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Botschaft über die Revision des Sprachenartikels der Bundesverfassung (Art. 116 BV)

vom 4. März 1991

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen mit vorliegender Botschaft den Entwurf für eine Änderung des Sprachenartikels der Bundesverfassung (Art. 116 BV) mit dem Antrag auf Zustimmung.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 1986 M 85,516 1987 P 87.327

Rätoromanische Sprache. Erhaltung (N 4. 10. 85), Bundi; S 17.6.86) Einvernehmen zwischen den Sprachregionen (N 9. 10.87, Müller-Meilen)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

4. März 1991

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Cotti Der Bundeskanzler: Buser

1991-160

12 Bundesbla« l43.Jahrgang. Bd.II

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Übersicht Mit einer von beiden Kammern überwiesenen Motion forderten die eidgenössischen Räte eine Revision des Sprachenartikels der Bundesverfassung (Art. 116 BV). Ziele des Vorstosses waren einerseits eine Stärkung der sprachlichen Minderheiten, insbesondere des Rätoromanischen, anderseits eine Verbesserung der Verständigung und des Verständnisses zwischen den verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen in unserem Land. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) setzte eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des Bemer Staatsrechtsprofessors Peter Saladin ein, welche einen umfassenden Bericht mit dem Titel «Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz» erarbeitete, der auch zwei Varianten für einen neuen Sprachenartikel enthält.

Die schweizerische Viersprachigkeit gilt allgemein als eines der Wesensmerkmale unseres Landes. Der Verzicht auf eine einzige, einigende Nationalsprache zugunsten von vier verschiedenen, gleichwertigen Landessprachen spiegelt den unserem Staat zugrundeliegenden Willen, eine gemeinsame Nation zu bilden und dennoch die Eigenständigkeit der Bündnispartner weitestgehend zu bewahren. Dieser Entschluss forderte und fordert noch heute Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber den Minderheiten, aber auch die Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung als Grundlage eines aktiven Zusammenlebens.

In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch in unserem Land eine spürbar wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Viersprachigkeit der Schweiz ab, die besonders die sprachlichen Minderheiten betrifft, letztlich aber das gesamte Land in seiner Nationalität bedroht.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Zu nennen ist zunächst der wirtschaftliche und technologische Wandel unserer Zeit, welcher der sprachlichen Kommunikation generell weniger Wert zumisst und damit die Ausbildung des Sprachvermögens zunehmend vernachlässigt. Die zunehmende Internationalisierung bedeutender Wirtschaftszweige und die damit verbundene Suche nach «grossräumigen Lösungen» verlangen besonders von den sprachlichen und kulturellen Minderheiten in unserem Land die Bereitschaft zur Anpassung und zur Mobilität und begünstigen zudem auch den Vormarsch der «Weltsprache» Englisch zu Lasten der Kenntnis anderer Landessprachen. So muss heute neben einem dramatischen Rückgang des Rätoromanischen auch eine unzureichende
Präsenz des Italienischen in der deutschen und in der französischen Schweiz festgestellt werden.

Die mit der Technologisierung einhergehende Informationsüberflutung durch die Massenmedien hat aber gleichzeitig zur Folge, dass der moderne Mensch dem drohenden Identitätsverlust durch einen Rückzug ins Kleinräumige, Vertraute und Private zu entgehen sucht. In der deutschen Schweiz findet diese Erscheinung vor allem in der sogenannten «Mundartwelle» Ausdruck, die einerseits eine Verständigung mit den Italienischsprachigen und den Romands erheblich erschwert, anderseits aber auch die Gefahr einer geistigen Isolierung der deutschen Schweiz gegenüber anderen deutschsprachigen Ländern in sich trägt.

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Um die Viersprachigkeit unseres Landes auch in Zukunft erhalten zu können, braucht die Schweiz eine neue Sprachpolitik. Diese wird zunächst von allen Bürgern und Bürgerinnen - als Träger und Trägerinnen der Sprachen -, dann aber auch von den Kantonen und Gemeinden und schliesslich vom Bund getragen werden müssen. Der vorgeschlagene neue Sprachenartikel beauftragt Bund und Kantone, gemeinsam Massnahmen zugunsten der Erhaltung der Viersprachigkeit sowie der Verbesserung der zwischensprachlichen Verständigung zu treffen.

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Botschaft I

Allgemeiner Teil

II

Ausgangslage

Vor dem Hintergrund alarmierender Meldungen über die zunehmende Zurückdrängung des Rätoromanischen und einer stets intensiveren Diskussion über das gefährdete Verständnis und die unzureichende Verständigung zwischen den einzelnen Sprachregionen unseres Landes reichte Nationalrat Martin Bundi am 21. Juni 1985 eine von allen Vertretern des Kantons Graubünden in der grossen Kammer mitunterzeichnete Motion ein. Der Vorstoss verlangte eine Neufassung des seit 1938 in der heutigen Form bestehenden Artikels 116 unserer Bundesverfassung (BV), insbesondere eine stärkere Stellung der vierten Landessprache.

Die Motion wurde vom Nationalrat am 4. Oktober 1985 und vom Ständerat am 17. Juni 1986 überwiesen. Der Vorsteher des Eidgenössischen Departementes des Innern (EDI) setzte daraufhin eine Arbeitsgruppe ein und erteilte ihr den Auftrag, eine juristische, historische und sprachwissenschaftliche Beurteilung der sich im Zusammenhang mit einer Revision von Artikel 116 BV stellenden Fragen vorzunehmen sowie die Formulierung einer Neufassung dieses sogenannten Sprachenartikels zu erarbeiten. Dieser Auftrag war bewusst weit gefasst und wollte der in jüngster Zeit intensiv geführten Diskussion zum Thema schweizerische Viersprachigkeit möglichst weitgehend Rechnung tragen. Der in allen vier Landessprachen veröffentlichte Bericht der Arbeitsgruppe mit dem Titel «Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz» bildete die Grundlage für das mit Beschluss des Bundesrates vom 30. August 1989 eingeleitete Vernehmlassungsverfahren und diente auch als Grundlage für die vorliegende Botschaft.

12 121

Sprachen und Sprachpolitik in der Schweiz Sprache als Kommunikationsmittel und Identifikationsträger

Kommunikation, verstanden als Übermittlung von Information und als Verständigung, bleibt für den Menschen auch im Zeitalter des technologischen Wandels unmittelbar mit seiner Fähigkeit verbunden, sich sprachlich auszudrücken.

Ein differenziertes Sprachvermögen erlaubt es uns, komplexe Sachverhalte zu vermitteln und zu verstehen. Dadurch ist die Sprache nicht nur eine wichtige Voraussetzung für eine sachliche Diskussion und damit auch für die Meinungsbildung, sondern bildet gleichzeitig die Grundlage unseres eigenen Selbstverständnisses.

Besonders in den hochindustrialisierten Ländern gewinnt der identitätsstiftende Faktor der Sprache immer mehr an Bedeutung. Die rasante technische Entwicklung und die damit verbundene Veränderung der Lebensbedingungen verlangen vom einzelnen Menschen die Bereitschaft, sich stets neuen Situationen anzupassen. Hier kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe helfen, 312

eine dabei drohende Orientierungskrise des einzelnen wie der Gesellschaft zu überwinden. Denn gerade angesichts des fortwährenden Wandels wächst das Bedürfnis, zu klären, welche Eigenarten und welche Gemeinsamkeiten uns im sozialen und staatlichen Verband einigen oder trennen und auf welche Werte wir nicht verzichten können, ohne zu verlieren, was unser Selbstverständnis prägt. Zu den fundamentalen Beständen einer kollektiven Identität gehören neben lokalen und regionalen Bräuchen und Verhaltensformen sicher auch religiöse, ethnische, soziale und politische Prägungen. Als einer der stärksten kollektiven Einigungsfaktoren erweist sich jedoch die sprachliche Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die Bildung von Nationen ausschliesslich über eine gemeinsame Sprache vollziehen muss. Selbst in Europa finden sich viele zwei- und mehrsprachige Nationen. Die Schweiz ist daher auch in bezug auf ihre Mehrsprachigkeit kein Sonderfall. In der verfassungsmässig garantierten Gleichberechtigung von vier Landessprachen in einer Nation bekundet sich aber in unserem Land der Wille, gerade die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der kulturellen und sprachlichen Traditionen zum Merkmal nationaler Zusammengehörigkeit zu erklären.

122

Die Mehrsprachigkeit in der Schweiz als Spiegel der kulturellen Vielfalt

122.1

Geschichtliche Entwicklung

Die heutige sprachliche Situation in der Schweiz ist das Resultat einer mehr als zweitausendjährigen Sprachgeschichte. Ihr Verlauf wurde wesentlich von der geographischen Lage unseres Landes in der Mitte des zentralen Alpenmassivs, in das verschiedene Sprachgruppen Europas hineinragen, mitbestimmt. Die beiden ältesten bekannten Volksstämme des vorrömischen Altertums in unserem Raum sind die Räter und die Kelten. Vom Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts bis 400 nach Christus erfolgte eine Romanisierung durch die Römer und verschiedene romanische Sprachträger. Eine dritte Sprachkomponente lieferten die Germanen. Die seit dem 5. und 6. Jahrhunden von Norden her über den Hochrhein in den Jura und ins Mittelland einwandernden Alemannen vermochten in langsamer Siedlungsdurchdringung bis zu den Voralpen und Teilen des alpinen Gebietes ein germanisches Sprachgebiet zu festigen; die in die Westschweiz einwandernden Burgunder wurden hingegen, wie auch die Langobarden im Tessin, romanisiert.

Jede unserer vier Landessprachen verfügt also über eine mehr als 1500jährige Geschichte, und die schweizerische Viersprachigkeit kann demnach gar als Grundkonstante unseres Landes verstanden werden.

Die heutigen Sprachgrenzen sind Ergebnisse eines langandauernden Prozesses, der im Frühmittelalter in den alemannisch-romanischen Berührungszonen einsetzte und daher nur teilweise auch den Naturlandschaftsgrenzen entspricht.

Während der deutschen, der französischen und der italienischen Sprache dabei zumindest mehr oder weniger geschlossene Sprachräume zukommen, muss das Sprachterritorium der Rätoromanen als zerrissen bezeichnet werden. Unter den 313

vier Landessprachen der Schweiz ist das Rätoromanische heute auch die einzige Sprache ohne einen direkten sprachgeographischen Anschluss an ein grösseres Sprachgebiet im Ausland.

122.2

Die Anerkennung der Mehrsprachigkeit als nationales Identitätsmerkmal

Die alte Eidgenossenschaft mit ihren seit 1513 13 Ständen war von 1291 an hauptsächlich deutschsprachig. Einzig der zweisprachige Stand Freiburg bildete eine Ausnahme. Die romanischen Sprachen blieben somit auf bestimmte zugewandte Orte oder Untertanengebiete beschränkt. Frühe Bündnisse einzelner Orte der alten Eidgenossenschaft mit der Stadtrepublik Genf verstärkten überdies eine gewisse Ausrichtung der alten Eidgenossenschaft auf das französische Sprachgebiet.

Erst mit der Umwälzung von 1798 entstand jedoch mit der politischen Gleichberechtigung der Bürger das Bewusstsein eines mehrsprachigen Staatsgebildes.

So wurden beispielsweise die Gesetzestexte der Helvetischen Republik (1798-1803) in den als gleichwertig geltenden Sprachen Deutsch, Französisch und Italienisch verfasst.

Diese Gleichberechtigung der Sprachen wurde jedoch schon während der Mediation wieder aufgegeben, und in der Zeit der Restauration erlangte die deutsche Sprache ihre Vormachtstellung vollends zurück. Dennoch trug gerade der Verzicht auf ein zentralistisches Staatsmodell, wie es die Helvetik dargestellt hatte, wesentlich zu einer neuen, auf Gleichberechtigung bedachten Sprachenregelung des schweizerischen Bundesstaates von 1848 bei. Der Zusammenschluss zu einem Bundesstaat erlaubte nämlich nicht nur eine weitgehende politische Eigenständigkeit der Kantone, sondern bedeutete gleichzeitig ein Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt, einer Vielfalt, die sich gerade in der Mehrsprachigkeit unseres Landes manifestierte.

Die Bundesverfassung von 1848 löste die Frage der Mehrsprachigkeit, indem sie in Artikel 109 die drei Hauptsprachen des Landes als gleichwertige Nationalsprachen anerkannte. Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 behielt in Artikel 116 die Gleichberechtigung der deutschen, der französischen und der italienischen Sprache als Nation al sprachen des Bundes bei und schrieb überdies mit Artikel 107 BV vor, dass alle drei Nationalsprachen im Bundesgericht vertreten sein sollten.

Dass in unserem Land gerade die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und der Vielfalt der sprachlichen und kulturellen Traditionen als Garantie für die nationale Zusammengehörigkeit verstanden wird, zeigte sich in der Volksabstimmung vom 20. Februar 1938 besonders deutlich: Mit dem Rätoromanischen wurde nun sogar eine nichtstandardisierte
Regional spräche in einen nationalen Rang gehoben, wobei neu zwischen vier Nationalsprachcn der Schweiz und drei Amtssprachen des Bundes unterschieden wurde. Der Sprachenartikel 116 der Bundesverfassung lautet seither:

314

1 Das Deutsche, Französische, Italienische und Rätoromanische sind Nationalsprachen der Schweiz.

2 Als Amtssprachen des Bundes werden das Deutsche, Französische und Italienische erklärt.

122.3

Zum Sprachenstand in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert

Der zahlenmässige Anteil der vier Landessprachen lässt sich aufgrund der schweizerischen Sprachstatistik seit 1860 verfolgen. Seit 1910 wird überdies zwischen Gesamtbevölkerung und Bevölkerung mit schweizerischer Nationalität unterschieden.

Bei der Gesamtbevölkerung der Schweiz bewegt sich der Anteil der deutschen Sprache zwischen höchstens 72,6 (1941) und mindestens 64,9 Prozent (1970) und erreichte 1980 65,0 Prozent. Der Anteil des Französischen hat sich bei der Gesamtbevölkerung seit 1870 langsam von 24 auf 18,1 Prozent im Jahr 1970 zurückgebildet, lag jedoch 1980 wieder leicht erhöht, bei 18,4 Prozent. Die italienische Sprache war starken Schwankungen unterworfen. Seit dem Höchststand von 1970 (11,9%) hat sich der Anteil bis 1980 auf 9,8 Prozent vermindert. Das Rätoromanische ging innert 110 Jahren langsam von 1,7 auf 0,8 Prozent (1970) zurück. Dieser Anteil konnte 1980 gehalten werden.

Bei der Bevölkerung mit schweizerischer Nationalität nahm das Deutsche .von 1910 bis 1970 langsam, aber kontinuierlich von 72,7 auf 74,5 Prozent zu, fiel dann aber leicht zurück und lag 1980 bei 73,5 Prozent. Das Französische verzeichnete im gleichen Zeitraum einen leichten Rückgang von 22,1 (1910) auf 20,1 Prozent (1970 und 1980). Im Gegensatz zu den Gesamtbevölkerungszahlen blieb der Anteil der italienischen Sprache bei der Bevölkerung mit schweizerischer Nationalität fast unverändert. Von 1970 bis 1980 kann eine leichte Zunahme von 4,1 auf 4,5 Prozent festgestellt werden. Ein stetiger Rückgang des Rätoromanischen von 1,2 (1910) auf 0,9 Prozent (1980) muss auch hier konstatiert werden.

Die erheblichen Differenzen zwischen den Sprachanteilen der Gesamtbevölkerung und denjenigen der Bevölkerung mit schweizerischer Nationalität ist in erster Linie auf die Zu- und Abwanderungen der Gastarbeiter zurückzuführen.

Seit 1950 kam es damit zu einer gewissen Relativierung des seit Jahrzehnten anhaltenden Zuwachses des Deutschen auf Kosten der romanischen Sprachen.

Dennoch bleibt ein Ungleichgewicht von zwei Dritteln bis drei Vierteln gegenüber einem Viertel bis einem Drittel. Hingegen kann in den zweisprachigen Kantonen teilweise eine umgekehrte Sprachsituation festgestellt werden; Freiburg und Wallis weisen rund eine Zweidrittelsmehrheit des Französischen auf.

Der Kanton Jura ist mit Ausnahme einer Gemeinde
französischsprachig und der Kanton Tessin (mit Ausnahme der Walsergemeinde Bosco-Gurin) blieb bis heute trotz deutschsprachiger Minderheiten italienischsprachig. Dreisprachig stellt sich der Kanton Graubünden dar, wo 1980 98 645 Deutschsprachige, 36 017 Rätoromanen und 22 199 Italienischsprachige gezählt wurden.

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122.4

Mundarten und Standardsprachen

Für jede der vier Landessprachen sind die Mundarten der sprachgeschichtliche Ausgangspunkt, während sich die Schriftsprachen - mit Ausnahme des auf den Kanton Graubünden beschränkten Rätoromanischen - ausserhalb der schweizerischen Sprachgebiete herausgebildet haben.

In der deutschen Schweiz gewann die neuhochdeutsche Schriftsprache mit der Verbreitung der Lutherbibel seit etwa 1520 an Bedeutung. Durch eine vermehrte literarische Ausrichtung nach Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert begann sich das öffentliche Sprachleben in der deutschen Schweiz zunehmend an die neuhochdeutsche Standardsprache anzupassen. Die schweizerdeutschen Mundarten konnten sich jedoch ihre Funktion der gesprochenen Umgangssprache immer erhalten.

In der französischen Schweiz setzte im 16. Jahrhundert eine literatur-, schulund hochsprachliche Französisierung der frankoprovenzalischen und nordfranzösischen Patois ein. Unter dem Einfluss der französischen Hugenottenflüchtlinge und der neufranzösischen reformierten Bibelsprache sowie einer allgemeinen Kulturausrichtung nach Frankreich übernahm das Französische im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend die Funktion einer allgemeinen Umgangssprache. Die Mundarten, die sich in ländlichen Gebieten zum Teil bis in die Gegenwart halten konnten, wurden durch die Schulen des 19. und 20. Jahrhunderts als Hindernis für eine gute Beherrschung der französischen Hochsprache bekämpft.

In der italienischen Schweiz wurde neben den angestammten Dialekten schon früh die lombardische Umgangssprache (Koinè) gepflegt, während das Standarditalienische erst in den letzten Jahrzehnten auch bei breiten Bevölkerungsschichten an Bedeutung gewann. Zur Zeit kann man von einer eigentlichen Triglossie sprechen. Standarditalienische und lombardische Umgangssprache sowie Tessiner Ortsdialekte werden - je nach Situation - nebeneinander verwendet. Das Hochitalienische wird dabei von der mehr und mehr italianisierten lombardischen Umgangssprache konkurrenziert, die aber noch deutliche dialektale Züge trägt.

Im rätoromanischen Sprachgebiet erfolgten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert räumlich und zeitlich gesonderte Standardisierungen, so dass mit der Zeit neben einer Fülle von Mundarten fünf Schreibidiome (z. T. mit Untergruppen) entstanden, von denen das Ladinische im Engadin und das Surselvische im
Vorderrheintal die wichtigsten sind. Um für das gesamte romanische Sprachgebiet sowie für die landesweite Präsenz des Rätoromanischen eine gemeinsame Schriftsprache zu gewinnen, wird seit 1982 die neugeschaffene Ausgleichssprache Rumantsch Grischun propagiert.

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123

Probleme der Mehrsprachigkeit und Bedrohung der Sprachminderheiten in der modernen Schweiz (Sprachen und Sprachträger unter dem Einfluss äusserer Faktoren : Zum Wandel im Sprachgebrauch)

123.1

Wirtschaftlicher und technologischer Wandel

Der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende gesamtwirtschaftliche Aufschwung war ein ausschlaggebender Faktor für eine Krise des traditionellen Modells schweizerischer Mehrsprachigkeit. Wohl ist auf lokaler und regionaler Ebene auch noch heute der Gebrauch der jeweiligen Landessprache im allgemeinen gewährleistet. Aber schon auf dieser Basis wird das Wirtschaftsleben von überregionalen, nationalen und internationalen Verbindungen beeinflusst und mitbestimmt.

In der Schweiz ist es dabei zunächst die unübersehbare Dominanz der Deutschschweiz und damit der deutschen Sprache, welche das Problembewusstsein bei den Exponenten der sprachlichen Minderheiten unseres Landes geweckt hat.

Im wirtschaftlichen Sprachgebrauch wird das Rätoromanische kaum mehr verwendet, und auch das Italienische wird keineswegs konsequent gesprochen und geschrieben. So fehlen zum Beispiel auf Anschriften zahlreicher Konsumartikel sowie vieler Heilmittel das Italienische und das Romanische selbst dann, wenn diese in der Schweiz hergestellt werden.

Als weitere Bedrohung für die schweizerische Mehrsprachigkeit muss die Bedeutung des Englischen in der heutigen Kommunikationsgesellschaft bezeichnet werden. Die Internationalisierung vieler Wirtschaftszweige, der anhaltende technologische Wandel und damit verbunden auch die Entwicklung der modernen Kommunikationstechnik haben im gesamten europäischen Raum eine drastische Statusverschiebung der Nationalsprachen zugunsten der Weltsprache Englisch bewirkt. In immer mehr Bereichen der Privatindustrie, des Bankwesens und anderen wird das Englische zur Umgangs- und Verhandlungssprache.

Auch im Hochschulbereich gewinnt das Englische als Lehr- und Unterrichtssprache zunehmend an Bedeutung. In einem mehrsprachigen Land wie der Schweiz muss diese Attraktivität einer nichtnationalen Weltsprache zu Veränderungen in der Einstellung zum unmittelbaren Sprachnachbarn führen. Da Mehrsprachigkeit nicht einfach ein kultureller Wert ist, sondern meist nur durch einen langwierigen Lernprozess erworben werden kann, zeichnet sich die Gefahr deutlich ab, dass die als Zweitsprachen erlernten Landessprachen an Bedeutung verlieren und Englisch demnächst auch Umgangssprache unter Schweizern aus verschiedenen Landesteilen werden könnte.

123.2

Mobilität und Interkulturalität

Als weitere Folge der gesamtwirtschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit setzte eine Mobilität der Bevölkerung ein, die vielerorts zu einer Destabilisîerung der Sprachsituation führte. Diese Mobilität zeigte sich in unserem Land hauptsächlich in der Immigration von Schweizern in andere Gebiete sowie im Zuzug von Gastarbeitern. Gleichzeitig begann - nicht zuletzt durch die Entwicklung der modernen Kommunikationstechnifcen - das Bewusstsein zu wach317

sen, dass die Menschen in unserer heutigen Welt unweigerlich den gleichen globalen Erfahrungen ausgesetzt sind.

Demgegenüber herrscht in der Schweiz noch immer die traditionelle Vorstellung von einer kulturellen und sprachlichen Homogenität der verschiedenen Landesteile, während die Bereitschaft zu einer gegenseitigen Verständigung zusehends abnimmt. Diese Entwicklung hat sicher verschiedene Ursachen. Zunächst sind es gerade die Modernitätserfahnmgen unserer Zeit und vor allem die drohende Uniformisierung, die das Bedürfnis steigern, sich anhand eigener Traditionen und eigener Lebenspraxis neu zu orientieren und zu definieren.

Daneben wird auch oft von einem generellen Verlust an Sprachfähigkeit gesprochen. Ohne Zweifel wird durch die Technologisierung der letzten Jahre der aktive Sprachgebrauch im Brufsleben oft vernachlässigt. Auch in der Schule wird es durch die quantitative Zunahme des Lehrstoffes immer schwieriger, dem Sprachunterricht genügend Zeit einzuräumen. Ferner sieht sich unsere Gesellschaft einer beinahe grenzenlosen Informationsflut gegenüber, die wohl alle Menschen überfordert und «sprachlos» macht. Im Extremfall kann eine solche Entwicklung in funktionalen Analphabetismus münden.

Die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Mehrsprachigkeit unseres Landes droht jedoch die Formel von der schweizerischen Einheit in der Vielfalt zur hohlen Phrase verkommen zu lassen. Wenn die kulturelle und sprachliche Pluralität der Schweiz nur noch im Rahmen einer allenfalls «friedlichen Koexistenz» möglich ist und nicht in Form eines aktiven Zusammenlebens, wird die nationale Identität unseres Landes ernsthaft gefährdet. Wenn heute also von der «Germanisierung der Schweiz» oder von der «Alemannisierung des Tessins» gesprochen wird, handelt es sich dabei nicht bloss um böswillige Slogans, sondern es äussert sich darin ein tiefgreifendes Unbehagen angesichts des wachsenden Unverständnisses gegenüber den jeweils anderen Kulturen in der Schweiz und besonders gegenüber den sogenannten Minderheitskulturen.

Das Verständnis für die kulturellen Minderheiten in unserem Land beschränkt sich heute nämlich allzu häufig auf ein punktuelles Interesse, wie zum Beispiel für das italienische Essen oder die Tessiner Architektur. Ein fundiertes Verständnis für eine kulturelle Minderheit wird aber nur durch den
Willen zur Verständigung möglich.

Eine solche Verständigung kann sich nicht, wie dies heute oft vertreten wird, darin erschöpfen, dass den verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften ihr jeweils eigenes Territorium zugestanden wird. Ohne die Bereitschaft zur Interkulturalität, verstanden als Interaktion verschiedener Kulturen unter gegenseitiger Respektierung, kann der nationale Zusammenhalt auf Dauer nicht gewährleistet werden. Dies gilt besonders in unserer Zeit, in der sich die Mobilität der Gesellschaft in der Schweiz, aber auch in ganz Europa in Zukunft noch erheblich verstärken wird. Ein Festhalten an einer nicht mehr bestehenden Homogenität der verschiedenen kulturellen Gruppen in der Schweiz bedeutet deshalb nicht nur eine Orientierung nach rückwärts, sondern führt gleichzeitig zu einer Abschottung gegenüber den zugewanderten Schweizern und Ausländern sowie gegenüber den anderen Kulturgemeinschaften der Schweiz.

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Das Aufzeigen der Nowendigkeit einer vermehrten Förderung der Interkulturalität ist auch das Ziel unserer Botschaft vom 17. September 1990 über Massnahmen für die internationale Zusammenarbeit im Bereich der höheren Bildung und für die Mobilitätsförderung.

123.3

Zum Sprachgebrauch in Bildungswesen, Politik, Verwaltung und in den Medien

Die Mehrsprachigkeit in unserem Land ist eine gesellschaftliche und nicht eine individuelle Mehrsprachigfceit: Unser Land besteht zwar aus vier Sprachregionen, aber die Einwohner dieser Regionen sind mehrheitlich einsprachig. Im Bildungswesen, das in der Schweiz seit jeher stark durch den Föderalismus geprägt ist, wird daher im allgemeinen für die Unterrichtssprache auf allen Schulstufen das Sprachgebietsprinzip wirksam. Einen Sonderfall bildet der Kanton Graubünden, wo die Gemeinden nicht nur ihre Verwaltungs-, sondern auch ihre Unterrichtssprache autonom bestimmen. Im rätoromanischen Sprachgebiet gibt es daher zwar Gemeinden mit romanischer Grundschule, in der Oberstufe jedoch wird das Romanische meist nur noch als Unterrichtsfach erteilt.

In sämtlichen Kantonen wird als erste Fremdsprache eine Landessprache unterrichtet. Die unterschiedlichen Schulstrukturen sowie die besondere sprachgeographische Lage einzelner Kantone bewirken jedoch einen uneinheitlichen Beginn des Fremdsprachenunterrichts (3., 4., 5., 6. oder 7. Schuljahr).

Auch für das Bildungswesen erweisen sich die internen und internationalen Migrationen als ernstzunehmendes Problem. Neben den unterschiedlichen Schulstrukturen muss dabei besonders der Wechsel zwischen den Sprachregionen beachtet werden. Die Kenntnis mehrerer Sprachen wird gewöhnlich als individueller Vorteil betrachtet. Dennoch wird heute den Trägern verschiedener Sprachen häufig mit Geringschätzung begegnet. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Zum einen wird oft noch von einer veralteten Definition der Zwei- oder Mehrsprachigkeit ausgegangen, die eine vollendete Gleichbeherrschung der verschiedenen Sprachen verlangt.

Diese hochgestochenen Bedingungen können jedoch nur unter bestimmten günstigen Umständen erfüllt werden, so zum Beispiel wenn Vater und Mutter nicht gleichsprachig sind und mit den Kindern von Anfang an beide Sprachen sprechen.

Neuere Definitionen betrachten die Mehrsprachigkeit als einen Prozess, bei dem sich die verschiedenen Sprachfähigkeiten weitgehend unabhängig voneinander entwickeln und festigen können und somit auch alle Lernenden miteinbeziehen. Zweisprachige Immigranten sehen sich jedoch nicht nur mit der intellektuellen Geringschätzung konfrontiert. Noch gravierender wird für sie die Forderung nach einer völligen Assimilierung an die neue
Kultur- und Sprachgemeinschaft, die für die Betroffenen zu Konflikten führen muss, da sie gezwungen werden, ihre bisherige Identität weitgehend aufzugeben. Diese Forderung, die sowohl gegenüber Schweizern aus anderen Kulturregionen wie gegenüber Ausländern erhoben wird, beruht letztlich auf der Angst der «Einheimischen», von den Fremden vereinnahmt zu werden. Damit geht jedoch auch die Chance 319

einer Verständigung zwischen den verschiedenen Kulturregionen verloren.

Denn gerade die zweisprachigen Binnenwanderungs- und Ausländerfamilien könnten zu einem Abbau von kulturellen Vorurteilen einen wesentlichen Beitrag leisten. Dies setzt jedoch voraus, dass ihre bikulturelle Identität aufgewertet wird und die Schule beide sprachlichen und kulturellen Identitäten gezielt fördert. In diesem Zusammenhang hat, am 24. Oktober 1985, auch die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) Empfehlungen zur Schulung der fremdsprachigen Kinder erlassen.

In der Schweiz beweisen die Rätoromanen - selbst wenn die Beherrschung des Deutschen im Schulwesen und im Beruf erzwungen ist -, dass ein verbreiteter individueller Billinguismus durchaus möglich ist und sogar als Vorbild für die übrige Schweiz dienen könnte.

Im Öffentlichen Leben, namentlich in Politik und Verwaltung, ist, soweit überhaupt Erkenntnisse vorliegen, der Sprachgebrauch eng an das jeweilige Sprachgebiet gebunden. Der Bund verwendet für den Verkehr nach aussen in der Regel die Amtssprache des betreffenden Sprachgebietes bzw. die Sprache, in der seine Bürgerinnen und Bürger sich an ihn wenden. Die amtlichen Veröffentlichungen des Bundes erfolgen meist in den drei Amtssprachen. Bedeutende Erlasse des Bundes, Abstimmungserläuterungen, Broschüren, Formulare u. a, erscheinen heute auch in Romanisch. Beim Bundesamt für Kultur wurde zudem eine Anlaufstelle für die Anliegen der sprachlichen Minderheiten eingerichtet, der u. a. auch die Organisation und Koordination der Übersetzungstätigkeit der allgemeinen Bundesverwaltung ins Romanische obliegt. Dennoch ist der Trend zur vermehrten Verwendung des Deutschen zu Lasten der lateinischen Sprachen, besonders des Italienischen, auch bei der Bundesverwaltung unverkennbar. Augenfällig zeigt sich die Dominanz des Deutschen beim Übersetzungswesen. Während ein ausgebauter Übersetzungsdienst vom Deutschen ins Französische und in bescheidenem Masse auch ins Italienische besteht, verfügt der umgekehrte Übersetzungsweg über keine nennenswerte Strukturen.

Bezüglich einer ausgewogenen Vertretung der Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung konnten gewisse Fortschritte erzielt werden. Vor allem bei den Spitzen der in Bern domizilierten Bundesämter besteht jedoch noch immer ein Ungleichgewicht.
Bei den Regiebetrieben des Bundes legen sowohl die PTT wie die SBB in der Aus- und Weiterbildung grossen Wert auf die Beherrschung der Landessprachen. Die SBB haben zudem eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vorschläge zur Realisierung einer ausgewogenen Vertretung der Landessprachen in allen Bereichen erarbeiten soll. Dennoch müssen auch hier noch verschiedene Fragen geklärt werden. So hat zum Beispiel die Praxis der Durchsagen, bei welcher bis jetzt das Italienische und das Romanische vernachlässigt worden sind, verschiedentlich zu Beanstandungen und parlamentarischen Vorstössen Anlass gegeben.

In der öffentlichen Diskussion werden die Probleme der schweizerischen Mehrsprachigkeit oft auf den Sprachgebrauch in den elektronischen Medien reduziert. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um eine radikale Vereinfachung; dennoch spielen die Medien heute auch im Bereich der Sprachenfrage eine wesentliche Rolle. Für die elektronischen Medien steht vor allem die Frage des Mund320

artgebrauchs in den Radio- und Fernsehprogrammen der deutschen Schweiz im Zentrum der Diskussion. Kritisiert wird dabei einerseits die Einschränkung der Verständigungsmöglichkeit in den anderen Landesteilen, dann aber auch der Verlust der gesprochenen Hochsprache und schliesslich die Abschleifung der verschiedenen Dialekte. In parlamentarischen Vorstössen, Verbandserklärungen und Leserbriefen wird immer wieder verlangt, dass Radio und Fernsehen ihre Sendungen verstärkt wieder in Hochdeutsch ausstrahlen sollten.

Auch wenn verfassungsrechtlich grundsätzlich die Voraussetzungen gegeben wären, auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe entsprechende neue Vorschriften zu erlassen, zeigen sich hier deutlich die sachlich und politisch bestimmten Grenzen einer behördlichen Lenkung und Gestaltung sprachlicher Phänomene.

Abgesehen davon, dass direkte Eingriffe in die Programmgestaltung unter dem Aspekt der Programmautonomie einigermassen problematisch erscheinen, muss auch beachtet werden, dass der verstärkte Dialektgebrauch bei Radio und Fernsehen mit einem tiefgreifenden Funktions- und Verständniswandel der Medien selbst verbunden ist. Während früher der Bildungsauftrag - in weitestem Sinne verstanden - dominierte, entwickelte sich vor allem das Radio, und hier besonders das neu entstandene Lokalradio, mehr und mehr zu einem Begleit- und Servicemedium. Aber auch im Fernsehen ist bis zu einem gewissen Grad die Tendenz erkennbar, mit den Unterhaltungssendungen «näher» ans Publikum herankommen zu wollen und es demgemäss auch in seiner alltäglichen Sprache anzusprechen. Demgegenüber ist die SRG bei Nachrichtensendungen, Informations- und Bildungssendungen selbst darauf bedacht, weiterhin die hochdeutsche Sprache zu verwenden. Darüber hinaus unternimmt die SRG gerade in der letzten Zeit verstärkte Anstrengungen, den Austausch von Programmen und Sendungen zwischen den verschiedenen Sprachregionen zu fördern und die EmpfangsmögUchkeiten für Sender aus den jeweils anderen Landesteilen zu verbessern, um so zu einem besseren Verständnis unter den Sprachgruppen beitragen zu können. Ein ungelöstes Problem ist bis heute die Frage, wieweit und in welche Richtung ein Ausbau der rätoromanischen Radio- und Fernsehprogramme zu gehen hat, um die rätoromanische Sprache im Alltag lebendig zu erhalten.

Die Frage nach der Präsenz
des Rätoromanischen muss auch für die Printmedien gestellt werden. Während das Italienische, das Französische und das Deutsche zumindest sprachlich auch durch die Erzeugnisse des angrenzenden Auslands bedient werden können, bleibt das Rätoromanische auf eigene Printmedien angewiesen. Es geht in der spezifischen rätoromanischen Situation also nicht nur um Presseförderung bzw. die Erhaltung der Pressevielfalt wie in der übrigen Schweiz, sondern um die Erhaltung der Lebensfähigkeit dieser Sprache.

124

Die spezifische Situation der verschiedenen Sprachgemeinschaften

124.1

Die rätoromanische Schweiz

Die rätoromanische Schweiz hat nicht nur mit den Problemen der Verständigung und des Verständnisses zwischen den verschiedenen Sprachregionen in 321

der Schweiz zu kämpfen, sondern sie muss als in ihrer Existenz gefährdet bezeichnet werden. Die verschiedensten Faktoren tragen zu dieser problematischen Lage des Rätoromanischen bei.

Als räumlich eng umgrenzte Kleinsprache fehlt ihr nicht nur ein sprachliches Hinterland (im Sinne einer gleichsprachigen Bevölkerung im angrenzenden Ausland), sondern ebenso ein allgemein akzeptiertes Zentrum im romanischen Sprachgebiet. Die geographische Unterteilung des Sprachgebiets (Surselva, Sutselva, Surmeir, Oberengadin, Unterengadin, Val Müstair) führte zwar einerseits zu einer grossen sprachlichen und kulturellen Vielfalt, anderseits aber zu partikularistischen Tendenzen. Die kleinräumigen Lebensbereiche wurden überdies durch die allgemein gesteigerte Mobilität unseres Jahrhunderts und besonders durch den Ausbau des Fremdenverkehrs immer mehr aufgebrochen. Dabei zwang der Tourismus als bedeutendste Erwerbsquelle die Rätoromanen nicht nur, sich sprachlich anzupassen, sondern setzte zudem die gesamte rätoromanische Kultur der Gefahr der Folklorisierung und damit des Verlusts an echter kultureller Identität aus. Der Fremdenverkehr löste gleichzeitig einen einschneidenden wirtschaftlichen Strukturwandel vom primären zum tertiären Wirtschaftssektor aus und vergrösserte so die wirtschaftliche Abhängigkeit von der übrigen Schweiz und vom Ausland zusätzlich. Zu dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit gehört vor allem die bloss partielle Geltung des Rätoromanischen in wichtigen Lebens- und Arbeitsbereichen (Medien, Formulare, Gebrauchsanweisungen usw.). Als besondere Bedrohung für das Rätoromanische muss dabei die Überflutung des gesamten Sprachgebiets durch anderssprachige Massenmedien (Print- und elektronische Medien) bezeichnet werden.

Das Rätoromanische hat kaum Chancen, je zur landesweiten Umgangssprache zu werden. Wenn aber die direkten und indirekten Stützungs- und Förderungsmassnahmen nicht ausgebaut werden, wird sich diese Sprache auf lange Sicht selbst in ihren angestammten Gebieten nicht halten können. Zu den notwendigen Massnahmen gehören zunächst die Sicherung des Territoriums und darin die Schaffung solider wirtschaftlicher Grundlagen. Um die Gefahr eines Abgleitens in deutsche Einsprachigkeit zu verhindern, muss die Zweisprachigkeit der Bündnerrornanen intensiv und direkt gefördert werden. Dies ist aber
nur möglich, wenn die Präsenz der Sprache in allen Bereichen, besonders im Medienbereich, verbessert wird und die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der drei Landessprachen Graubündens gewährleistet ist. Als eine wesentliche Voraussetzung für die landesweite Präsenz des Rätoromanischen im schriftlichen Bereich und für die Verbesserung des Gemeinschaftsbewusstseins kann ohne Zweifel die erhoffte Akzeptanz und Verbreitung der gemeinsamen Schriftsprache Rumänisch Grischun genannt werden.

124.2

Die italienische Schweiz

Die italienische Sprache in der Schweiz ist in ihrer Existenz kaum bedroht.

Wohl sind die Abwanderungszahlen, vor allem für die wirtschaftlich schlecht gestellten Bündner Valli, bedenklich; gesamthaft gesehen hat jedoch die Zahl der Sprachträger in der italienischen Schweiz während der letzten Jahre durch die Zuwanderer aus Italien sogar zugenommen.

322

Gefährdet ist die Sprache und damit auch die kulturelle Eigenart der italienischen Schweiz aber in erster Linie im Hinblick auf ihre Stellung in der Schweiz, wo sie zu einer regionalen Kleinsprache zu werden droht. Wirtschaftlich-strukturell ist das Tessin von der übrigen Schweiz, vor allem von der Deutschschweiz, in hohem Masse abhängig. Schon für eine höhere Ausbildung sind die jungen Tessinerinnen und Tessiner auf die Ausbildungsstätten in der deutschen oder der französischen Schweiz angewiesen. Um einen schweizerischen Hochschulabschluss zu erlangen - die Frage der Gründung einer Tessiner Hochschule ist derzeit erneut Gegenstand intensiver Diskussionen -, sind die italienischsprachigen Studierenden sogar gezwungen, ihr gesamtes Studium an einer Hochschule in der französischen oder der deutschen Schweiz zu absolvieren.

Ähnliches gilt auch für viele Kaderpositionen verschiedener Berufszweige. Dem steht eine massive ständige Präsenz der deutschen Sprache im italienischen Sprachgebiet gegenüber, da das Tessin für viele Deutschschweizer, aber auch für deutsche Staatsbürger zu einem bevorzugten Ziel für kürzere und längere Aufenthalte bis hin zum dauernden Verbleib geworden ist. Die Mehrzahl der Zuzüger - vorwiegend ältere Menschen - ist ausschliesslich am landschaftlichen Reiz und einer vermeintlichen «Italianità», nicht aber an einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Sprache und Kultur der Gastregion interessiert. Ein weiterer Gradmesser für die Stellung der italienischen Sprache in der Schweiz ist ihre Behandlung innerhalb der Behörden auf Bundesebene. Obwohl das Italienische neben dem Deutschen und dem Französischen verfassungsmässige Amtssprache des Bundes ist, wird es auch dort nur von wenigen Beamten zumindest passiv beherrscht. Die italienischsprachigen Beamten sind daher häufig gezwungen, sich in einer anderen Landessprache auszudrücken, um überhaupt verstanden zu werden. Die Gründe für diese Ungleichbehandlung der Amtssprachen dürften neben den zahlenmässigen Proportionen auch in der relativ schwachen Stellung des Italienischen im internationalen Bereich liegen.

In der italienischen Schweiz bestehen seit einiger Zeit Bestrebungen, die traditionelle kulturelle Öffnung gegen Norditalien auszubauen. Ein intensiver Kontakt mit dem Nachbarland Italien ist für die italienischsprachigen
Gebiete unseres Landes nicht nur sprachlich und kulturell, sondern auch im Hinblick auf den geplanten europäischen Binnenmarkt ohne Zweifel wünschenswert. Um jedoch gleichzeitig das Verständnis zwischen den verschiedenen Landesteilen zu festigen, werden in den nächsten Jahren auch innerhalb unserer Landesgrenzen beachtliche Anstrengungen notwendig sein. Für die italienische Schweiz bedeutet dies in erster Linie, dass ihre Sprache iu der ganzen Schweiz an Präsenz gewinnen muss und die Bewohner anderer Sprachregionen die Bereitschaft zeigen müssen, sich aktiv und passiv mit dieser Sprache auseinanderzusetzen.

124.3

Die französische Schweiz

Die französische Schweiz gehört als frankophone Region zu einer Sprach- und Kulturgemeinschaft von Weltbedeutung, die sich auf mehrere Kontinente erstreckt. In den letzten Jahren bemühen sich die Romands, ihre Kulturbeziehungen mit den frankophonen Ländern, insbesondere mit Frankreich, noch zu in-

323

tensivieren. Auf Bundesebene wurden diese Anstrengungen beispielsweise mit der Eröffnung eines schweizerischen Kulturzentrums in Paris (1985) unterstützt.

Auch innerhalb der Romandie gibt es verschiedene Vereinigungen, die sich die Verteidigung der französischen Sprache und ihrer Kultur zum Ziel gesetzt haben. Sie sind nicht zuletzt ein Anzeichen dafür, dass sich die französische Schweiz mit Problemen der landesweiten interkulturellen Verständigung konfrontiert sieht. Gerade in den zweisprachigen Kantonen wird dabei die Sicherung des Sprachfriedens immer wieder zur Diskussion gestellt. Die Bemühungen um die Erhaltung der angestammten Sprachgebiete führten beispielsweise im Kanton Freiburg gerade in jüngster Zeit zu einer Revision des Sprachenartikels (Art. 21) in der kantonalen Verfassung.

Auch ausserhalb der Romandie haben sich verschiedene Organisationen etabliert, die sich für eine landesweit verstärkte sprachliche und kulturelle Präsenz der Westschweiz sowie um eine interkulturelle Verständigung zwischen den Sprachträgern aus den verschiedenen Landesteilen einsetzen.

Gesamthaft betrachtet sind die französischsprachigen Bürger und Bürgerinnen nicht denselben Anpassungszwängen ausgesetzt wie die beiden kleineren Minderheiten. Als zweitgrösste Sprachgruppe unseres Landes verlangen sie, auf nationaler Ebene, namentlich bei den Bundesbehörden, angemessen vertreten zu sein. Dennoch werden immer wieder eine wirtschaftliche Dominanz der Deutschschweiz und eine drohende Germanisierung zur Diskussion gestellt.

Vor allem der überhandnehmende Gebrauch der Deutschschweizer Mundarten und die sinkende Bereitschaft der Deutschschweizer, die französische Sprache zumindest passiv zu beherrschen, werden dabei immer wieder beklagt.

Um der Übermacht der deutschen Schweiz entgegenwirken zu können, wird in jüngster Zeit auch vermehrt eine Solidarität unter den nicht-deutschsprachigen Sprachregionen angestrebt. Diesen Anstrengungen sind jedoch nicht zuletzt gerade aus sprachlichen Gründen gewisse Grenzen gesetzt.

124.4

Die deutsche Schweiz

Der deutschen Schweiz fehlt angesichts ihres deutlichen zahlenraässigen Übergewichts das für die übrigen drei Gruppen zentrale Problem des Minderheitenstatus. Einzig in den zweisprachigen Kantonen Freiburg und Wallis stellen sich für die Deutschsprachigen Probleme einer Sprachminderheit.

Dennoch ist es gerade ein Sprachphänomen der deutschen Schweiz, das gegenwärtig jede Auseinandersetzung mit Fragen der Sprach- und Kulturgemeinschaften in unserem Land prägt: Es ist die sogenannte «Mundartwelle». Bekanntlich sind die Dialekte in der deutschen Schweiz seit jeher Träger einer reichhaltigen, insbesondere ländlichen Tradition und dienen im Unterschied zur Romandie und zum Tessin noch heute in der breiten Öffentlichkeit als vitales Kommunikationsmittel. Die schweizerdeutschen Mundarten dringen jedoch mehr und mehr in Bereiche vor, die bisher ganz oder mehrheitlich der Schriftsprache vorbehalten waren.

324

Ein wesentlicher Grund für diese momentan sehr ausgeprägte Entwicklung liegt sicher darin, dass sich viele Menschen heutzutage im Zuge der Selbstfindung mit Vorliebe auf kleinere, überschaubare Lebensräume zurückziehen und sich auf vertraute kulturelle Ausdrucksformen besinnen. Ohne Zweifel kann gerade hier der Gebrauch der Mundarten eine identitätsstiftende Kraft entfalten. Obwohl also diese Erscheinung gerade in diesen Tagen im gesamten Europa beobachtet werden kann und angesichts der Uniformisierungstendenzen unserer Zeit als natürliche Reaktion gewertet werden muss, bedeutet sie dennoch für die Sprachkultur unseres Landes und vor allem für die Kommunikation zwischen den verschiedenen schweizerischen Sprach- und Kulturgemeinschaften eine echte Bedrohung.

In der deutschen Schweiz kann diese Entwicklung im Extremfall dazu führen, dass das Verständnis für und der Umgang mit der sogenannten «Diglossie», das heisst das Bestehen zweier Formen der gleichen Sprache für unterschiedliche Geltungsbereiche, verloren gehen. Dabei kommt es einerseits zu einem Substanzverlust der Mundarten selbst, da diese nun, wo sie nicht mehr auf den privaten Bereich beschränkt sind, auch von einer grösseren Öffentlichkeit verstanden werden müssen und daher gezwungenermassen auf ausgeprägte dialektale Färbungen zunehmend verzichten. Anderseits führt der vermehrte Mundartgebrauch zu einem Rückgang der Sprachkompetenz in der Hochsprache und damit zu einem Verlust der Verständigungsfähigkeit in- und ausserhalb der Schweiz. Im Bewusstsein dieser Problematik hat die EDK schon am 15. Juni 1984 Empfehlungen zum Verhältnis Hochsprache und Mundart im Schulunterricht erlassen. Mit der Aufhebung der Diglossie läuft die deutsche Schweiz nämlich nicht nur Gefahr, sich vom gesamten deutschen Sprachraum geistig abzukapseln, sondern auch, sich innerhalb unseres Landes mehr und mehr zu isolieren. Der schwindende Wille und die mangelnde Fähigkeit der Deutschschweizer, sich in korrektem Hochdeutsch zu verständigen, führen denn auch bei den nicht-deutschsprachigen Bewohnern unseres Landes, die sich ohnehin der zahlenmässigen und auch wirtschaftlichen Dominanz der Deutschschweiz ausgesetzt sehen, zu einem zunehmenden Motivationsverlust für das Erlernen der als schwierig geltenden Landessprache Deutsch. So ist es nicht auszuschliessen, dass
sie sich inskünftig lieber dem Englischen zuwenden, welches nicht nur als leichtere, sondern vor allem als die bedeutend nützlichere Fremdsprache empfunden wird.

Die Befürchtung kann somit nicht von der Hand gewiesen werden, dass, falls sich die aktuelle Mundartwelle in gleicher Intensität weiterentwickelt, die kulturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Landesteilen der Schweiz auf ein Minimum reduziert werden und Englisch dabei zur Umgangssprache zwischen Schweizern aus verschiedenen Sprachregionen werden könnte.

325

125

Die Erhaltung der Viersprachigkeit als Ziel einer künftigen schweizerischen Sprachpolitik

125.1

Grundbedingungen und Grenzen einer Sprachpolitik

In den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass die Sprachenvielfalt unseres Landes in beunruhigendem Mass zu einem Nebeneinander verschiedener Sprachen geworden ist, ohne hinreichende Kenntnisse, hinreichendes Interesse und hinreichendes Verständnis einer Sprachengruppe für die je andern Sprachen und Kulturen. Diese Entwicklung wird an verschiedenen Phänomenen besonders manifest: die bei den Sprachträgern allgemein zurückgehende Kenntnis anderer Landessprachen, der dramatische Rückgang des Rätoromanischen in den letzten Jahrzehnten, die unzureichende Präsenz des Italienischen in der deutschen und in der französischen Schweiz, die Ausbreitung der «Mundartwelle» in der deutschen Schweiz mit der Folge, dass die Verständigung mit den Tessinern und Romands empfindlich gestört, ja praktisch verunmöglicht wird, der allgemeine Vormarsch des Englischen, das teilweise bereits als Kommunikationsmittel zwischen den Trägern verschiedener Landessprachen verwendet wird.

Aller Voraussicht nach werden sich diese Erscheinungen verstärken. Um die Viersprachigkeit unseres Landes auch in Zukunft erhalten zu können, ist die Durchsetzung einer neuen schweizerischen Sprachpolitik unerlässlich. Eine solche Sprachpolitik wird zunächst von allen Bürgern und Bürgerinnen sowie den nichtstaatlichen Organisationen, dann von den Kantonen und Gemeinden und schliesslich auch vom Bund betrieben werden müssen.

Die Notwendigkeit, die Kompetenzen derart breit zu streuen, hat verschiedene Ursachen: Die Sprache gehört zu den bedeutendsten Wesensmerkmalen des Menschen und ist das wohl wichtigste Medium, mit dem sich der Mensch im Kontakt mit anderen Menschen zur Persönlichkeit entfaltet. Die gemeinsame Sprache - sei es im wörtlichen oder übertragenen Sinn - ist jedoch ebenso ein ausschlaggebender Faktor bei der Bildung von Gemeinschaften. Auch politische Gemeinschaften definieren sich besonders durch Sprachen. Verändert sich daher das Sprachverhalten einer Nation, ändert sich damit auch zwangsläufig die Nation als politische Gemeinschaft.Verarmt die Sprachkultur, wird auch die Gemeinschaft brüchig. Besonders für unseren Bundesstaat, der von der Vitalität der kulturellen und damit auch sprachlichen Vielfalt lebt, bedeutet Sprachpolitik also ein wichtiges Stück Staatspolitik.

Die Lebenskraft einer Sprache hängt in erster Linie
vom Willen einer Bevölkerungsgruppe ab, diese Sprache auch zu pflegen. Ohne die Bereitschaft der Bürger und Bürgerinnen, aktiv an einer künftigen schweizerischen Sprachpolitik mitzuwirken, wird jede Strategie zur Erhaltung der Viersprachigkeit unseres Landes zum Scheitern verurteilt sein. Ohne angemessene staatliche Unterstützungsmassnahmen lassen sich jedoch die sprachpolitischen Probleme in der Schweiz nicht mehr lösen. Ein wesentlicher Teil der Verantwortung liegt dabei bei den Kantonen und Gemeinden und soll auch bei ihnen bleiben. Da die Sprachen und viele Sprachprobleme jedoch die Kantonsgrenzen überschreiten und die existenziellen Sprachprobleme eines Landesteiles immer auch zugleich

326

die Probleme des Bundes sind, braucht es aber ohne Zweifel eine gesamtschweizerische Sprachpolitik.

125.2

Erhaltung und Förderung gefährdeter Sprach- und Kulturgemeinschaften

Bei der Erhaltung der viersprachigen Schweiz müssen die besonders gefährdeten Sprach- und Kulturgemeinschaften ins Zentrum des Interesses gestellt werden.

Die Förderung und Erhaltung des Rätoromanischen, aber auch des Italienischen als Ausdruck lebenskräftiger Sprach- und Kulturgemeinschaften gehören daher zu den primären Zielen einer künftigen schweizerischen Sprachpolitik.

Dabei soll das Rätoromanische zu einer im Kanton Graubünden konsequent verwendeten und in der ganzen Schweiz hinreichend präsenten Sprache, das Italienische zu einer in der ganzen Schweiz mündlich und schriftlich vermehrt präsenten und aktiv oder mindestens passiv zahlenmässig besser beherrschten Sprache werden. Überdies muss auch die Ausstrahlung der rätoromanischen wie der italienischen Kultur auf die Gesamtschweiz gefördert werden.

Ob diese Ziele erreicht werden können, hängt von verschiedenen, weitgehend schon heute bestimmbaren Faktoren ab: Als eine der wichtigsten Bedingungen muss dabei die Solidarität unter den Sprachgruppen genannt werden. Nur wenn es gelingt, bei der sprachlichen Mehrheit die Bereitschaft zu wecken, mit den sprachlichen Minderheiten solidarisch zu sein und die von ihnen ohnehin erbrachten Opfer auszugleichen, lässt sich die Zukunft der schweizerischen Viersprachigkeit sinnvoll gestalten.

Neben Sprachbeherrschung und kulturellem Verständnis ist dabei auch Rücksichtnahme notwendig, eine Rücksichtnahme, die vor allem von den Deutschschweizern als der quantitativ übermächtigen Mehrheit erbracht werden muss.

Eine bedrohte Minderheitssprache wie das Rätoromanische kann zudem nur erhalten werden, wenn der Bevölkerung, die diese Sprache spricht, adäquate wirtschaftliche Lebensbedingungen zugesichert werden. Das heisst einerseits, dass die Bevölkerung nicht aus wirtschaftlichen Gründen zur Abwanderung gezwungen sein darf, anderseits, dass die betroffenen Gebiete nicht von anderen Landesteilen wirtschaftlich «kolonisiert» werden.

Eine weitere Voraussetzung für die Erhaltung der Sprachminderheiten unseres Landes - dies gilt in erster Linie für das Rätoromanische - ist die Sicherung der Sprachgrenzen. Ohne ein geschlossenes Territorium, in welchem eine Sprache mindestens bei der von alters her ansässigen Grundbevölkerung als Muttersprache und als erstrangige Umgangssprache ohne soziale Diskriminierung gilt,
kann eine Sprache nicht lebensfähig bleiben. Für das Italienische, besonders aber für das Rätoromanische, muss heute von einer Gefährdung, im Falle der vierten Landessprache sogar von einer eigentlichen Bedrohung ihrer Territorien gesprochen werden. Während das Italienische sich in Teilen des Kantons Tessin und der bündnerischen Valli einem starken Druck des Deutschen ausgesetzt sieht, steht das Rätoromanische sogar in einem ausgeprägten Erosionsprozess.

Um hier die noch bestehenden, zumindest teilweise intakten Sprachgebiete 327

wie die Surselva, Teile Mittelbündens, sodann Unterengadin und Val Müstair erhalten zu können, werden erhebliche Sonderanstrengungen des Bundes wie auch des Kantons Graubünden und der Gemeinden erforderlich sein. Um das Rätoromanische territorial zu sichern, bedarf es jedoch auch der eigenen Sprachkraft der Rätoromanen, die ihre Sprache aus einem Sprachselbstbewusstsein erhalten wollen, ohne sich dabei gesellschaftlich und kulturell abzukapseln.

125.3

Förderung des Verständnisses und der Verständigung zwischen den Sprachgruppen

Um das Grundziel einer schweizerischen Sprachpolitik, die Erhaltung der viersprachigen Schweiz, erreichen zu können, müssen zunächst die Verständigung und das Verständnis zwischen den Sprachgruppen gefördert und damit die Bereitschaft zur Solidarität zwischen den Kulturregionen gestärkt werden.

Auch hier können verschiedene Faktoren wirksam werden: Eine Bereitschaft zur Solidarität zwischen den verschiedenen Sprachgruppen kann nur dann geweckt werden, wenn zuerst das sprachliche Selbstverständnis des einzelnen Menschen und der jeweils einzelnen Sprachgemeinschaft gesichert sind. Die Gewährleistung der individuellen Sprachenfreiheit als eines der persönlichkeitsnächsten Rechte muss darum unbedingt, und zwar für alle Bewohner unseres Landes, auch in Zukunft gelten.

Ebenso sollte eine grundsätzliche Gleichberechtigung der vier schweizerischen Landessprachen auf Bundesebene, soweit dies sinnvollerweise verwirklicht werden kann, angestrebt werden. Dies bedeutet in erster Linie eine konsequentere Einhaltung der verfassungsmässigen Gleichberechtigung der italienischen Sprache als Amtssprache. Aber auch das Rätoromanische sollte vermehrt verwendet und in weiteren Bereichen als Amtssprache des Bundes anerkannt und gehandhabt werden.

Auch die angemessene Vertretung aller Sprachgruppen in sämtlichen Bereichen von Politik, Bildung, Kultur und Öffentlichkeit gesamtschweizerischer Ausrichtung kann zur Sicherung des sprachlichen Selbstbewusstseins beitragen und sollte deshalb von Seiten des Bundes, der Kantone und der Gemeinden, aber auch von Seiten nichtstaatlicher Organisationen, welche mit Wirkung für die ganze Schweiz tätig sind, gefördert werden.

Die Verantwortung für das gegenseitige Verständnis zwischen den verschiedenen Sprachgruppen liegt sicher in erster Linie bei jedem einzelnen Bürger und bei jeder einzelnen Bürgerin. Erforderlich sind ein klarer Wille zum Verständnis und eine hinreichende Bereitschaft zur Verständigung. Dennoch muss die Sicherstellung einer wirksamen Verständigung zwischen den vier Sprach- und Kulturgemeinschaften ein erklärtes Ziel einer schweizerischen Sprachpolitik sein. Diese Sicherstellung bedingt eine ausreichende gegenseitige Beherrschung der verschiedenen Standardsprachformen, einen kulturellen Austausch und vermehrte Impulse für interkulturelle Erziehung. Es handelt sich
dabei also hauptsächlich um den Aufbau gemeinsamer bildungspolitischer Ziele, die für alle Schulstufen mit Einschluss der Hochschulen gelten sollten. Hiezu verweisen wir noch einmal auf unsere Botschaft vom 17. September 1990 über Massnahmen 328

für die internationale Zusammenarbeit im Bereich der höheren Bildung und für die Mobilitätsförderung.

Auf die Verständigung und das Verständnis zwischen den verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften wird inskünftig auch vermehrt schon im jeweils eigenen Sprachterritorium der verschiedenen Sprachgruppen geachtet werden müssen. Dies schliesst nicht aus, dass auch in Zukunft die Erhaltung von Sprachgebieten und die möglichst weitgehende Wahrung der Stabilität der Sprachgrenzen unerlässliche Voraussetzungen für die Erhaltung des Sprachfriedens sein werden und damit eine Grundlage unseres nationalen Zusammenhalts bilden. Das Bemühen um Stabilität der Sprachgrenzen darf jedoch nicht in Unverständnis gegenüber sprachlichen Minderheiten oder gar in deren Unterdrükkung ausmünden. Besonders angesprochen ist dabei das Verhältnis zur Bilinguität, welche in unserem mobilen Zeitalter durchaus keine Ausnahmeerscheinung mehr darstellt. Diese Mehrsprachigkeit sollte daher vermehrt gefördert werden, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Sprachenfreiheit und die Möglichkeit zur individuellen Entfaltung, sondern ebenso als vorzügliche «Verständigungsbrücke» zwischen den Sprachen und Kulturen. Die Chance zu einer derartigen Verständigung sollte soweit wie möglich auch gegenüber Sprachträgern, die keine der vier schweizerischen Landessprachen muttersprachlich beherrschen, wahrgenommen werden.

13

Ergebnisse des Vorverfahrens

131

Arbeitsgruppe Saladin

In Erfüllung der Motion Bundi (vgl. Ziff. 11) setzte der Vorsteher des EDI eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des Berner Staatsrechtsprofessors Peter Saladin ein und erteilte ihr folgenden Auftrag: a. juristische, historische und sprachwissenschaftliche Beurteilung der sich im Zusammenhang mit einer Revision von Artikel 116 BV stellenden Fragen; b. Formulierung einer Neufassung von Artikel 116 BV.

Die Arbeitsgruppe verfolgte mit ihren Vorschlägen zwei Hauptziele: die Erhaltung schweizerischer Viersprachigkeit und die Verbesserung des Verständnisses und der Verständigung zwischen den Sprachgruppen. Sie schlug einen neuen Sprachenartikel der Bundesverfassung vor, welcher die Grundlage für eine auf jene Ziele ausgerichtete Sprachpolitik bilden soll. Die Arbeitsgruppe präsentierte hiefür zwei Varianten, eine kürzere und eine ausführlichere. Sie war sich allerdings bewusst, dass mit einem Verfassungsartikel allein die gegenwärtigen Sprachenprobleme unseres Landes nicht zu lösen sind; Änderungen und Ergänzungen auf Gesetzes- und auf Verordnungsebene müssen hinzutreten, und die Rechtsnormen sind in angemessene Politik umzusetzen. Entscheidend für das Gelingen jeglicher Anstrengungen ist jedoch in erster Linie der Wille der Bevölkerung, insbesondere in den betroffenen Gebieten und Kulturkreisen, die Viersprachigkeit lebendig zu erhalten. Das Recht kann insgesamt nur einen Beitrag leisten, allerdings einen wesentlichen. Für die Arbeitsgruppe stand auch von Anfang an fest, dass die Hauptverantwortung für die Erhaltung und für das 329

friedliche Zusammenleben unserer vier Landessprachen wie für eine hinreichende Verständigung zwischen den Sprachen weiterhin bei den Kantonen und Gemeinden liegen muss. Der Bund kann und soll im wesentlichen unterstützen und fördern.

Der Arbeitsgruppe gehörten an: Prof. Iso Camartin, Zürich; Dr. Bernard Cathomas, Chur; Dr. Ursina Fried-Turnes, Zürich; Dr. Marcelle Huber, Zollikon; Prof. Ottavio Lurati, Montagnola; Prof. Roland Ruffieux, Freiburg; Prof. Peter Saladin, Bern (Vorsitz); Prof. Stefan Sonderegger, Zürich; Prof. Joseph Voyame, Saint-Brais sowie als Vertreter des Bundesamtes für Kultur Dr. Alfred Defago, Hans Rudolf Dörig und Romedi Arquint (Sekretariat).

Die Arbeitsgruppe vergab verschiedene Aufträge an schweizerische Fachleute für Kurzstudien zu Einzelfragen und befragte mündlich eine Reihe weiterer Experten, aber auch Politiker und Medienfachleute.

Der umfangreiche Bericht der Arbeitsgruppe mit dem Titel «Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz» wurde im September 1989 in allen vier Landessprachen veröffentlicht. Er kann bei der Eidgenössischen Drucksachen- und Materialzentrale bezogen werden.

132

Vernehmlassungsverfahren

Die Grundlage für das Vemehmlassungsverfahren bildeten der Bericht «Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz», ein erläuternder Bericht des EDI zu den beiden von der Arbeitsgruppe vorgeschlagenen Varianten für einen neuen Verfassungsartikel sowie ein Fragekatalog zu zehn spezifischen Aspekten der Verfassungsrevision und der Sprachenproblematik im allgemeinen.

Die beiden vorgeschlagenen Varianten stimmten inhaltlich weitestgehend überein und verpflichteten den Bund zu beinahe denselben Vorkehrungen. Hingegen unterschieden sich die beiden Varianten durch ihre Struktur: Während Variante I ausführlich und möglichst konkret, dafür auch länger gestaltet wurde, stand bei Variante II eine Beschränkung auf das Wesentlichste im Vordergrund.

In dieser kurzen Variante wurden daher gewisse Elemente nur implizit normiert, während sie in Variante I ausdrücklich angesprochen wurden. Überdies setzte Variante II beim Individuum ein und stellte das Grundrecht der Sprachenfreiheit an den Anfang; Variante I dagegen «dachte» eher von der staatlichen Gemeinschaft her und bestimmte darum zunächst die Sprachen dieser Gemeinschaft und die Aufgaben von Bund und Kantonen, die sich aus der Viersprachigkeit ergeben.

Variante J Das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische sind die Nationalsprachen der Schweiz.

2 Die Erhaltung der vier Nationalsprachen in ihren Verbreitungsgebieten und die Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften sind Aufgaben von Bund und Kantonen.

3 Der Bund a. fördert die gesamtschweizerische Präsenz aller vier Nationalsprachen; 1

330

b. fördert die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften; c. unterstützt die Kantone in ihrem Bemühen um die Erhaltung bedrohter Nationalsprachen.

4

Amtssprachen des Bundes sind das Deutsche, das Französische und das Italienische. Im Verkehr zwischen dem Bund und rätoromanischen Bürgern und Bürgerinnen sowie mit rätoromanischen Institutionen ist auch das Rätoromanische Amtssprache; wichtige Erlasse, Berichte und andere Schriftstücke des Bundes sind auch in rätoromanischer Sprache zu veröffentlichen.

5 Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet.

Variante II Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet.

2 Das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische sind die Nationalsprachen der Schweiz.

3 Bund und Kantone schützen und fördern die Nationalsprachen.

4 Der Bund regelt die Verwendung der Nationalsprachen in seinem Verkehr mit den Kantonen und mit den Bürgern.

1

Das Vernehmlassungsverfahren wurde am 21. September 1989 eröffnet. Die offizielle Vernehmlassungsfrist dauerte bis Ende April 1990.

Mit wenigen Ausnahmen reichten alle angeschriebenen Vernehmlassungsadressaten, darunter sämtliche Kantone, Stellungnahmen ein. Einige weitere Verbände und Organisationen vorwiegend sprachlich-kultureller Ausrichtung bekundeten ebenfalls ihr Interesse. Insgesamt gingen 88 Stellungnahmen ein. Die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens sind im September 1990 vom EDI veröffentlicht worden.

Wir beschränken uns im folgenden auf eine geraffte Zusammenfassung der Aspekte, die für den Entscheid über eine Verfassungsrevision von Bedeutung sind: Von praktisch allen Vernehmlassem wird betont, mit der Sprachenfrage stehe ein erstrangiges Element unseres staatlichen Selbstverständnisses zur Diskussion. Es wird kaum bestritten, dass es sich dabei um eine Frage von Verfassungsrang handelt. Das Vorhaben der Revision von Artikel 116 BV hat insgesamt eine eindeutige und überzeugende Zustimmung erfahren. Bei den wenigen skeptischen und ablehnenden Stimmen wird denn auch nicht die Bedeutung der Sprachenfrage angezweifelt; die entsprechenden Argumente beziehen sich auf den Zeitpunkt (der Sprachenartikel solle im Rahmen der Totalrevision der BV geändert werden), formal-juristische Anmerkungen (die Sprachenfrage sei gekoppelt mit einem Kulturartikel zu behandeln) sowie auf die Ansicht, die mit der Verfassungsrevision angestrebten Ziele könnten auch auf der Grundlage des bestehenden Verfassungsartikels verwirklicht werden.

Dass bei einer Revision des Sprachenartikels das Grundrecht der Sprachenfreiheit Aufnahme finden muss, ist in der Mehrzahl der Vernehmlassungen unbestritten geblieben.

331

Im Grundsatz sind sich die Vernehmlasser weitgehend darin einig, dass es sich bei der Sprachenfrage um ein gemeinsames Anliegen von Bund und Kantonen handeln müsse. Mit etwa derselben Eindeutigkeit wird jedoch die prioritäre Kompetenz den Kantonen zugeordnet. An deren hauptsächlicher Verantwortung, die sich in der Praxis bewährt habe, solle ohne Not nicht gerüttelt werden.

Eine stärkere Einbindung des Bundes wird jedoch durchaus befürwortet. Die Postulate dazu reichen vom Engagement des Bundes in seinen eigenen Verantwortungsbereichen über die stärkere Inpflichtnahme bei der Förderung der gegenseitigen Verständigung und beim Einsatz zur Erhaltung bedrohter Sprachminderheiten bis hin zu konkreten Vorschlägen in verschiedenen Bereichen.

Die Erhaltung der nationalen Sprachminderheiten liegt in erster Linie in der Verantwortung der betroffenen Kantone; darin sind sich die Vernehmlasser einig. Der Bund soll jedoch subsidiär und in Zusammenarbeit mit den Kantonen in Pflicht genommen werden. Es wird vom Bund dabei durchaus ein verstärktes Engagement erwartet. Eine Eingriffskompetenz wird dem Bund von einem Teil der Vernehmlasser allenfalls dann zugebilligt, wenn einzelne Kantone ihrer Pflicht, gefährdete Landessprachen zu schützen, nicht nachkommen.

Als eine Hauptaufgabe des Bundes betrachtet die Mehrzahl der Vernehmlasser die Förderung der Verständigung und des Verständnisses zwischen den Sprachgemeinschaften. Tendenziell befürwortet eine Mehrheit in diesem Bereich eine explizite Kompetenzzuteilung an den Bund. Allerdings darf diese nicht kantonalen Interessen zuwiderlaufen, soll sie aber mittragen und ergänzen dürfen.

Dass das sogenannte «Temtorialitätsprinzip» als zusätzliches Rechtsinstrument zugunsten der bedrohten Sprachgemeinschaften in der Verfassung explizit genannt werden muss, wird von einer eindeutigen Mehrheit aller Vernehmlasser befürwortet. Das Sprachgebietsprinzip soll aber nicht dazu dienen, ein Gebiet um des Gebiets willen zu wahren; vielmehr soll es für die bedrohten Landessprachen eine Garantie sein, dass sie in ihren Verbreitungsgebieten auch in Zukunft als dominierende Sprachen erhalten bleiben.

Allerdings ist festzuhalten, dass die ganz oder mehrheitlich französischsprachigen Kantone Freiburg, Jura, Neuenburg und Waadt sowie die Mehrheit der Organisationen aus der französischsprachigen
Schweiz auf einer strikten Anwendung des Territorialitätsprinzips in allen Sprachgebieten beharren. Nur dadurch lasse sich die Sprachgrenze und damit der Sprachfriede erhalten.

Bei der Frage, ob die Amtssprachenregelung auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe getroffen werden soll, hat das Vernehmlassungsverfahren kein klares Resultat gezeitigt. Für eine Regelung auf Verfassungsstufe spricht nach Auffassung eines Teils der Vernehmlasser der höhere Status, der dadurch den Minderheitensprachen eingeräumt wird; dagegen werden die Argumente der Ungleichbehandlung (in bezug auf das Rätoromanische) und der geringen Flexibilität sowie «verfassungsästhetische» Gründe vorgebracht.

Keine der beiden vorgeschlagenen Varianten für einen neuen Verfassungsartikel vermochte schliesslich eine Mehrheit der Vernehmlassungen auf sich zu vereinen. Auch aus der beachtlichen Zahl von Kombinations- und Modifikationsanregungen waren keine eindeutigen Tendenzen abzulesen. Der Bundesrat beauftragte daher eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundes332

amtes für Kultur, der Bundeskanzlei und des Bundesamtes für Justiz mit der Ausarbeitung eines definitiven Textentwurfes auf der Basis der eingegangenen Vemehmlassungen.

14

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Den Anstoss zur Revision von Artikel 116 der Bundesverfassung gab, wie bereits in den Ziffern 11 und 131 erwähnt, eine vom Bündner Nationalrat Martin Bundi am 21. Juni 1985 eingereichte Motion. Der Vorstoss wurde in der Folge von beiden Räten überwiesen (N 4. 10.85; S 17.6,86). Unmittelbarer Anlass war die existentielle Gefährdung des Rätoromanischen. Die Motion zielte daher in erster Linie auf einen verstärkten Schutz dieser Landessprache. Wir hielten es jedoch für sinnvoll, die vom Parlament verlangte Revision auch zum Anlass für eine grundsätzliche Standortbestimmung über Wert, Bedeutung und Erhaltung der Viersprachigkeit zu nehmen. Dementsprechend wurden bereits das Mandat der Arbeitsgruppe Saladin (vgl. Ziff. 131) und deren Bericht umfassend ausgestaltet. Auf dieser Basis sind auch die vorliegende Botschaft und der vorgeschlagene neue Verfassungsartikel aufgebaut. Das Anliegen der Motion Bundi ist dabei vollumfänglich berücksichtigt.

Ein weiterer Vorstoss lud den Bundesrat ein, über den Stand der Kommunikation und des Einvernehmens zwischen den verschiedenen Sprachregionen Bericht zu erstatten und Massnahmen vorzuschlagen, um Hindernisse der Verständigung abzubauen und die bessere Kenntnis der andern Landessprachen und ihrer Kulturen zu fördern (Motion Müller-Meilen vom 9. März 1987, vom Nationalrat am 9. Okt. 1987 als Postulat überwiesen). Diesem Anliegen tragen der Bericht Saladin und diese Revisionsvorlage in umfassender Weise Rechnung.

2

Besonderer Teil

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Grundsätzliche Überlegungen zu einem neuen Verfassungsartikel

In jüngster Zeit wird das Problem der «Verrechtlichung» unseres Zusammenlebens immer wieder zur Diskussion gestellt. Gerade in bezug auf die Erhaltung der schweizerischen Viersprachigkeit stellt sich die Frage, ob der Erlass von Rechtsnormen grundsätzlich zur Lösung unserer Sprachenprobleme beitragen kann. Sprache und Sprachverhalten lassen sich bekanntlich nicht rechtlich normieren und verwalten; ihre Lebenskraft kann nur erhalten werden, wenn Menschen gewillt sind, die Sprache zu sprechen und zu schreiben, darin zu denken und zu dichten. Solange aber diese. Bereitschaft besteht, sollte sie durch geeignete Rechtsnormen unterstützt und gefördert werden. Dies gilt auch für die Bereitschaft zur zwischensprachlichen Verständigung und zur Solidarität mit den sprachlichen Minderheiten. Obwohl also die Ziele der schweizerischen Sprachpolitik nur zu erreichen sind, wenn die Bevölkerung bereit ist, die Verantwortung für die Viersprachigkeit unseres Landes aktiv mitzutragen, können mit rechtlichen Anordnungen zumindest die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich eine solche Aktivität auch zu entfalten vermag, 333

Selbst wenn die geltende Bundesverfassung schon einen Sprachenartikel enthält, ist auch die Frage zulässig, ob das sprachenpolitische Anliegen unseres Landes gewichtig genug sei, um in die Verfassung aufgenommen zu werden. Da unsere Viersprachigkeit zu den bedeutsamsten Merkmalen der Schweiz als einer «Con-Foederation» gehört, müssen die Wahrung und Förderung der Verständigung und des Verständnisses zwischen den Sprachgruppen zu den wichtigsten Aufgaben von Bund und Kantonen gezählt werden. Nach Artikel 3 BV ist damit zugleich gesagt, dass in der Verfassung bestimmt werden muss, welche Aufgaben dabei dem Bund zufallen.

Die Inhalte eines revidierten Artikels 116 sind noch aus einem weiteren Grund «verfassungswürdig». Mit der Sprachenfreiheit soll ein besonders wichtiges, persönlichkeitsnahes Grundrecht in den neuen Artikel aufgenommen werden.

Damit wird der revidierte Sprachenartikel aus zwei klar unterscheidbaren, jedoch durchaus miteinander verwobenen Teilen bestehen. Auf der einen Seite wird darin die Sprachenfreiheit als ein jedem Menschen zukommendes Grundrecht festgehalten; auf der anderen Seite wird der Grundsatz der Viersprachigkeit unseres Landes verankert und die Wahrung und Förderung der Verständigung zwischen den vier Sprachen ausdrücklich zu einem Ziel der schweizerischen Sprachpolitik erklärt. Die Tatsache, dass diese zwei verschiedenartigen Aspekte innerhalb desselben Artikels aufgeführt werden, verweist einerseits auf die komplexe Verbundenheit dieser beiden Ziele der schweizerischen Sprachpolitik, welche nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie jeweils sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Anderseits wäre es wenig zweckmässig, die Sprachenfreiheit getrennt von Artikel 116 in der Bundesverfassung zu verankern und eine Revision des Sprachenartikels mit einer bloss punktuellen Ergänzung des Grundrechtkatalogs im ersten Abschnitt der Verfassung zu verbinden. Eine umfassende Überarbeitung des Grundrechtskatalogs sollte sinnvollerweise der Totalrevision der Bundesverfassung vorbehalten bleiben.

Ein neuer Sprachenartikel der Bundesverfassung muss demnach folgende Grundsätze enthalten: - die Gewährleistung der Sprachenfreiheit, - den Grundsatz der Viersprachigkeit unseres Landes, - eine Regelung der Amtssprachen, - die Verpflichtung des Bundes und der Kantone, sich um die Erhaltung der vier Landessprachen in ihren Verbreitungsgebieten und um die Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften zu bemühen.

22

Text des vorgeschlagenen Verfassungsartikels und Erläuterungen zu den einzelnen Absätzen

In der Abfolge der einzelnen Absätze widerspiegelt sich die innere Logik des neuen Sprachenartikels: Er geht aus vom Grundprinzip der individuellen Sprachenfreiheit (Abs. 1), das in den folgenden vier Absätzen freilich relativiert wird. Die Aufzählung der vier gleichberechtigten und gleichwertigen Landessprachen hebt das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische aus der Vielzahl der in der Schweiz gesprochenen Sprachen heraus 334

und bestimmt die Viersprachigkeit als Wesenszug unseres Landes (Abs. 2), Diesen vier Sprachen gewährt Absatz 3 in ihren angestammten Verbreitungsgebieten Schutz. Die Auffassung, dass zu jeder Landessprache auch ein eigenes Territorium gehört, wird ergänzt mit dem Auftrag, dass in jedem dieser Territorien gleichzeitig auch die andern drei Landessprachen präsent sein sollen und dass die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften gesichert sein muss (Abs. 4). Absatz 5 schliesslich regelt die Sprachverwendung im amtlichen Bereich, schränkt also die individuelle Sprachenfreiheit in einem bestimmten Gebiet am stärksten ein.

Artikel 116 1

Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet.

- Das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische sind die Landessprachen der Schweiz.

3 Bund und Kantone sorgen für die Erhaltung und Förderung der Landessprachen in ihren Verbreitungsgebieten. Die Kantone treffen besondere Massnahmen zum Schutze von Landessprachen, die in einem bestimmten Gebiet bedroht sind; der Bund leistet ihnen dabei Unterstützung.

4

Bund und Kantone fördern die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften und die gesamtschweizerische Präsenz aller vier Landessprachen.

5

Amtssprachen des Bundes sind das Deutsche, das Französische und das Italienische. Im Verkehr zwischen dem Bund und rätoromanischen Bürgerinnen und Bürgern sowie rätoromanischen Institutionen ist auch das Rätoromanische Amtssprache. Die Einzelheiten regelt das Gesetz.

Absatz l gewährleistet das Grundrecht der Sprachenfreiheit. Es schützt die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sich in irgendeiner Sprache seiner Wahl, vor allem aber in der Muttersprache, mündlich und schriftlich zu äussern. Die Gewährleistung dieser Freiheit gehört zu den wesentlichsten Elementen des Persönlichkeitsschutzes und müsste in einer totalrevidierten Bundesverfassung gewiss in den Katalog der Grundrechte aufgenommen werden. Obwohl die Sprachenfreiheit nach bundesgerichtlicher Rechtssprechung schon bisher als ungeschriebenes Grundrecht gegolten hat, ist ihre ausdrückliche Erwähnung am Anfang des neuen Sprachenartikels sinnvoll, und zwar aus zwei Gründen: Mit der ausdrücklichen Gewährleistung wird die grundsätzliche und universelle Bedeutung der Sprachenfreiheit unterstrichen. Gleichzeitig ist sie Ausgangspunkt für alle weiteren sprachenrechtlichen Bestimmungen. Die Sprachenfreiheit gilt grundsätzlich im privaten und im öffentlichen Bereich. Sie kann jedoch eingeschränkt werden, etwa um das Zusammenleben der Sprachgemeinschaften im mehrsprachigen Staat zu sichern. Ihre stärkste Einschränkung erfährt sie durch die Regelung der Amtssprachen (Abs. 5). Was für die Einschränkungen aller Grundrechte gilt, gilt selbstverständlich auch hier: Einschränkungen sind nur zulässig, wenn sie sich auf eine rechtliche Grundlage stützen, einem öffentlichen Interesse entsprechen und verhältnismässig sind.

Absatz 2 erklärt das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische zu den Landessprachen der Schweiz. Es sind die vier Sprachen, die

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seit alters her auf dem Gebiet der heutigen Schweiz als Volks- und Literatursprachen in Gebrauch stehen. Absatz 2 entspricht dem Sprachenkatalog des Absatzes l von Artikel 116 in seiner heutigen Form. In der deutschen Fassung wurde der bisher verwendete Begriff «Nationalsprache» durch den gebräuchlicheren und auch treffenderen Ausdruck «Landessprache» ersetzt. Diese redaktionelle Änderung - sie hat keine Auswirkungen auf den französischen, italienischen und rätoromanischen Wortlaut - entspricht auch der im Entwurf der Expertenkommission von 1977 für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung (Art. 36 Abs. 3) und in der Modell-Studie des EJPD von 1985 für eine formale Totalrevision der Bundesverfassung (BB1 1985 III 191 ff., Art. l Abs. 3) vorgeschlagenen Tenrdnologie. Der Begriff «Landessprache» bezeichnet die im jeweiligen Sprachgebiet gesprochene Sprache in allen ihren Ausprägungen, umfasst also einerseits die Hoch- oder Standardsprache, anderseits aber auch die entsprechenden Dialekte.

Die vier genannten Sprachen sind alle vollwertig und gleichberechtigt. Es wird also nicht unterschieden zwischen «grossen» und «kleinen» Landessprachen, zwischen Mehrheitssprachen und Minderheitssprachen. Dieses Prinzip der Gleichberechtigung steht nicht im Widerspruch zu einer differenzierten Regelung der Sprachverwendung im amtlichen Verkehr; solche Differenzierungen müssen sich aber durch gewichtige Gründe rechtfertigen lassen.

Absatz 3 hält im ersten Satz - im Sinne einer Ziel- und Kompetenznoim - fest, dass die vier Landessprachen je mit einem bestimmten Gebiet verbunden sind und dass Bund und Kantone sich dafür einsetzen können und sollen, die Landessprachen in diesen Gebieten zu erhalten und zu fördern. Darüber hinaus enthält er im zweiten Satz einen besonderen Auftrag zum Schutz von Landessprachen, die in ihrem Verbreitungsgebiet bedroht sind.

Mit der Regelung von Absatz 3 wird das Sprachgebietsprinzip (Territorialitätsprinzip) angesprochen, das im geltenden Sprachenartikel zwar nicht ausdrücklich erwähnt wird, aber von Bundesgericht und Bundesrat in ständiger Praxis aus Artikel 116 der Bundesverfassung abgeleitet wird. Dieses Prinzip, das nach der Rechtssprechung der Wahrung der sprachlichen Homogenität und damit der Erhaltung des Sprachfriedens dienen und sprachliche Minderheiten schützen
soll, hat sich allerdings in der Praxis als wenig wirksam erwiesen. So bietet es immer dann keinen Schutz, wenn Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse nicht mehr eindeutig sind; gerade in solchen Situationen dürfte aber der Sprachfrieden am ehesten bedroht sein. Auch die ihm zugedachte Funktion des Schutzes sprachlicher Minderheiten konnte das Territorialitätsprinzip in seiner bisherigen Ausgestaltung kaum erfüllen. Vielmehr hat es sich in einer Mehrzahl der bisher entschiedenen Fälle zu Lasten der sprachlichen Minderheiten ausgewirkt.

Entsprechend den Vorschlägen der Arbeitsgruppe Saladin wird daher das Territorialitätsprinzip zwar als allgemeiner Grundsatz in die Verfassung aufgenommen und die Erhaltung und Förderung der Landessprachen in ihren Verbreitungsgebieten damit den Kantonen und subsidiär auch dem Bund zur Aufgabe gemacht. Das Prinzip soll aber nicht für alle Kantone und Sprachsituationen die gleiche rechtliche Bedeutung haben; vielmehr soll nach der Bedrohung ei336

ner Sprache differenziert werden. Je stärker eine Sprache bedroht erscheint, desto grösser ist das öffentliche Interesse an Massnahmen zu ihrer Erhaltung und desto eher rechtfertigen sich Eingriffe in die Sprachenfreiheit. Absatz 3 verpflichtet daher die Kantone, in denen eine (oder zwei) Landessprachen bedroht sind, besondere - und damit unter Umständen einschneidende - Massnahmen zu treffen, um den Zurückdrängungsprozess aufzuhalten, und sicherzustellen, dass sich die bedrängten Sprachen in den Gebieten halten können, in denen sie heute gesprochen oder geschrieben werden. Dabei soll nicht entscheidend sein, ob eine Sprache im in Frage stehenden Gebiet von einer Mehrheit der Bevölkerung gesprochen wird; eine bedrohte Sprache soll sich gerade auch in Gebieten halten können, in denen sie von einer erheblichen Minderheit gesprochen wird.

In der heutigen Sprachsituation richtet sich dieser Auftrag vorab an die Kantone Graubünden und Tessin, in denen das Rätoromanische generell als bedroht und das Italienische als in seiner Substanz stark gefährdet erscheinen.

Mit der Formulierung «in einem bestimmten Gebiet bedroht» soll jedoch zum Ausdruck gebracht werden, dass die Bedrohung nicht nur aus gesamtschweizerischer Sicht betrachtet werden kann, sondern durchaus auch Situationen möglich sind, in denen eine Sprache zwar nicht generell als bedroht erscheint, aber doch in einer bestimmten Region massiv zurückgedrängt wird.

Für die übrigen Kantone entbehrt der Auftrag, besondere Schutzmassnahmen zu treffen, angesichts der hohen Stabilität der Sprachgrenzen heute weitgehend der Aktualität. Massnahmen zum Schutze der Homogenität des Sprachgebietes sind ihnen damit aber nicht von Bundesrechts wegen rundum verwehrt; sie sind ihnen jedoch nicht von der Verfassung aufgetragen und müssen unter dem Gesichtswinkel der Verhältnismässigkeit strengeren Anforderungen genügen.

Der Auftrag von Absatz 3 richtet sich an den Bund und an die Kantone. In erster Linie sind dabei - insbesondere im Rahmen ihrer Bildungshoheit - die Kantone angesprochen. Die Aufgabe des Bundes besteht wie bis anhin im wesentlichen in der Unterstützung der Kantone bei ihren Massnahmen. So leistet der Bund bereits heute namhafte Beiträge an Leistungen der Kantone Graubünden und Tessin zur Förderung der rätoromanischen und der italienischen Kultur
und Sprache (Bundesgesetz vom 24. Juni 1983 über Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Förderung ihrer Kultur und Sprache; SR 441.3).

Darüber hinaus kann der Bund aber, insbesondere in seinem eigenen Tätigkeitsbereich ergänzend auch selbständige Massnahmen treffen. Für die besonderen Massnahmen zur Erhaltung bedrohter Landessprachen wird der Vorrang der Kantone jedoch ausdrücklich festgehalten. Der Bund soll in diesem Bereich ausschliesslich unterstützend tätig werden.

Absatz 4 ist als Ergänzung der Regelung von Absatz 3 zu verstehen, der die Landessprachen in ihren Verbreitungsgebieten als Einzelsprachen schützt. In allen Landesteilen sollen neben der Erhaltung und Förderung der jeweiligen Gebietsprache auch die anderen Landessprachen gepflegt werden, damit die Verständigungsfähigkeit und Verständigungsbereitschaft zwischen den Sprachgemeinschaften erhalten bleiben und sich weiterentwickeln können.

Die Differenzierung des Sprachgebietsprinzips von Absatz 3 findet hier eine Entsprechung. Die gesamtschweizerische Präsenz aller vier Landessprachen 337

trägt wesentlich zur Verbesserung der Interkulturalität bei. Die Kantone müssen neben ihrer Gebietssprache - soweit nicht die Voraussetzungen für besondere Massnahmen nach Absatz 3 gegeben sind - auch die anderen Landessprachen respektieren; Absatz 4 ruft sie dazu auf, ihnen zusätzlich Raum zu geben. Zuzüger aus anderen Landesteilen sollen sich also nicht mehr vollständig assimilieren müssen, sondern in ihren Bemühungen gefördert werden, neben dem Erwerb der Aufnahmesprache auch die Herkunftssprache weiter zu pflegen. Ziel ist die bewusste Förderung der Mehrsprachigkeit.

Mit der Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgebieten ist vor allem der Fremdsprachenunterricht in den kantonalen Bildungssystemen angesprochen, und zwar auf allen Stufen, vom Vorschulunterricht bis zur Erwachsenenbildung. In diesem Bereich sollten auch die Möglichkeiten zu Sprachaufenthalten in einer anderen Sprachregion genutzt werden, zum Beispiel in der Form von Klassen- oder Lehreraustausch und von fremdsprachigen Schul- oder Studienjahren. Die mehrsprachigen Kantone können hier beispielgebend vorangehen und die natürlichen Sprachkontaktsituationen auf ihrem Territorium zur Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften produktiv nutzen.

Im interkulturellen Bereich hat der Bund nur beschränkte Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten. Wie bei der Erhaltung der Landessprachen soll er auch hier in erster Linie die Kantone, aber auch nichtstaatliche Organisationen bei ihren Bemühungen finanziell und organisatorisch unterstützen. Dies schliesst nicht aus, dass der Bund auch eigene Initiativen ergreifen kann. In seinem eigenen Bereich - zum Beispiel in den bundesrechtlich geregelten Schulen, in der Verwaltung, bei den Regiebetrieben und in der Armee - kann er einiges zur Verbesserung der Präsenz der vier Landessprachen und der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften unternehmen (vgl. Ziff. 23).

Absatz 5 regelt die Verwendung der Landessprachen als Amtssprachen. Die Bestimmung besteht aus drei Teilen. Im ersten Satz wird die geltende Regelung übernommen: Das Deutsche, das Französische, das Italienische (in ihren standardisierten Formen) sollen wie bis anhin im vollen Sinne und ohne Abstufungen Amtssprachen sein. Sie können in allen amtlichen Beziehungen zwischen dem Bund und den Kantonen, Gemeinden,
Bürgern und Bürgerinnen sowie Institutionen aller Art gleichermassen und gleichberechtigt verwendet werden.

Dabei soll das Italienische künftig noch konsequenter als gleichberechtigte Amtssprache behandelt werden.

Mit dem zweiten Satz werden ein wachsendes Anliegen der rätoromanischen Bevölkerung sowie die Stossrichtung der Motion der eidgenössischen Räte (vgl.

Ziff. 11) aufgenommen, die das Rätoromanische vermehrt auch im amtlichen Verkehr anerkannt sehen möchten. Das Rätoromanische ist nach der heutigen Regelung von Artikel 116 Absatz 2 der Bundesverfassung nicht Amtssprache. In einzelnen Rundesgesetzen wird es gleichwohl in bestimmten Rereichen für den Verkehr mit den Bundesbehörden zugelassen (so nach Art. 4 des Bundesgesetzes vorn 4. Dez. 1947 über den Zivilprozess ; SR 273) oder muss von den Bundesbehörden bei ihrer Tätigkeit in bestimmten Fällen verwendet werden (so nach Art. 14 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 21. März 1986 über die Gesetzes338

Sammlung und das Bundesblatt; SR 170.512). Mit der vorgeschlagenen Formulierung wird neu der Grundsatz festgehalten, dass das Rätoromanische im Verkehr mit allen Bundesinstanzen ebenfalls den Status einer Amtssprache hat. Im schriftlichen Verkehr mit der Bundesverwaltung soll dieser Anspruch uneingeschränkt gelten.

Mit dem letzten Satz von Absatz 5 soll zum einen der durch die beschränkte Anerkennung des Rätoromanischen als Amtssprache entstehende Regelungsbedarf aufgefangen werden. Auch Ausnahmen bei der Anwendung des Rätoromanischen als Amtssprache, wie sie aus Gründen der Realisierbarkeit namentlich bei den bundesrechtlich geregelten Schulen sowie in der Armee festzulegen sein werden, müssen dabei berücksichtigt werden. Zum andern wird damit die Kompetenz des Bundes festgehalten, allgemeine Ausführungsbestimmungen in bezug auf die Amtssprachen - zum Beispiel über die Verwendung der drei hauptsächlichen Amtssprachen oder die sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter in der Amtssprache - zu erlassen.

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Umrisse eines sprachpolitischen Programms für den Bund

Die schweizerische Sprachpolitik wird sich auch in Zukunft nicht bloss mit den Problemen der Viersprachigkeit unseres Landes zu befassen haben. In einer Zeit, die von einem bedeutsamen Wandel innerhalb Europas geprägt ist, ist besonders der Bund dazu aufgerufen, sich auch mit einer bewusst und sinnvoll gestalteten Sprachpolitik nicht gegen die benachbarten Länder abzugrenzen, sondern im Gegenteil die kulturellen und auch sprachlichen Kontakte zu den verschiedenen Sprachkulturen weiterhin zu pflegen, ja sie sogar zu intensivieren.

Gerade die Erhaltung und die Förderung der Viersprachigkeit ermöglichen aber der Schweiz vielfältige Beziehungen zu anderen Sprachgemeinschaften innerund ausserhalb Europas. Diese Politik darf allerdings nie zu einer Missachtung der übrigen sprachlichen Minderheiten in unserem Land führen.

Der neue Artikel 116 BV, den wir Ihnen unterbreiten, überträgt dabei dem Bund und den Kantonen eine Reihe von Aufträgen. Obwohl Bund und Kantone weitgehend dieselben Aufgaben erhalten, fallen diesen beiden staatlichen Ebenen verschiedene Rollen zu. Es ist deshalb notwendig, hier insbesondere die Rolle des Bundes klar zu definieren.

Die dem Bund vom revidierten Artikel 116 übertragenen Aufgaben lassen sich in zwei Hauptbereiche gliedern: Als erstes kann der Bund in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich direkte Massnahmen ergreifen. Die zweite und vielleicht umfassendere Aufgabe liegt jedoch in der Unterstützung der Kantone bei deren Erhaltungs- und Förderungsmassnahmen sowie in der Förderung von Organisationen, die sich für die Lösung der Sprachenprobleme in unserem Land engagieren. Hier folgt der Bund ausschliesslich dem Prinzip der Subsidiarität, indem er die jeweils Zuständigen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützt. Diese Aufgaben werden zweifellos mit finanziellen Konsequenzen verbunden sein.

Die entsprechenden Entscheide werden nach Vorliegen konkreter Vorlagen im Lichte der finanzpolitischen Gegebenheiten und der sachlichen und politischen Prioritätensetzung sorgfältig vorbereitet werden müssen.

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Direkte Massnahmen zur Förderung der schweizerischen Viersprachigkeit kann der Bund nur in seinem eigenen Kompetenzbereich ergreifen. So wird zunächst der Verwendung der Landessprachen von seilen der sowie im Kontakt mit Bundesbehörden in Zukunft grösste Beachtung geschenkt werden müssen. Dies gilt soweit als möglich, das heisst unter Vorbehalt der auf Gesetzesstufe noch zu regelnden Einzelheiten, auch für das Rätoromanische. Schon heute ist es selbstverständlich, dass Eingaben an die Bundesverwaltung, aber auch an das Bundesgericht, an das eidgenössische Versicherungsgericht und an Verwaltungsgerichte des Bundes in allen vier Landessprachen eingereicht werden können. Die Bundesverwaltung antwortet meist in der Landessprache der Eingabe; die Ausfertigungen der rechtlichen Entscheide erfolgt in der Regel in der Landessprache, in der die Instruktion des Prozesses stattgefunden hat, sonst in der Sprache des angefochtenen Entscheids.

Wesentlich verbessert werden muss dagegen der sachgerechte Umgang mit der Diglossie. Dieser muss sich am Grundsatz der ausschliesslichen Verwendung der Hochsprache im schriftlichen Bereich und der Beschränkung des Dialektgebrauchs auf Gesprächsituationen unter Teilnehmern, die eine schweizerische Mundart als Muttersprache haben, orientieren. Entsprechende Weisungen können nicht nur bei den Bundesbehörden, sondern auch bei den Regiebetrieben des Bundes und bei der Armee erlassen werden.

Grössere Anstrengungen sind auch für eine sorgfältige und schriftsprachlich einwandfreie Abfassung amtlicher Schriftstücke zu unternehmen. Dies gilt sowohl für die Originaltexte wie auch für die Übersetzungen. Besonders im Übersetzimgswesen werden generell vermehrte Anstrengungen notwendig sein. So ist neben der allgemeinen Verstärkung der Übersetzungsdienste, insbesondere zugunsten des Italienischen, vor allem ein Ausbau der Übersetzungstätigkeit vom Italienischen und Französischen ins Deutsche auch im Hinblick auf eine bessere Vertretung der sprachlichen Minderheiten in der Bundesverwaltung notwendig.

Ebenso wird die Übersetzungstätigkeit ins Rätoromanische intensiviert werden müssen. Schon der höhere verfassungsmässige Status der vierten Landessprache, wie er vom revidierten Artikel 116 B V formuliert wird, verlangt vor allem bei den Publikationen des Bundes eine verstärkte Übersetzungsarbeit.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die generelle Förderung der Sprach- und Kulturkenntnisse von Bundesbeamten. Hier muss in erster Linie das auf die Verbesserung der Sprachenkenntnisse ausgerichtete Weiterbildungsangebot noch weiter ausgebaut und ergänzt werden. Um das Gleichgewicht zwischen den Sprachgruppen zu verbessern und die Interkulturalität auch innerhalb der Bundesverwaltung zu fördern, sind darüber hinaus vor allem in der deutschsprachigen Bundesstadt Bern neben Massnahmen im Bereich der Personalrekrutierung auch solche für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der einer Minderheitensprache zugehörigen Beamten notwendig.

Auch in den buiidesrechtlich geregelten Schulen (ETII Zürich und Lausanne, Schweizerisches Institut für Berufspädagogik usw.) kann der Bund direkte Massnahmen zur Förderung der Sprach- und Kulturkenntnisse der Absolventen treffen.

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Für die allgemeinen und grundsätzlichen Probleme der sprachlichen Minderheiten wird auch weiterhin die vor kurzem ausgebaute Anlaufstelle für Sprachenfragen im Bundesamt für Kultur zuständig bleiben. Mit einer optimalen Koordination der spezifischen Aufgaben verschiedener Dienststellen soll generell eine zielgerichtete und kohärente Politik des Bundes in Sprachenfragen gewährleistet werden. Dies betrifft namentlich die entsprechenden Dienste der Bundeskanzlei, des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten, des Eidgenössischen Departementes des Innern und des Eidgenössischen Finanzdepartementes. Anzustreben ist dabei nicht eine Neuverteilung der Aufgaben, sondern eine noch effizientere Zusammenarbeit.

Das Engagement des Bundes für die Erhaltung der vier Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften kann sich jedoch nicht auf seinen eigenen Zuständigkeitsbereich beschränken. Auch die subsidiären Aktivitäten des Bundes sollen weitergeführt und intensiviert werden. So sind mittelfristig die Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Förderung ihrer Kultur und Sprache zu verstärken; mit Botschaft vom 5. September 1990 haben wir Ihnen im Sinne einer Übergangsregelung eine teuerungsbedingte Erhöhung dieser Leistungen beantragt (vgl. Ziff. 311). Darüber hinaus müssen jedoch noch besondere Massnahmen zur Erhaltung und zur vermehrten Präsenz der bedrohten Landessprachen sowie zur interkulturellen Verständigung zum Tragen kommen. Für eine präzise Konzeption dieser Massnahmen wird sich der Bund inskünftig auf die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms 21 «Kulturelle Vielfalt und nationale Identität» stützen können, welche zur Zeit ausgewertet und zur Publikation vorbereitet werden.

Zu denken ist in erster Linie an Förderungsbeiträge in den Bereichen Aus- und Weiterbildung. Dabei müssen nicht nur Bildungsmöglichkeiten in den bedrohten Sprachregionen selbst, sondern auch solche in der ganzen Schweiz in Betracht gezogen werden.

Für das Rätoromanische stehen von Seite des Bundes Beiträge an Weiterbildungszentren für Erwachsene rätoromanischer Sprache (Lehrer, Forscher, Kulturschaffende), aber ebenso Beiträge an die Berufsbildung zur Diskussion. Daneben muss der Erwerb der rätoromanischen Sprache durch die Zuzüger aus anderen Landesteilen noch vermehrt
gefördert werden. Bei allen Stützungsmassnahmen in bezug auf die rätoromanische Sprache darf dabei nicht vergessen werden, dass das Rätoromanische als einzige der vier Landessprachen nicht auf ein sprachliches Hinterland zählen kann und deshalb nebst der Sprachpraxis auch die Sprachgestaltung, das heisst sowohl Sprachausbau wie Spracherneuerung, allein leisten muss. Neben dem engeren Bildungsbereich verdient daher auch die sprachliche Weiterbildung, wie sie beispielsweise durch das Verlagswesen oder die Printmedien geleistet wird, eine besondere Beachtung.

Auch für die italienische Schweiz sind Weiterbildungszentren für Erwachsene von grosser Bedeutung. Für die Unterstützung der drittgrössten Landessprache müssen jedoch noch weitere Verbesserungen im Bildungsbereich angestrebt werden. So fehlen beispielsweise für viele Berufszweige noch immer berufskundliche Lehrbücher in italienischer Sprache. Auch die Situation der italienischsprachigen Studenten, die ihre gesamte Hochschulausbildung in einer an-

13 BundusblatL 143. Jahrgang. Bd. II

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deren Sprachregion der Schweiz absolvieren müssen, .bleibt letztlich unbefriedigend. Ein eigenes Hochschulzentrum wäre nicht nur als angemessene Ausbildungsstätte für die Tessiner Studenten von Bedeutung; ebenso würde ein solches in der ganzen Sprachregion zur Festigung der kulturellen Identität beitragen und nicht zuletzt - als schweizerische Hochschule - dem Italienischen in der Schweiz mehr Funktionalität und mehr Prestige verleihen. Die Errichtung einer Hochschule in der italienischen Schweiz wird jedoch auf die finanzielle Hilfe des Bundes angewiesen sein.

Um die Präsenz der zahlenmässig kleinsten Landessprachen in der gesamten Schweiz zu verbessern, sollte auch der Aufbau (oder Ausbau) eines Rätoromanisch- und eines Italienischunterrichts an Schulen verschiedener Stufen ausserhalb der beiden Sprachregionen angestrebt werden. Für das Rätoromanische ist es dabei entscheidend, dass der Rätoromanischunterricht vor allem an den Sprachgrenzen des rätoromanischen Territoriums ausgebaut wird. Ein besonderes Augenmerk verdienen aber auch die im Hochschulbereich unternommenen Anstrengungen, wie sie die Errichtung von Lehrstühlen für rätoromanische Sprache und Kultur an den Universitäten Freiburg und Zürich sowie an der ETH Zürich darstellen.

Für die Verbesserung der gesamtschweizerischen Präsenz des Italienischen muss zunächst eine echte Wahlmöglichkeit zwischen Französisch und Italienisch bzw. Deutsch und Italienisch bei der Wahl der ersten Fremdsprache im Schulunterricht geschaffen werden.

Für eine verbesserte Verständigung zwischen den Sprachregionen sollte inskünftig im gesamten Bildungsbereich der interkulturelle Aspekt verstärkt zum Zuge kommen. Voraussetzung dazu ist einerseits, dass die sprachliche Situation und die kulturelle Vielfalt unseres Landes im Lehrplan der verschiedenen Schulstufen hinreichend berücksichtigt werden. Vor allem die Ausbildung der angehenden Lehrer wird dafür von entscheidender Bedeutung sein. All dies sind Aufgaben der Kantone. Mit Ausnahme der Eidgenössischen Technischen Hochschulen verfügt der Bund im gesamten Bildungsbereich bekanntlich über keine direkten Kompetenzen. Es wäre jedoch sinnvoll, wenn er die diesbezüglichen Anstrengungen der Kantone, namentlich die Erarbeitung geeigneter Unterrichtsmaterialien, subsidiär unterstützen könnte. Die Zuständigkeit der
Kantone im Bildungsbereich bleibt aber auf alle Fälle gewahrt.

Für die Förderung der interkulturellen Kontakte wird sich der Bund in Zukunft auch in weiteren Bereichen engagieren müssen. Namentlich der Bereich der Medien ist für die Verständigung zwischen den Sprachregionen entscheidend.

Wie im Bildungsbereich ist der Bund aber auch hier nur bedingt zuständig und muss sich daher im wesentlichen auf eine subsidiäre Tätigkeit beschränken. Zu denken ist dabei an verschiedene Massnahmen: Besondere Beachtung verdienen die wirtschaftlich leider meist unrentablen Leistungen der gesamtschweizerischen Nachrichtenagenturen, welche ihre Dienste in zwei, drei oder vier Landessprachen anbieten und damit von Staats-, sprach-, und kulturpolitischer Bedeutung sind.

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Im Interesse einer intensiveren gegenseitigen Berichterstattung aus den verschiedenen Landesteilen sollte in Zukunft auch der Journalistenaustausch zwischen den Sprachregionen vermehrt gepflegt und vom Bund unterstützt werden.

Im Bereich der SRG ist der Bund darauf bedacht, gemeinsam mit den PTT die Empfangsmöglichkeiten für SRG-Radioprogramme in allen drei grossen Landessprachen soweit wie möglich auszubauen. Bei den deutschsprachigen Programmen wird besonders darauf zu achten sein, dass die SRG-Verantwortlichen gemäss ihrem spezifischen Programmauftrag die Sprachenregelung an Mikrofon und Bildschirm vermehrt unter Staats- und: kulturpolitischen Gsichtspunkten treffen.

Ein weiterer, für die interkulturelle Verständigung wesentlicher Bereich ist das schweizerische Verlagswesen, das wegen der sprachlichen Gegebenheiten unseres Landes weder wirtschaftlich noch kulturell eine Einheit bildet. Gerade im Hinblick auf die zukünftige europäische Entwicklung wäre es jedoch auch für den Bund von Interesse, wenn das schweizerische Verlagswesen seinen gesamtschweizerischen kulturellen Auftrag vermehrt wahrnehmen würde und beispielsweise regelmässig gemeinsame Aktionen und Projekte veranstaltete.

Besondere Förderung verdient das Verlagswesen in der italienischsprachigen Schweiz. Obwohl sein wesentlichstes Verdienst darin liegt, mit seinen auf die Region bezogenen Publikationen zur Erhaltung und Förderung der Kultur in der italienischen Schweiz beizutragen, wäre eine verstärkte Ausrichtung auf die gesamte Schweiz sowie auf das europäische Geschehen wünschenswert. So sollten beispielsweise die aus Konkurrenzgründen heute häufig von Verlagshäusern in Italien herausgegebenen Übersetzungen von literarischen Werken aus der deutsch- oder französischsprachigen Schweiz vermehrt von Verlagen aus der italienischen Schweiz übernommen werden können.

Im Bereich der Wirtschaft sind-die Einflussmöglichkeiten des Bundes gering.

Dennoch rauss mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass besonders für die Erhaltung bzw. Stärkung der beiden zahlenmässig kleinsten Landessprachen eine hinreichende Präsenz des Rätoromanischen und des Italienischen in manchen Bereichen der Wirtschaft unerlässlich ist. Mit verschiedenen Anpassungen von Gesetzen und Verordnungen kann der Bund aufgrund des revidierten Artikels 116 zumindest darauf
hinwirken, dass der Idee der Viersprachigkeit verstärkt Nachachtung verschafft wird. Im Vordergrund stehen dabei Regelungen über die Aufschriften und die Gebrauchsanweisungen von Medikamenten und Giften, aber auch von Lebensmitteln und technischen Apparaten.

3

Auswirkungen

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Finanzielle und personelle Auswirkungen

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Auf den Bund

Der Bund erbringt gegenwärtig aufgrund des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1983 über Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Förderung ihrer Kultur und Sprache (SR 441.3) Leistungen im Umfang von insgesamt 5 Millionen Franken jährlich. Mit Botschaft vom 5. September 1990 (BEI 1990 III 472) ha343

ben wir Ihnen eine teuerungsbedingte Erhöhung dieser Beiträge um 25 Prozent beantragt und dabei betont, es handle sich im Vorfeld neuer sprachpolitischer Weichenstellungen um eine Sofortmassnahme mit Überbrückungscharakter. In Anbetracht des anhaltenden Druckes, dem sich die rätoromanische bzw. die italienische Sprach- und Kulturgemeinschaft ausgesetzt sehen, werden verstärkte finanzielle Leistungen des Bundes unerlässlich sein. Diese lassen sich allerdings erst beziffern, wenn auf der Basis des angestrebten revidierten Verfassungsartikels ein neues sprachpolitisches Programm auf Gesetzesstufe vorbereitet und verabschiedet wird. In diesem Zusammenhang sind auch zusätzliche Leistungen des Bundes im Bereich der Förderung von Verständnis und Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften sowie der gesamtschweizerischen Präsenz aller vier Landessprachen zu erwarten. Die für das Verständnis und die Erhaltung unseres Bundesstaates sehr wesentliche Pflege der Viersprachigkeit verlangt und rechtfertigt solche Massnahmen im Rahmen einer neuen Prioritätensetzung.

Durch die teilweise Anerkennung des Rätoromanischen als Amtssprache werden dem Bund nach vorliegenden Schätzungen zusätzliche Übersetzungskosten von rund l Million Franken pro Jahr entstehen. Darin eingeschlossen sind auch die Personalkosten für die Bundesverwaltung. Im personellen Bereich sollte längerfristig auch eine Verstärkung der gegenwärtig mit einer einzigen Etatstelle minimal ausgestatteten Anlaufstelle für Fragen der Sprach- und Kulturgemeinschaften im Bundesamt für Kultur in Aussicht genommen werden. Einer Verstärkung bedürfen, den Zielsetzungen dieser Verfassungsrevision gemäss, auch die übrigen Sprachdienste der Bundesverwaltung, insbesondere im Bereich der Übersetzungsarbeiten vom Italienischen und Französischen ins Deutsche.

Die genauen finanziellen Konsequenzen lassen sich, wie in Ziffer 23 bereits erwähnt, erst beim Vorliegen konkreter Vorlagen abschätzen. Die Entscheide darüber werden unter Berücksichtigung sowohl der finanzpolitischen Lage als auch der sachlichen und politischen Prioritätensetzung getroffen werden müssen.

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Auf die Kantone und Gemeinden

Kantone und Gemeinden sind aufgerufen, in angemessener Weise zur Erhaltung und Stärkung der Viersprachigkeit beizutragen. Diese Aufgabe und Mitverantwortung wird sie in ganz unterschiedlichem Masse belasten. Für die meisten Kantone und Gemeinden dürften die finanziellen und personellen Auswirkungen eher gering bleiben und kaum ins Gewicht fallen; insbesondere die Kantone Graubünden und Tessin werden sich aber grösseren Belastungen ausgesetzt sehen, jedoch mit einer verstärkten Hilfe des Bundes rechnen können.

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Andere Auswirkungen

Die angestrebte Verfassungsrevision dürfte sowohl beim Bund als auch bei den Kantonen und Gemeinden Auswirkungen im Bereich der Rechtsetzung und der Rechtsprechung nach sich ziehen. Wir verweisen dazu insbesondere auf die Ziffern 125, 22 und 23 dieser Botschaft.

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4

Legislaturplanung

Die Vorlage ist im Bericht über die Legislaturplanung 1987-1991 (BB1 1988 l 395, Ziff. 2.16) angekündigt.

5

Verhältnis zum europäischen Recht

Schon die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die für die Schweiz verbindlich ist, enthält als allgemein sprachrelevante Bestimmung ein Diskriminierungsverbot, das sich allerdings nur auf die Rechte und Pflichten bezieht, welche in der Konvention selbst gewährleistet sind (Art. 14 EMRK).

In jüngster Zeit wurden zudem verschiedene Initiativen ergriffen, die auf eine Aufwertung der Minderheitensprachen abzielen. Besonders hervorzuheben ist dabei der von der Conférence permanente des pouvoirs locaux et régionaux de l'Europe vorgelegte Entwurf zu einer europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Eine vom Ministerkomitee des Europarates eingesetzte Expertenkommission prüft gegenwärtig diesen Text im Hinblick auf die Ausarbeitung eines internationalen Übereinkommens. Der Chartaentwurf enthält einige detailliert ausgeführte Grundsätze und Zielsetzungen, welche die Vertragsparteien verpflichten sollen, bei ihrer Sprachengesetzgebung und ihrer Sprachenpolitik die Erhaltung und die Förderung der Minderheitensprachen zu berücksichtigen. Zu den dazu vorgeschlagenen Massnahmen gehören auch finanzielle Leistungen, welche die Staaten im Rahmen ihrer Kompetenzen zugunsten der sprachlichen Minderheiten zu erbringen haben.

In diesem Zusammenhang muss auch das Abschlussdokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990 genannt werden, in welchem der Schutz nationaler Minderheitensprachen ausführlich behandelt wird (vgl. dessen Ziff. 30 ff. insb. Ziff. 33 und Ziff. 34; publiziert in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1990, S. 245 f.).

Schliesslich entspricht der Grundsatz, die kulturelle und sprachliche Vielfalt und besonders die Minderheitensprachen zu erhalten und zu fördern, auch der Politik der Europäischen Gemeinschaft.

4581

345

Bundesbeschluss über die Revision des Sprachenartikels in der Bundesverfassung (Art. 116 BV)

Entwurf

vom

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht in eine Botschaft des Bundesrates vom 4. März 1991 '>, beschliesst: I

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:

Art. 116 1 Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet.

2 Das Deutsche, das Französische, das Italienische und das Rätoromanische sind die Landessprachen der Schweiz.

3 Bund und Kantone sorgen für die Erhaltung und Förderung der Landessprachen in ihren Verbreitungsgebieten. Die Kantone treffen besondere Massnahmen zum Schutze von Landessprachen, die in einem bestimmten Gebiet bedroht sind; der Bund leistet ihnen dabei Unterstützung.

4 Bund und Kantone fördern die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften und die gesamtschweizerische Präsenz aller vier Landessprachen.

5 Amtssprachen des Bundes sind das Deutsche, das Französische und das Italienische, Im Verkehr zwischen dem Bund und rätoromanischen Bürgerinnen und Bürgern sowie rätoromanischen Institutionen ist auch das Rätoromanische Amtssprache. Die Einzelheiten regelt das Gesetz.

II

Dieser Beschluss untersteht der Abstimmung des Volkes und der Stände.

4581

" BEI 1991 II 309 346

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft über die Revision des Sprachenartikels der Bundesverfassung (Art. 116 BV) vom 4. März 1991

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Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1991

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

18

Cahier Numero Geschäftsnummer

91.019

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

14.05.1991

Date Data Seite

309-346

Page Pagina Ref. No

10 051 812

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