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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Regierungen der Kantone betreffend die allgemeine Ausländerrevision.

(Vom 19. April 1920.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Zu den dringendsten und zugleich schwierigsten Problemen, welche die Gegenwart unserem Lande zur Lösung aufgibt, gehört unstreitig die Beschwörung der Überfremdungsgefahr, die unsere nationale Existenz in geistiger, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht bedroht. Lange vor dem Kriege schon akut geworden, beschäftigte diese Gefahr in immer steigendem Masse nicht nur die Behörden, sondern auch die öffentliche Meinung und liess sie Bedacht nehmen auf Abwehrmassnahmen, die durch die Wirkungen des Krieges noch dringender geworden sind. Allerdings konnte in der späteren Kriegszeit durch eine Reihe von behördlichen Vorkehren -- wir nennen die Grenzbewachung, die Erschwerung der Einreise und die Kontrolle der Ausländer im Innern des Landes, sowie die erweiterte Möglichkeit ihrer Ausweisung und Abschiebung -- ein noch stärkeres Anschwellen der politischen und wirtschaftlichen Fremdengefahr verhindert werden. Besonders in den ersten Kriegsjahren gelang es aber einer grossen Anzahl von Ausländern, darunter vielen unwürdigen und gefährlichen Elementen, die durch ihre Tätigkeit das Land nach aussen und innen schädigten und noch schädigen, sich bei uns einzunisten und dauernde Niederlassung zu erwerben.

Es ist unter diesen Verhältnissen nicht verwunderlich, wenn im Laufe des letzten Jahres von verschiedenen Seiten verlangt wurde, dass auf Grund einer vom Bundesrat zu erlassenden Verordnung sämtliche seit dem 1. August 1914 an Ausländer erteilten Niederlassungen einer eingehenden Revision unterzogen, dass dabei zu beanstandende Niederlassungen kassiert und die betroffenen Personen des Landes verwiesen werden sollten. Man glaubte, auf diese Art das Land von unerwünschten Fremden säubern zu können. Die Durchführung dieser allgemeinen ,,Aus-

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länderrevision" erweist sich jedoch aus juristischen, humanitären und technischen Erwägungen als undurchführbar und auch die Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren vom 25. Februar 1920 hat sich nach gründlicher Prüfung einstimmig gegen die Durchführung einer solchen Ausländerrevision ausgesprochen.

Wir brauchen daher auf die Sache nicht einlässlich zurückzukommen. Es mag nur noch besonders betont werden, dass wir auf dem vorgeschlagenen Wege mit den bestehenden Niederlassungsverträgen, welchen vom Bundesrat immer Nachachtung verschafft wurde, in schweren Konflikt geraten müssten und unser Vorgehen würde ohne Zweifel eine unheilvolle Rückwirkung auf unsere Landsleute im Ausland ausüben.

Nichtsdestoweniger gebieten das Wohl und die Sicherheit des Landes die ,,Ausländerrevision", wenn auch in anderer Form, unverzüglich in Angriff zu nehmen. Das Rüstzeug ist in unsere Hände gegeben, wir brauchen es nur in strengerer und folgerichtigerer Weise als bisher anzuwenden. Es liegt in der mannigfachen Möglichkeit, die Ausländer, welche sich mit unsern Gesetzen . und Polizeivorschriften im Widerspruch befinden, gestützt auf die Bestimmungen der Niederlassungsverträge selbst oder dann auf Grund des internen, diesen Verträgen nicht zuwiderlaufenden Rechtes aus unserem Staatsgebiete wegzuweisen.

Wir gestatten uns, Sie nachstehend auf diese verschiedenen Möglichkeiten aufmerksam zu machen : I.

a. Viele der von der Schweiz mit fremden Staaten abgeschlossenen N i e d e r l a s s u n g s v e r t r ä g e enthalten ausdrücklich V e r p f l i c h t u n g e n , denen die Angehörigen d e r V e r tragsstaaten n a c h k o m m e n müssen, um A u f e n t h a l t oder Niederlassung beanspruchen zu können.

So enthalten z. B. die Verträge mit Frankreich, D e u t s c h land, Belgien, Spanien, Serbien, Nordamerika und S a l v a d o r die Voraussetzung, dass die betreffenden Personen die G e s e t z e und P o l i z e i v o r s c h r i f t e n des Aufenthaltsstaates beobachten.

Nach den Verträgen mit G r o s s b r i t a n n i e n , I t a l i e n , J a p a n , R u s s l a n d und dem K o n g o s t a a t wird den Angehörigen des andern Landes Aufenthalt und Niederlassung erteilt, wenn von ihnen den L a n d e s g e s e t z e n Genüge geleistet wird.

Die Verträge mit D ä n e m a r k , H o l l a n d , L i e c h t e n s t e i n , dem ehemaligen Ö s t e r r e i c h - U n g a r n , R u m ä n i e n

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E c u a d o r und C o 1 u m b i e n enthalten keine derartigen einschränkenden Bestimmungen.

&. Neben den Bedingungen für die Erteilung der Niederlassung führen die meisten N i e d e r l a s s u n g s v e r t r ä g e mehr oder weniger bestimmt die G r ü n d e an, w e l c h e d e n E n t z u g der N i e d e r l a s s u n g r es p. die W e g w e i s u n g der A u s länder rechtfertigen.

So sehen vor die Verträge mit F r a n k r e i c h , B e l g i e n und S e r b i e n : die Wegweisung durch gesetzliche Verfügung oder gemäss den' Gesetzen oder Verordnungen über die Sittenpolizei und den Bettel; der Vertrag mit D e u t s c h l a n d : die Wegweisung infolge eines strafgerichtlichen Urteils, aus Gründen der innern oder äussern Sicherheit des Staates oder aus sonstigen polizeilichen Gründen, insbesondere aus Gründen der Gesundheits-, Sittenoder Armenpolizei ; die Verträge mit I t a l i e n und R U S S l a n d : die Wegweisung durch gerichtliches Urteil, gesetzliche Polizeimassnahmen oder gemäss den Gesetzen über Armen- und Sittenpolizei ; die Verträge mit D ä n e m a r k und S p a n i e n : die Wegweisung infolge gerichtlichen Urteils oder gemäss den Verordnungen bzw. den Gesetzen und Verordnungen über Sittenpolizei und Bettel; die Übereinkunft mit H o l l a n d über die Rückübernahme der beiderseitigen Staatsangehörigen : die Wegweisung infolge gerichtlichen Urteils oder aus Gründen der innern und äussern Sicherheit des Staates oder aus Gründen der Sitten- oder Gesundheitspolizei oder weil die in Betracht kommenden Personen keine genügenden Unterhaltsmittel besitzen und sich solche durch ihre Arbeitskraft nicht erwerben können ; Die Verträge mit dem ehemaligen Ö s t e r r e i c h - U n g a r n , G r o s s b r i t a n n i e n , dem K o n g o s t a a t und S a l v a d o r : Wegweisung durch gerichtliches Urteil, durch gesetzmässig angewendete und vollzogene Polizeimassregeln oder kraft der Verordnungen über Sitten- und Armenpolizei, bzw. der Gesetze über Bettel und die Sittlichkeit; der Vertrag mit den V e r e i n i g t e n S t a a t e n von A m e r i k a : Wegweisung durch gerichtliches Urteil oder durch Polizeimassregeln oder infolge der Gesetze und Verordnungen über Sittenpolizei und Armenwesen;

358 die Verträge mit E c u a d o r und C o l u m b i e n : Wegweisung derjenigen Angehörigen des andern Teiles, die wegen ihres Vorlebens oder ihres Verhaltens als gefährlich anzusehen sind; im Vertrag mit L i c h t en s t ei n wird die Übernahmepflicht der Vertragsstaaten allgemein vorgesehen für den Fall, dass den Angehörigen des einen Staates das Niederlassungsrecht im andern Land entzogen wird; nach der Handelsilbereinkunft mit R u m ä n i e n ist man einverstanden, dass die geschlossene Vereinbarung an den besonderen Gesetzen, Verordnungen und Reglementen über Handel, Industrie, Polizei und öffentliche Sicherheit, welche allgemein auf die Fremden anwendbar sind, nichts ändern soll.

Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass sämtliche vorerwähnten Verträge, mit Ausnahme von Dänemark und zum Teil von Holland unter den materiellen Voraussetzungen für die Niederlassungserteilung oder unter den Ausweisungsgründen die P o l i z e i v e r o r d n u n g e n entweder ausdrücklich erwähnen oder doch sonst derart allgemeine Ausweisungsnormen enthalten, dass die Polizeiverordnungen darunter subsummiert werden können.

Daraus folgt, dass neben den in den Niederlassungsverträgen selbst ausdrücklich aufgeführten Wegweisungsgründen, sozusagen alle unsere internen Ausweisungsbestimmungen gegen Ausländer, seien sie gesetzlicher oder polizeilicher Natur, angewendet werden können, ohne dass dadurch den Staatsverträgen Abbruch getan wird.

Die Verträge mit Chile, Griechenland und Persien enthalten keine ausdrücklichen Bestimmungen über die Niederlassung und die Wegweisung, sondern nur die allgemeine Meistbegünstigungsklausel, was uns ermöglicht, auch auf die Bürger dieser Staaten sämtliche oben genannten Wegweisungsgründe anzuwenden.

II.

Über die internen A u s w e i s u n g s b e s t i m m u n g e n ist folgendes zu sagen : a. Gemäss Art. 70 der Bundesverfassung steht dem Bundesrat das Recht zu, Fremde, welche die innere oder äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft gefährden, aus dem schweizerischen Gebiet wegzuweisen. Nach Art. 27, Absatz l, der Verordnung vom 17. November 1919 über die Kontrolle der Ausländer ist der Bundesrat im weitern befugt, ebenfalls in Anwendung jenes Verfassungsartikels diejenigen Ausländer auszuweisen, welche durch ihr Verhalten die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln

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und andern unentbehrlichen Bedarfsgegenständen stören, erschweren oder verhindern. Die kantonalen Behörden sollen Ausländer, die sich solcher Handlungen schuldig gemacht haben, der Bundesanwaltschaft zur Ausweisung bekanntgeben.

b. Art. 26, Absatz l, der zitierten V e r o r d n u n g über die K o n t r o l l e der Ausländer sieht vor, dass schriftenlose oder mit ungenügenden Ausweispapieren versehene Ausländer von den kantonalen Behörden über die Landesgrenze abgeschoben werden können. Im weitern haben die Kantone laut Art. 27, Absatz 2, und Art. 28, j e n e r V e r o r d n u n g das Recht, in Anrufung dieser Bestimmungen Ausländer, auf Grund der im kantonalen Recht vorgesehenen Ausweisungsgründe, wie auch wegen Unterlassung der Anmeldung, Verweigerung der Auskunft, unrichtiger Angaben, Widerhandlung gegen die Weisungen der Polizeibehörden und ungenügender Ausweise über einen einwandfreien und den Interessen der Schweiz nicht zuwiderlaufenden Zweck des Aufenthaltes aus dem Gebiet der ganzen Eidgenossenschaft auszuweisen. Auch mag hier besonders darauf hingewiesen werden, dass Steuerhinterziehung durch einen Ausländer einen genügenden Grund zur Wegweisung bildet.

c. Den Kantonen steht schliesslich zu, gestützt auf die i n t e r k a n t o n a l e Ü b e r e i n k u n f t vom 22. März 1913, Ausländer aus dem Gebiet der Schweiz administrativ auszuweisen, ·welche wegen eines der im Bundesauslieferungsgesetz vom 22. Januar 1892 aufgeführten Verbrechen oder Vergehen gerichtlich verurteilt worden sind.

d. Wir wollen nicht unterlassen, noch darauf hinzuweisen, dass auch die fremden Deserteure und Refraktäre, soweit sie nicht amnestiert sind und daher den für sie geltenden besonderen Bestimmungen noch unterliegen, nach Massgabe von Art. 17 der V e r o r d n u n g vom 29. Oktober 1918 aus der Schweiz ausgewiesen werden können : 1. durch gerichtliches Urteil, 2. durch Verfügung der zuständigen kantonalen Administrativbehörde in Anwendung der oben genannten interkantonalen Übereinkunft vom 22. März 1913 und 3. durch Verfügung des Bundesrates. Der Vollzug der gegen fremde Militärflüchtlinge ausgesprochenen Landesverweisung erfolgt in allen Fällen auf Anordnung unseres Justiz- und Polizeidepartements.

Die vorstehenden Ausführungen dürften Sie davon überzeugt haben, dass die rechtlichen Handhaben genügen werden, um Bund und Kantone in den Stand zu setzen, in beharrlicher Verwaltungstätigkeit nach und nach das Land von allen denjenigen

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fremden Elementen zu säubern, welche der öffentlichen Meinung Anlass gaben, die allgemeine Ausländerrevision zu verlangen.

Bei sinngemässer und strenger Anwendung dieser Rechtsmittel erachtet es der Bundesrat nicht für nötig, zu ausserordentlichen Massnahmen zu greifen. Unerlässlich für die Erreichung des uns vorschwebenden Zweckes ist es jedoch, dass alle beteiligten Instanzen gemeinsam daran arbeiten. Insbesondere gilt dies für den Verkehr zwischen der eidgenössischen Zentralstelle für Fremdenpolizei und den kantonalen Behörden. Erstere muss es sich angelegen sein lassen, Hand in Hand mit den Kantonen vorzugehen und diese nach Möglichkeit zur Ausweisung von unerwünschten Elementen zu ermahnen und sie bei der Ausführung zu unterstützen. Andererseits muss es den Kantonen obliegen, unerwünschte und beanstandete Ausländer in grösserem Umfang als bisher der Zentralstelle zu melden. Die kantonalen Behörden müssen auch darauf Bedacht nehmen, dass keine unbefristeten Niederlassungsbewilligungen mehr an Ausländer erteilt werden, da auf diese Weise ein Einschreiten gegen beanstandete Fremde wesentlich erleichtert wird.

So richten wir denn die dringende Bitte an Sie, im Rahmen Ihrer oben skizzierten Kompetenzen und im Verein mit allen in Betracht kommenden Behörden die ,,Ausländerrevision" in Ihrem Kanton im Sinne der vorstehenden Ausführungen nach Recht und Billigkeit, aber doch mit derjenigen Strenge durchführen zu wollen, welche die grossen auf dem Spiele stehenden Landesinteressen erheischen.

In der festen Erwartung, dass unser Appell gute Früchte tragen werde, benützen wir den Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 19. April 1920.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Motta.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Steiger.

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Regierungen der Kantone betreffend die allgemeine Ausländerrevision. (Vom 19. April 1920.)

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