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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Regierungen der Kantone betreffend die Staatsangehörigkeit der Kinder von elsass-lothringischen Eltern, die das Schweizerbürgerrecht erwerben.

(Vom 27. Januar 1920.)

Getreue, Hebe Eidgenossen !

Gemäss der schweizerisch-französischen Übereinkunft vom 23. Juli 1879 betreffend die Nationalität der Kinder und den Militärdienst der Söhne von in der Schweiz naturalisierten Franzosen haben die im Zeitpunkte der Einbürgerung ihrer Eltern minderjährigen Kinder das Recht, im Laufe ihres 22. Altersjahres zwischen der schweizerischen und der französischen Staatsangehörigkeit zu wählen ; sie sind als Franzosen zu betrachten bis zu dem Zeitpunkte, in welchem sie für das Schweizerbürgerrecht, das sie nur durch ausdrückliche Erklärung erwerben können, optiert haben.

A.

Mit Rücksicht auf die Abtretung Elsass-Lothringens an Frankreich durch den Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919, in Kraft getreten zufolge Austausch der Ratifikationsurkunden am 10. Januar 1920, erhebt sich die Frage, ob der Optionsvertrag vom 23. Juli 1879 auf die Kinder von Elsässern und Lothringern, die sich in der Schweiz einbürgern lassen, Anwendung zu finden habe.

Es sind hierbei folgende zwei Kategorien von Personen zu unterscheiden, für deren Staatsangehörigkeit die Abtretung ElsassLothringens von Einfluss ist gemäss Anlage zum Abschnitt V des Friedensvertrages (Art. 51 ff.): I. Diejenigen Elsässer und Lothringer, die mit Wirkung vom 11. November 1918 (Datum des Waffenstillstandes) von Rechts wegen die französische Staatsangehörigkeit wieder erlangt haben,

149 ohne dass ihnen ein Optionsrecht zugunsten Deutschlands zuerkannt wird. Dies betrifft: a. die Personen, die durch den französisch-deutschen Vertrag vom 10. Mai 1871 die französische Staatsangehörigkeit verloren und s e i t d e m k e i n e ° a n d e r e als die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben; b. die ehelichen oder unehelichen Nachkommen der im vorstehenden Paragraphen genannten Personen, mit Ausnahme derer, die unter ihren Vorfahren väterlicherseits einen nach dem 15. Juli 1870 nach Elsass-Lothringen eingewanderten Deutschen haben ; c. a!le in Elsass-Lothringen von unbekannten Eltern Gehörnen und die Personen, deren Staatsangehörigkeit unbekannt ist.

II. Die Personen, die vorläufig die deutsche oder eine ausländische Nationalität beibehalten, aber binnen Jahresfrist nach Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrages Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit erheben können, und zwar mit rückwirkender Kraft auf den 11. November 1918. Dahin gehört: «. jede Person, die nicht gemäss Ziffer I die französische Staatsangehörigkeit wieder erlangt hat und die unter ihren Vorfahren einen Franzosen oder eine Französin zählt, welche die französische Staatsangehörigkeit durch den französischdeutschen Vertrag vom 10. Mai 1871 verloren haben; b. jeder Ausländer, der nicht Angehöriger eines deutschen Staates ist und der die elsass-lothringische Staatsangehörigkeit vor dem 3. August 1914 erworben hat: c. jeder Deutsche, der in Elsass-Lothringen seinen Wohnsitz bat, wenn er diesen Wohnsitz dort schon vor dem 15. Juli 1870 hatte oder wenn einer seiner Vorfahren zu jener Zeit seinen Wohnsitz in Elsass-Lothringen hatte; d. jeder Deutsche, der in Elsass-Lothringen geboren ist oder dort wohnt, der während des verflossenen Krieges in den Eleihen der alliierten oder assoziierten Armeen gedient hat, sowie seine Nachkommen ; c. alle Personen, die vor dem 10. Mai 1871 in Elsass-Lothr'hgen von ausländischen Eltern geboren sind, sowie ihre Nachkommen ; /'. der Ehegatte jeder Person, die entweder gemäss Ziffer I die französische Staatsangehörigkeit wieder erlangt hat oder die gemäss II a--e auf die französische Staatsangehörigkeit Anspruch erhoben und sie tatsächlich erhalten hat.

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Die übrigen Deutschen -- auch wenn sie in Elsass-Lothringen geboren sind oder dort ihren Wohnsitz haben -- erwerben die französische Staatsangehörigkeit n i c h t durch die blosse Tatsache des Rückfalls von Elsass-Lothringen an Frankreich, selbst wenn sie die elsass-lothringische Staatsangehörigkeit besitzen. Sie können die französische Nationalität nur auf dem Wege der ordentlichen Einbürgerung erlangen. Die französischen Behörden haben sich ausdrücklich das Recht vorbehalten, Anträge auf Verleihung der französischen Staatsangehörigkeit (Ziffer II) abzulehnen, ausgenommen im Falle, wo der Ehegatte einer gemäss Ziffer I oder Ila--e eingebürgerten Person von dem ihm gemäss Ziffer II f zustehenden Rechte auf Beanspruchung der französischen Nationalität Gebrauch macht.

Durch Dekret vom 13. Januar 1920 hat die französische Regierung die Grundsätze bestimmt, nach denen die Feststellung eines kraft Gesetzes eingetretenen Wiedererwerbs der französischen Staatsangehörigkeit zu erfolgen hat, und die Voraussetzungen aufgestellt, unter denen über die Anträge auf Verleihung der französischen Nationalität entschieden werden wird. Die Feststellung des Wiedererwerbes der französischen Staatsangehörigkeit hat anhand eines Registers zu erfolgen, in das die Betreffenden einzutragen sind ; ein solches Register wird bei jedem elsass-lothringischen Bürgermeisteramt (Mairie) geführt werden. Diejenigen Personen, welche sich um die Verleihung der französischen Staatsangehörigkeit bewerben, haben zu diesem Behufe bei dem zuständigen elsass-lothringischen Bürgermeisteramt einen bezüglichen Antrag einzureichen.

B.

Angesichts dieser sehr verschiedenartigen Regelung der Slaatsangehörigkeitsverhältnisse der Elsass-Lothringer halten wir dafür, dass bezüglich des Optionsrechts auf Grund der schweizerischfranzösischen Übereinkunft von 1879 für die minderjährigen Kinder derjenigen Elsässer und Lothringer, die sich in der Schweiz einbürgern lassen, folgende Grundsätze als Wegleitung dienen können : 1. Diejenigen Elsässer und Lothringer, die nach Abschluss des Waffenstillstandes, aber vor dem Inkrafttreten des Friedensvertrages, also zwischen dem 11. November 1918 und dem 10. Januar 1920, nicht bloss die bundesrätliche Einbürgerungsbewilligung erhalten, sondern ein Kantons- und GemeiDdebürgerrecht d e f i n i t i v erworben haben, erfüllen die Bedingungen nicht,

151 um auf Grund des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 ohne weiteres die französische Staatsangehörigkeit zurückzuerwerben, und zwar deshalb, weil sie eine andere als die deutsche Nationalität erworben haben. Sie sind demzufolge n i c h t als F r a n z o s e n in der Schweiz naturalisiert worden, und ihre Kinder fallen daher nicht unter die Bestimmungen des schweizerisch-französischen Optionsvertrages vom 23. Juli 1879. Das gleiche trifft zu für diejenigen Personen, die bereits vor dem 10. Januar 1920 definitiv in der Schweiz eingebürgert worden sind und die binnen Jahresfrist nach letzterem Datum die französische Nationalität beanspruchen 5 auch diese sind Schweizerbürger geworden in einem Zeitpunkte, wo sie die französische Staatsangehörigkeit noch nicht besassen, so dass der Options vertrag vom 23. Juli 1879 auf ihre minderjährigen Kinder gleichfalls keine Anwendung finden kann. Die Geltendmachung des Anspruchs auf die französische Staatsangehörigkeit auf Grund des Versailler Vertrages wird für diese Personen und ihre Kinder zur Folge haben, dass sie schweizerisch-französische Doppelbürger werden.

2. Was die Personen anbetrifft, welchen die bundesrätliche Einbürgerungsbewilligung vor dem 10. Januar 1920 erteilt worden ist, die aber in diesem Zeitpunkte noch nicht definitiv in der Schweiz eingebürgert waren, so laden wir Sie ein, uns, soweit es sich um Kandidaten handelt, die minderjährige Kinder haben, die bundesrätliche Bewilligungsurkunde zurückzusenden, damit wir in die Lage versetzt werden,- zu prüfen, ob zugunsten der Kinder ein Optionsvorbehalt gemäss der schweizerisch-französischen, Übereinkunft vom 23. Juli 1879 stipuliert werden soll oder nicht. Wir werden alsdann untersuchen, ob die betreffenden Kandidaten auf Grund des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 ohne weiteres die französische Saatsangehörigkeit erworben haben oder ob sie nur einen Anspruch auf dieselbe erheben können. Im erstem Falle werden wir in die Bewilligungsurkunde den Optionsvorbehalt gemäss der Übereinkunft von 1879 aufnehmen, sofern die Betreffenden in der Lage sind, eine vom zuständigen elsass-lothringischen Bürgermeisteramte ausgestellte Bescheinigung über die erfolgte Eintragung des Wiedererwerbs der französischen Staatsangehörigkeit vorzuweisen. Ebenso werden wir im zweiten Falle verfahren, sofern die
betreffenden Kandidaten eine Bescheinigung darüber besitzen, dass ihr Antrag auf Zuerkennung des französischen Staatsbürgerrechts von den französischen Behörden genehmigt worden ist. Diejenigen Elsasser und Lothringer hingegen, welche diese Voraussetzungen nicht erfüllen, werden als deutsche Reichsangehörige zur Naturalisation

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in der Schweiz gelangen, und die bundesrätliche Bewilligungsurkunde wird demgemäss keinen Vorbehalt enthalten, laut welchem ihren minderjährigen Kindern das in der Übereinkunft von 1879 vorgesehene Optionsrecht zuerkannt würde.

3. Bei denjenigen Personen, die erst nach dem 10. Januar 1920 die Einbürgerungsbewilligung erhalten, werden wir gleichfalls auf die unter Ziffer 2 angegebene Art verfahren, d. h. der Options vorbehält auf Grund der schweizerisch-französischen Übereinkunft wird nur dann in die bundesrätliche Bewilligungsurkunde aufgenommen werden, wenn es sich um Personen handelt, die den Nachweis leisten, dass sie entweder ohne weiteres die französische Staatsangehörigkeit zurückerworben haben oder dass ihr Antrag auf Zuerkennung derselben von den französischen Behörden auf Grund des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 genehmigt worden ist.

Wir legen Gewicht darauf, dass die Kantons- und Gemeindebehörden den Optionsvorbehalt in die an Elsass-Lothringer auszuhändigenden Naturalisationsurkunden nur dann aufnehmen, wenn dieser Vorbehalt schon in der bundesrätlichen Bewilligungsurkunde enthalten ist, und verweisen in dieser Hinsicht auf unser Kreisschreiben vom 27. Juni 1913, Absatz 3.

Indem wir Sie ersuchen, die vorstehenden Weisungen auch den Gemeindebehörden Ihres Kantons zur Kenntnis bringen zu wollen, benützen wir den Anlass, Sie, getreue liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 27. Januar 1920.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t : Motta.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Steiger.

-s^gci-:-

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Regierungen der Kantone betreffend die Staatsangehörigkeit der Kinder von elsass-lothringischen Eltern, die das Schweizerbürgerrecht erwerben. (Vom 27. Januar 1920.)

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04.02.1920

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