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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Verantwortlichkeitsbeschwerde der Verteidiger im Prozesse gegen Wieser und Konsorten vor Divisionsgericht 4.

(Vom 24. April 1920.)

1. In Liestal spielt sich gegenwärtig vor dem Diyisionsgericht der 4. Division ein Strafprozess gegen Redakteur Wieser vom Basler ,,Vorwärts" und Konsorten ab wegen Vorgängen beim Basler Generalstreik vom August letzten Jahres.

Am 16. April abends ging nun beim Bundesrate ein Telegramm des Grossrichters der 4. Division, Oberstlieutenant Rohr, ein, folgenden Inhalts : Im Militärstrafprozess gegen Dr. Wieser vom Basler ,,Vorwärts* ist Oberst Jecker als Zeuge anwesend. Wir ersuchen Sie, den Zeugen von der Pflicht der Dienstverschwiegenheit in bezug auf den vom Bundesrate erlassenen vertraulichen Befehl für die Platzkommandanten vom 27. Februar 1919 zu befreien.

Divisionsgericht 4 : Oberstlieutenant Rohr, Grossrichter."

Die Behandlung dieses Gesuches fiel gemäss Art. 88 Militärstrafgerichtsordnung in die Kompetenz des Militärdepartementes ; es wurde daher diesem überwiesen, und es hat am 19. April an den Grossrichter des Divisionsgerichtes 4 telegraphiert: ,,Befreiung von Oberst Jecker von der Pflicht der Dienstverschwiegenheit kann nicht zugestanden werden.

Eidgenössisches Militärdepartement : cheurer."

2. Am 20./2l. April richteten die Verteidiger in dem eingangs erwähnten Prozesse eine Eingabe an die Bundesversammlung, in welcher ausgeführt wird : · -;

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Während des Generalstreiks habe der Platzkommandant in Basel, Oberst Jeeker, das Erseheinen des Basler ,,Vorwärts"' untersagt, zuerst im bisherigen Umfange und späterhin vollständig.

Die Druckerei des ,,Vorwärts11 sei militärisch besetzt worden.

Als Zeuge -habe Oberst Jeeker im Prozess. erklärt, er habe seine Verfugungen gestützt auf die Instruktionen des Bundesrates an die Platzkommandanten vom 27. Februar 1919 erlassen. Über den Inhalt dieser Instruktionen habe Oberst Jeeker die Auskunft yerweigert, gestützt auf Art. 88 der Militärstrafgerichtsordnung.

Dem Gesuche des Gerichtes um Befreiung des Obersten Jeeker von der Dienstverschwiegenheit habe der Bundesrat nicht entsprochen. Die Eingabe schliesst mit folgenden Begehren: 7,1. Sie wollen umgehend, gestützt auf Art. 23 lit. b des Verantwortlichkeitsgesetzes, den bundesrätlichen Beschluss betreffend Nichtbefreiung des Herrn Oberst-Brig. Jeeker von der Schweigepflicht in bezug auf die erwähnte Instruktion aufheben und dem Bundesrat Auftrag geben, die Instruktion dem Divisionsgericht 4 vorzulegen.

Das Gericht kann nur in voller Kenntnis dieser Instruktion rechtsprechen.

2. Sie wollen, gestutzt auf die angeführte Bestimmung des Verantwortlichkeitsgesetzes, die Instruktion des Bundesrates vom 27. Februar 1919, die Gegenstand der gegenwärtigen Beschwerde bildet, aufheben".

3. Die Beschwerde richtet sich demnach gegen den Bundesrat. Dieser hat aber, wie eingangs dargelegt, in der Sache nichts entschieden. Sie fällt vielmehr in die Zuständigkeit des Militärdepartementes, und der getroffene Entscheid geht von diesem aus.

Auch die Instruktion vom 27. Februar 1919 ist nicht vom Bundesrat, sondern vom Militärdepartement erlassen worden.

4. Massgebend für die Behandlung der Beschwerde sowohl in materieller wie in formeller Beziehung sind die Vorschriften des Bundesgesetzes vom 9. Dezember 1850 über die Verantwortlichkeit der eidgenössischen Behörden und Beamten. Für den Fall, dass die Beschwerde sich gegen eine Behörde oder einen Beamten richtet, die von der Bundesversammlung gewählt wurden, enthalten die Art. 18 uff. die entsprechenden Vorschriften.

Das Verfahren wird in diesen Fällen eingeleitet entweder auf Antrag des Bundesrates (Art. 19) oder auf Antrag eines Mitgliedes der Bundesversammlung oder auf ein von anderer Seite eingereichtes Begehren hin (Art. 20). Dabei lässt aber das

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Gesetz eine Verantwortlichkeitsbeschwerde nicht unbeschränkt zu. Es schreibt vielmehr vor, dass das Verfahren vor den eidgenössischen Räten nur dann angeordnet werden soll, wenn der beklagten Behörde oder dem beklagten Beamten ein Verbrechen oder ein Vergehen vorgeworfen wird (Art. 19), oder, wie der Art. 20 einen ähnliehen Gedanken in anderer Form ausdrückt, wenn die Beschwerde eine Kriminalauklage zur Folge haben kann.

Es genügt also nicht jeder Vorwurf, der in einer Beschwerde geltend gemacht wird, sondern die Anklage muss sich auf Tatsachen stützen, die den Tatbestand e i n e r g e r i c h t l i c h zu v e r f o l g e n d e n H a n d l u n g zu erfüllen geeignet sind. Ist das nicht der Fall, so kann die Verantwortlichkeit nicht in dem Verfahren nach dem Verantwortlichkeitsgesetz geltend gemacht werden.

Die vorliegende Beschwerde nennt keine Tatsachen, die den Tatbestand einer strafbaren Handlung bilden könnten, und behauptet denn auch mit keinem Wort, dass ein strafrechtlich verfolgbares Verhalten des Bundesrates in Frage stehe.

\ Es fehlt mithin der Beschwerde die Voraussetzung, an die das Gesetz die Einleitung des Verfahrens vor der Bundesversammlung knüpft, nämlich die Berufung auf Tatsachen, die eine Kriminalanklage zur Folge haben könnten.

Die Bundesversammlung ist infolgedessen nicht im Falle auf die Beschwerde überhaupt einzutreten.

5. Aber auch, wenn sie sieh mit der Prüfung der Eingabe beschäftigen wollte, so müsste die erhobene Beschwerde als unerheblich erklärt werden.

Es werden drei Beschwerdepunkte angegeben : Die Weigerung des Militärdepartements, dem Oberst Jecker zu gestatten, vor dem Divisionsgericht 4 über die Instruktion vom 27. Januar 1919 Auskunft zu geben, die Nichtherausgabe dieser Instruktion an das Gericht und endlich der Erlass dieser Instruktion überhaupt.

6. Was diese Instruktion anbetrifft, so handelt es sich, wie bereits erwähnt, um eine Verfügung des Militärdepartementes. Sie enthält Weisungen an diejenigen Truppenkommandanten, denen im Falle eines Truppenaufgebotes bei Störung von Ruhe und Ordnung an einem bestimmten Ort der Befehl übertragen wird.

Das Militärdepartement hat diese Weisungen in Ausführung seiner gesetzlichen Kompetenz erlassen, es war hierzu nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet. Eine Verantwortlichkeit kann deshalb mit der Tatsache des Erlasses der Verfügung nicht hergeleitet werden.

Bandesblatt. 72. Jahrg. Bd. II.

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Die Anwendung der "Weisungen selbst geschieht nur dann,, wenn Ruhe und Ordnung ernstlich bedroht oder schon gestört sind. Die zu treffenden Massnahmen haben den Zweck, den verfassungsmässigen Zustand aufrecht zu erhalten, oder, falls ei?

gestört ist, wieder herzustellen.

Eine Verantwortlichkeit des Militärdepartements im Sinne des Gesetzes vom 9. Dezember 1850 wird dadurch nicht begründet. Die Einleitung eines Verfahrens vor der Bundesversammlung ist mithin unstatthaft.

7. Der zweite Beschwerdepu^kt betrifft die Niehtherausgabe der Instruktion an das Gericht. Nun hat weder das Gericht, noch die Verteidiger, die Edition des Aktenstückes beim Bundesrat oder beim Militärdepartement verlangt. Weder die eine noch die andere Behörde hat Gelegenheit gehabt, sich mit der Frage zu beschäftigen und einen Entscheid in diesem oder jenem Sinne zu treffen.

Die Beschwerde steht in dieser Hinsicht vollständig in der Luft.

8. Was die als dritter Beschwerdepunkt bezeichnete Verfügung des Militärdepartements anbetrifft, durch welche die Ermächtigung an Oberst Jecker zur Aussage vor dem Divisionsgericht 4 verweigert worden ist, so verhält es sich damit folgendermassen : Wenn das eidgenössische Militärdepartement diese Verfügung erlassen hat, so hat es dabei vollständig im Rahmen seiner Zuständigkeit gehandelt. Art. 88 M. Str. G. 0. geht von der Auffassung aus, dass ein als Zeuge einvernommener Militär die Pflicht zur Dienstverschwiegenheit zu befolgen habe. Er kann nur durch seine vorgesetzte Dienstbehörde von dieser Pflicht befreit werden. Es ist Sache dieser Behörde, zu prüfen, ob sie die nachgesuchte Erlaubnis geben kann oder nicht. Ob ihr Entscheid so oder anders lautet, in jedem Falle wird er getroffen innerhalb einer vom Gesetz vorgesehenen Kompetenz und in, Ausführung eines gesetzlichen Auftrages. Eine Verantwortlichkeit im Sinne des Bundesgesetzes vom 9. Dezember 1850 wird durch einen solchen Entscheid nicht begründet, es sei denn, er stelle sich dar als ein Verbrechen oder Vergehen.

Das eidgenössische Militärdepartement war in der vorliegenden Frage die vorgesetzte Dienstbehörde des Obersten Jecker.

Es war infolgedessen zum Entscheide zuständig. Es hat ihn getroffen nach Prüfung der Sachlage und unter Abwägung der verschiedenen im Streite liegenden Interessen.

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Irgendeine Bestimmung der Bundesgesetzgebung ist dabei nicht verletzt worden und hat auch nicht verletzt werden können, weil überhaupt keine Vorschrift darüber besteht, unter welchen Voraussetzungen die vorgesetzte Dienstbehörde die Erlaubnis zur Zeugnisabgabe erteilen oder verweigern soll. Dass aber die andere Voraussetzung einer Verantwortlichkeitserklärung, ein Verbrechen oder Vergehen, vorliege, ist ausgeschlossen und wird von den Beschwerdeführern auch nicht behauptet.

Gestützt auf diese Ausführungen beantragen wir der Bundesversammlung : 1. Es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten, 2. eventuell die Beschwerde sei nicht erheblich zu erklären.

B e r n , den 24. April Ì920.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Motta.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Steiger.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Verantwortlichkeitsbeschwerde der Verteidiger im Prozesse gegen Wieser und Konsorten vor Divisionsgericht 4. (Vom 24 April 1920)

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