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Bundesblatt 90. Jahrgang.

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Bern, den 18. Mai 1938.

Band I.

Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel.

(Vom 10. Mai 1988.)

Herr Präsident !

Hochgeehrte Herren!

Am 14. März 1938 haben wir Ihnen über das Zustandekommen des vom Komitee der «Richtlinienbewegung» am 11. Februar 1938 eingereichten, von 289 765 gültigen Unterschriften unterstützten Volksbegehrens für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel bei Bundesbeschlüssen (Bevision von Art. 89 der Bundesverfassung) Bericht erstattet. Wir beehren uns nun, Ihnen im folgenden unsere materielle Begutachtung des Volksbegehrens zu unterbreiten.

I.

Art. 89 der Bundesverfassung lautet in der geltenden Fassung: * in der Fassung der Initiative: Für Bundesgesetze und Bundes(Abs. l unverändert) beschlüsse ist die Zustimmung beider Bäte erforderlich.

Bundesgesetze, sowie allgemeinverBundesgesetze, sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht bindliche Bundesbeschlüsse sind dem dringlicher Natur sind, sollen überdies Volk zur Annahme oder Verwerfung vordem Volke zur Annahme oder Ver- zulegen, wenn es von 30 000 stimmwerfung vorgelegt werden, wenn es von berechtigten Schweizerbürgern oder von 80 000 stimmberechtigten Schweizerbür- 8 Kantonen verlangt wird, gern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, können mit Zweidrittelmehrheit der Stimmenden in jedem der beiden Räte als dringlich erklärt und damit dem Referendum entzogen werden ; sie treten spätestens nach Ablauf von drei Jahren ausser Kraft.

Bundesblatt. 90. Jahrg. Bd. I.

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718 Staatsverträge mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen » sind, sollen ebenfalls dem Volke zur sind, sind ebenfalls ...

Annahme oder Verwerfung vorgelegt ... vorzulegen, werden, wenn es von 30000 stimm- wenn ...

berechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Die vorliegende Initiative will, die Möglichkeit, das Eeferendum durch dringliche Bundesbeschlüsse auszuschalten, in drei Eichtungen einschränken: 1. durch' Umschreibung der dringlichen Bundesbeschlüsse als allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, 2. dadurch, dass für die Dringlicherklärung die %-Mehrheit der Stimmenden in jedem Eate gefordert wird, und 3. durch eine Befristung, indem die dringlichen Bundesbeschlüsse spätestens nach drei Jahren ausser Kraft treten. Dass in Abs. 2 die Worte «die nicht dringlicher Natur sind» gestrichen und die dringlichen Bundesbeschlüsse in einem neuen Absatz behandelt werden, ist eine formelle Änderung, die immerhin zum Ausdruck bringt, dass für allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse das fakultative Eeferendum die Eegel und die Dringlicherklärung die Ausnahme bildet. Eein redaktioneller Natur ist die Ersetzung der Worte «sollen vorgelegt werden» im zweiten und im letzten Absatz des deutschen Textes von Art. 89 durch «sind vorzulegen». Zwei weitere Änderungen im französischen Text sind ebenfalls bloss redaktioneller Natur.

So werden die beiden Sätze, aus denen Abs. 2 im geltenden französischen Text besteht, zu einem Satze zusammengefasst («Les lois fédérales et les arrêtés fédéraux de portée générale sont soumis ...»); die Worte «de portée générale» beziehen sich wie bisher lediglich auf «les arrêtés fédéraux», da es selbstverständlich ist, dass man kein Bundesgesetz als nicht allgemeinverbindlich erklären kann. Auch die Ersetzung der Worte «soumis à l'adoption ou au rejet du peuple» im 2. und im letzten Absatz durch «soumis à la décision du peuple» ist eine rein redaktionelle Änderung. Im bisherigen italienischen Text wird «Bundesbeschluss» mit «risoluzione federale» wiedergegeben; in der Praxis und auch in der vorliegenden Initiative heisst er «decreto federale». Zugleich bringt die Initiative am italienischen Text noch einzelne kleine radaktionelle Verbesserungen an.

Die Initiative will
«eine missbräuchliche Anwendung der Dringlichkeitsklausel bei Bundesbeschlüssen verhindern»; sie richtet sich «gegen die Ausschaltung der Volksrechte». Sie ist aus einem Unbehagen über die dringlichen Bundesbeschlüsse der, Krisenzeit entstanden und sucht eine Abhilfe in der Erschwerung der Dringlich er klärung und in einer Befristung der dringlichen Bundesbeschlüsse. Durch eine Unzufriedenheit über Erlasse aus der Krisenzeit sind auch andere Initiativen ausgelöst worden, so diejenige für Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die hauptsächlich die Einführung einer gerichtlichen Kontrolle über den Bundesgesetzgeber als Heilmittel vorschlägt. Wir haben sie in unserem Bericht vom 17. September 1987 (Bundesbl. 1987, III, 5)

719 begutachtet, uncLdie eidgenössischen Bäte haben bereits beschlossen, dem Volke und den Ständen die Verwerfung zu beantragen. Ferner ist am 7. April 1938 vom «Landesring der Unabhängigen» ein Volksbegehren über Notrecht und Dringlichkeit eingereicht worden, das eine Abänderung von Abs. 2 des Artikels 89 der Bundesverfassung, sowie die Aufnahme eines neuen Abs. 4 zu Art. 89 und eines neuen Art. 89Ms vorschlägt. Diese Vorschläge lauten: ·Art. 89, Abs. 2.

Bundesgesetze soioie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse müssen überdies dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.

Die Bäte können über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse auch von sich aus eine sofortige Volksabstimmung beschliessen.

.Art. 89, Abs. 4.

Zeitlich unaufschiebbare allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse können bis zum Ablauf der Referendumsfrist und bis zu einer allfälligen Volksabstimmung provisorisch in Kraft gesetzt werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Rates in namentlicher Abstimmung zustimmt. Sie fallen dahin, ivenn sie nicht innert 4 Monaten nach Einreichung der nötigen Unterschriftenzahl dem Volk zur Abstimmung unterbreitet und angenommen werden.

Avt OiJ XQbis .

^11t/.

In Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung können verfassungsmässige Rechte durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse vorübergehend eingeschränkt werden.

In Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot kann durch ein der obligatorischen Volksabstimmung unterliegendes Gesetz den Räten auf die Dauer von längstens zwei Jahren die Befugnis erteilt werden, durch allgemeinverbindliche Bundes Beschlüsse die Handels- und Gewerbefreiheit einzuschränken und ausserordentliche finanzielle Massnahmen zu treffen, beides unter Wahrung der Rechtsgleichheit.

Die auf Art. 89*TM gestützten Gesetze und Bundesbeschlüsse fallen spätestens ein Jahr nach Beendigung der Mobilmachung im Sinne von Abs. l oder nach Ablauf des Gesetzes im Sinne von Abs. 2 dahin. Sie können dem Referendum entzogen werden, sofern ihnen mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Rates in namentlicher Abstimmung zustimmt.

Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, welche unter Missachtung der Art. 89 und 89bi!l der Bundesverfassung erlassen wurden, sind für die Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht verbindlich.

Demnach strebt -die Landesringinitiative eine umfassende Neuregelung des Referendums über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse an: 1. Die Dringlicherklärung soll das fakultative Referendum nicht ausschliessen, sondern bloss eine «provisorische» Inkraftsetzung des allgemein-

720 verbindlichen Bundesbeschlusses bis zum Ablauf der Beferendumsfrist oder bis zur allfälligen Volksabstimmung bewirken. Wird der Bundesbeschluss in der Volksabstimmung verworfen, oder wird die Volksabstimmung nicht binnen 4 Monaten nach Einreichung des Eeferendumsbegehrens vorgenommen, so tritt der provisorisch in Kraft gesetzte Bundesbeschluss ausser Kraft. Für die Dringlicherklärung wird die Zustimmung der Hälfte aller Mitglieder jedes der beiden Eäte gefordert, und zwar soll die Abstimmung in den Bäten unter Namensaufruf stattfinden. Der dringliche Bundesbeschluss wird als zeitlich unaufschiebbarer allgemeinverbindlicher Bundesbeschluss umschrieben.

2. Eine Sonderregelung wird für Notzeiten vorgesehen (neuer Art. 89bls).

In Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung können verfassungsmässige Bechte durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse vorübergehend eingeschränkt werden. In Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot kann ein dem obligatorischen Beferendum unterstehendes Gesetz für längstens 2 Jahre die Bundesversammlung ermächtigen, durch allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse unter Wahrung der Bechtsgleichheit die Handels- und Gewerbefreiheit einzuschränken und ausserordentliche finanzielle Massnahmen zu treffen. Bei Bundesbeschlüssen, die auf Grund des Notrechtsartikels erlassen werden, kann das Beferendum ausgeschaltet werden,, wenn mindestens die Hälfte aller Mitglieder jedes Bates in namentlicher Abstimmung zustimmt.

Die Notgesetze und -beschlüsse fallen spätestens ein Jahr nach Beendigung der Mobilmachung oder nach Ablauf des Ermächtigungsgesetzes dahin.

3. Die Bäte sollen die Befugnis erhalten, von sich aus eine Volksabstimmung über Bundesgesetze oder -beschlüsse zu beschliessen (an Stelle der üblichen Klausel des fakultativen Beferendums).

4. Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, die «unter Missachtung der Art. 89 und SS**3 der Bundesverfassung erlassen wurden», sollen für Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht verbindlich sein. Mit dieser Abweichung von Art. 113, Abs. 3, der Verfassung brauchen wir uns im gegenwärtigen Bericht nicht zu befassen.

Sowohl die Bichtlinien- als die Landesringinitiative schlagen je einen neuen Text für Art. 89 der Bundesverfassung vor; die beiden vorgeschlagenen Fassungen sind miteinander unvereinbar. Schon dieser Umstand zeigt deutlich, dass beide
Initiativen die nämliche Verfassungsmaterie betreffen, obgleich die Landesringinitiative auch noch Fragen einbezieht, die in der Bichtlinieninitiative nicht aufgeworfen werden.

Da beide Initiativen sich mit der nämlichen Verfassungsmaterie befassen, muss Art. 15 des Bundesgesetzes vom 27. Januar 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Bevision der Bundesverfassung zur Anwendung gelangen. Er lautet: «Sind in bezug auf die nämliche Verfassungsmaterie eine Mehrzahl von Initiativbegehren bei der Bundeskanzlei eingereicht wmden, so ist zunächst das ersteingereichte Begehren durch die Bundesversammlung zu behandeln und zur Volksabstimmung zu bringen.

721 Die übrigen Begehren werden in der Reihenfolge ihres Einganges je nach Erledigung der früher eingereichten behandelt.» Dieser Art. 15 regelt die Beihenfolge, in der mehrere Initiativen über die nämliche Verfassungsmaterie zur Behandlung und zur Volksabstimmung gelangen sollen. Die Eeihenfolge richtet sich nach dem Zeitpunkt der Einreichung. Daher ist zunächst die Eichtlinieninitiative zu behandeln und zur Abstimmung zu bringen, und nach ihrer Erledigung kommt die Landesringinitiative an die Eeihe.

Im deutschen Text von Art. 15, Abs. 2, ist der Ausdruck «je nach Erledigung der früher eingereichten» unklar, da er vielleicht auch die Meinung erwecken könnte, das später eingereichte Begehren brauche dem Volke nur dann vorgelegt zu werden, wenn nicht die zuerst eingereichte Initiative von Volk und Ständen angenommen worden sei. Wie von Waldkirch (Mitwirkung des Volkes bei der Eechtssetzung, S. 19) hervorgehoben hat, liegt es aber zweifellos im Willen der Verfassung, dass j e d e s Begehren behandelt werde.

Demnach muss die später eingereichte Initiative ebenfalls behandelt werden, gleichviel ob die zuerst eingereichte angenommen oder verworfen worden ist.

Übrigens sind der französische und der italienische Text von Art. 15, Abs. 2, durchaus eindeutig («Les autres demandes seront successivement liquidées dans l'ordre où elles ont été déposées.»). Die zweite Initiative ist nach Erledigung der ersten, d.h.nach der Volksabstimmung über die erste zu behandeln.

Unter «behandeln» ist die Beschlussfassung der Bundesversammlung, ob sie die zweite Initiative zur Annahme oder zur Verwerfung (mit oder ohne Gegenentwurf) empfehlen will, zu verstehen. Es steht aber nichts dem entgegen und ist auch zweckmässig, im Bericht über die erste Initiative zugleich auch die zweite mitzuberücksichtigen, denn zur Prüfung des ganzen Fragenkomplexes gehört, dass die abweichenden Lösungen, die die zweite Initiative vorschlägt, ebenfalls geprüft werden.

Dass die Abstimmung über die beiden Initiativen nicht gleichzeitig stattfinden kann, ergibt sich übrigens auch schon aus der Erwägung, dass sonst gleichzeitig zwei einander widersprechende Bestimmungen angenommen werden könnten; denn es ist ja nicht verboten, für beide Initiativen mit Ja zu stimmen.

Bei zeitlich getrennten Abstimmungen hat dagegen die Annahme beider
Initiativen zur Folge, dass die Annahme der zweiten Initiative den ihr widersprechenden ersten Beschluss wieder aufheben würde, weil der die zweite Initiative annehmende Beschluss das später erlassene Eecht ist.

Im gegenwärtigen Bericht haben wir somit zur Eichtlinieninitiative Stellung zu nehmen und Antrag zu stellen. Die Prüfung der durch dieses Volksbegehren aufgeworfenen Fragen einer Eeform der dringlichen Bundesbeschlüsse bringt es mit sich, dass auch die abweichenden Lösungen, welche die Landesringinitiative in Ansehung der dringlichen Bundesbeschlüsse vorschlägt, ebenfalls mitgeprüft werden müssen. Die Zusammenhänge zwischen Dringlichkeit und Notrecht legen es auch nahe, das Problem des Notrechts auch zugleich

722 ili den Kreis der Betrachtung zu ziehen, jedoch mehr um diese Zusammenhänge klarzulegen und das Wesen des Notrechtsproblems aufzuzeigen. Eine Antragstellung über die Frage des Notrechts und überhaupt eine Antragstellung zur Initiative des Landesringes gehören dagegen nicht zur Begutachtung der Kichtlinieninitiative, sondern bleiben der seinerzeitigen Begutachtung der Landesringinitiative vorbehalten.

II.

Da die Veranlassung' zum vorliegenden Volksbegehren in einem Unbehagen über die dringlichen Bundesbeschliisse aus der Krisenzeit liegt, ist es am Platze, vorerst über diese Krisenerlasse einige kurze Betrachtungen anzustellen. In den ersten Jahren nach dem Kriege sind zwar verschiedene dringliche Bundesbeschlüsse ergangen, jedoch diente ein grosser Teil von ihnen im wesentlichen der Überleitung von Notrecht der Kriegszeit zur ordentlichen Eechtssetzung, so dass man es mit einer Zwischenstufe zwischen jenen Noterlassen und dem normalen Eecht zu tun hatte. Auch ihre Zahl nahm allmählich ab; so wurde im Jahre 1929 ein einziger dringlicher Bundesbeschluss erlassen. Seit dem Herbst 1931 änderte sich jedoch das Bild; es wurden zahlreiche Krisenmassnahmen getroffen, und die Zahl der dringlichen Bundesbeschlüsse nahm in starkem Masse zu. Die Höchstzahl der in einem Jahre erlassenen dringlichen Bundesbeschlüsse beträgt 16 und fällt in das Jahr 1934.

Im ganzen sind von 1931 bis zum 1. April 1938 80 dringliche Bundesbeschlüsse ergangen. Darunter befinden sich allerdings viele, die nur eine Erneuerung oder Abänderung von andern dringlichen Bundesbeschlüssen sind.

Bund ein Drittel ist übrigens nicht mehr in Kraft.

Von den erwähnten 80 Beschlüssen sind 47 in beiden Katen in der Schlussabstimmung einstimmig angenommen worden. 16 sind fast einstimmig angenommen worden, indem im Nationalrat höchstens 7 und im Ständerat höchstens 2 Stimmen dagegen waren. Nur die übrigen 17 Erlasse waren bestritten, jedoch befinden sich darunter auch einige Beschlüsse, deren Dringlichkeit nicht angefochten war und die nur aus andern Gründen bekämpft wurden.

Nur in 11 von diesen 17 Fällen wurde ein Antrag auf Streichung der Dringlichkeitsklausel und Aufnahme der Eeferendumsklausel gestellt. Dazu kommen allerdings noch 5 Erlasse, bei denen ein solcher Antrag ebenfalls gestellt wurde, die aber dann in der Schlussabstimmung in
beiden Bäten einstimmig oder fast einstimmig angenommen wurden. Im ganzen ergibt sich somit, dass die Dringlichkeitsklausel nur in 16 Fällen, also bloss bei einem Fünftel der Beschlüsse angefochten wurde, während sie in 64 Fällen, also bei 4/5 der Beschlüsse, unbestritten blieb. Unter den bestrittenen 16 Fällen gibt es 8 Fälle, in denen die Dringlichkeit im Nationalrat mit weniger als 2/3 der Stimmenden bejaht wurde; in 6 von diesen 8 Fällen ergab sich dann allerdings in der Schlussabstimmung eine annehmende Mehrheit von mehr als 2/3. Dass aber in der Schlussabstimmung die annehmende Mehrheit weniger als die Hälfte aller Mitglieder, also

723 im Nationalrat weniger als 94 und im Ständerat weniger als 22 betrug, ist häufig vorgekommen. Noch häufiger ist es im Nationalrat vorgekommen, dass in der Abstimmung über einen Antrag auf Ersetzung der Dringlich keitsklausel durch die Eeferendumsklausel die die Dringlichkeit bejahende Mehrheit weniger als 94 betrug.

Die Mehrzahl der in der Krisenzeit ergangenen dringlichen Bundesbeschlüsse ist auf eine Geltungsdauer von 2 bis 4 Jahren befristet worden, jedoch sind die meisten Erlasse nach Ablauf der vorgesehenen Frist wiederum -- sei es unverändert, sei es mit Abänderungen -- durch dringliche Bundesbeschlüsse erneuert worden. Immerhin sind einzelne Erlasse nicht befristet worden; von den unbefristeten dringlichen Bundesbeschlüssen betreffen die meisten entweder einmalige Akte oder gewisse Kreditgewährungen; letztere Erlasse werden gegenstandslos, sobald die gewährten Kredite aufgebraucht.sind. Wo sonst ein unbefristeter dringlicher Bundesbeschluss erlassen wurde --"etwa zur Einführung einer zunächst vorläufigen Eegelung -- bestand die Meinung, dass später, wenn mehr Erfahrungen gesammelt worden sind, ein Bundesgesetz den zunächst erlassenen Bundesbeschluss ablösen soll (so z. B. beim passiven Luftschutz).

Nicht alle, aber doch viele Krisenbeschlüsse enthalten zugleich Notrecht.

Dies ist dann der Fall, wenn ihr Inhalt vom normalen Verfassungs- oder Gesetzesrecht abweicht. Man kann sich fragen, ob die Dringlicherklärung an sich oder eher der ausserordentliche Inhalt von Krisenerlassen die manchenorts vorhandene Missstimmung gegen die dringlichen Bundesbeschlüsse herbeigeführt hat. Der Vorwurf des Missbrauchs der Dringlicherklärung wird >wohl hauptsächlich infolge des ausserordentlichen Inhalts der Noterlasse und infolge der langen Dauer derselben erhoben. Die beiden Begriffe Dringlichkeit und Notrecht liegen zwar nicht auf der nämlichen Ebene, aber sie bilden die beiden Seiten der Erlasse, die Anstoss erregt haben. Die Dringlicherklärung ist ein Begriff des Eechtssetzungsverfahrens und bildet die Ausnahme von der Eegel, dass allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse dem fakultativen Eeferendum unterstehen; durch die Dringlicherklärung wird infolge zeitlicher Unaufschiebbarkeit des Erlasses · das Eeferendum ausgeschaltet. Beim Notrecht ist wesentlich der ausserordentliche Inhalt des Erlasses,
der über das normale Verfassungsrecht oder über Gesetzesrecht hinausgeht.

Mit dem Eückgang der Krise wurde es möglich, den Abbau des Krisenrechts vorzubereiten und einzuleiten. Die Krisenerlasse müssen in absehbarer Zeit entweder aufgehoben oder, wo und soweit dies nicht möglich ist, in die ordentliche Gesetzgebung übergeführt werden. Wir erinnern an die Verfassungsvorlagen, die wir Ihnen am 10. September 1937 und 18. März 1988 über die Bevision der Wirtschaftsartikel und über die Neuordnung des Finanzhaushalts des Bundes unterbreitet haben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die nationalrätliche Kommission für die Eevision der Wirtschaftsartikel u. a. eine Vorschrift vorschlug, wonach die in Ausführung der neuen Wirtschaftsartikel ergehenden Bestimmungen nur durch Gesetze oder Beschlüsse, über welche die Volksabstimmung verlangt werden kann, eingeführt

724 werden dürfen; vorbehalten bleiben «Fälle dringlicher Art in Zeiten gestörter Wirtschaft, wofür die Bundesversammlung provisorische Anordnungen beschliessen kann»; solche Beschlüsse sollen nach Ablauf von drei Jahren nach ihrem Inkrafttreten dahinfallen. Immerhin machte die Kommission diesen Vorschlag nur vorläufig in der Meinung, dass er unter Umständen je nach dem Ergebnis der Volksabstimmung über die vorliegende Initiative dahinfallen soll. Der Nationalrat hat die Behandlung dieser Bestimmung einstweilen zurückgelegt.

Ferner ist zu bemerken, dass unsere Vorlage über die Neuordnung des Finanzhaushältes auch Übergangsbestimmungen enthält, wonach bis zum Inkrafttreten der Ausführungsgesetze -- spätestens aber bis Ende 1942 -- die Bundesversammlung im Eahmen des Finanzprogramms 1938 die zur Sicherung des Gleichgewichtes im Finanzhaushalte des Bundes erforderlichen Massnahmen trifft. Auf diese Weise wird der Abbau des Fiskalnotrechts durchgeführt.

Als Beispiele dafür, "dass auch auf andern Gebieten der Abbau dringlicher Bundesbeschlüsse gefördert wird, erwähnen wir, dass die Erneuerung des Bundesbeschlusses über Krisenhilfe zur Aufrechterhaltung des Betriebes privater Eisenbahnen und Schiffsunternehmen mit der Eeferendumsklausel versehen worden ist (Bundesbeschluss vom 22. Oktober 1937, A.S. 54, 49), sowie dass wir Ihnen am 5. April 1938 den Entwurf zu einem ebenfalls mit der Beferendumsklausel versehenen Bundesbeschluss über Strafbestimmungen für den passiven Luftschutz unterbreitet haben; durch letztere Vorlage wird anerkannt, dass eine Ergänzung bestehender dringlicher Bundesbeschlüsse nicht immer auf dem Wege der Dringlicherklärung erfolgen soll.

Es wird somit nach Möglichkeit für den Abbau der zurzeit bestehenden dringlichen Bundesbeschlüsse gesorgt. Es bedarf also keiner Revision von Art. 89 der Bundesverfassung, um diesen Abbau zu sichern. Wohl aber kann eine Bevision dieses Verfassungsartikels nützlich sein, um sicherzustellen, dass in Zukunft der Erlass dringlicher Bundesbeschlüsse tunlichst eingeschränkt werde. Einer Beform der Einrichtung des dringlichen Bundesbeschlusses kommt also im wesentlichen die Bedeutung einer Garantie zu, dass man es auch in künftigen Krisenzeiten mit einer Dringlicherklärung streng nehme und dass die Dauer dringlicher Bundesbeschlüsse keine allzu lange sei.

III.

Bei der Prüfung einer Beiorm des dringlichen Bundesbeschlusses ist zunächst festzustellen, dass es dringliche Fälle gibt, in denen ein rascheres Eechtssetzungsverfahren als das eines Erlasses mit Eeferendumsklausel unentbehrlich und infolgedessen eine abschliessende Kompetenz der Bundesversammlung nötig ist, weil der Erlass den Aufschub nicht erträgt, der mit der Eeferendumsfrist und mit der allfälligen Veranstaltung einer Volksabstimmung verbunden ist. Diese Notwendigkeit ist unbestritten und wird auch von der vorliegenden Initiative anerkannt. Mit Eecht hält diese auch daran fest, dass wie bisher nur allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, nicht aber Bundesy »

725 gesetze dringlich erklärt werden können. Im grossen und ganzen hat man es bei den dringlichen Bundesbeschlüssen bloss mit einer vorübergehenden Ordnung für eine beschränkte Geltungsdauer zu tun, während für die Einführung einer dauernden Eegelung ein Bundesgesetz erlassen werden soll. Die Initiative will gerade diese vorübergehende Dauer des dringlichen Bundesbeschlusses mit aller Deutlichkeit und Schärfe betonen. Eine dauernde gesetzgeberische Eegelung soll nur durch einen Erlass eingeführt werden, der dem fakultativen Eeferendum untersteht.

1. Umschieibung der Dringlichkeit.

Die vorliegende Initiative umschreibt die Dringlichkeit irn Sinne einer zeitlichen Dringlichkeit, lehnt also eine nur materielle Dringlichkeit ab.

Die Definition «allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt», ist richtig; diesen Sinn hat der Ausdruck «dringlich» zweifellos auch im geltenden Verfassungstext, wie wir auch in unserem Bericht über die Initiative für Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Bundesbl.

1937, III, 21/22) ausgeführt haben. Es mag sein, dass die Praxis in der Krisenzeit in ganz vereinzelten Fällen sich vielleicht nicht ganz strikte an diesen Grundsatz gehalten habe; im grossen und ganzen war aber auch bei den in der Krisenzeit erlassenen dringlichen Bundesbeschlüssen eine zeitliche Dringlichkeit vorhanden. Inhaltlich stimmt auch der in der Landesringinitiative verwendete Ausdruck «zeitlich unaufschiebbar» mit der in der Eichtlinieninitiative enthaltenen Umschreibung überein. Es kann nur nützlich sein und zu einer strengern Prüfung des Vorhandenseins der Dringlichkeit anhalten, wenn in die Verfassung eine Umschreibung im Sinne der zeitlichen Dringlichkeit aufgenommen wird.

2. Erschwerung der Dringlicherklärung.

Für die Dringlicherklärung fordert die Eichtlinieninitiative eine Zweidrittelsmehrheit der Stimmenden in jedem Eate. In den kantonalen Eechten wird eine Zweidrittelsmehrheit der stimmenden Grossratsmitglieder für die Dringlicherklärung von allgemeinverbindlichen Beschlüssen in Neuenburg seit 1879 (Art. 89, Abs. 8, KV) und ebenso für die Dringlicherklärung von Grossratsbeschlüssen in Basel-Stadt (Gesetz vom 22. März 1928) gefordert.

Die Verhältnisse im Bund sind immerhin von denjenigen in diesen beiden Kantonen insofern verschieden, als im Bund
schon das Zweikammernsystem eine gewisse Garantie bietet und ferner die Eeferendumsfrist länger ist (Neuenburg bloss 40 Tage und Basel-Stadt 6 Wochen) ; auch erfordert die Veranstaltung der Volksabstimmung im Bund längere Zeit. Dazu kommt, dass der Inhalt der dringlichen Bundesbeschlüsse oft derart ist, dass die Ablehnung der Dringlicherklärung schweren unwiederbringlichen Schaden anrichten kann, während doch in den beiden Kantonen die Tragweite dringlicher Grossratsbeschlüsse nicht ebenso folgenschwer ist.

726 Durch das Erfordernis des Zweidrittelmehrs wird einer Minderheit die Möglichkeit geboten, die Dringlicherklärung und damit das rechtzeitige Inkrafttreten eines dringend notwendigen Bundesbeschlusses zu verhindern. Insofern würde eine Minderheit von einem Drittel eines Eates befehlen. Zugunsten des Zweidrittelmehrs wird angeführt, dass dieses Erfordernis innerhalb des Parlaments zu gegenseitiger Eücksichtnahme und Verständigung veranlassen solle; wo dies nicht gelinge, solle die Minderheit wenigstens dem Volke das Mitspracherecht retten dürfen. Im qualifizierten Mehr liege für die Minderheit die Garantie, dass sie nicht von einer knappen Mehrheit-,vergewaltigt werde; die Minderheit solle die Möglichkeit haben, an das Volk zu appellieren. Es ist aber nicht ausser acht zu lassen, dass infolge der mit der Eeferendumsklausel verbundenen Verzögerung das rechtzeitige Inkrafttreten des Bundesbeschlusses verhindert wird und dass dadurch dem Lande unwiederbringlicher Schaden entstehen kann. Gerade wegen der Dringlichkeit erweckt das Erfordernis des Zweidrittelmehrs schwere Bedenken. Zudem besteht die Gefahr, dass die Zustimmung zur Dringlicherklärung zum Gegenstand des Marktens gemacht und durch Gegenleistungen erkauft werden könnte. Eine solche Praxis würde nicht im öffentlichen Interesse liegen. Die im Landesinteresse notwendige sofortige Inkraftsetzung eines Erlasses soll nicht Gegenstand des Marktens werden.

Die Gefahr eines Missbrauchs der Dringlicherklärung wird ohnehin verringert, wenn anderweitige Kautelen -- wie eine Umschreibung der Dringlichkeit und eine zeitliche Beschränkung -- geschaffen werden. Mehr als in mechanischen Schranken liegt übrigens eine Garantie für richtige Handhabung der Verfassung in der Persönlichkeit und im Verantwortungsbewusstsein der Batsmitglieder; in diesem Zusammenhang ist auch auf die kurze Amtsdauer hinzuweisen, da bei den Erneuerungswahlen das Volk es in der Hand hat, die Konsequenzen zu ziehen.

Eine Garantie gegen ein Zufallsmehr kann, wie die Landesringinitiative vorschlägt, dadurch geboten werden, dass für die Dringlicherklärung die Zustimmung der Hälfte aller Mitglieder jedes Eates gefordert wird. Unter den dringlichen Bundesbeschlüssen der Krisenzeit lässt sich-zwar kein einziger Fall finden, in dem die Dringlicherklärung nur durch ein Zufallsmehr zustande
gekommen wäre. Wohl aber ist es auch bei unbestrittenen Erlassen oft vorgekommen, dass die annehmende Mehrheit im einen oder im andern Eate weniger als die Hälfte aller Eatsmitglieder ausmachte. Das Erfordernis der Mehrheit aller Eatsmitglieder ist allerdings auch schon eine Abweichung von dem in Art. 88 der Bundesverfassung verankerten Prinzip, dass die Mehrheit der Stimmenden entscheidet. Das erwähnte Erfordernis schafft aber nach beiden Seiten hin gleiches Eecht und verhindert ein Zufallsmehr, ohne einer Minderheit das entscheidende Wort einzuräumen. Aus diesen Gründen kann es sich rechtfertigen, das Erfordernis aufzustellen, dass ein Bundesbeschluss nur mit Zustimmung wenigstens der Hälfte aller Mitglieder jedes Eates dringlich erklärt werden könne. Die damit verbundene geringfügige Weiterung im Verfahren, die daraus resultiert, dass bei Abstimmungen über die Dringlich-

727

keitsklausel immer die genauen Stimmenzahlen festgestellt werden müssten, kann man wohl unbedenklich in Kauf nehmen. Die Landesringinitiative verlangt für Dringlicherklärung sogar eine Abstimmung unter Namensaufruf; begründet wird dies als ein Mittel, um die Verantwortlichkeit der Volksvertreter festzuhalten. Es scheint uns aber, dass es nicht am Platze wäre, in der Verfassung eine solche Bestimmung reglementarischer Natur aufzustellen; die Art der Abstimmung in den Bäten ist in den Eatsreglementen geordnet und gehört nicht in die Verfassung.

Wir können einer Erschwerung der Dringlicherklärung in dem Sinne zustimmen, dass für die Dringlicherklärung die Annahme durch wenigstens die Hälfte aller Mitglieder in jedem der beiden Räte gefordert wird. Dagegen lehnen wir das in der Richtlinieninitiative geforderte Zweidrittelmehr der stimmenden Ratsmitglieder aus den erwähnten Gründen ab.

3. Befristung der dringlichen Bundesbeschlüsse.

Dem Begriff der Dringlichkeit als zeitlicher Unaufschiebbarkeit entspricht es, dass ein dringlicher Bundesbeschluss nur auf Zeit Geltung haben solle. Denn die Zeitnot, in der sich die Bundesversammlung bei seinem. Erlass befindet und die den Grund der Ausschaltung des Referendums bildet, hört auf, sobald die Beibehaltung des Bundesbeschlusses auf dem ordentlichen Wege des fakultativen Referendums geordnet werden kann. Deshalb ist an sich das Postulat gerechtfertigt, dass, sobald dies möglich ist, der dringliche Bundesbeschluss entweder ausser Kraft trete oder durch einen dem fakultativen Referendum unterstehenden Akt sanktioniert werde.

Als Garantie für eine zeitlich beschränkte Geltungsdauer der dringlichen Bundesbeschlüsse will die Richtlinieninitiative die Vorschrift aufstellen, dass die dringlichen Bundesbeschlüsse spätestens nach Ablauf von drei Jahren seit ihrem Inkrafttreten ausser Kraft treten sollen. Es fragt sich, wie diese Frist gemeint ist, nämlich ob nach Ablauf der 3 Jahre eine Erneuerung des Bundesbeschlusses nur auf dem Wege des fakultativen Referendums möglich sein soll oder ob sie, sofern wiederum Dringlichkeit bestehen sollte, durch dringlichen Bundesbeschluss stattfinden kann. Die Fassung der Initiative bietet keinen Anhaltspunkt für eine einschränkende Auslegung in dem Sinne, dass eine allfällige Erneuerung nach Ablauf der 3 Jahre unter allen Umständen nur mit der Ref erendumsklausel' zulässig sein solle. Eine solche Einschränkung wäre auch mit der technischen Schwierigkeit verbunden, dass ein anderer, in einzelnen Punkten vom bisherigen abweichender Bundesbeschluss neuerdings doch ohne Referendumsklausel erlassen werden könnte; die unveränderte Erneuerung könnte aber nicht wohl anders behandelt werden als eine mit gewissen Abänderungen verbundene Erneuerung. Wenn demnach die Befristung nicht den Sinn hat, dass eine Erneuerung mit der Dringlichkeitsklausel nicht schlechthin ausgeschlossen ist, so kommt ihr doch die Bedeutung zu, dass, wenn nach Ablauf der Frist der Bundesbeschluss erneuert werden soll, sorgfältig zu

728 prüfen ist, ob im Zeitpunkt der Erneuerung wirklich wiederum zeitliche Unaufschiebbarkeit vorliegt. Gewiss soll die Erneuerung mit Dringlichkeitsklausel nicht die Eegel bilden. Es mag sein, dass in den letzten Jahren mitunter gerade in dieser Beziehung kein sehr strenger Massstab angelegt worden ist.

Zum Teil hat zu dieser Praxis der Umstand beigetragen, dass dringliche Bundesbeschlüsse oft über das normale Verfassungsrecht hinausgegangen sind und dass man in Erwartung geplanter Verfassungsrevisionen meinte, sich inzwischen mit Dringlichkeitsbeschlüssen behelfen zu sollen. Es kann aber auch in Zukunft mitunter vorkommen, dass im Zeitpunkt der Erneuerung eines dringlichen Bundesbeschlusses wiederum zeitliche Unaufschiebbarkeit vorliegt, und für derartige Fälle sollte doch die Möglichkeit einer Dringlicherklärung bestehen.

Der Grundsatz, dass die Geltungsdauer von dringlichen Bundesbeschlüssen befristet werden solle, ist berechtigt; dauerndes Becht soll nicht auf dem Wege der Dringlichkeitsklausel eingeführt werden. Allerdings kann ein dringlicher Bundesbeschluss auch eine einmalige Massnahme zum Gegenstand haben, bei der eine Befristung nichts nützt, weil nach der Ausführung der einmaligen Massnahme die Weitergeltung des Beschlusses keine Eolle mehr spielt. Bei gewissen finanziellen Hilfsaktionen kommt eine Beteiligung des Bundes an bestimmten Unternehmungen vor (z. B. Bundesbeschluss vom 26. September 1931 über die Unterstützung der Uhrenindustrie); die Beteiligung wird durch einen einmaligen Akt vollzogen und ist mit Bedingungen verbunden. Auf derartige Erlasse passt eine Befristung der Geltungsdauer nicht recht. Doch würden sich hier praktisch aus einer Befristung kaum Schwierigkeiten ergeben, denn der Ablauf des Bundesbeschlusses würde an der Beteiligung und an deren Bedingungen nichts mehr ändern.

Eine Maximalfrist von 3 Jahren wäre kaum in allen Fällen zweckmässig.

Es wäre eine zu schematische Lösung, diese Maximalfrist in der Verfassung aufzustellen. Es genügt unseres Erachtens, den Grundsatz aufzustellen, dass die Geltungsdauer dringlicher Bundesbeschlüsse zu befristen ist.

Auf einem andern Wege will die Landesringinitiative zu einer zeitlichen Beschränkung der Dringlichkeitsbeschlüsse gelangen. Sie will der Dringlicherklärung nur die Wirkung beimessen, dass der Erlass sofort in
Kraft treten kann und bis zum Ablauf der Eeferendumsfrist oder bis zur allfälligen Volksabstimmung in Kraft bleibt. Nach diesem Vorschlag bleibt der dringliche Bundesbeschluss dem fakultativen Eeferendum unterstellt ; erst der unbenutzte Ablauf der Eeferendumsfrist .oder die Annahme in der Volksabstimmung bewirken, dass er endgültig in Kraft belassen wird. Die Landesringinitiative spricht von einer «provisorischen» Inkraftsetzung bis zu diesem Zeitpunkt.

Wir nehmen an, dass der Ausdruck «provisorisch» einfach die zunächst bloss vorübergehende Geltungsdauer im Gegensatz zu einer auf die Dauer bestimmten Ordnung bezeichnen soll und dass nur die Geltungsdauer des Bundesbeschlusses aufhört, wenn dieser infolge Verwerfung durch das Volk ausser Kraft tritt.

Während seiner Geltungsdauer würde der provisorisch in Kraft gesetzte Bundesbeschluss unbedingt gelten. Trotzdem könnte aber der Umstand, dass er

729 zunächst bloss für ein paar Monate gelten würde, praktisch seine Durchführung lahmlegen, so dass der dringliche Bundesbeschluss seine Wirkung verfehlen würde und somit seine Aufgabe nicht erfüllen könnte. Zudem würden sich im Falle der Verwerfung in der Volksabstimmung doch allerhand Schwierigkeiten mit Bezug auf das Schicksal der während seiner Geltungsdauer getroffenen Verfügungen ergeben.

Wir gelangen zum Schlüsse, dass es sich rechtfertigt, den Grundsatz aufzustellen, die dringlichen Bundesbeschlüsse seien zu befristen. Dagegen haben ·wir ernste Bedenken gegen die Aufstellung einer Maximalfrist von 8 Jahren.

4. Ergebnis.

Wir stimmen der von der Eichtlinieninitiative vorgeschlagenen Umschreibung der dringlichen Bundesbeschlüsse zu. Wir sind auch damit einverstanden, dass die Dringlicherklärung erschwert werde ; dagegen lehnen wir das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit ab und sind der Auffassung, dass für die Dringlicherklärung die Zustimmung von wenigstens der Hälfte aller Mitglieder jedes der beiden Eäte zu fordern ist. Wir halten auch den Grundsatz einer Befristung der dringlichen Bundesbeschlüsse für gerechtfertigt, haben aber Bedenken gegen die Aufstellung einer Maximal frist von 3 Jahren.

Dieses Ergebnis führt uns dazu, einen Gegenvorschlag zur Eichtlinieninitiative in Aussicht zu nehmen. Bevor wir Näheres über den Gegenvorschlag ausführen (Ziff. V hiernach), treten wir nun auf die Frage des Notrechts ein.

IV.

Abgesehen vom Zollnotrecht (letzter Absatz von Art. 29) enthält die Bundesverfassung keine ausdrückliche Bestimmung über Notrecht. Auch ohne eine ausdrückliche Bestimmung ist es aber zulässig, im Falle des Notstandes Massnahmen zu treffen, die vom normalen Verfassungsrecht oder vom Gesetzesrecht abweichen, soweit die Not es erfordert. Wir haben unsere grundsätzliche Auffassung des Notrechts in Ziff. IV unseres Berichtes vom 17. September 1987 über das Volksbegehren für Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit dargelegt. Wir können uns daher hier darauf beschränken, folgende Stelle aus jenen Ausführungen wiederzugeben: Verfassungsmässige Eechte der Bürger und verfassungsmässige Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Kantonen haben den Bestand des Staatswesens zur Voraussetzung. Geht die Eidgenossenschaft unter, so ist es auch mit den verfassungsmässigen Eechten der Bürger aus, und ebenso ist es dann auch mit den Kompetenzen von Bund und Kantonen aus. Kann es der Sinn der Bundesverfassung sein, dass Individualrechte und Kompetenzgrenzen unter allen Umständen unversehrt bleiben müssen, selbst wenn daran die Eidgenossenschaft zugrunde geht? Die Verfassung kann vernünftigerweise nicht diesen Sinn haben, der eine wirksame Verteidigung

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der Existenz des Staates und damit auch der Verfassung dadurch unmöglich machen würde, dass unter allen Umständen nur solche Massnahmen getroffen werden könnten, die die Individualrechte und die Kompetenzgrenzen unangetastet lassen. Bei einer ernsten Gefahr für den Bestand des Staatswesens muss auch, soweit es Not tut, in verfassungsmässige Eechte der Bürger und in die Kompetenzausscheidung eingegriffen werden können.

Indem die Individualrechte und die Kompetenzgrenzen auf diese Weise nur eine zeitweilige unumgängliche Einschränkung erleiden, ist ihrem Schutz besser gedient, während ihnen andernfalls der gänzliche Untergang drohen würde. Diese Auslegung der Bundesverfassung gemäss ihrem vernünftigen Sinn ergibt, dass derartige notwendige Eingriffe dem Sinn der Bundesverfassung entsprechen und somit rechtmässig sind. Daher geht es nicht an, hier von Verfassungsbruch oder Verfassungsverletzung zu reden, was doch einen rechtswidrigen Eingriff voraussetzen würde. War z. B. der Vollmachtenbeschluss vom S.August 1914 eine Verfassungsverletzung? Im Gegenteil, die Bundesbehörden hätten ihre elementarste verfassungsmässige Pflicht dann verletzt, wenn sie in jener schweren Zeit unterlassen hätten, 'für die nötigen Massnahmen zu sorgen. Dieser Standpunkt entspricht auch sicherlich der Rechtsüberzeugung des Schweizervolkes. Wir befinden uns da auch in Übereinstimmung mit der Auffassung, die das Bundesgericht in seinen Urteilen bekundet hat (vgl. beispielsweise BGE 41, Bd. l, S. 553, sowie 60, Bd. I, S. 197).

Der Umstand, dass ein Notrecht in der Bundesverfassung nicht ausdrück'lieh vorgesehen ist, hat zur Forderung geführt, dass eine klare Eegelung des Notrechts in die Bundesverfassung aufzunehmen sei. Dabei lässt man sich von der Vorstellung leiten, die Bundesverfassung solle die Voraussetzungen des Erlasses von Notrecht, sowie dessen Inhalt (Ausmass) und Dauer begrenzen.

Ein solcher Verfassungsartikel würde einen klaren Rechtstitel für die unentbehrlichen ausserordentlichen Kompetenzen in Notzeiten schaffen, die Bundesbehörden vor dem Vorwurf des Verfassungsbruchs bewahren, dem sie -- allerdings zu Unrecht -- ausgesetzt sind, solange eine ausdrückliche Bestimmung über Notrecht in der Bundesverfassung fehlt. Eine solche würde zur Beseitigung von Mis'strauen beitragen.

Man muss sich aber darüber im klaren
sein, dass man bei der Aufstellung eines Notstandsartikels vor einer fatalen Alternative steht: Entweder wählt man eine ganz generelle und elastische Fassung und dann gelangt man aber weder zu einer klaren Begrenzung noch zu einer Einschränkung des Notrechts, ja es entsteht dann sogar die Gefahr, dass das Notrecht sich noch viel mehr ausdehne als bisher. Oder aber man stellt engumschriebene Schranken auf und dann gelangt man zu einer starren Einschränkung des Notrechts ; dann besteht aber die Gefahr, dass der Notstandsartikel, sobald man ihn anwenden sollte, gänzlich versage. Die Not lässt sich nicht verklausulieren, sondern kommt auch soweit sie nicht vorgesehen ist. Schon die nächste Notzeit kann ganz anders liegen als man bei der Formulierung des Verfassungsartikels sich vorstellt, und

731 es lässt sich nicht voraussehen, was für Massnahmen sie nötig machen wird.

So hat sich z. B. auch gezeigt, dass da, wo der Gesetzgeber versucht hat, im ordentlichen Eecht auch eine Eegelung für ausserordentliche Zeiten vorzusehen, eine solche Eegelung eben doch versagt.

Infolge dieser Schwierigkeiten sind z. B. auch am schweizerischen Juristentag von 1934, wo in der Diskussion über die Verfassungsgerichtsbarkeit auch das Notrecht berührt wurde, gegen eine ausdrückliche Eegelung des Notstandes Bedenken geäussert worden. Ein Notstandsartikel sei äusserst gefährlich und könne auch bei vorsichtigster Formulierung sogar zu einem Leck in der Verfassung werden, das die Freiheitsrechte zum Sinken brächte. Es sei besser, dass die Bundesbehörden ihre Notstandsmassnahmen in vollem Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit treffen; ohne eine ausdrückliche Verfassungsbestimmung werden sie sich eher auf Fälle beschränken, in denen ein Notstand wirklich vorliegt. Auch könnte ein Notstandsartikel nur eine ganz generelle Fassung erhalten, so dass er alle Massnahmen, die bisher getroffen worden sind oder künftig getroffen werden können, decken würde. Ebenso werden die Schwierigkeiten auch in einem im September 1937 von einem Prüfungsausschuss der schweizerischen freisinnig-demokratischen Partei erstatteten Gutachten über Dringlichkeit und Notrecht, sowie in einzelnen im Januar 1938 in der «Tat» veröffentlichten Eechtsgutachten hervorgehoben. Das Gutachten jenes Prüfungsausschusses führt aus, dass eine Verfassung gut tue, selbst den Behörden die Kompetenzen einzuräumen, die in ausserordentlichen Fällen nicht entbehrt werden können; es sei aber gefährlich und unzweckmässig, in der Bundesverfassung für Notstände ein Ausnahmerecht vorzusehen, etwa der Bundesversammlung für den Fall der Staatsgefahr die Befugnis zu geben, dem Bundesrat alle die Vollmachten einzuräumen, die ihm durch den Bundesbeschluss vom 3. August 1914 eingeräumt worden waren. Nach den Erfahrungen der neuesten Zeit liege es nahe, nur für zwei Fälle ausserordentliche Kompetenzen vorzusehen, nämlich einerseits für den Fall, dass das Land von aussen bedroht ist oder die staatliche Autorität sich gegen illegale Gewalt wehren muss, und sodann für den Fall eines wirtschaftlichen Notstandes.

Die Landesringinitiative schlägt einen Notstandsartikel (Art. 89bls)
vor, der eine Eegelung für Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung und für Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot enthält. In Zeiten einer eidgenössischen Mobilmachung sollen verfassungmässige Eechte vorübergehend eingeschränkt werden können; in Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot sollen Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit und ausserordentliche finanzielle Massnahmen möglich sein.

Das Vorliegen von Zeiten allgemeiner Wirtschaftsnot soll nach der Landesringinitiative formell festgestellt werden durch ein obligatorisch der Volksabstimmung unterliegendes Ermächtigungsgesetz, das der Bundesversammlung für längstens zwei Jahre die Befugnis einräumt, unter Wahrung der Eechtsgleichheit die Handels- und Gewerbefreiheit einzuschränken und ausserordentliche finanzielle Massnahmen zu treffen. Voraussetzung ist also, dass

732 zunächst durch ein Ermächtigungsgesetz das Vorliegen von wirtschaftlichen Notzeiten festgestellt werde. Dieser Gedanke ist einem Vorschlag von Eugen Curti entlehnt, der einigermassen an analoge Senatsbeschlüsse im alten Eom erinnert. Es fragt sich aber, ob nicht durch das Erfordernis einer Volksabstimmung über das Ermächtigungsgesetz eine rechtzeitige Entscheidung gefährdet wird. Die praktischen Schwierigkeiten zeigen sich schon, wenn man sich fragt, wann während der letzten Krise ein solches Ermächtigungsgesetz hätte erlassen werden sollen. Etwa schon im Herbst 1931? Damals konnte man aber kaum ahnen, welchen Umfang die Notmassnahmen annehmen würden, und es ist doch fraglich, ob damals die Erkenntnis der Notwendigkeit derart einschneidender Massnahmen so allgemein verbreitet war, dass ein Ermächtigungsgesetz angenommen worden wäre. Gerade wirtschaftliche Notzeiten setzen nicht auf einmal in ihrer vollen Schwere ein, sondern entwickeln sich allmählich. Am Anfang wird man Bedenken haben, ein Ermächtigungsgesetz mit allgemeinen weitgehenden Vollmachten anzunehmen. Wartet man aber, bis die Not ganz gross ist, so können eben, solange das Ermächtigungsgesetz noch nicht da ist, die erforderlichen Massnahmen nicht getroffen werden und es kann auf diese Weise unwiederbringlicher Schaden entstehen.

Laut der Landesringinitiative sollen die Notmassnahmen ein Jahr nach Beendigung der Mobilmachung oder nach Ablauf des Ermächtigungsgesetzes automatisch dahinfallen. Diese Frist ist entschieden zu kurz.

Grundsätzlich ist allerdings das Postulat berechtigt, dass. nach Aufhören des Notstandes die Noterlasse möglichst bald wegfallen. Das Ausnahmerecht soll nicht länger .als nötig dauern. Ähnlich wie mit der Dauer verhält es sich auch mit den sachlichen Schranken des Ausnahmerechts; die Noterlasse sollen vom ordentlichen Verfassungsrecht und vom Gesetzesrecht nicht mehr abweichen, als "die Not es gebieterisch erheischt. Eine andere Umgrenzung des Inhalts des Notrechts lässt sich nicht abstecken, wenn der Notstandsartikel seinen Zweck erfüllen soll. Daher wird ein Notstandsartikel, auch wenn er vorsichtig formuliert wird, doch die Kompetenzsphäre der Bundesversammlung erweitern. Eine ganz generelle Bestimmung, wonach die Bundesversammlung zur Abwendung von unmittelbaren Gefahren oder zur Behebung von schwerwiegenden
Notständen die erforderlichen Massnahmen treffen könnte, ohne an verfassungsmässige Eechte gebunden zu sein, würde zwar genügende ausserordentliche Kompetenzen schaffen, müsste aber gerade wegen des weiten Umfanges einer solchen Vollmacht Bedenken erwecken, da dadurch sogar eine bedeutende-Ausdehnung des Notrechts gegenüber dem bisherigen Zustand ermöglicht würde.

Über die Zweckmässigkeit der Aufnahme eines Notstandsartikels kann man in guten Treuen verschiedener Ansicht sein. Wenn man in einem solchen Artikel von vorneherein nur gewisse Fälle von Notzeiten vorsieht, fragt es sich, ob in den nicht vorgesehenen Fällen wirklich unter allen Umständen Massnahmen, die über das für normale Zeiten zugeschnittene Verfassungsrecht hinausgehen, unzulässig sein sollen, selbst wenn der Staat in seinen Lebensbe-

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dingungen beeinträchtigt wird. Für solche Fälle müsste doch wohl ein Notrecht ausserhalb des Notstandsartikels anerkannt werden; dann wird aber der Zweck eines Notstandsartikels doch nicht erreicht. Ferner wird, auch wenn nur. gewisse Notfälle auf Grund der bisherigen Erfahrungen vorgesehen werden, die Abgrenzung des Notrechts gleichwohl oft umstritten sein, und es wird jeweilen u. a. die Frage auftauchen, ob gerade die in Aussicht genommene Massnahme nötig und richtig ist. Bei solchen Kontroversen wird auch der Vorwurf der Verfassungsverletzung sicher nicht ausbleiben.

Wir werden zur Frage, ob ein Notstandsartikel in die Verfassung aufzunehmen sei und wie er gegebenenfalls lauten könnte, anlässlich unserer Begutachtung der Landesringinitiative abschliessend Stellung nehmen und darüber Antrag stellen. Einstweilen kann die Frage noch offen bleiben. Hier stellen wir nur fest, dass eine allfällige Bestimmung über das Notrecht nicht in den Art. 89 der Verfassung aufzunehmen wäre, sondern Gegenstand eines eigenen Verfassungsartikels sein müsste. Der Gegenentwurf zur Eichtlinieninitiative hat die Frage des Notrechts nicht einzubeziehen, sondern diese muss einer separaten Behandlung vorbehalten werden. Eine Verbindung der Frage des Notrechts mit dem Gegenentwurf zur Bichtlinieninitiative zu einer einzigen Vorlage ist schon deshalb ausgeschlossen, weil sonst Stimmberechtigte, die sowohl dieser Initiative wie auch dem Notrechtsartikel zustimmen wollen oder die dem Gegenentwurf in betreff der Dringlichkeit zustimmen, aber einen Notrechtsartikel ablehnen wollen, ihren Willen nicht zum Ausdruck bringen könnten, wenn der Gegenentwurf beide Fragen umfassen würde.

V.

Unser Gegenvorschlag zur- Bichtlinieninitiative übernimmt die von dieser vorgeschlagene Umschreibung der dringlichen Bundesbeschlüsse, sieht dagegen für die Erschwerung der Dringlicherklärung und für die zeitliche Beschränkung der dringlichen Beschlüsse Lösungen vor, die von denen der Initiative abweichen. Der Gegenvorschlag beschränkt sich auf eine Eevision des Art. 89 in bezug auf die Fragen, die durch die vorhegende Initiative aufgeworfen werden. Da er, wie diese Initiative, von der Aufnahme eines Notstandsartikels absieht, bleibt es mit Bezug auf das Notrecht zunächst noch bei der gleichen Bechtslage wie bisher. Ob nachher ein Notstandsartikel zustande kommt oder nicht, wird sich später zeigen.

Von einer Ausdehnung des Gegenentwurfs auf weitere Bevisionspunkte nehmen wir Umgang. Die Landesringinitiative will durch einen Zusatz zu Art. 89, Abs. 2, den Bäten auch die Befugnis erteilen, von sich aus über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse eine Volksabstimmung zu beschliessen ; demnach ·könnte die Bundesversammlung Vorlagen direkt zur Volksabstimmung bringen, ohne abzuwarten, ob ein Beferendumsbegehren zustande kommt. Wir nehmen diesen Vorschlag nicht auf; denn nach unserer Auffassung soll die Bundesversammlung sich ihrer Verantwortung für ihre Beschlüsse nicht entziehen können. Aus diesem Grunde ist übrigens ein solcher Vorschlag schon seinerzeit Bundesblatt. 90. Jahrg. Bd. I.

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im Jahre 1872 abgelehnt worden (vgl. Burckhardt, Kommentar, III. Auflage, S. 712). Anlässlich einer Bevision des Art. 89 liesse sich auch die weitere Frage aufwerfen, ob nicht zugleich die Zahl der für ein Eeferendumsbegshren erforderlichen Unterschriften erhöht werden sollte. Beim gegenwärtigen Anlass machen wir keinen solchen Vorschlag. Wollte man die Zahl der für ein Beferendumsbegehren erforderlichen Unterschriften erhöhen, so sollte man zugleich auch die Zahl der für eine Volksinitiative nötigen Unterschriften ebenfalls erhöhen, somit auch die Art. 120 und 121 revidieren. Insbesondere fällt aber in Betracht, dass die Frage der Erhöhung der Unterschriftenzahl durch die vorliegende Initiative nicht aufgeworfen wird und dass ein Vorschlag auf Erhöhung der Zahl den Anschein einer Einschränkung der.Volksrechte erwecken würde, die im Gegensatz zur Tendenz der vorliegenden Initiative stehen würde.

Im einzelnen ist zu unserem Gegenvorschlag zu bemerken, dass er wie die" Initiative den Abs. l der bisherigen Fassung von Art. 89 unverändert lässt. Einzig im französischen Text, wo in Abs. l bisher «Bundesbeschlüsse» mit «les décrets et les arrêtés fédéraux» wiedergegeben werden, während sie sonst immer «arrêtés fédéraux» heissen, haben wir die Worte «les décrets et» gestrichen. Für den Ab s. 2 übernehmen wir die Fassung der Initianten; somit werden gegenüber dem bisherigen Text die Worte «die nicht dringlicher Natur sind» gestrichen (weil die dringlichen Bundesbeschlüsse im folgenden neuen Absatz behandelt werden) und ferner im 2. und im l e t z t e n Absatz die Worte «sollen vorgelegt werden» durch «sind vorzulegen» ersetzt. Im französischen Text, wo die Initiative den Ausdruck «soumis à la décision du peuple» verwendet, behalten wir in Anlehnung an die deutsche und italienische Fassung der Initiative den Ausdruck «soumis à l'adoption ou au rejet du peuple» des geltenden Verfassungstextes bei.

Wie in der Initiative wird vor dem letzten Absatz des Art. 89 ein neuer Abs. 3 eingeschaltet, der sich mit den dringlichen Bundesbeschlüssen befasst.

Mit Bezug auf diesen Absatz können wir auf unsere Ausführungen unter Ziff. III hievor verweisen, denen wir nur folgende Einzelheiten beifügen: Unser Gegenvorschlag sieht vor, dass für die Dringlich er klärung in jedem der beiden Bäte die Zustimmung wenigstens der
Hälfte aller Batsmitglieder erforderlich ist.

Es stellt sich die Frage, ob auf die Hälfte aller Batssitze oder auf die Hälfte der jeweilen im Amte stehenden Batsmitglieder abzustellen ist, nämlich ob allfällige durch Tod oder Demission vakant gewordene Sitze mitzuzählen sind.

Für die strengere Auffassung, wonach die jeweilen vakanten Sitze nicht abzuziehen sind, spricht die Erwägung, dass so die für die Dringlicherklärung erforderliche Mindestzahl keinen Schwankungen unterliegt. Die Mindestzahl würde demnach im Ständerat immer 22 und im Nationalrat, solange für die Zahl der Sitze die Volkszählung von 1930 massgebend ist (187 Sitze), 94 betragen. Dieses Mehr soll für die Dringlicherklärung erforderlieh sein; die technischen Einzelheiten des Verfahrens gehören aber nicht in die Verfassung, sondern sind Sache der Batsreglemente oder allenfalls des Geschäftsverkehrs-

735 Unser Gegenvorschlag lautet:

Art. 89.

Für Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse ist die Zustimmung beider Eäte erforderlich.

Bundesgesetze, sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sind dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, können mit Zustimmung von wenigstens der Hälfte aller Mitglieder in jedem der beiden Räte als dringlich erklärt werden. In diesen Fällen kann die Volksabstimmung nicht verlangt werden. Die Geltungsdauer von dringlichen Bundesbeschlüssen ist zu befristen.

Staats vertrage mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind, sind ebenfalls dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 80 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Wir empfehlen, das Volksbegehren für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel mit dem Antrag auf Verwerfung, aber mit einem Gegenentwurf, der Abstimmung des Volkes und der Stände zu unterbreiten. Wir beantragen Ihnen daher, nachstehenden Entwurf eines Bundesbeschlusses anzunehmen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 10. Mai 1938.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Baumami.

Der Bundeskanzler: G. B
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(Entwurf.)

Bundesbeschluss über

das Volksbegehren für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel.

Die Bundes-versammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht des Volksbegehrens für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel und eines Berichtes des Bundesrates vom 10. Mai 1988, gestützt auf Art. 121 ff. der Bundesverfassung und Art. 8 ff. des Bundesgesetzes vom 27. Januar 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend die Eevision der Bundesverfassung, beschliesst:

Art. 1.

Es werden der Abstimmung des Volkes und der Stände unterbreitet: 1. Das Volksbegehren, das wie folgt lautet: Um eine missbräuchliche Anwendung der Dringlichkeitsklausel bei Bundesbeschlüssen zu verhindern, stellen die unterzeichneten stimmberechtigten Schweizerbürger hiermit gemäss Art. 121 der Bundesverfassung und gemäss dem Bundesgesetz vom 27. Januar 1892 über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Revision der Bundesverfassung folgendes Begehren: Art. 89 der Bundesverfassung erhält folgenden Wortlaut: Für Bündesgesetze und Bundesbeschlüsse ist die Zustimmung beider Eäte erforderlich.

Bundesgesetze, sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sind dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 80 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.

Allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten kernen Aufschub erträgt, können mit Zweidrittelmehrheit der Stimmenden in jedem der beiden Bäte als dringlich erklärt und damit dem Referendum entzogen werden; sie treten spätestens nach Ablauf von drei Jahren ausser Kraft.

737

Staatsverträge mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als fünfzehn Jahren abgeschlossen sind, sind ebenfalls dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 80 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.

2. Der Gegenentwurf der Bundesversammlung, der folgendermassen lautet : Art. 89 der Bundesverfassung wird aufgehoben und durch folgende Bestimmung ersetzt: Für Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse ist die Zustimmung beider Bäte erforderlich.

Bundesgesetze, sowie allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sind dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 80 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, können mit Zustimmung von wenigstens der Hälfte aller Mitglieder in jedem der beiden Bäte als dringlich erklärt werden. In diesen Fällen kann die Volksabstimmung nicht verlangt werden. Die Geltungsdauer von dringlichen Bundesbeschlüssen ist zu befristen.

Staatsverträge mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind, sind ebenfalls dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kantonen verlangt wird.

Art. 2.

Es wird dem Volk und den Ständen beantragt, das Volksbegehren (Art. l, Ziff. 1) zu verwerfen, dagegen den Gegenentwurf der Bundesversammlung (Art. l, Ziff. 2) anzunehmen.

'Art. 3.

Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren für Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel. (Vom 10. Mai 1938.)

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