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Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend Gewährleistung des tessinischen Verfassungsdekretes vom 8. Januar 1880.

(Tom 9. Juni 1880.)

Tit. !

In Abänderung des Verfassungsdekretes vom 31. Januar 1879?

welchem die Bundesversammlung am 23. Dezember 1879 die Gewährleistung verweigerte, genehmigte der G r o ß e R a t h d e s K a n t o n s Te s si n am 8. Januar 1880 ein neues Verfassungsdekret,, das am 25. gleichen Monats der Abstimmung des Volkes unterstellt wurde. Der Staatsrath übersandte uns mit Schreiben vom 5./7. Februar 1880 dieses neue Dekret und sprach die Hoffnung aus, daß nunmehr dieser neuen Redaktion im Sinne von Art. 6 der Bundesverfassung die eidgenössische Gewährleistung nicht werde vorenthalten werden, zumal der Große Rath sich bestrebt habe, den in unserer Botschaft vom 12. Dezember 1879 (Bundesblatt 1879, Bd. III, S. 1190) entwikelten bundesstaatsrechtlichen Grundsäzen zu genügen.

Bei der am 3. Februar 1880 stattgefundenen Verifikation der Gemeindeprotokolle konstatirte der Staatsrath, daß 21,570 gültige Stimmen abgegeben worden waren (wovon 52, welche Erkennungszeichen trugen, abgerechnet wurden) und daß definitiv 13,119 Bürger für die Annahme und 8399 für die Verwerfung des neuen Verfassungsgesezes gestimmt hatten. In Folge dessen erklärte der Staatsrath dasselbe als angenommen.

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Es lautet wie folgt: ,,Einziger Artikel. -- Der Große Rath wird im Verhältniß von einem Abgeordneten auf je 1200 Seelen der tessinischen Bevölkerung (anime della popolazione ticinese) und der Schweizer (confederati), welche gemäß der Bundesverfassung niedergelassen (domiciliati) sind, gewählt. Der Bruchtheil nicht unter der Hälfte wird als ein Ganzes behandelt.

Die Tessiner, welche ihren vorherrschenden und bleibenden Wohnsiz (il loro domicilio principale e permanente) außerhalb des Kantons haben, und die Fremden sind von der Berechnung der Bevölkerung ausgeschlossen.

Das Gesez wird die Wahlkreise feststellen, deren jedoch nicht weniger als 17 sein dürfen.

Die allgemeinen Wahlen in den Großen Rath finden am ersten Sonntag des März statt.

Uebergangsbestimmungen.

,,Art. 1. Die Abstimmung des Volkes über das gegenwärtige Verf'assungssesez wird am- 25. Januar nächsthin stattfinden.

ö O ,,Art. 2. Der Staatsrath wird binnen acht Tagen nach der Volksabstimmung in öffentlicher Sizung das Resultat derselben proklamiren, und wenn das Dekret von der absoluten Mehrheit der an der Abstimmung theilnehmenden Bürger angenommen ist, sofort die eidgenössische Gewährleistung dafür nachsuchen.

,,Art. 3. Die gegenwärtige Revision, wenn sie von dem Volke angenommen ist, tritt für die allgemeinen periodischen Wahlen im März 1881 in Kraft, bis zu welchem Zeitpunkte die gegenwärtigen gesezgebenden Behörden im Amte bleiben. Inzwischen wird die gesezgebende Behörde diejenigen Verfügungen erlassen, welche ihr gemäß dieser Revision obliegen.

,,Art. 4. Die theilweise Revision der Verfassung vom 24. November 1876, Lemma 3 von Art. 14 der Verfassung vom 23. Juni 1830, soweit dasselbe die Wahl des Großen Rathes betrifft, und alle andern in Kraft stehenden, mit dem gegenwärtigen Verfassungsdekret im Widerspruche befindlichen und mit ihm unvereinbaren Vorschriften sind aufgehoben, unter Vorbehalt der Bestimmung im vorstehenden Art. 3.a Die neue Vorlage hat gegenüber derjenigen vom 31. Januar 1879 die Aenderung eingeführt, daß die Tessiner, welche ihre Ll

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296 Hauptniederlassung bleibend außerhalb des Kantons haben, bei der Berechnung der Repräsentation nicht mitgezählt werden. Dagegen werden auch im neuen Dekrete die nur vorübergehend abwesenden Tessiner in ihrer Heimat mitgezählt und andererseits die schweizerischen und fremden Aufenthalter von der Zahlung ausgeschlossen, Das Riformino vom 24. November 1876, das nunmehr wieder aufgehoben wird, hatte als Repräseutationsbasis die f a k t i s c h e W o h n b e v ö l k e r u n g angenommen und hatte dadurch die Uebereinstimmuug sowohl mit Art. 72 der Bundesverfassung, betreffend die Nationalrathswahlen, als mit den meisten Kantonalverfassungqn hergestellt. Einzig die Kantone Uri, Unterwaiden n. W.

und Thurgau haben kleine Abweichungen eingeführt, indem Uri und Nidwaiden die Ausländer von der ,, Volkszahltt in Abzug bringen und Thurgau für je 250 S t i m m b e r e c h t i g t e einen Abgeordneten in den Großen Rath wählen läßt. Indeß muß bezüglich des Kantons Thurgau sofort ergänzt werden, daß bei den Wahlen in den Großen Rath gemäß Gesez über die Ausübung des Stimmrechts vorn 26. November 1878 die kantonalen und s c h w e i z e r i s c h e n Aufenthalter stimmberechtigt sind.

Wenn es sich nun fragt, ob dem Kanton Tessin gestattet werden dürfe, die schweizerischen Aufenthalter von der Repräsentation in den gesezgebenden Körper auszuschließen, so ist gemäß Art. 6, Litt, a der Bundesverfassung zu untersuchen, ob eine derartige Bestimmung den Vorschriften der Bundesverfassung zuwiderlaufe. Diese leztere Frage muß verneint werden. Die Bundesverfassung enthält keine Vorschriften über die rechtliche Stellung der Aufenthalter, wie es im Art. 43 bezüglich der Niedergelassenen der Fall ist. Da mm gemäß Art. 3 der Bundesverfassung die Kantone souverän sind, soweit diese Souveränetät nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, so kann bundesrechtlich nichts dagegen eingewendet werden, wenn ein Kanton die auf seinem Gebiete wohnenden Aufenthalter aus andern Kantonen von der im gesezgebenden Körper zu repräsentirenden Bevölkerung ausschließt.

Was die Mitzählung derjenigen Tessiner betrifft, welche nicht ,,ihren vorherrschenden und bleibenden Wohnsiz außerhalb des Kautons haben", sondern nur vorübergehend abwesend sind, so steht einer solchen Anordnung ebenfalls keine bestimmte Bundesvorschrift entgegen,
und dieselbe findet überdies Aufklärung und Rechtfertigung in den besondern gewerblichen Verhältnissen der tessinischen Bevölkerung.

Bereits in unserer Botschaft vom 12. Dezember 1879, betreffend die erste Redaktion des vorliegenden Verfassungsdekretes, haben wir auf einen Uebelstand hingewiesen, der auch in der gegenwärtigen

297 Vorlage nicht berichtigt zu sein scheint. Wir sagten damals (Bundesblatt 1879, Bd. III, S. 1207): ,,Im Uebrigen birgt das vorliegende Dekret noch einen andern, zumal für den Kanton Tessin schwer wiegenden Fehler, denjenigen nämlich, daß es auf das Prinzip der Heimat abstellt und somit in der Gesezgebung eine Ausführung zulassen würde, wonach der in einer andern Gemeinde des Kantons niedergelassene Tessiner nicht an seinem Wohnorte, sondern in der Heimat gezählt würde. Daß dieses Verfahren beabsichtigt ist, ergibt sich aus der Antwort des Staatsrathes auf die Eingabe der Reklamanten, worin er das Piinzip der Angehörigkeit als das beste und im Kanton Tessin historisch allein berechtigte darzustellen sucht. Nun ist es eine bekannte Thatsache und eine in vielen Berichten betreffend die in der Bundesversammlung behandelten Beschwerden über Abstimmungen und Wahlen im Kanton Tessin wiederkehrende Klage, daß das Verfassungsgesez von 1819, das Wahlgesez vom 30. November 1843 und das Gesez über Einbürgerung und Stimmrecht vom 24. November 1851 die Unterscheidung eines rechtlichen und eines faktischen Domizils (domicilio legale und domicilio reale) zulassen und es dem Tessirierbürger möglich machen, nach Belieben am einen oder andern Orte seine politischen Rechte auszuüben. Es wurde wiederholt die Nothwendigkeit einer Abänderung dieses Zustandes betont, aber vergebens."

Diesen frühern Bemerkungen ist noch beizufügen, daß auch das tessinische Gesez vom 27. Mai 1878, betreffend die Ausübung der politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter, welches uns im Sinne vom Art. 43 der Bundesverfassung zur Prüfuno; und Genehmigung vorgelegt wurde, die Vorschrift enthielt, daß das Stimmrecht in eidgenössischen, kantonalen und Gemeindeangelegenheiten in der Re gel in der Gemeinde der Heimat (Angehörigkeit) ausgeübt werde, fakultativ aber auch am Wohnorte ausgeübt werden könne, wenn die im Geseze aufgestellten Vorschriften ererfüllt seien. Einer derartigen Bestimmung konnten wir im Hinblike auf Art. 43 der Bundesverfassung in keiner Weise beipflichten und haben daher der tessinischen Gesezesvorlage aus den in unserm Geschäftsberichte pro 1878 (.Bundesblatt 1879, II, 586) kurz referirten Gründen unsere Genehmigung versagt.

Die aufgeworfene Frage hat für einzelne tessinische Kreise eine erhebliche praktische
Bedeutung. Laut der lezten eidg. Volkszählung von 1870 befanden sich nämlich 17,997 tessinische Bürger in andern Gemeinden desKantonsj die Mehrzahl derselben wohnten in den Bezirken Lugano, Locamo, Meudrisio und Bellinzona. Eine solche Zahl vermag ohne Zweifel das Repräsentatiousverhältniß zu O

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ändern , je nachdem die tessinischen Niedergelassenen und Aufenthalter am Wohnorte oder am Heimatorte gerechnet werden.

Wir halten nun dafür, daß einerseits die logische Entwiklung des im Art. 43 der Bundesverfassung niedergelegten Grundsazes,, wonach die politischen Rechte am Wohnsize auszuüben sind, und andererseits der im Art. 4 der Bundesverfassung aufgestellte Grundsax der Gleichheit es mit sich bringen , künstliche Bevortheilungen einzelner Orte in Beziehung auf das politische Gewicht, welches ihnen in der Gesezgebung und Verwaltung des Kantons zugemessen werden will, als unzuläßig auszuschließen.

Dieser Ansicht wird in einem Vorbehalte im Bundesbeschlusse Ausdruk gegeben.

Nachdem unsere Botschaft in der vorwürfigen Angelegenheit bereits abgefaßt war, ist eine von den Herren R. Simmen, August Mordasini und Pietro Mola unterzeichnete Beschwerde eingegangen,, welche das Gesuch enthält, daß dem von dem Großen Rathe des Kantons Tessin erlassenen und in der Volksabstimmung vom 25. Januar laufenden Jahres angenommenen Verfassungsdekrete die eidg.

Gewährleistung nicht ertheilt werde. In dieser Beschwerde wird neben den von den gleichen Rekurrenten und ihren Parteigenossen schon gegen das frühere Verfassungsdekret vom 9. März vorigen Jahres geltend gemachten Einwendungen insbesondere der n e u e Gesichtspunkt aufgeführt, daß gemäß Art. 15 des noch in Kraft stehenden Verfassungsgesezes vom 20. November 1875 (sog. Riformetta) das Volk einer Revision vorgängig angefragt werden müsse, ob dasselbe eine Revision verlange, und eventuell ob die leztere durch den Großen Rath oder durch einen Verfassungsrath auszuführen sei.

Diese Anfrage sei jedoch unterlassen worden.

Der Staatsrath von Tessin, dem wir die eingegangene Beschwerde noch zur Vernehmlassung übermittelt haben, behauptet im Wesentlichen in seiner Antwort vom 1. d. M., daß der Art. 15 der Riformetta auf das vorliegende Verfassungsdekret keine Anwendung finde. Früher hätten im Tessin zwei Formen für die Vornahme einer Revision bestanden, nämlich: Vorlage eines Entwurfes Seitens des Staatsrathes aus eigener Initiative, oder aber die direkte Aufnahme der Revision durch den Großen Rath, im Falle des Konfliktes mit dem Staatsrath jedoch vorbehalten, daß das von dem Großen Rathe ausgearbeitete Projekt erst nach Ablauf der Zeitdauer von einer
ordentlichen Session zur andern zum Geseze gemacht werden konnte (Art. 23, § 2 der Verfassung vom 23. Juni 1830 und Art. II, § 3 der Revision vom 1./4. März 1855). Um nun einerseits die Volksrechte zu erweitern und andererseits die Collisionen zwischen den

299 beiden Gewalten zu vermeiden, habe die Riformetta ein neues Initiativrecht eingeführt, und zwar in doppelter Form : a. wenn die Mehrheit des Großen Rathes die Revision verlangt, auch wenn, fügt der Staatsrath bei, der Große Rath nicht in der Session versammelt ist; b. wenn 7000 Aktivbürger das Begehren stellen.

In d i e s e n F ä l l e n schreibt die Riformetta die vorgängige Anfrage an das Volk vor. Für den Fall aber, wo Regierung und Großer Rath über Vornahme der Revision gleicher Meinung seien, und also der Große Rath einfach der Initiative des Staatsrathes beitrete, werde an dem bisherigen Verfahren festgehalten, nämlich nach erfolgter Berathung das neue Projekt dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt, ohne daß vorausgehends eine Revisionsfrage an das Volk stattgefunden habe.

Wir machen unsererseits darauf aufmerksam, daß der von den Rekurrenten heute eingenommene Standpunkt weder von ihnen, noch von anderen, sei es bei Anlaß der Revision vom Jahre 1879, sei es vor der Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf, der gegenwärtig zur Ertheilung der eidgenössischen Gewährleistung vorliegt, gemacht wurde. Im Großen Rathe wurde auch von der liberalen Seite aus weder in der Berathung von 1879 noch in derjenigen von 1880 die Inkonstitutionalität des Vorgehens behauptet, sondern man scheint allseitig damit einig gegangen zu sein, daß die bestehende Verfassung nur eine Schlußabstimmung des Volkes vorschreibe. Das tessinische Volk hat aber in der That in den zwei aufeinander folgenden Abstimmungen vom 9. März 1879 und vom 25. Januar 1880 seinen Revisionsvvillen so ernsthaft kundgegeben, daß es als ein zu weit getriebener Formalismus erscheinen dürfte, nun noch einmal von vorn zu beginnen, und das Volk zuerst in Anfrage zu sezen, ob es eine Revision wolle oder nicht.

Wir beantragen, auf die nachträgliche Eingabe der Herren Simmen und Genossen nicht einzutreten, und empfehlen Ihnen die Annahme des angefügten Beschlußentwurfes.

B e r n , den 9. Juni 1880.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft:

Schieß.

300 (Entwurf)

Bundesbeschluss betreffend

Gewährleistung des tessinischen Verfassungsdekrets vom 8. Januar 1880.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht eines Berichtes und Antrages des Bundesrathes vom 9. Juni 1880, betreffend die am 8. Januar 1880 vom Großen Rathe des Kantons Tessin beschlossene theilweise Revision der Verfassung dieses Kantons; in E r w ä g u n g : 1) daß diese theilweise Revision bei der am 25. Januar 1880 stattgefundenen Abstimmung von der Mehrheit der stimmenden Bürger angenommen worden ist; 2) daß im Sinne der Artikel 4 und 43 der Bundesverfassung die tessinischen Angehörigen an ihrem Wohnsize zu zählen sind; 3) daß im Uebrigen dieses Verfassungsdekret nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung zuwider wäre, beschließt: 1. Dem Verfassungsdekret des Kantons Tessin wird unter dem in Erwägung 2 erwähnten Vorbehalte die bundesgemäße Garantie ertheilt.

2. Der Bundesrath ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Bericht des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend Gewährleistung des tessinischen Verfassungsdekretes vom 8. Januar 1880. (Vom 9. Juni 1880.)

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19.06.1880

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