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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 6. Dezember 1920, um 18 Uhr, zur ordentlichen Wintersession zusammengetreten.

Als neue Mitglieder sind erschienen: im N a t i o n a l r a t (als Nachfolger des zurückgetretenen Herrn Défayes) : Herr J. Couchepin, in Martigny-Bourg ; im S t ä n d e r a t (an Stelle des zurückgetretenen Herrn Python): Herr Regierungsrat Emile Savoy, in Freiburg.

Bei der Sessionseröffnung gedachten beide Präsidien der verstorbenen Herren Ständeräte Legier, von Glarus, und Bossi, von Lugano.

Die Ansprache des Herrn Nationalratspräsidenten B l um er lautete : Am 16. Oktober verschied in Glarus Ständerat David Legier, nachdem derselbe kurz vorher auf ärztlichen Rat dieses Bundeshaus verlassen hatte.

Ständerat Legier war geboren 1849, absolvierte das Studium des Rechtes an verschiedenen schweizerischen und deutschen Universitäten, ward schon mit 23 Jahren zum Verhörrichter desKantons Glarus gewählt, praktizierte sodann als Advokat und widmete sich nach der durch ihn erfolgten Gründung der Glarner Nachrichten längere Zeit mit grossem Erfolg der Journalistik. In den Landrat war Legier zum erstenmal schon 1875 getreten, dem Regierungsrat gehörte er fast ununterbrochen seit 1890 bis in dieses Frühjahr an, als Vorsteher erst des Polizei-, dann des Bauwesens. In den Nationalrat trat Legier 1904, in den Ständerat 1912.

Dies der äussere Lebensgang, wie er ähnlich vielen schweizerischen Politikern beschieden ist.

Um den innern Lebensgang von Ständerat Legier kurz zu zeichnen, muss man schon auf die früheste Jugendzeit des Verstorbenen zurückgehen. Aus bäuerlichen Verhältnissen hervorgegangen, aus einfachen Kreisen alt demokratischen Denkens und Empfindens, blieb der talentierte Jüngling diesen Grundlagen und

419 Grundsätzen treu, als ihn die Studien einem sogenannten höhern Beruf zuführten.

Schon früh zeigte sich in Legier die politische Kampfnatur.

Dabei wurde er -von Seiten des damals herrschenden Regimentes ·vielfach äusserst hart mitgenommen, und darin suche ich auch die Ursache mancher Bitterkeit in der Sturm- und Drangperiode seines Lebens.

Zeit seines Lebens galt Ständerat Legier in seiner öffentlichen Wirksamkeit als der besondere Freund der untern Volksschichten, Freund aller Hülfesuchenden, er galt als ein Berater und Vertrauter des Volkes im besten Sinne des Wortes. Legier kannte die Wege und Stege, die Häuser und ihre Insassen in Berg und Tal wie kaum ein zweiter im Lande Glarus, er kannte das innerste Fühlen und Denken unseres Volkes, mit dem er aufs innigste verwachsen war. Diese Popularität stützte sich sodann vornehmlich auf seine einfache Lebensweise, sein unabhängiges, freies Wort in allen Landesangelegenheiten, seine Treue zur Demokratie der alten Landsgemeindekantone und sein mutiges und tapferes Einstehen für die Errungenschaften der Neuzeit im Kanton < Glarus. Die kantonale glarnerische Gesetzgebung der letzten 30 Jahre trägt viele Spuren Legierscher Eigenart, sie trägt vielfach seinen Stempel.

Hier in Bern schloss sich Legier der kleinen sozialpolitischen Gruppe an, er war einst mit mir ein begeisterter Freund und Schüler Theodor Curtis, dessen weit überragende staatsmännische Eigenschaften er sofort erkannt und geschätzt hatte. Im Parlament wandte er sieh mit Vorliebe solchen Traktanden zu, bei denen er eine Ausdehnung der Bureaukratie, eine unnötige Zentralisation und Ausdehnung des Verwaltungsapparates oder einen ungesunden Finanzhaushalt witterte, wobei er im kühlen Ständerat manchen Erfolg erzielte. Er hatte noch den Mut, von Einfachheit, Sparsamkeit und Pflichttreue zu reden. So denkt und redet man draussen im Volke, hörte man vielfach sagen.

Ich habe diesen Sommer einmal die Grenzen unseres Nationalparkes gestreift, den Legier im Nationalrat und im Ständerat aus Gründen des Staatshaushaltes bekämpft hat. Da sah ich so viele knorrige Stämme, die, allem Widerstand Trotz bietend, ihre Krone zum Lichte erhoben. Ich musste unwillkürlich an Legier denken, denken, dass es doch gut ist, wenn solch tief verankerte Wurzeln, solch starke Naturen im Leben möglichst lange erhalten bleiben.

Während den letzten Kriegsjahren ist ihm etwa von linker Seite vorgeworfen worden, er habe seine Zeit nicht mehr recht

420 verstanden. Was Legier nicht verstand und nicht verstehen wollte, das waren aber mehr nur die Auswüchse unserer Zeit, das Verlassen des altdemokratischen Bodens, die Neigung zu Grundlagen und Doktrinen, die seiner Ansicht nach die wirtschaftliche und politische Lage des Vaterlandes gefährdeten.

In unserm Gedächtnis wird Legier fortleben als der Typus eines arbeitsfreudigen, vaterländisch gesinnten Glarners altdemokratischer Art.

Am 27. November 1920 starb in Lugano Herr Ständerat Emilie Bossi.

Geboren 1871 in Bruzzella hart an der italienischen Grenze, studierte er le lettere e il diritto am Gymnasium Mendrisio, im Lyzeum in Lugano und an der Universität Genf.

Zurückgekehrt in die Heimat, gründete er mit dem Dichter Francesco Chiesa und andern la Vita nuova e l'Idea moderna.

Von da trat er lange Zeit in die Redaktion der Gazzetta ticinese, dann der Ragione und der Azione und am Schlüsse seines Lebens hatte er noch die Leitung des Dovere übernommen.

Unterm Namen ,,Milesbo"' sind von ihm eine grössere Anzahl Schriften erschienen, Propaganda zu machen für den libero pensiero ticinese.

Emilio Bossi hatte in seiner öffentlichen Wirksamkeit sukzessive die Stellen eines segretario redattore des Grossen Rates, segretario della pubblica procura sottoceneriana, giudice .istnittorc per il Sottocenere, consigliere comunale e municipale der Stadt Lugano, Mitglied und Präsident des Grossen Rates, Mitglied und Präsident des Regierungsrates. Als Departementschef des Innern (während 5 Jahren) sind seine stets von ihm selbst redigierten Entscheide von allen höhern Instanzen fast ohne Ausnahme geschützt worden.

Dem Nationalrate gehörte er von 1914 bis Februar 1920, dem Ständerate seit Februar d. J. an. Die überreiche journalistische Tätigkeit -und die vielen politischen Sorgen verhinderten ihn nicht, einem angesehenen Advokatur- und Notariatsbureau vorzustehen. Der Tod hat Emilio Bossi mitten in der Vollkraft getroffen und im Kanton Tessin eine tiefe Lücke hinterlassen.

Die Bedeutung von Bossi lag vornehmlich in der Feder, die er mit seltener Meisterschaft führte und womit er einen gewaltigen Einfluss auf die Geschicke des Kantons Tessin ausübte.

421 Diese Feder war geleitet von einem patriotischen Gedankengang, geleitet von der Italianità seines Landes, geleitet für alle Unterdrückten, für Recht und Gerechtigkeit in der ganzen Welt.

Ein Sohn der französischen Revolution verleugnete er ihre Grundsätze nie. Trotz seiner ausgesprochen demokratischen und radikalen Gesinnung blieb er als Tessiner in manchen Dingen Föderalist.

Gewiss sind nicht alle Ausführungen dieser Feder zu verteidigen, gar oft hat er im heissen Tageskampfe die Grenzen ruhiger Überlegung und gerechter Würdigung überschritten, aber er selbst war derjenige, der es offen bekannte, wenn er sich überzeugt hatte, Unrecht getan zu haben. Uneigennützig widmete er seine ganze Kraft dem Lande, beseelt war sein ganzes Wirken von der Liebe zu seinem Volke.

An seinem Grabe hat der verehrte Vizepräsident dieses Rates den Charakter des Verstorbenen in die Worte zusammengefasst : buono und giusto. Das war Emilio Bossi in der Tat und darin sind denn auch die Ursachen seiner grossen Erfolge zu suchen.

In den eidgenössischen Räten -- es kommt dabei hauptsächlich nur der Nationalrat in Betracht -- fühlte er sich während der Kriegszeit öfters veranlasst, seinen Sympathien und Antipathien lebhaftesten Ausdruck zu geben, womit er öfters auf starken Widerstand gestossen ist. Immer aber hatten wir dabei das Gefühl, dass der Mann aus tiefster Überzeugung rede.

Obschon stark nach links orientiert, hat er doch den Bolschewismus im Lande aufs schärfste bekämpft, da er darin nicht die Freiheit, sondern die Unterdrückung der Freiheit erkannte.

Er hat denn auch noch selbst angeordnet, dass an seinem Grabe die Vaterlandshymne erklinge.

Nun hat der tapfere Streiter ausgekämpft, auch für ihn gilt des Dichters Wort : Das arme Herz hienieden, von manchem Sturm gequält, erlangt den wahren Frieden, erst wenn es nicht mehr schlägt.

Ich ersuche Sie, sich zu Ehren der Verstorbenen von den Sitzen zu erheben.

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