H, S. 616, Nr. 31), sind auch im Laufe des Berichtjahres vorgekommen.

Das oben bezeichnete Verfahren, Schweizer zu werden, wurde wiederholt auch von I t a l i e n e r n versucht, die von Eltern abstammen, welche lange Zeit im Kanton Tessin wohnten, ohne daß die tessinischen Behörden nach dem Tode der Eltern die Kinder anhielten, ihre Position zu ordnen und bei dem italienischen Konsulate in Lugano sich einschreiben zu lassen. Der Staatsrath des Kantons Tessin wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die verschiedenen gleichartigen Fälle aus diesem Kanton eine allgemeine Instruktion an die Regierungskommissäre und an die Gemeindebehörden nöthig zu machen scheinen, um den Versuchen, auf Umwegen, wenn nicht Heimatlosigkeit, so doch eine unklare Position zu erhalten, zu deren Ordnung meistens vielfache Verhandlungen nöthig werden, entgegenzutreten.

47. Die Darstellung der Verhandlungen im Geschäftsbericht pro
1877 (Bundesbl. 1878, Bd. H, S. 508), betreffend die Nationalität der L o u i s e K ü h n von Neftenbach, Kantons Zürich, welche den naturalisirten Nordamerikaner Henri M a t h e geheirathet hatte, ßundesblatt. 32. Jahrg. Bd. II.

42

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aber in Basel geschieden wurde, ist dahin zu ergänzen, daß die Gemeinde Neftenbach und die Regierung des Kantons Zürich die Anerkennung der erstem und ihrer zwei Kinder (eines ehelichen und eines später gebornen unehelichen) verweigerten. In Folge dessen lagen die formellen Erfordernisse von Art. l des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit vor. Auf Antrag der Regierung des Kantons Basel-Stadt, wo diese Personen noch wohnten, mußten wir daher über die Wiedereinbürgerung derselben entscheiden. Es geschah dieses mit Beschluß vom 15. Juli 1879, womit der Kanton Zürich verpflichtet wurde, der Louise Kühn, geschiedenen Mathe, und deren zwei Kindern das Kantons- und ein Gemeindebürgerrecht zu verschaffen, und zwar gestüzt auf folgende rechtliche Begründung: 1) Es waltet zunächst darüber kein Zweifel, daß die Zürcherin Louise Kühn in Folge der im Kanton Basel-Landschaft mit Henri Mathe, einem naturalisirten Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika, vollzogenen Ehe selbst auch das Bürgerrecht in den leztern Staaten erworben und gleichzeitig dasjenige im Kanton Zürich verloren hat.

2) Ebenso wird von der Regierung der Vereinigten Staaten anerkannt, daß Louise geb. Kühn n i c h t in Folge der von dem kompetenten Gerichte von Basel-Stadt ausgesprochenen Scheidung dieser Ehe den durch dieselbe erworbenen Zivilstand wieder verloren habe.

3) Die Regierung der Vereinigten Staaten stüzt vielmehr die Weigerung, der geschiedenen Frau Mathe ihren Schuz angedeihen zu lassen, darauf, daß leztere den Verlust des in Folge der Ehe erworbenen Zivilstandes durch A u s w a n d e r u n g in ihren ursprünglichen Heimatstaat herbeigeführt habe. So sehr auch dieser Bescheid vom schweizerischen Standpunkt aus befremden mag, so stehen doch dem Bundesrathe keinerlei Hilfsmittel zu Gebot, eine Aenderung desselben zu bewirken. Uebrigens scheinen die in Saz 5 (des Beschlusses) mitgetheilten Nachweise zur Begründung jenes Bescheides mit der Gesezgebung und der staatsrechtlichen Praxis der Vereinigten Staaten in Uebereinstimmung zu stehen, wofür auch als Beleg angeführt werden mag, daß nach Art. 4 des Staatsvertrages zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, vom 22. Februar 1868, ehi in Amerika naturalisier Deutscher, wenn er sich wieder in Deutschland niederläßt und länger als 2 Jahre daselbst bleibt ohne die Absicht,
nach Amerika zurükzukehren, als auf seine Naturalisation in den Vereinigten Staaten Verzicht leistend angesehen werden soll (deutsches Bundesgesezblatt 1868, Seite. 229), so daß die Annahme des Verzichtes auf die amerikanische Staatsangehörigkeit

631 von Seite der Frau Mathe geb. Kühn, welche niemals in Amerika war und auch nicht dahin gehen will, nicht auffallend erscheint.

4) Jedenfalls ist eine nochmalige diplomatische Verwendung bei der Regierung der Vereinigten Staaten ohne jegliche Aussicht auf einen günstigen Erfolg, und es hat nun der Bundesrath diese Angelegenheit lediglich nach Maßgabe der schweizerischen Bundesgesezgebung zum Austrag zu fuhren.

5) Da nach den thatsächlichen Verhältnissen die in Basel wohnhafte Frau Louise Mathé geb. Kühn weder von einem schweizerischen Kanton als Bürgerin, noch von einem auswärtigen Staate als heimatberechtigt anerkannt wird, so ist sie gegenwärtig im Sinne von Art. l des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit, vom 3. Dezember 1850, als eine schweizerische Heimatlose zu betrachten, für welche nach Vorschrift von Art. 3 des gleichen Gesezes die Bundesbehörden ein Kantonsbürgerrecht und durch den betreffenden Kanton ein Gemeindebürgerrecht ausmitteln müssen.

6) Bei dem Entscheide der Frage, welcher Kanton zur Einbürgerung der Frau Kühn anzuhalten sei, kann nur der Kanton Zürich in Betracht kommen, indem weder der Aufenthalt der Frau Kühn in Basel, noch der Vollzug der an sich giltigen Ehe auf dem Gebiete des Kantons Basel-Landschaft für diese beiden Kantone präjudizirlich erscheinen.

7) Bei dem Entscheide über die Einbürgerung sind vielmehr gemäß Art. 8 des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit die in den Art. 11 und 12 des gleichen Gesezes speziell aufgezählten Verhältnisse maßgebend. In Art. 11, Ziffer l und Art. 12, Ziffer l und 2 ist aber die eheliche oder außereheliche Abstammung von Eltern, die schon in einem Kanton Bürger sind, in erste Linie gestellt, so daß nur bei Abgang dieses Grundes andere Verhältnisse in Betracht fallen.

8) Da die Louise geb. Kühn unbestritten aus einer bürgerlichen Familie des Kantons Zürich abstammt, so müssen, nachdem sie heimatlos geworden, die soeben erwähnten Vorschriften des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit zu ihren Gunsten Anwendung finden. Dasselbe ist der Fall bezüglich des seit der Trennung der Ehe von ihr geborenen unehelichen Kindes Charlotte Kühn. Was den ehelich gebornen Knaben Adolf Mathé betrifft, so muß auch auf ihn die schweizerische Gesezgebung angewendet werden, da er der vormundschaftlichen Obhut der Mutter anvertraut ist und bis zum Zeitpunkte seiner Majorennität, da er selbst zwischen der schweizerischen und amerikanischen Nationalität wird wählen können,

632 seine bürgerrechtliche Stellung nach Maßgabe des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit geordnet sein muß.

L Dieser Entscheid wurde anerkannt und erhielt seine Vollziehung.

o' 8. Preßfreiheit.

48. Hier ist der Eingabe des Buchdrukers Domenico M a r i o t t a in Locamo an uns und an die Bundesversammlung zu erwähnen, womit er gegen seine Verurtheilung durch die tessinischen Gerichte wegen Verläumdung mittelst der Presse, sowie gegen die Abweisung seines bezüglichen Rekurses durch das Bundesgericht remonstrirte und eine authentische Interpretation von Art. 55 der Bundesverfassung verlangte, in dem Sinne, daß alle Urtheile der kantonalen Gerichte in Preßsachen der Kontrole einer Bundesbehörde zu unterstellen seien. Diese Eingabe wurde sowohl von uns, als am 17. Dezember 1879 auch von der Bundesversammlung als unstatthaft abgewiesen. (Bundesblatt 1879, Bd. IH, S. 241.)

9. Militärsteuer.

49. Der in den Geschäftsberichten pro 1877 und 1878 erwähnte R e k u r s des S t a a t s r a t h e s des K a n t o n s Neuen bürg gegen die Ablieferung der rükständigen H ä l f t e der Militärsteuer an die Bundeskasse ist am 27. Dezember 1879 im Sinne der Anträge unseres Justiz- und Polizeidepartements entschieden worden, indem sich das Bundesgericht als inkompetent erklärte. (Amtliche Sammlung seiner Entscheide Bd. V, 520.) Mit Schreiben vom 20. Januar 1880 machte uns der Staatsrath von Neuenburg die Mittheilung, daß er diesen Entscheid dem Großen Rath in seiner nächsten Sizung vorlegen und einen Beschluß darüber provoziren werde, ob nunmehr der Rekurs an die Bundesversammlung gerichtet, oder die Bezahlung unserer Forderung vollzogen werden soll. Da er, der Staatsrath, im Auftrage des Großen Rathes gehandelt habe, so müsse er auch diesem die neuen Instruktionen für das weitere Verfahren vorbehalten.

50. Die Beschwerde des G o t t f r i e d G r o b in Oberwyl bei Zug, womit er verlangte, daß der § 3, Absaz l der Uebergangsbestimmungen zum neuen Erbrechte des Kantons Zug, weil für die bereits errichteten Testamente vollständige Testirfreiheit anerkennendund sonach mit der im Bundesgesez über den Militärpflichtersaz aufgestellten Besteuerung der Anwartschaft der Söhne und Enkel im Widerspruch stehend, aufgehoben werden möchte, ist durch die

633

Verhandlungen in der Bundesversammlung bekannt. Unser Bericht ist gedrukt im Bundesblatt 1879, Band III, Seite 248. Die Bundesversammlung hat den Rekurs am 18. Dezember 1878 abgewiesen.

10. Lotterieverbot.

51. Auf die bezügliche Anfrage der Gesandtschaft eines auswärtigen Staates wurden die Regierungen sämmtlicher Kantone um Bericht darüber ersucht, ob die Kantonsgesezgebung ein Verbot von Lotterien und des Vertriebes von Lotterieloosen enthalte, sowie ob ein Unterschied bestehe zwischen inländischen und ausländischen Lotterien. Das Resultat der mitgetheilten kantonalen Geseze berechtigte zu folgender Antwort : daß die Lotterien und der Vertrieb von Lotterieloosen (wohin auch das Lotto gehöre) in allen Kantonen als verboten betrachtet werden könne und zwar ohne Unterscheidung zwischen inländischen oder ausländischen Unternehmungen dieser Art. Die größere Zahl der Kantone besize förmliche und absolute Verbote, während in einigen Kantonen mit der Bewilligung von Seite der Regierung oder der Kantonspolizei einzelne Verloosungen möglich seien ; solche Bewilligungen werden aber in der Regel nur für gemeinnüzige Unternehmungen gegeben. Einzig der Kanton Uri besize kein spezielles Gesez über Lotterien ; die Regierung erkläre aber, daß die Lotterien gleich den Hasardspielen behandelt würden, welch' leztere mit Strafe bedroht seien.

11. Stellung der eidgenössischen Beamten.

52. Das Justiz- und Polizeidepartement wurde eingeladen, Bericht und Antrag darüber einzubringen, ob Schweizerbürger, die, sei es in Folge Konkurses, sei es in Folge eines Strafurtheiles, in ihren bürgerlichen Ehrenrechten eingestellt worden, zur Wahl an eine eidg. Beamtung oder Anstellung fähig seien, resp. ob die Einstellung in den Ehrenrechten den Verlust des Amtes oder der Anstellung nach sich ziehe. Die bezügliche Berichterstattung hatte die zwei reglementarischen Beschlüsse vom 11. und 27. März zur Folge, welche in der Amtlichen Sammlung, neue Folge, IV, 337 und 338 abgedrukt sind.

634

B. IPolizei.veirwaltu.rig-.

L Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten.

a. Einleitung.

Die Zahl der von Seite der Schweiz, bei auswärtigen Staaten nachgesuchten Auslieferungen hat sich etwas gesteigert, nämlich von 71 des Jahres 1878 auf 79 im Berichtjahre. (Diese Zahl betrug 1877 : 59 ; 1876: 66.) Dagegen ist die Zahl der Auslieferungsbegehren von Seite auswärtiger Staaten an die Schweiz im Jahr 1879 beinahe die gleiche geblieben, wie im Vorjahre, nämlich 212 gegen 211 im Jahr 1878 (1877 ebenfalls 211; 1876: 219). Im Ganzen waren also 291 Angelegenheiten dieser Art zu behandeln.

Die von Seite der S c h w e i z bei auswärtigen Staaten verlangten Auslieferungen betrafen : l Todschlag, l Raub, l Unzuchtsdelikt, l Münzfälschung, l Anstiftung zu falschem Zeugnisse, l Brandstiftung, 10 Fälschung von Privatschriften, 18 Unterschlagung, 4 Unterschlagung gepfändeter Gegenstände, 12 Betrug, 13 betrügliehen Bankerott, 15 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl, l Hehlerei.

~~79~ Die von a u s w ä r t i g e n Staaten bei der Schweiz verlangten Auslieferungen betrafen : a. D e u t s c h e s R e i c h .

4 Meineid und Anstiftung zum Meineid, 1 Brandstiftung, 2 Unzuchtsdelikte, 2 Erpressung, 6 Fälschung öffentlicher Urkunden, 28 Betrug und Fälschung von Privaturkunden, 6 bezüglichen Bankerott, 15 Unterschlagung, 29 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl.

~93"

635 b. F r a n k r e i c h .

2 Mord, l Körperverlezung, 8 Unzuehtsdelikte, l Fälschung öffentlicher Schriften, 9 Betrug und Fälschung von Privatschriften, 12 Vertrauensmißbrauch, 15 betrüglichen Bankerott, 12 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl, l Hehlerei, l Brandstiftung.

62

c. I t a l i e n .

6 Mord und Mordversuch, 5 Körperverlezung mit nachgefolgtem Tod, 2 Straßenraub, 2 Unzuchtsdelikte, l falsches Zeugniß, l Verbrecherverbindung, 6 Urkundenfälschung, 4 betrüglichen Bankerott, .

4 Unterschlagung, 11 einfachen und ausgezeichneten Diebstahl.

42 d. O e s t 5 2 3

e r r e i e h.

Unterschlagung öffentlicher Gelder, Betrug, Diebstahl.

10

. R u ß l a n d .

5 Diebstahl mit Einbruch.

Das weitere Detail ergibt sich aus den folgenden Tabellen:

636

b. Statistik A. der von S e i t e der S c h w e i z bei auswärtigen Staaten nachgesuchten Auslieferungen.

Kantone.

Zürich . . . .

Bern . . . .

Luzern . .

Fr ei bürg . . .

Solothurn . . .

Basel-Stadt . .

Schaffhausen .

Appenzell A.-Rh.

St. Gallen . .

Aargau Thurgau . . .

Tessin . . . .

Waadt . . .

Wallis . . . .

Neuenburg Genf . . . .

Anzahl i der.

Unent- Ver- ZnrükBeIndi- willigt. dekt. weigert. gezogen Pend ent viduen.

16 6 l 3 1 15 2 2 3 1 3 1 12 1 6 6 79

,

7 4 -- 1 -- 7

1 1 1 1

-- 3 1 1 -- 4 1 5 4

2 -- --2 -- 5 -- -- --

38

1

7

-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- 1

7 1

1

-- 1

-- -- --

--1 1

-- -- 1

-- --

-- -- -- --, 1

-- -- --

-- -- 1

2 -- 1 1

-- -- --

20

3

15

3

-- -- 1 --.

--

--3 -- ·

1 1 14 2 1 -- --1

2 -- --

-- 1 10 3 1 -- -- --

38

20

3

15

--

S t a a t e n , bei denen diese Auslieferungen nachgesucht wurden : Belgien . .

Deutsches Reich Prankreich . .

Großbritannien .

Italien . . . .

Niederlande . .

Oesterreich . .

Portugal . . .

1 14 46 8 4 2 3 1 79

10 21 3 1

2 _

1 <-- -- -- 3

637

B. der von S e i t e a u s w ä r t i g e r S t a a t e n bei der Schweiz, nachgesuchten Auslieferungen.

Staaten.

Deutsches Reich Frankreich Italien . . . .

Oesterreich .

Rußland . . .

Anzahl der Unent- VerBeZurük.Indi- willigt. dekt. weigert. gezogen Pendenl viduen.

93 62

42 10 5 212

K a n t o n e , bei denen diese Auslieferungen ver° langt wurden : Zürich . . . .

Bern . . . .

Luzern Uri Zug . . . .

Basel-Stadt .

Schaffhausen .

Appenzell A.-Rh.

St. Gallen . .

Graubünden .

Aargau Thurgau . .

Tessin . . . .

Waadt . . . .

Neuen bürg Genf . . . .

Schweiz im Allgemeinen . .

77 47 20 10

12 19 -- --

1 1 2 -- --

2 1 --- ---

42

4

7

30 2

4 --

1'

--2 -- 7 22 3 9 3 1 5 16 12

--1 1 3 1 -- --

-- 154

11

4 -- -- --

5 5

j

36 2 1 3 1 11 24 3 9 3 1 5

-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

1 --1 -- -- 1 1.

-- -- --

-- -- -- -- -- -- -- --

2.

--

2 40

-- -- -- 10 1 1 11

--1

-- -- -- 1 -- 2

14

--

9

--

--

5

212

154

42

4

7

5

28 14 3 54

-- -- -- -- -- -- --

638 c. Verfahren.

1. In 14 Fällen, in welchen die Angeklagten nur aus dem Grunde gegen die Auslieferung protestirten, w e i l sie u n s c h u l d i g s e i e n , haben wir gemäß der in den lezten Geschäftsberichten erwähnten Praxis diese Einrede nicht als eine Einsprache gegen die Anwendbarkeit des betreffenden Staatsvertrages im Sinne von Art. 58 des Gesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege behandelt, sondern die Fälle ohne Ueberweisung an das Bundesgericht von uns aus durch Bewilligung der Auslieferung erledigt, da jeweilen die formellen Vorschriften der Verträge erfüllt waren.

Dagegen lagen in 10 Fällen wirkliche Einsprachen gegen die Anwendbarkeit der betreffenden Staatsverträge vor. Sie wurden daher gemäß dem erwähnten Art. 58 an das Bundesgericht gewiesen, welches in 6 Fällen die Auslieferung bewilligte, in den übrigen 4 dagegen sie ablehnte.

Die wichtigern Entscheide gehen dahin : Die Bestimmungen eines neuen Auslieferungsvertrages finden auf alle darin vorgesehenen Verbrechen und Vergehen gleichmäßig Anwendung, auch wenn dieselben v o r dem Vertrage verübt worden und im alten Vertrage nicht vorgesehen waren. (Amtliche Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheide, Bd. V, S. 63.)

Die Verbrecherverbindungen, deren am Schlüsse von Art. 2 des Auslieferungsvertrages mit Italien Erwähnung geschieht, bilden nicht ein Verbrechen für sich, sondern begründen die Auslieferung nur dann, wenn sie eine im Vertrage vorgesehene Gesezesübertretung zum Gegenstande haben. -- Es muß immer den Behörden des angesprochenen Staates möglieh gemacht werden, selbst zu prüfen, ob die dem Angeklagten zur Last gelegten Handlungen politischer Natur seien, (am gleichen Orte, S. 226.)

2. Ungeachtet der in verschiedenen Kreisschreiben und in noch häufigem direkten Korrespondenzen den kantonalen Behörden gegebenen Instruktionen über das Verfahren in denjenigen Fällen, in denen auf t e l . e g r a p h i s c h e m W e g e die p r o v i s o r i s c h e V e r h a f t u n g eines flüchtigen Angeklagten in einem auswärtigen Staate bewirkt werden will, werden die nöthigen Formen dennoch sehr oft vernachläßigt. Es entstehen daraus nachtheilige Verzögerungen und unangenehme telegraphische und schriftliche Korrespondenzen, die leicht vermieden werden, könnten. Um die Bundeskasse vor solchen Kosten zu schüzen, wird nichts
Anderes übrig bleiben, als die den eidgenössischen Repräsentanten und dem eidgenössischen lustiz- und Polizeidepartement verursachten Auslagen künftig von den betreffenden Kantonen zu beziehen.

639 3. Wir erinnern nochmals daran, daß es nicht genügt, das Verhaftsgesuch blos an eine l o k a l e P o l i z e i b e h ö r d e z u t e l e g r a p h i r c n, sondern daß es g l e i c h z e i t i g auch an den schweizerischen Repräsentanten im betreffenden Lande, oder au das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement zur Vermittlung au die betreffende Regierung telegraphirt werden und daß das Telegramm auch die Mittheilung enthalten muß, daß ein V e r h a f t s b e f e h l bestehe und daß die Auslieferung werde verlangt w e r d e n , damit nicht etwa nur zur Verfolgung von Privatinteressen Jemand verhaftet wird.

4. Vielfache Mühen wurden dem Departemente auch dadurch verursacht, daß die V e r b . a f t s b e f e h l e m a n g e l h a f t a u s g e s t e l l t und daß, statt die Bestimmungen der Verträge und die Instruktionen in den Kreisschreiben zu konsultiren, die Akten eingesendet wurden, vielleicht im Glauben, daß damit die Verhaftsbefehle ergänzt worden könnten. Es muß jedoch bemerkt werden, daß der Verhafts befehl ein gerichtliches Aktenstük ist und von der kompetenten Untersuchungsbehörde ausgehen soll, welche für diese Maßregel die Verantwortlichkeit trägt. Die Verwaltungsbehörden, welche durch Vertrag bei der Vollziehung eines solchen gerichtlichen Aktes mitzuwirken verpflichtet sind, können am Inhalte desselben nichts ändern. Sie haben auch nicht die Aufgabe, den mangelhaften Inhalt zu ergänzen und dadurch in die Befugnisse der gerichtlichen Beamten einzugreifen. Es ist vielmehr Sache der leztern, solche Mangel zu ergänzen. Die Akten müssen daher zur Ergänzung des Verhaftsbefehles regelmäßig zurükgewiesen werden, wodurch unangenehme Zögerungen entstehen, die von den Kantonen, wenn sie aus einem solchen Grunde genöthigt würden, ein Individuum länger verhaftet zu halten, als der ordentliche Lauf der Dingo erfordern würde, schweren Tadel fänden. In einigen Fällen dieser Art hat es sich auch ergeben, daß die kantonalen Behörden durch die. nochmalige Prüfung des Thatbestandes sich veranlaßt sahen, das Auslieferungsbegehren zurükzuziehen.

5. Ein anderer Mangel hat sich auch herausgestellt bei der Ausstellung der T r a n s p o r t b e f e h l e b e h u f s der V o l l z i e h u n g einer von uns bewilligten Auslieferung, indem oft, unterlassen wurde, anzugeben, daß das betreffende Individuum
ausgeliefert, werden müsse, oder indem die Behörde, an welche der Ausgelieferte- abgeliefert werden sollte, nicht angegeben wurde etc. Um diese Uebelstände zu heben, erließ das Justiz- und Polizeidepartement unterm 20. Mai 187!) ein Kreisschreiben, welches im Bundesblatt 1879, Bd. II, S. 691 abgedrukt ist.

640

6. Bei E n g l a n d wurden 8 Auslieferungsbegehren eingeleitet, wovon 3 bewilligt, 3 zurükgezogen wurden und 2 ihre Erledigung dadurch fanden, daß die Verfolgten nach Amerika entkommen konnten. -- In dem Falle gegen den Franzosen T e r r a z wegen betrüblichen Bankerottes dauerte das Verfahren vom 12. November 1878 bis 3. Februar 1879. Nachdem der Court of Police von Bow-Street die Auslieferung bewilligt hatte, konnte Terra/, noch eine Habeas-Corpus-Akte auswirken, wesentlich gestüzt darauf, daß der Auslieferungiivertrag zwischen der Schweiz und England nicht mehr in Kraft bestehe. Es wurde nämlich bekanntlich dieser Vertrag gegen Ende des Jahres 1877 von Seite der Schweiz gekündigt, allein am 19. Juni 1878 um 6 Monate und am 23. Dezember 1878 um 12 Monate verlängert; es scheint jedoch, daß die britische Regierung keine bezüglichen Publikationen erlassen hat. Der Gerichtshof der Queen's Bench entschied jedoch, da es sich lediglich um eine Verlängerung des alten Vertrages gehandelt und nicht um den Abschluß eines neuen, so sei, um die Verlängerung in Kraft zu sezen, eine Ordonnance des Rathes der Königin und die Publikation in der amtlichen Zeitung nicht nöthig gewesen. - Die zwei andern Auslieferungen verursachten keine besondern Schwierigkeiten.

In einem dieser Fälle, betreffend Unterschlagung durch einen Geschäftsführer, kam die Möglichkeit des Rükzuges des Auslieferungsbegehrens zur Spruche, nachdem der Geschädigte befriedigt war.

Diese Frage wurde in London allgemein und für alle Verbrechen bejaht, indem die Gesezgebung am Orte der That bietür maßgebend sei, immerhin unter Vorbehalt der Pflicht zum Schadensersaz gegenüber dem Verfolgter!, wenn dieser eine solche Klage erheben würde.

Der Rükzug war aber nach der Gesezgebung des betreffenden Kantons nicht möglieh.

d. Materielle Fragen.

7. Die Auslieferung des Amerikaners J. B. C h a p m a n n , welche von der Regierung von Neuenburg wegen Betruges verlangt wurde, konnte von der bayerischen Regierung nicht bewilligt werden, weil er zunächst eine Strafe von neun Jahren Zuchthaus wegen Münz Verbrechens, Fälschung und Betruges in München zu verbüßen hat, und dann nach Wien ausgeliefert werden muß, woher ebenfalls und zwar früher ein Auslieferungsbegehren gegen ihn gestellt worden war. Dagegea wurde vereinbart, daß Chapmann provi, sorisch nach Neuen bürg ausgeliefert werden soll, um dort beurtheilt und dann sogleich wieder nach München zurüktrausportirt zu werden.

641

Die Kosten wurden geregelt gemäß Art. 11 des Auslieferungs Vertrages zwischen der Schweiz und Deutschland.

8. Der Fuhrmann L o u i s K o h l er wurde an seinem Wohnorte Concise, Kantons Waadt, wegen Betruges im Korikurs (fraude en discussion) verfolgt, indem er mit Vermögensobjekten nach Frankreich sich geflüchtet, nachdem er durch einen Verwandten seine Bilanz hatte deponiren lassen. Die französische Regierung verweigerte die Auslieferung unter Berufung auf den Schlußsaz von Art. l des Auslieferungsvertrages vom 9. Juli 1869, weil diese Handlungsweise nicht die von den französischen Gesezen geforderten Momente eines Vergehens iu sich vereinige, um die kriminelle oder korrektioneile Verfolgung zu begründen; insbesondere sei nicht möglich, von betrüglichem Bankerott zu reden, da Kohler nicht Handelsmann (commerçant) sei.

9. B e r n h a r d M o h r von Riesbach wurde von dem Statthalteramte Zürich wegen Betruges verfolgt und in Rotterdam arretirt.

Die Anklage ging dahin, daß er verschiedene Waaren aus England bezogen und den Erlös in seinen Nuzen verwendet, aber gegen Verfallzeit der auf ihn abgegebenen Wechsel sich entfernt habe, augenscheinlich zu dem Zweke, seine Gläubiger zu schadigen. Auf Antrag der kompetenten Gerichtsstelle im Haag verweigerte die Niederländische Regierung die Auslieferung des B. Mohr, weil die ihm zur Last gelegten Handlungen nach der niederländischen Gesezgebung nicht strafbar seien, da dem Verhafteten weder der Gebrauch eines falschen Namens oder andere Fälschungen, noch die Anwendung betrügerischer Mittel, um in den Besiz der Waaren zu kommen, zur Last gelegt werden, während das einfache Kaufen von Waaren, die später nicht bezahlt werden, wohl Grund zu einer zivilrechtlichen Forderung geben könne, nach Art. 405 des holländischen Strafgesezbuches aber keinen Betrug, noch ein. anderes Vergehen bilden könne, das irn Gesez vom 6. April 1875 vorgesehen sei.

10. Das Amtsgericht Freiburg, Großherzogthum Baden, hatte zwei Badenser, wohnhaft in Basel, als Z e u g e n in einem Strafprozesse n a c h F r e i b u r g zitirt, und weil sie ausgeblieben waren, je zu einer Buße von 20 Mark und zur Bezahlung der durch ihr Ausbleiben erwachsenen Kosten verurtheilt. Gleichzeitig wurde die nochmalige Vorladung dieser Zeugen beschlossen, unter Androhung einer vierwöchentlichen Gefängnisstrafe
im Unterlassungsfalle. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt verweigerte jedoch den Vollzug dieser Vorladung, weil gemäß Art. 13 des Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und Deutschland die Zeugen zum

642

Erscheinen nicht verpflichtet seien und diese Vorschrift auf Schweizer und Deutsche in der Schweiz gleichmäßig Anwendung finde. Das Amtsgericht Freiburg stellte dagegen die Ansicht auf, daß es ihm nicht verwehrt werden könne, im Auslande lebende Inländer unter denselben prozessualischen Formen vorzuladen, wie sie für das Inland vorgeschrieben seien.

Eine bezügliche Einfrage wurde vom Justiz- und Polizeidepartement dahin beantwortet, daß die Besorgung der direkten Vorladungen hätte abgelehnt werden können. Der Art. 13 des Auslieferungsvertrages sezt nämlich voraus, daß die Vorladungen in Strafsachen auf diplomatischem Wege vermittelt werden, da nur in diesem Falle ein Zeuge von der ,,Regierung" zum Erscheinen aufgefordert werden kann. Jedenfalls kann die direkt verlangte Besorgung von Vorladungen mit Strafankündigung und weiterer Strafandrohung verweigert werden, weil hierin ein Mittel zum Vollzug von fremden Straferkenntnissen läge , wozu kein Anspruch gegenüber den schweizerischen Behörden besteht, und weil die Zeugen zum Erscheinen nicht verpflichtet sind, also auch für das Ausbleiben nicht bestraft werden können. Dieses Verfahren schließt keineswegs eine Verweigerung der Rechtshilfe in sich; wenn die vorgeladenen Zeugen nicht erscheinen, so findet Art. 12 des Vertrages Anwendung, indem durch ein Rogatorium der Zvvek erreicht werden kann. Der Vertrag mit dem Deutschen Reiche hat im Verhältniß zu dem frühern Ablieferungsverträge mit dem Großherzogthum Baden nichts geändert, weßhalb auch heute noch die vom Bundesrathe in einem Schreiben vom 15. April-1868 entwikelten Gesichtspunkte Anwendung finden. (Bundesblatt 1869, Band I, Seite 1007.)

11. Auf unser Gesuch wurde von einem Deutschen Staate gegen 'l, von Frankreich ebenfalls gegen l und von Italien in 2 Fällen gegen 5 ihrer Staatsangehörigen die B e u r t h e i l u n g und B e s t r a f u n g in der H e i m a t für solche Verbrechen oder Vergehen übernommen, deren sie'in. der Schweiz sich schuldig gemacht hatten, für welche sie aber in Folge ihrer Flucht hier nicht bestraft, werden konnten. Zwei dieser Untersuchungen wurden fallen gelassen ; über die Erledigung der beiden andern Fälle ist uns bis jezt nichts bekannt geworden.

Umgekehrt wurde von Baden und von Oesterreich in je einem 'Falle, von Frankreich in vier, und von Italien in zwei Fällen
die Uebernahme der Untersuchungen gegen Schweizer verlangt, die sich in diesen Staaten strafbarer Handlungen schuldig gemacht, aber ungestraft in die Schweiz hatten flüchten können. Drei Angeklagte wurden nicht gefunden, gegen drei andere fand die Beurtheilung durch

64a die Gerichte der Heimatkantone statt, und zwei Untersuchungen, sind, soviel uns bekannt, gegenwärtig noch nicht beurtheilt.

Mit Rüksicht auf den Umstand, daß in einigen Fällen, betreffend Deutsche, die in der Schweiz strafbarer Handlungen sich schuldig gemacht hatten, aber nach Deutschland sich flüchten konnten, Anstände sich ergeben haben bezüglich der Uebernahme der Untersuchung und Beurtheilung durch ein deutsches Gericht, w e n n d e r V e r f o l g t e i n e i n e m a n d e r n als i n s e i n e m Heimatsstaate a r r e t i r t wurde, wird bemerkt, daß dieses Verhältniß durch die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, welche mit dem 1. Oktober 1879 in Kraft trat, in § 9 wie folgt geordnet ist: ,,Wenn die strafbare Handlung im Auslande begangen und ein Gerichtsstand in Gemäßheit des § 8 nicht begründet ist, so ist dasjenige Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Ergreifung erfolgt.

Hat eine Ergreifung nicht stattgefunden, so wird das zuständige Gericht vom Reichsgerichte bestimmt."1 12. Mit Bezug auf drei Franzosen, zwei Deutsche und zwei Oesterreicher, welche wegen gemeiner Verbrechen verfolgt wurden, aber gleichzeitig auch der D e s e r t i o n sich schuldig gemacht hatten, wurde die Auslieferung nur unter der Bedingung bewilligt, daß sie wegen der Desertion nicht bestraft werden dürfen. Hievon wurde den Betreffenden behufs ihrer Vertheidigung jeweilen Kenntniß gegeben.

II. Bundesstrafrecht.

13. Im Jahr 1879 wurden 34 neue Fälle von G e f ä h r d u n g des E i s e n b a h n b e t r i e b e s den kantonalen Gerichten zur Untersuchung und Beurtheilung überwiesen (1878: 33 Fälle), Diese Untersuchungen vertheilen sich auf die Kantone Bern mit 8, Neuenburg mit 6, Thurgau und Zürich mit je 4, Waadt mit 3, Aargau, Freiburg und Wallis mit je 2 und Appenzell A. Rh., St. Gallen und Schwyz mit je einer.

Acht Untersuchungen wurden durch Verfügungen kantonaler Gerichtsbehörden aufgehoben und 19 durch gerichtliches Urtheil erledigt. In 2 Fällen nahm jedoch das Gericht keine Gefährdung des Eisenbahnbetriebes im Sinne von Art. 67 des Bundesstrafgesezes an, sondern lediglich eine Uebertretung des Bundesgesezes über die Bahnpolizei. -- 6 Personen wurden freigesprochen und 22 in 13 Urtheilen zu größern und geringern Strafen, zusammen zu 327 Tagen Gefängniß und 862 Fr. Buße verurtheilfc. Die übrigen 7 Untersuchungen gingen auf das Jahr 1880 über.

644

Die höchste der ausgesprochenen Strafen wurde gegen zwei Schlossergesellen gefällt, welche aus Muthwillen mitten in der Nacht eine Barriere ausgehoben und ein zirka 3 Meter langes Stük Holz auf die Schienen gelegt hatten, und zwar an einer Stelle, wo die Bahn mit starkem Gefall in einer durch Böschungen gedekten Kurve läuft. Es entstand indeß kein Unglük, indem der Bahnwärter noch rechtzeitig das Holz entfernen und die Barriere wieder einsezen konnte. Sie wurden wegen dieser Handlung und wegen gleichzeitiger Uebertretung des Bahnpolizeigesezes durch Schließung einer Bavrierenstange und Entfernung einer Verbottafel, der eine zu 2 Monaten Gefängniß und 100 Fr. Buße, der andere zu 6 Wochen Gefängniß und 50 Fr. Buße verurtheilt.

Die geringsten Strafen dagegen wurden gegen einen Lokomotivführer und einen Heizer ausgesprochen, welche aus Fahrlässigkeit den Zusammenstoß zweier Züge veranlaßt hatten. Das Gericht nahm mildernde Umstände an und verurtheilte den einen zu l Tag Gefängniß und 4 Fr. Buße, den andern zu i Tag Gefängniß und 2 Fr. Buße.

Von den 13 Strafurtheilen sind 7 gegen 13 Personen vollzogen. Die Vollziehung der andern Urtheile ist eingeleitet. Aus dem Jahr 1878 bleibt noch ein Urtheil zu vollziehen übrig.

Einige Fälle, bei deren Beurtheilung nicht das Bundesstrafrecht zur Anwendung kommen konnte, sondern das Bundesgesez über die Bahnpolizei vom 18. Februar 1878 (Amtl. Samml. n. F. III, 422), wurden zurükgewiesen, indem für diese in Artikel 11 die kantonale Kompetenz gesezlich vorgeschrieben ist.

Dagegen wurde auf Grund des Bundesstrafrechtes noch eine Untersuchung wegen S t ö r u n g des T e l e g r a p h e n V e r k e h r e s bei den Gerichten des betreffenden Kantons erhoben, allein deren Beurtheilung ist noch nicht erfolgt.

14. Im Laufe des Berichtjahres sind 3 Urtheile gegen W e r b e r f ü r d e n h o l l ä n d i s c h - i n d i s c h e n K r i e g s d i e n s t eingegangen, nämlich gegen: a. Joh. Jak. C o t ti e r von Arni, einen schon früher bestraften Werber, welcher durch Urtheil der Polizeikammer des Kantons Bern vom 26. April 1879 zu 30 Tagen Gefängniß und 50 Fr.

Buße verurtheilt wurde; b. Franz C r u f e r von Ems, Graubünden, durch Urtheil des Kreisgerichtes Rhäzüns vom 6. November 1879 zu l Monat Gefängniß und zu 4 Jahren Entzug des Aktivbürgerrechtes verurtheilt ;

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c. Gottlieb Wo o dtli von Strengelbach, Aargau, durch Urtheil des Strafgerichtes des Kantons Basel-Stadt vom 29. April 1879 zu 6 Wochen Gefängniß, zu 25 Fr. Buße und zum Verluste des Aktivbürgerrechtes auf die Dauer von 2 Jahren verurtheilt.

Die beiden ersten Urtheile entsprachen nicht völlig der Vorschrift von Artikel 3 des Bundesgesezes über das Werbverbot vom 30. Juli 1859, da in dem erstem nicht zugleich auch der zeitliche Verlust des Aktivbürgerrechtes und in dem zweiten keine Geldbuße ausgesprochen worden war. Wir verzichteten jedoch auf weitere Rechtsmittel und beschränkten uns darauf, die betreffenden Regierungen auf diesen Mangel behufs Anordnung des Nöthigen für künftige Fälle aufmerksam zu machen.

Im Uebrigen hatte das Departement mehrere Male Anlaß, gegen die Werbung nach holländisch Indien, wofür Indizien sich zeigten, einzuschreiten.

15. Bei Anlaß der Schwurgerichtsverhandlung gegen Paul Brousse ist anfänglich Zweifel aufgetaucht über den Sinn des Lemma i von Artikel 108 des Bundesgesezes betreffend die Bundesstrafrechtspflege, vom 27. August 1851 (Amtl. Samml. II, 743), dahin lautend: ,, Jeden Wahrspruch fassen die Geschwornen mit Stimmen,,mehrheit."

Im zweiten Lemma wird sodann die Stimmenmehrheit dahin erklärt, daß sie bestehe in der Zahl von 10 Stimmen, wenn 12 Geschworne anwesend sind, oder wenn weniger als 12 Geschworne anwesend sind, in einer Mehrheit von je 2 weniger als anwesend sind.

Es wurde nun die Ansicht aufgestellt, daß 3 Stimmen eine Freisprechung bewirken könnten. Die richtige Lesart jenes Lemma l gestattet jedoch keinen Zweifel darüber, daß sowohl für die Verurtheilung als für die Freisprechung eines Angeklagten immer eine Mehrheit von 2 Stimmen weniger, als Geschworne anwesend sind, nothwendig ist, denn das Gesez lautet ganz unbedingt und unbeschränkt auf ,,j e d e n W a h r s p r u ch ". Unsere Nachforschungen über die Berathung des erwähnten Bundesgesezes haben auch diese Interpretation als richtig dargethan.

Da Lemma 2 von Artikel 379 der militärischen Strafreehtspflege (Amtl. Samml. II, 606) wörtlich gleich lautet, wie obiges Lemma l von Artikel 108 der bürgerlichen Strafrechtspflege, so machte unser Justiz- und Polizeidepartement das eidgenössische Militärdepartement darauf aufmerksam, daß auch in der Militärjustiz der ·erwähnte Artikel irrthümlich interpretirt werden dürfte. Um bei Bundesblatt. 32. Jahrg. Bd. II.

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den militärischen Justizbeamten allfällige Zweifel zu heben, erließ das Militärdepartement das im Bundesblatt 1879 II, 693 abgedrukte Kreisschreiben.

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III. Kantonales Strafrecht.

16. Der Tessiner S c o s s a R o m a n o machte sich in Tunis einiger Diebstähle schuldig und stellte sich unter den Schuz des kaiserl. deutschen Generalkonsulates für .die Regentschaft Tunis, indem er gleichzeitig dessen Konsulargerichtsbarkeit anrief. Dieses Generalkonsulat, unter Zuzug von Beisizern, erklärte den Angeklagten eines ausgezeichneten Diebstahls schuldig und verurtheilte ihn zu zwei Jahren Gefängnißstrafe, sowie zur Bezahlung der Kosten.

Die Gefängnißstrafe wurde in dem Lokale des Generalkonsulate» in Vollziehung gesezt. Da der Verurtheilt die Kosten nicht bezahlen konnte, so wurde der Ersaz derselben durch unsere Vermittlung vom Kanton Tessin reklamirt. Der Staatsrath verweigerteanfänglich die Rükerstattung dieser Kosten, weil er die Gerichtsbarkeit des deutschen Generalkonsulates nicht anerkannt habe. Wir konnten jedoch diesen Standpunkt nicht theilen, sondern verfügten die vorläufige Bezahlung erwähnter Kosten aus der Bundeskasse, welcher sie später von Tessin zurükvergütet wurden. In der diesfälligen Korrespondenz begründete unser Justiz- und Polizeidepartement dieses Verfahren wie folgt: Tunis gehöre bekanntlich zu den nichtchristlichen Ländern, in welchen die europäischen Staaten wegen der offenen Rechtsunsicherheit ihrer Angehörigen genöthigt gewesen, dieselben · durch besondere Staatsverträge "vor" der Lokalgerichtsbarkeit zu schüzen und zu ihren Gunsten die eigene Gerichtsbarkeit vor-den in Folge von Verträgen eingesezten Konsulaten vorzubehalten: Diese Thatsache sei durch die Geschichte ' bewiesen und durch das Völkerrecht sanktionirt. Die Schweiz habe mit der Türkei keinen solchen Vertrag, wohl aber Deutschland (Preußen-speziell schon seit 1761).

Hinwieder habe die Schweiz mit Deutschland sich darüber vereinbart, daß die Angehörigen der Schweiz auf denjenigen Pläzen, wo die Schweiz weder eine diplomatische, noch konsularische Vertretung halte, unter den Schuz: der Agenten -des deutschen Reiches sich stellen können. (Kreisschreiben an die Kantone vom 8. Juli 1871,.

Bundesbl. 1871, H, 1103.3 Nachdem nun Scossa Romano selbst und auch dei- Staatsrath VonTessin zu dessen Gunsten den Schuz des kaiserl. deutschen Generalkonsulates angerufen, so habe dieses Gesuch keinen andern Sinnhaben können, als daß Ersterem der gleiche Schuz und die gleichen Privilegien zu Theil werden möchten,,

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wie den Angehörigen des deutschen Reiches, d. h. daß er nicht der Willkür der tunesischen Behörden überlassen werde. Der gleiche Zwek hätte sich nur noch dadurch erreichen lassen, daß der Rüktransport des Scossa Romano verlangt und dessen Beurtheilung im Tessin übernommen worden wäre. In diesem Falle wären selbstverständlich alle Kosten diesem Kanton, zugefallen; sie müssen daher auch von ihm getragen werden, nachdem eine von dem Staatsrath selbst bestätigte Schuzbehörde des Scossa Romano dessen Beurtheilung und zwar ohne Zweifel zu seinem großen Vortheile übernommen habe. Ue.ber die Kompetenz des kaiserl. deutschen Generalkonsulates zur Beurtheilung des Angehörigen eines dritten Staates, welcher sich seinem Schuze unterstellt habe, gleich den Angehörigen des deutschen Reiches, " könne nach dem Geseze betreffend die Organisation der deutschen Konsulate und deren Rechte und Pflichten, vom 8. November 1867, und der Instruktion betreffend die Ertheilung des von den kaiserl. ' deutschen Konsularbehörden zu gewährenden Schuzes im türkischen Reiche etc., vom 1. Mai 1872, kein Zweifel walten. Endlich könne nicht eingewendet werden, daß das deutsche Generalkonsulat im Sinne von Art. 17 des schweizerischen Konsularreglemente als schweizerisches Konsulat hätte handeln sollen. Dieses wäre gar nicht möglich gewesen, weil die Schweiz kein vertragsmäßiges Recht habe, einen Konsul in Tunis aufzustellen ; sie wäre daher auch nicht berechtigt, den Konsul eines andern Staates zu ermächtigen,in einem speziellen Falle als schweizerischer Konsul sich zu benehmen.

17. Dem ; Anträge der Regierung .des Kantons Thurgau entsprechend:, wurde, mit,, Kreisschreiben des .Departementes vom 15. Oktober 1879 der gegenseitige A u s t a u s c h der Strafurtheil zwischen sämmtlichenKanton en, d. h. von dem Kanton des urtheilenden Gerichtes an den Heimatkanton, in Anregung gebracht. Der Gedanke hat bei allen Kantonsregierungen Zustimmung gefunden, dagegen machten sich über die Art der Ausführung verschiedene Ansichten geltend, die noch näher zu prüfen bleiben.

18. Infolge der Untersuchung wegen der blutigen Vorgänge, welche Sonntags den 22. Oktober 1876 bei Anlaß eines Schießens in S t a b i o , K a n t o n s Tessin, stattfanden, wurden mit Beschluß der Anklagekammer vom 30. September 1878 außer Luigi Catenazzi auch folgende Personen,
nämlich Oberstlieutenant Mola, August Bernasconi, Thomas Induni, Ambros Mola, Luigi Moretti und Aristid Gusberti wegen Mordes, beziehungsweise Todschlages, Körperverlezung u. s. w. den kantonalen Assisen überwiesen. Die Herren Oberst-

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lieutenant Mola, Gusberti, Induni, Ambros Mola, Moretti und Bernasconi beschwerten sich bei dem Bundesgerichte und stellten das Begehren, es seien die eidgenössischen Assisen für diese Strafsache als zuständig zu erklären und die weitem Verhandlungen vor den kantonalen Gerichten zu untersagen. Das Bundesgericht brachte jedoch zunächst die Vorfrage zur Behandlung, ob ihm die Kompetenz zustehe, über das Hauptbegehren der Rekurrenten zu entscheiden, oder ob nicht vielmehr mit Rüksicht auf Art. 2, 3, 4 und 6 des Gesezes über die Bundesstrafrechtspflege, vom 27. August 1851, uns die Kompetenz zukomme, darüber zu entscheiden, ob der Straffall als politisches Vergehen an die eidg.

Assisen zu verweisen sei, -- immerhin unter Vorbehalt späterer Verfügung der Anklagekammer über die Zulassung der Anklage gemäß Art. 31 des gleichen Gesezes.

Wir waren schon zwei Male früher, auf Eingaben von betheiligter Seite hin, und zwar am 10. August 1877 und 24. September 1878, im Falle, den gleichen direkt an uns gerichteten Antrag abzulehnen, weil nicht, wie Art. 112, Ziffer 3 der Bundesverfassung fordert, ,,politische Verbrechen und Vergehen vorliegen, die Ursache oder ,,Folge derjenigen Unruhen, sind, durch welche eine bewaffnete ,,eidgenössische Intervention veranlaßt wurde."1 In unserer Antwort an das Bundesgericht sprachen wir uns in gleichem Sinne aus und bejahten die Frage, ob die in Art. 112 derBundesverfassung dem Bundesgerichte in Strafsachen eingeräumten Kompetenzen als konstitutionelle Rechte der Bürger aufgefaßt werden dürfen, worüber im Falle einer Beschwerde, gemäß Art. 113, Ziffer 3 der Bundesverfassung und Art. 59, litt, a des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege, das Bundesgerieht zu entscheiden kompetent ist.

In seinem Entscheide vom 17. Oktober 1879 schloß sich das Bundesgericht diesem Standpunkte an und erklärte den Rekurs als unbegründet. (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtes, Bd. V, S. 487.)

Bekanntlich adressirten die Herren Giuseppe Bernasconi und Genossen in Lugano später an die Bundesversammlung noch eine Petition, welcher sich einige tausend Bürger des Kantons Tessin anschlössen, dahin gehend, daß der fragliche Strafprozeß im öffentlichen Interesse den kantonalen Gerichten zu entziehen und den Bundesassisen zu überweisen sei. Die Bundesversammlung beschloß jedoch am 23. Dezember 1879, daß sie nicht kompetent sei, hierauf einzutreten.

649 19. Das Polizeigericht von Lausanne verurtheilte den Franzosen L o u i s Le B a l l e wegen Verläumdung in einer zu Lausanne publizirten Brochure und verfügte die Vernichtung dieser Brochure.

Das Haus, gegen welches die Verleumdung gerichtet war, veranlaßte das Gesuch, es möchte auf diplomatischem Wege die Sequestrirung und Vernichtung der Brochure auch in Frankreich und Argentinien bewirkt werden, wo dieselbe ebenfalls zahlreich verbreitet worden sein sollte.

Es konnte diesem Ansuchen nicht entsprochen werden, weil in keinem Staate Strafurtheile der Gerichte eines andern Staates vollzogen werden, sondern nur diejenigen, welche von den eigenen Gerichten und gestüzt auf die von diesen als wahr erkannten Thatsachen ausgesprochen worden sind, weßhalb auch in keinen internationalen Staatsverträgen die gegenseitige Vollziehung von Strafurtheilen stipulirt ist. Unter diesen Umständen blieb nichts Anderes übrig, als das betreffende Haus, oder wer immer durch die Brochure des Louis Le Balle sich beleidigt glaubte, anzuweisen, in allen denjenigen Staaten, in welchen er diese Brochure verbreitet haben sollte, nach Maßgabe der Gesezgebung dieser Staaten als Kläger aufzutreten und auf Reparation der Ehre und Vernichtung der Brochure zu klagen.

IT. Liquidation der Kosten.

20. Im lezten Geschäftsberichte wurde die Hoffnung ausgesprochen, daß die Differenzen mit kantonalen Behörden, betreffend die aus der Bimdeskasse zu vergütenden G e r i c h t s k o s t e n i n Sraffällen, die der kantonalen Gerichtsbarkeit ü b e r w i e s e n w e r d e n , durch die im Wurfe liegende Revision des Bundesgesezes über die Kosten der Bundesrechtspflege endlich werden gehoben werden.

Diese Erwartung war um so mehr gerechtfertigt, als die Revision des fraglichen Gesezes durch ein Postulat vom 20. Dezember 1878 veranlaßt wurde, welches den ausgesprochenen Zwek hatte, eine angemessene Erhöhung der Einnahmen zu erzielen. In unsern Botschaften vom 7. März 1879 und 4. November 1879 (Bundesblatt I, 8. 389 und III, S, 655) zu dem Entwurfe eines revidirten Gese/es rechtfertigten wir die Nothwendigkeit einer bessern Redaktion des bezüglichen Art. 20, wodurch nichts Neues geschaffen, sondern lediglich die in der Praxis stets festgehaltene Interpretation von Art. 15 des alten Gesezes klar flxirt worden wäre. Nach der vom Ständerathe angenommenen Redaktion von Art. 20 scheint aber ein neues System Aufnahme zu finden, das eine Erhöhung des betreffenden

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Büdgettitels zur Folge haben wird. Inzwischen wurde noch an dem alten Verfahren festgehalten, wonach die Kosten jenen Kantonen, welche die Richter und die Beamten der Staatsanwaltschaft etc.

mit Taggeldern entschädigen, nur in möglichst gleichem Maße vergütet wurden, wie denjenigen, welche diese Beamten mit festem Gehalt entschädigen.

Y. Fremdenpolizei.

21. Das Justiz- und Polizeidepartement hat sich veranlaßt gesehen, am 10. Dezember 1879 über die Handhabung der Fremdenpolizei gegenüber A u s l ä n d e r n , d i e d e m B e t t e l u n d a r b e i t s l o s e n H e r u m z i e h e n sich hingeben, an die Regierungen sämmtlicher Kantone ein Kreisschreiben zu erlassen, um ihnen eine größere Strenge zumal dann zu empfehlen, wenn die Inhaber provisorischer Ausweise die Frist zur Beschaffung gehöriger Legitimationspapiere unbenuzt haben verstreichen lassen, oder wenn Anzeichen von Fälschung jener Ausweise vorliegen. Das Kreisschreiben ist gedrukt im Bundesblatt 1879, Bd. III, S. 1124.

22. Unter der Leitung des eidgenössischen Post- und Eisenbahndepartements ist eine Vereinbarung mit den Verwaltungen des schweizerischen Eisenbahnverbandes erzielt und mit Kreisschreiben des Bundesrathes vom 6. September 1879 den sämmtlichen Kantonen mitgetheilt worden, wonach solche Angehörige der Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich, Oesterreich-Ungarn und Italien, w e l c h e v o n d e n G e s a n d t s c h a f t e n oder K o n s u l a t e n dieser Staaten als b e d ü r f t i g empfo.hlen werden, zur Hälfte der Taxe der dritten Klasse bis an die Landesgrenze transportirt werden (Bundesblatt 1879, Bd. III, S. 277J. -- Es ist jedoch bei Anlaß eines Spezialfalles konstatirt worden, daß von dieser Vereinbarung die Transporte, welche von den Polizeibehörden der Kantone angeordnet werden, ausgeschlossen sind. Andere Vereinbarungen betreffend gegenseitige unentgeltliche Verpflegung armer Kranker, wie z. B. diejenige mit Italien vom 15. Oktober 1875 (Amtl. Samml. n. F. Bd. I, S. 745) werden davon ebenfalls nicht betroffen. Es hat jeder Staat die Transportkosten für Personen, die er von seinem Gebiete entfernen will, an sich selbst zu tragen.

23. Bei Anordnung des T r a n s p o r t e s von G e i s t e s k r a n k e n muß mit größerer Vorsicht verfahren werden, als bei Transporten von körperlich Kranken. In beiden Fällen jedocn muß schon beim ersten Auftauchen von Krankheitserscheinungeh ärztliche Untersuchung angeordnet und jedenfalls muß immer dem

651 Transportbefehle ein ärztliches Zeugniß beigelegt werden, damit die Behörden anderer Kantone und Staaten sogleich orientili sind, bis zu welchem Grade die Krankheit gediehen ist. Ohne volle Sicherheit für den Kranken und das Publikum darf kein solcher Transport angeordnet werden.

Tl. Politische Polizei. -- Flüchtlinge.

24. In Ausübung der politischen Polizei waren wir am 29. April 1879 genöthigt, den A l p h o n s D a n e s i aus Bologna, welcher zu Genf in der Tipografia dell' Internazionale ein Plakat gegen die staatliche Ordnung Italiens mit Bedrohung des Königs, falls er Passanante hinrichten ließe, gedrukt und verbreitet hat, nebst vier andern Italienern, die der Gehilfenschaft sich schuldig gemacht hatten, im Sinne von Art. 70 und Art. 102, Ziffer 8 und 9 der Bundesverfassung aus dem Gebiete der Schweiz auszuweisen.

(Bundesblatt 1879, Bd. II, S. 654.)

Zwei andere Italiener, Namens A u g u s t i n P i s t o i e s i und J o h a n n P e r e l l i , welche in Lugano eine sozialdemokratische Agitation mit besonderer Rüksicht auf Italien unterhielten, wurden im Juni auf Antrag der Regierung von Tessin, ebenfalls in Anwendung von Art. 70 der Bundesverfassung, nach Bellinzona internirt. Der Erstere erhielt indeß mit Rilksicht auf seinen Gesundheitszustand, jedoch mit ernstlicher Verwarnung bezüglich seines Verhaltens für die Zukunft, die Erlaubniß, einstweilen noch in Lugano zu bleiben.

Der gewesene spanische Minister R u i z Z o r i l l a , welcher im Juli 1878 wegen Betheiligung an einer Konspiration gegen die spanische Regierung aus Prankreich ausgewiesen worden war, sezto in Genf sein agitatorisches Treiben fort. Er hielt namentlich eine Rede, deren Inhalt geeignet war, die friedlichen Beziehungen, der Schweiz zu Spanien zu stören, und ließ dieselbe überdieß zu Genf in spanischer Sprache druken und in zahlreichen Exemplaren nach Spanien versenden. Wir sahen uns veranlaßt, ihm eine Verwarnung mit Androhung der Ausweisung im Falle der Wiederkehr ähnlicher Handlungen, zu ertheilen.

Die Gründe, welche zur Ausweisung des Publizisten H e i n r i c h J o a c h i m G e h l s e n aus Tönning in Schleswig-Holstein, wohnhaft gewesen in Bern, geführt haben, sind aus den Verhandlungen in den eidgenössischen Räthen bekannt. Wir verweisen auf die gedrukten Aktenstüke : Bundesbl. 1879 II, 652 und 984; III, 1241.

!

652 Die im lezten Geschäftsberichte erwähnte Untersuchung gegen M a r i e L o u i s P a u l B r o u s s e von Montpellier, wohnhaft gewesen in Vivis, hat durch Urtheil der Assisen des I. eidgenössischen Kreises am 16. April 1879 ihre Erledigung gefunden. Die Geschwornen bejahten mit gesezlicher Mehrheit die Frage, ob der Angeklagte Verfasser oder Herausgeber einer Reihe von Artikeln im Journal ,,L1 Avant-Garde" sei und durch öffentliche Aufmunterung und Anreizung zum Königsmorde und zum Morde voa fremden Staatsbeamten »ine völkerrechtswidrige Handlung verübt habe.

Hierauf verurtheilte die Kriminalkammer, in Anwendung von Artikel 41 des Bundesstrafrechts, sowie gestüzt auf Artikel 4, 5 und 71 des gleichen Strafgesezes, den Paul Brousse zu 2 Monaten Gefängniß, zu 10 Jahren Verbannung aus der Schweiz und zur Bezahlung der Prozeßkosten, und verfügte die Veröffentlichung des Urtheiles im Bundesblatt, sowie die definitive Sequestrirung der betreffenden Nummern der ,, Avant -Garde". (Bundesbl. 1879, II, 648.) Brousse hat die Gefängnißstrafe vom 16. April bis 17. Juni zu Neuenburg abgebüßt, und an lezterm Tage Nachmittags die Schweiz nach seiner Wahl über die französiche Grenze verlassen.

25. Bezüglich der p o l n i s c h e n F l ü c h t l i n g e sind keine Veränderungen eingetreten. An üblichen Unterstüzungen wurden für einen kranken Polen, sowie zur Ermöglichung der Abreise eines andern, 677 Franken ausgelegt.

VII. Heimatlosigkeit.

26. Der Staatsrath des Kantons T e s s i n berichtete, daß im Laufe des Jahres 1879 die sämmtlichen alten Heimatlosenuntersuchungen erledigt worden seien. In 31 Dekreten seien 11 einzelne heimatlose Personen und ganze Familien eingebürgert, und für 20 sei das ursprüngliche Gemeindebürgerrecht im Kanton festgestellt worden. Durch mehrere andere Beschlüsse habe er die Streichung vom Register der Heimatlosen verfügt, nachdem es sich ergeben, daß die Betreffenden keinen Anspruch auf die Einbürgerung im Kanton haben. Zwei Fälle seien an das Polizeidepartement zurükgewiesen worden, um die Anerkennung der Betreffenden in ihrem ursprünglichen Heimatlande zu bewirken, und in zwei anderen Fällen habe diese Anerkennung in Italien erzielt werden können. Der Staatsrath habe die Genugthuung, versichern zu können, daß der Kanton Tessin nunmehr keine Heimatlosen mehr zähle, denen nicht nach Vorschrift des Bundesgesezes ein Gemeindebürgerrecht angewiesen oder ausgemittelt wäre. Es zeigen sich aber immer wieder neue

653 Fälle, in welchen für Personen oder Familien, die im Tessin, oder in andern Kantonen, oder im Auslande wohnen, zur Sicherung des Domizils oder zum Abschluß von Ehen etc. das Heimatrecht festzustellen sei. Solche Untersuchungen werden indeß stets mit möglichster Beförderung durchgeführt uad erledigt. Von den Rekursen gegen die Einbürgerungsbeschlüsse des Staatsrathes seien noch 13 bei dem Großen Rathe pendent; es sei indeß wahrscheinlich, daß noch andere Fälle an ihn rekurrirt werden.

27. Die gleiche Erscheinung, deren der Staatsrath des Kantons Tessin erwähnt hat, zeigt sich auch im Allgemeinen bezüglich der Nachkommen von Schweizern im Auslande, deren Abstammung in dem vermeintlichen Heimatkanton unbekannt geblieben ist, indem aus diesen Verhältnissen vielfache Nachforschungen entspringen, die zu neuen Untersuchungen und Entscheiden führen. -- Von den streitigen s c h w e i z e r i s c h e n H e i m a t l o s e n sind mit sechs Entscheiden 14 Personen in fünf Kantonen eingebürgert und von diesen anerkannt worden. Andere zum Theil weitläufige Untersuchungen sind wesentlich gefördert und zum Entscheide vorbereitet worden. Der im Vorjahre vor dem Bundesgerichte pendent gebliebene Fall ist durch Urtheil übereinstimmend mit unserm Entscheide erledigt worden. Dagegen wurde der Prozeß bezüglich eines frühem Entscheides gegen zwei Kantone bei dem Bundesgerichte eingeleitet, dessen Beurtheilung in das Jahr 1880 fallen wird.

Zum Schlüsse bleibt noch zu bemerken, daß sich die Geschäfte des Justiz- und Polizeidepartementes in Folge der Entwiklung des Rechtslebens durch die neue Bundesverfassung von Jahr zu Jahr vermehren. Im Jahr 1879 betrug die Gesammtzahl der ein- und ausgegangenen einzelnen Geschäfte 6528 (im Jahr 1878: 59(i4).

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommensten Hochachtung.

B e r n , den 9. April 1880.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schieß.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend seine Geschäftsführung im Jahre 1879.

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1880

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2

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17

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17.04.1880

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581-653

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