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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Neutralität der Schweiz im Völkerbund.

(Vom 3. Juni 1938.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Die Schweiz ist dem Völkerbund in der Hoffnung beigetreten, dass sich diese Institution im Sinne der Universalität entwickeln würde. Diese Hoffnung fand Ausdruck im Bundesbeschluss vom 5. März 1920, der über unsern Beitritt zum Völkerbund entschied und in der Volksabstimmung vom 16. Mai desselben Jahres angenommen wurde. Auf diese Hoffnung ist es zum grössten Teil zurückzuführen, dass unser Land das ihm durch die Londoner Erklärung vom 18. Februar 1920 zugestandene Eegime der differentiellen Neutralität annahm 1).

Den Bemühungen, dem Völkerbund den universellen Zusammenhalt zu geben, der nach unserer Meinung eine der Bedingungen für sein erfolgreiches Wirken ist, haben leider die Ereignisse entgegengearbeitet. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ferngeblieben, Brasilien hat sich zurückgezogen, Japan folgte ihm nach und, was noch schwerwiegender für die Schweiz war, zwei seiner grossen Nachbarn, zuerst Deutschland und dann Italien, haben ihrer Mitarbeit mit Genf ein Ende gesetzt.

Die Bedingungen, unter welchen wir- uns bereit erklärt hatten, an den wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen des Paktes mitzuwirken, hatten sich somit tiefgehend verändert. Weite Kreise fühlten sich dadurch beunruhigt, dass unser Land durch den Mechanismus des Artikels 16 des Paktes nochmals in eine Aktion von Zwangsmassnahmen hineingezogen werden könnte.

') Siehe in dieser Beziehung die Zusatzbotschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund vom 17. Februar 1920, Bundesbl. 1920, I, Seite 334; die Londoner Erklärung ist im Anhang des vorliegenden Berichtes wiedergegeben.

841 Seine Neutralität würde den schlimmsten Gefahren ausgesetzt sein. So kam es zur Bildung einer Gruppe, die auf dem Wege der Volksinitiative die Eidgenossenschaft in die Grenzen ihrer überlieferten Neutralität zurückführen wollte. Andererseits kam diese Beunruhigung in der Interpellation von Herrn Nationalrat Gut zum Ausdruck. Diese Interpellation bot dem Bundesrat Gelegenheit, seine Haltung zu diesem wichtigen Problem darzulegen. In einer Bede, die er am 22. Dezember 1937 im Nationalrat hielt, erklärte der Vorsteher des Politischen Departementes im Namen des Bundesrates, «dass die Eidgenossenschaft inskünftig ohne Zaudern darauf bedacht sein muss, zum Ausdruck zu bringen, dass sie sich nicht auf eine différentielle Neutralität beschränken kann, sondern dass diese Neutralität umfassend sein muss, gemäss der jahrhundertealten Überlieferung, der geographischen Lage und der Geschichte unseres Landes». Er erinnerte daran, dass wir schon anlässlich des italienisch-abessinischen Konfliktes einen ersten Schritt in dieser Bichtung gemacht hatten, indem die Schweiz erklärte, dass sie sich nicht zu Sanktionen verpflichtet erachte, «die ihrer Natur oder ihren Wirkungen nach unsere Neutralität einer wirklichen Gefahr aussetzen würden». Wie sich herausstellte, entsprachen die Ansichten des Bundesrates den Wünschen des Parlamentes und der öffentlichen Meinung.

Es blieb noch zu prüfen, unter welchen Bedingungen und nach welchem Verfahren die Schweiz ihre überlieferte Neutralität im Bahmen des Völkerbundes wiedergewinnen sollte.

Im Zeitpunkt, da wir diese Frage prüften, gelangte das gesamte Problem des Artikels 16 von neuem zur Erörterung vor dem sogenannten 28er Komitee, das von der Völkerbundsversammlung von 1936 zur Beform des Völkerbundspaktes eingesetzt worden war. Es handelte sich insbesondere um die Frage, ob dieser Artikel angesichts des Versagens des Völkerbundes in gewissen Konflikten noch als obligatorisch angesehen werden konnte. Mehrere Staaten bestritten dies. Insbesondere hatte die schwedische Begierung beschlossen, gestützt auf die Tatsachen feststellen zu lassen, dass die Sanktionen nur noch fakultativen Charakter hatten; sie hatte uns angefragt, ob wir uns ihrer Initiative anschliessen könnten. In jenem Augenblick war die Frage wichtig für uns, denn, wenn Artikel 16 fakultativ erklärt wurde,
konnte sich die Schweiz praktisch von den Verpflichtungen, die sie auf Grund dieses Artikels übernommen hatte, befreien und in der Folge leichter ihre Stellung eines vollständig neutralen Staates wiedererlangen. Wir beschlossen daher, Schweden zu unterstützen, um so mehr, als es sich darum handelte, eine bestehende Tatsache festzustellen. Wir werden hier nicht auf die Erörterungen des 28er Ausschusses zurückkommen. Es wird genügen, daran zu erinnern, dass die von Schweden und andern Staaten, einschliesslich der Schweiz, im Bestreben nach Klarheit und Loyalität gemachten Feststellungen einige Zeit später eine nachdrückliche Bestätigung erfuhren durch die Begierung von Grossbritannien, deren Völkerbundstreue nicht wohl bezweifelt werden kann.

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Wir hatten den Zusammentritt des 28er Komitees benützt, um unsere Absicht anzukünden, dass wir uns mit der Feststellung des fakultativen Charakters der Sanktionen nicht begnügten, sondern weitergehen und in der nächsten Zukunft dem Völkerbundsrat oder der Völkerbundsversammlung ein Memorandum unterbreiten würden, das die zwingenden Gründe auseinandersetzen sollte, die die Schweiz zur Eückkehr zu ihrer umfassenden Neutralität veranlassten.

Die Ausarbeitung dieses Memorandums -- dessen Wortlaut im Anhang wiedergegeben ist -- bedurfte grösster Sorgfalt. In Anbetracht seiner Wichtigkeit hatten wir den Vorentwurf der nationalrätlichen Kommission für auswärtige Angelegenheiten sowie der mit der Beratung des bundesrätlichen Berichtes über die Arbeiten der letzten Völkerbundsversammlung beauftragten Kommission des Ständerates vorgelegt. Wir hatten ihn auch gewissen Eegierungen zur Kenntnis gebracht. Wir zogen vor, dieses Memorandum an den Völkerbundsrat anstatt an die Völkerbundsversammlung zu richten, zunächst weil es uns gegeben erschien, die vom Völkerbundsrat in der Londoner Erklärung vom 18. Februar 1920 getroffene Regelung von ihm selbst überprüfen zu lassen und sodann, weil wir damit Zeit gewannen, da der Völkerbundsrat bereits im Mai zusammentrat.

Der Völkerbundsrat befasste sich mit dieser Frage in .seiner am 9. Mai beginnenden Tagung. Der Vorsteher des Politischen Departementes, der sich in Begleitung von Herrn Minister Bonna, Chef der Abteilung für Auswärtiges, und von Herrn Legationsrat Camille Gorgé, Chef der Völkerbundssektion im Politischen Departement, nach Genf begab, legte unser Begehren mit erläuternden Bemerkungen in der Sitzung vom 11. Mai dar. Der Völkerbundsrat überwies die Frage einem engern Ausschuss und, nachdem er sie selbst in zwei geheimen Sitzungen mit unserem Vertreter erörtert hatte, nahm er am 14. Mai auf Antrag seines Berichterstatters, des schwedischen Aussenministers Sandler, den Bericht und die Eesolution an, deren Text sich im Anhang findet. Zwei Staaten, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und China enthielten sich der Stimme, wobei sie ihre Haltung begründeten. Der Vertreter Chinas erklärte seine volle Sympathie für den Sonderfall der Schweiz, rechtfertigte aber seine Stimmenthaltung mit der Befürchtung eines Präzedenzf alles.

Herr Bundesrat Motta dankte
dem Völkerbundsrat in unserem Namen für den Geist freundschaftlichen Verständnisses, den er an den Tag gelegt hatte.

Ganz besonders dankte er dem Berichterstatter, Herrn Sandler, der durch seine gründliche Kenntnis der Frage und seine grosse politische Erfahrung persönlich viel zu dem erzielten Ergebnis beigetragen hatte.

Bericht und Eesolution bilden ein Ganzes, sie ergänzen sich gegenseitig.

Ihr Inhalt ist so klar, dass er keines langen Kommentars bedarf. Der Völker-

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bundsrat unterstreicht die besondere Lage der Schweiz,-um die Ausnahmestellung, die uns im Schosse des Völkerbundes zuerkannt wurde, besser zu rechtfertigen. Andererseits nimmt er Bedacht darauf, näher auszuführen, dass die Lage der andern Staaten, «was die Tragweite anbetrifft, die sie dem Artikel 16 des Paktes beimessen», in keiner Weise durch das der Schweiz gemachte Zugeständnis berührt wird.

Entsprechend unserem Begehren nahm der Völkerbundsrat Kenntnis von unserer Absicht, «sich in keiner Weise mehr an der Durchführung der Paktbestimmungen über die Sanktionen zu beteiligen»; um jedoch zu betonen, dass ein Staat sich nicht durch eine blosse einseitige Erklärung von seinen Verpflichtungen befreien könne, glaubte der Bat, ausdrücklich «erklären» zu müssen, dass die Schweiz inskünftig nicht eingeladen würde, sich an Zwangsmassnahmen zu beteiligen.

Die Eesolution stellt sodann fest, dass einerseits unsere Verpflichtungen als Völkerbundsmitglied im übrigen unverändert bleiben und dass wir andererseits weiterhin «dem Völkerbund die Erleichterungen gewähren werden, die wir ihm für die freie Betätigung seiner Institutionen auf unserem Gebiet zugestanden hatten». Diese doppelte Feststellung ist an sich selbstverständlich.

Es unterhegt keinem Zweifel, dass die Schweiz alle ihre Pflichten als Mitgliedstaat zu erfüllen hat, in dem Masse, als diese mit ihrer Stellung als neutraler Staat nicht unvereinbar sind, und dass sie, mit dem gleichen Vorbehalt, als Staat des Völkerbundssitzes es sich selbst schuldig ist, dem Völkerbunde die Arbeit seiner Institutionen auf unserem Gebiet zu erleichtern.

Die Eesolution vom 14. Mai bedeutet ein wichtiges Datum in der Geschichte der schweizerischen Neutralität. Nachdem wir dem Gedanken der internationalen Solidarität gewisse Zugeständnisse gemacht hatten, mussten wir in Anbetracht der Umstände zu unserer überlieferten Auffassung der Neutralität zurückkehren. Nach den in der allgemeinen politischen Lage eingetretenen Änderungen war die im Zentrum Europas gelegene Schweiz nicht mehr in der Lage, sich an einer Aktion von Zwangsmassnahmen gegen einen paktbrüchigen Staat zu beteiligen, ohne sich den schwersten Gefahren auszusetzen.

Die Sorge um ihre Unabhängigkeit und Sicherheit geboten ihr die Eückkehr zur umfassenden Neutralität. Diese Eückkehr konnte bewerkstelligt werden, ohne dass die Schweiz gezwungen war, auf ihre Mitgliedschaft im Völkerbund zu verzichten. Wir freuen uns darüber.

Die Institution, die sich auf unserem Gebiete niedergelassen hat, verkörpert ein erhabenes Ideal. Diesem Ideal des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit bleiben wir in Treue verbunden. Wir haben zu seiner Verwirklichung nach Massgabe unserer Kräfte beigetragen, und wir werden es fernerhin tun durch die Wiederherstellung unserer vollen Neutralität, die heute wie gestern den wahren Interessen Europas und der Welt entspricht.

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Wir sind überzeugt, dass Sie der in Genf vor dem Völkerbundsrat erzielten Eegelung beipflichten werden, und in dieser Überzeugung bitten wir Sie, von dem gegenwärtigen Bericht zustimmend Kenntnis zu nehmen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 8. Juni 1938.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Banmann.

Der Bundeskanzler:

G. Bovet

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Übersetzung.

Anhang.

1. Londoner Erklärung Tom 13. Februar 1920.

«Der Kat des Völkerbundes, in seiner am 18. Februar 1920 im St. James-Palast zu London gehaltenen Sitzung, in Anwesenheit: des Sehr Ehrenwerten Herrn Arthur James Balfour, Lord-Präsidenten des geheimen Eates, Vertreter des Britischen Eeiches, des Herrn Léon Bourgeois, Präsidenten des französischen Senates, Vertreter der französischen Eepublik, des Herrn Demetrios Caclamanos, ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers Seiner Majestät des Königs von Griechenland, in London, Vertreter Griechenlands, des Herrn Gastao de Cunha, Botschafters der Vereinigten Staaten von Brasilien, in Paris, Vertreter von Brasilien, des Herrn Maggiorino Ferraris, Senators des Königreichs Italien, Vertreter Italiens, des Herrn Paul Hymans, belgischen Minister des Äussern, Vertreter Belgiens, des Herrn K. Matsui, Botschafters Seiner Majestät des Kaisers von Japan, in Paris, Vertreter von Japan, des Herrn José Quinones de Leon, Botschafters Seiner Majestät des Königs von Spanien in Paris, Vertreter von Spanien, hat in bezug auf die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund den folgenden Beschluss gefasst: Der Eat des Völkerbundes, indem er grundsätzlich feststellt, dass der Begriff der Neutralität der Mitglieder des Völkerbundes nicht vereinbar ist mit jenem andern Grundsatz, dass alle Mitglieder des Völkerbundes gemeinsam zu handeln haben, um dessen Verpflichtungen Nachachtung zu verschaffen, anerkennt dennoch, dass auf Grund einer jahrhundertealten Überlieferung, die im Völkerrecht ausdrücklich Aufnahme gefunden hat, die Schweiz sich in einer einzigartigen Lage befindet, und dass die den Völkerbund bildenden Signatarmächte des Vertrages von Versailles im Artikel 435 zu Eecht anerkannt haben, dass die zugunsten der Schweiz durch die Verträge von 1815 und insbesondere durch die Akte vom 20. No-

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vember 1815 begründeten Garantien internationale Abmachungen zur Aufrechterhaltung des Friedens darstellen. Die Mitglieder des Völkerbundsrates sind zu der Erwartung berechtigt, dass das Schweizervolk sich nicht abseits halten werde, wenn es gilt, die erhabenen Grundsätze des Völkerbundes zu verteidigen. In diesem Sinne hat der Eat des Völkerbundes von den Erklärungen Kenntnis genommen, die die schweizerische Eegierung in ihrer Botschaft vom 4. August 1919 an die Bundesversammlung und in ihrem Memorandum vom 18. Januar 1920 niedergelegt hat und die von den schweizerischen Delegierten in der Sitzung des Völkerbundsrates bestätigt worden sind, wonach die Schweiz die Pflichten der Solidarität feierlich anerkennt, die ihr daraus erwachsen, dass sie Mitglied des Völkerbundes sein wird, einschliesslich der Verpflichtung, an den vom Völkerbund verlangten kommerziellen und finanziellen Massnahmen gegenüber einem bundesbrüchigen Staat mitzuwirken, wonach die Schweiz auch zu allen Opfern bereit ist, ihr Gebiet unter allen Umständen, selbst während einer vom Völkerbund unternommenen Aktion, aus eigener Kraft zu verteidigen, aber nicht verpflichtet ist, an militärischen Unternehmungen teilzunehmen oder den Durchzug fremder Truppen oder die Vorbereitung militärischer Unternehmungen auf ihrem Gebiet zu dulden.

Indem der Eat diesen Erklärungen beipflichtet, anerkennt er, dass die immerwährende Neutralität der Schweiz und die Garantie der Unverletzlichkeit ihres Gebietes, wie sie namentlich durch die Verträge und die Akte von 1815 zu Bestandteilen des Völkerrechts wurden, im Interesse des allgemeinen Friedens gerechtfertigt und daher mit dem Völkerbund vereinbar sind.

Was die von der schweizerischen Eegierung abzugebende Beitrittserklärung anbelangt, so ist der Eat des Völkerbundes in Anbetracht der ganz eigenartigen Verfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft der Auffassung, dass eine auf den Beschluss der Bundesversammlung sich stützende Mitteilung, die innerhalb der am 10. Januar 1920 beginnenden zweimonatigen Frist vom Inkrafttreten des Völkerbundsvertrages an abgegeben wird, von den übrigen Mitgliedern des Völkerbundes als die nach Art. l für die Zulassung eines ursprünglichen Mitgliedes erforderliche Erklärung angenommen werden kann, sofern diese Erklärung durch Volk und Stände der Eidgenossenschaft sobald als möglich bekräftigt wird.

Gegeben im St. James-Palast zu London am 13. Februar 1920.

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Übersetzung.

2. Memorandum über die Neutralität der Schweiz im Schosse des Völkerbundes.

Vom 29. April 1938.

Als es sich für die Schweiz darum handelte, dem Völkerbund beizutreten, bestand sie mit Nachdruck auf der Notwendigkeit, ihre Neutralität im Schosse der neuen internationalen Organisation beizubehalten. Bereits am 8. Februar 1919 richtete der Bundesrat an die in Paris zum Friedensschlüsse versammelten Mächte ein Memorandum, in welchem er auseinandersetzte, dass die Eidgenossenschaft im Völkerbund mitzuwirken wünsche, ohne indessen eine grundlegende Maxime ihrer Politik zu opfern.

Er stützte sich dabei unter anderm auf folgende Argumente: «Die Eidgenossenschaft kann mit Eecht darauf hinweisen, dass ihre Neutralität nicht gelegentlich gewählt, sondern immerwährend ist. Ihre Friedenspolitik entspringt einem Grundsatze, der zu Beginn des XVI. Jahrhunderts zur Staatsmaxime erhoben worden ist. Die Schweizer haben zwar in fremden Diensten auf allen Schlachtfeldern Europas ihr Blut vergossen, aber gleichwohl ist von ihnen die Neutralität als Grundlage ihrer eigenen Politik angenommen und festgehalten worden. Sie haben dem Grundsatz der Neutralität in der Verfassung ihres Bundesstaates Ausdruck gegeben. Die Erklärung des Bundesrates vom 4. August 1914 ist nur die Wiederholung zahlreicher übereinstimmender Beschlüsse, welche die eidgenössischen Tagsatzungen im Laufe von vier Jahrhunderten gefasst haben.

Die Schweizer haben damit vor allen andern Völkern einen Entschluss ausgesprochen, der als eine höhere Politik betrachtet werden muss, und der nun auch dazu berufen ist, im Völkerbund zum Durchbruch zu gelangen.

Diese planmässige Friedenspolitik hat in der Geschichte ihresgleichen nicht.

Die Neutralität der Schweiz besteht nicht nur in der Beobachtung der Vorschriften des Völkerrechts und der internationalen Übereinkünfte.

Sie entspringt der innersten Überzeugung und dem entschlossenen Willen, die das Schweizervolk in unwandelbarer Aufrichtigkeit und Treue an den Tag gelegt hat. Es würde den Schweizern unverständlich sein, wenn sie einen politischen Grundsatz aufgeben müssten, dessen Wert ihnen durch eine Erfahrung von Jahrhunderten bestätigt worden ist...

Diese Neutralität unterscheidet sich von jeder andern. Sie ist für die Schweiz eine der wesentlichsten Voraussetzungen des Friedens im
Innern und damit der Unabhängigkeit des Landes, das so viele nach Sprache und Kultur verschiedenartige Bestandteile in sich vereinigt. Und die Schweiz hängt an ihrer Mannigfaltigkeit. Denn diese ist für sie, trotz dem bescheidenen Umfang ihre Gebietes, die unversiegliche Quelle eines besonders regen und reichen nationalen Lebens.

Die Erhaltung dieser seit Jahrhunderten bestehenden Institution ist aber auch für ganz Europa nicht weniger wertvoll wie für die Schweiz

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selbst. Mit vollem Eecht haben die 1815 in Paris versammelten Grossmächte erklärt, dass «die Neutralität und Unverletzlichkeit der Schweiz und deren Unabhängigkeit von jedem fremden Einfluss im wahren politischen Interesse des gesamten Europa gelegen sei». Diese Erklärung hat ihren vollen Wert beibehalten.

Die Schweiz muss, wie in der Vergangenheit, so auch fernerhin die treue Hüterin der Alpenpässe bleiben ...

Die Neutralität hat in der Schweiz während Jahrhunderten Stämme verschiedener Abkunft, Sprache und Konfession zu einer Einheit zusammengefasst. Dank diesem unentwegt festgehaltenen Grundsatz konnten die schweizerischen Kantone unter sich eine Geistesart entwickeln, die auf die wechselseitige Achtung aller ihrer nationalen Eigentümlichkeiten gerichtet ist. Die Schweiz, als älteste der bestehenden Eepubliken, würde es sich zur Ehre anrechnen, in den Völkerbund die Erfahrung mitzubringen, die sie im Laufe der Jahrhunderte in einer langsamen und keineswegs kampflosen Entwicklung ihres Bundeswesens sich erworben hat. Die Schweiz glaubt, dass sie nur dann, wenn sie ihren Überlieferungen und Grundsätzen treu bleibt, im Völkerbund zum Wohle aller den Platz einnehmen kann, den ihre Geschichte ihr zuweist.» Die Mächte haben dieser ganz besondern. Lage ein freundschaftliches Verständnis entgegengebracht. In Artikel 435 des Versailler Vertrages wurde die schweizerische Neutralität nicht nur anerkannt und bestätigt, sondern auch mit dem Pakt vereinbar erklärt als eine jener Abmachungen, welche im Sinne von Artikel 21 des Paktes bestimmt sind, «die Aufrechterhaltung des Friedens sicherzustellen».

Die schweizerische Neutralität wurde indessen nicht unverändert in das System des Völkerbundes aufgenommen. Auf Grund der vom Völkerbundsrat am 18. Februar 1920 in London abgegebenen Erklärung, mit welcher dieser von dem Willen der Schweiz, ihr Gebiet unter allen Umständen zu verteidigen, Kenntnis nahm, bewahrte die Schweiz ihre militärische Neutralität, musste dagegen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen die gleichen Verpflichtungen übernehmen wie die andern Mitgliedstaaten.

Die neutrale Schweiz machte damit dem Solidaritätsprinzip, welches dem Völkerbund zugrunde liegt, ein wichtiges Zugeständnis. Doch wurde diese Einschränkung ihrer jahrhundertealten Politik von Volk und Ständen
nicht kampflos angenommen.

Verschiedenartige Gründe bewogen die Mehrheit von Volk und Ständen zu diesem Entscheid. In erster Linie bedachte die Schweiz, dass in einem System strenger und sozusagen automatisch einsetzender Sanktionen ihre Lage als neutraler Staat keine wesentlichen Änderungen erfahren würde; sie überlegte ferner, dass eine erhebliche Büstungsbeschränkung, verbunden mit einem genau arbeitenden Mechanismus der Kollektivsicherheit, die Möglichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen sehr fühlbar vermindern würde. Endlich hoffte sie zuversichtlich, dass der Völkerbund schliesslich alle wichtigen Län-

849 der, welche durch die politischen Verhältnisse noch ferngehalten wurden, in seinem Schosse vereinigen würde. Diese Hoffnung wurde ausdrücklich in dem der Volksabstimmung vom 16. Mai 1920 unterbreiteten Bundesbeschluss ausgesprochen.

Die Bedingungen, unter denen die Schweiz in den Völkerbund eintrat, haben sich seither gründlich verändert. Der Völkerbundspakt ist in gewissen seiner wesentlichsten Bestimmungen >nicht angewendet worden. Das Sanktionensystem hat nicht in allen Fällen funktioniert. Der Rüstungswettlauf hat mit einer bisher nie gekannten Intensität wieder eingesetzt. Statt sich zur Universalität zu entwickeln, sah sich der Völkerbund im Gegenteil der Mitwirkung wichtiger Staaten beraubt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sahen keine Möglichkeit, ihm beizutreten, und vier grosse Länder, darunter zwei Nachbarn der Schweiz, haben ihn verlassen.

Diese Lage der Dinge musste die Stellung eines immerwährend neutralen Landes notwendigerweise berühren. Die Schweiz kann sich angesichts ihrer einzigartigen Lage nicht mit einem fakultativen Sanktionensystem abfinden.

Ihre Neutralität darf nicht von den Umständen abhängen, sie ist ein für allemal gegeben. Ihre Stärke beruht auf ihrer Klarheit und auf ihrem immerwährenden Bestand.

Die Unterscheidung zwischen militärischen und wirtschaftlichen Sanktionen würde sich heute für die Schweiz als illusorisch erweisen. Wenn sie zu wirtschaftlichen Druckmitteln griffe, würde sich die Schweiz der schweren Gefahr aussetzen, so behandelt zu werden wie ein Staat, der militärische Massnahmen trifft.

Die Schweiz'hegt den Wunsch, dass die Genfer Institution -- deren Sitz zu sein sie sich zur Ehre anrechnet -- die Schwierigkeiten, die sie umringen, überwinde. Obwohl sie entsprechend ihrer Verpflichtung vom 13. Februar 1920 ihre Armee, für welche sich das Schweizervolk tatsächlich die grössten Opfer auferlegte, modernisiert und reorganisiert hat, bleibt die Schweiz dem Völkerbund sowie seinem Ideal des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit verbunden. Sie wird ihm weiterhin ihre Mitwirkung leihen in allen Fragen, die ihr Statut eines neutralen Staates nicht berühren. Sie glaubt sich indessen berechtigt zu verlangen, dass ihre umfassende Neutralität im Eahmen des Völkerbundes ausdrücklich anerkannt werde.

Aus diesem Grunde wendet sich der Bundesrat,
von der wuchtigen Entschlossenheit der eidgenössischen Eäte und des Volkes getragen, in aller Zuversicht an den Völkerbundsrat mit dem Verlangen, dass die überlieferte Neutralität der Eidgenossenschaft mit den Bestimmungen des Paktes vereinbar erklärt werde.

Die schweizerische Eegierung zweifelt nicht daran, dass der Völkerbundsrat die vorangegangenen Erklärungen zustimmend zur Kenntnis nehmen und damit den einzigartigen Charakter der schweizerischen Neutralität bestätigen wird.

Bundesblatt. 90. Jahrg. Bd. I.

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850 Übersetzung.

3. Bericht und Resolution betreffend die Neutralität der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Rahmen des Völkerbundes.

Vom Völkerbundsrat am 14. Mai 1938 genehmigt.

Bericht des Vertreters Schwedens.

1. Der schweizerische Bundesrat hat durch Schreiben vom 20. und 29. April 1938 dem Völkerbundsrat die Frage der Neutralität der Schweiz im Eahmen des Völkerbundes vorgelegt. In einem Memorandum, das dem zweiten Schreiben beigefügt war, hat die schweizerische Regierung dem Völkerbundsrat ihre Wünsche unterbreitet, die sodann der Vertreter der Schweiz in der Eatssitzung vom 11. Mai 1938 auch mündlich darlegte.

2. Die der Schweiz durch den Völkerbund zuerkannte besondere Lage als Völkerbundsmitglied ist in einer Eesolution des Völkerbundsrates vom 13. Februar 1920 umschrieben worden. Diese Resolution hat in der Völkerbundsversammlung zu keinen Erörterungen Anlass gegeben. In bezug auf die Frage der Zuständigkeit des Völkerbundsrates bzw. der Völkerbundsversammlung ist zu bemerken, dass es sich nicht um einen Gegenstand handelt, der nach den Bestimmungen des Paktes in die ausschliessliche "Kompetenz des Rates oder der Versammlung fällt. Jedes dieser beiden Organe des Völkerbundes ist daher zuständig.

Im vorliegenden Falle wünschte der Bundesrat, dass der Völkerbund sein Begehren sobald als möglich in Erwägung ziehe.

3. Das schweizerische Memorandum enthält Bemerkungen allgemeiner Art, über die sich der Völkerbundsrat bei dieser Gelegenheit nicht auszusprechen braucht.

Der Grund, der nach Ansicht des Völkerbundsrates den Fall der Schweiz seinen besondern Umständen entsprechend zu regeln erlaubt, ist die besondere Lage der Schweiz, die sich überlieferungsgemäss der Stellung einer immerwährend neutralen Macht erfreut. Diese durch die Verträge von 1815 anerkannte Neutralität ist ein unbestrittener Grundsatz des Völkerrechts. Der Versailler Vertrag hat diesen Grundsatz in seinem Artikel 435 bestätigt. Der Völkerbundsrat hat in seiner Resolution vom 13. Februar 1920 festgestellt, dass «die Schweiz auf Grund einer Jahrhunderte alten Überlieferung ..». die im Völkerrecht ausdrücklich Aufnahme gefunden hat, sich in einer einzigartigen Lage befindet». Er erklärte ferner, «dass die immerwährende Neutralität der Schweiz und die Garantie der Unverletzlichkeit ihres Gebietes... im Interesse des allgemeinen Friedens gerechtfertigt sei».

851 In Anbetracht der Stellung der Schweiz als eines immerwährend neutralen Staates hatte der Völkerbundsrat im Jahre 1920 der Schweiz zugestanden, dass sie an Massnahmen militärischer Art nicht teilzunehmen brauche. Heute ersucht die schweizerische Eegierung den Völkerbundsrat, in dieser Hinsicht weiter zu gehen und anzuerkennen, dass die Schweiz sich an keinerlei Sanktionsmassnahmen beteiligen wird.

Um jedes Missverständnis zu vermeiden, muss eindeutig festgestellt werden, dass die Schweiz sich an keiner durch Artikel 16 vorgesehenen Massnahme beteiligen wird, gleichgültig, ob diese Massnahmen in Anwendung des Artikels 16 oder in Anwendung irgendeines andern Artikels des Völkerbundspaktes getroffen werden.

Der Völkerbundsrat glaubt heute dem Begehren der Schweiz entsprechen zu sollen; er berücksichtigt dabei ihre eigenartige Lage sowie ihre Absicht, zwar nicht mehr bei der Durchführung von Sanktionen, wohl aber in jeder andern Hinsicht im Völkerbund mitzuwirken.

4. Entsprechend der Politik der Zurückhaltung, die sie zu verfolgen beabsichtigt, wird die schweizerische Eegierung sich an Beschlüssen betreffend Durchführung von Sanktionen durch die Völkerbundsorgane nicht beteiligen.

5. Der Völkerbundsrat verzeichnet mit Genugtuung die vom Bundesrat in London im Jahre 1920 abgegebenen Versicherungen, wonach die Schweiz unter allen Umständen zu allen Opfern für die Verteidigung ihres Gebietes bereit ist, und er nimmt Kenntnis von der im Memorandum des Bundesrates mitgeteilten Verstärkung der Verteidigungsmassnahmen.

6. Die schweizerische Eegierung hat durch ihren Vertreter im Völkerbundsrat ihre Treue zum Völkerbund und ihren Wunsch bekundet, nach wie vor dem Völkerbund ihre Mitwirkung zu leihen; diese Mitwirkung werden die Eatsmitglieder einmütig zu schätzen wissen. Dementsprechend bleibt, unter Vorbehalt der Nichtbeteiligung an der Durchführung von Sanktionsmassnahmen, die Lage der Schweiz als Mitglied des Völkerbundes und als Staat, auf dessen Gebiet der Sitz des Völkerbundes sich befindet, unverändert. Nach wie vor bleibt die Stellung der Schweiz unverändert in bezug auf alle Bestimmungen des Paktes mit Ausnahme derjenigen, die sich auf die Sanktionen beziehen; desgleichen wird die Schweiz den Organen des Völkerbundes die zur Ausübung ihrer Tätigkeit erforderliche volle Freiheit gewähren.
7. Der Vertreter der Schweiz hat es sich angelegen sein lassen, klar zu stellen, dass er nur den Sonderfall seines Landes zu behandeln beabsichtigt und dass er die Stellung der anderen Völkerbundsmitglieder bezüglich der Tragweite, die diese den Bestimmungen des Artikels 16 beimessen, vollständig unberührt lasse.

Es versteht sich von selbst, dass das Begehren der schweizerischen Eegierung. und die Folge, die ihm gegeben wird, in keiner Weise die verschiedenen in dieser Hinsicht eingenommenen Standpunkte zu beeinflussen noch die Eesolutionen zu präjudizieren vermögen, die im Schosse des Völkerbundes gefasst werden könnten.

852 8. Ich habe die Ehre, dem Völkerbundsrat folgenden Eesolutionsentwurf zu unterbreiten: Resolutionsentwurf.

«Der Völkerbundsrat, der mit dem Memorandum der schweizerischen Eegierung vom 29. April befasst ist, Nach Prüfung der in dem Memorandum des Bundesrates formulierten Begehren, die der Vertreter der Schweiz in der Sitzung vom 11. Mai 1988 näher dargelegt hat, In Anbetracht der besondern Lage der Schweiz, die sich aus der immerwährenden Neutralität ergibt, die auf einer Jahrhunderte alten und vom Völkerrecht anerkannten Überlieferung beruht, Mit Eücksicht darauf, dass der Völkerbundsrat durch seine Erklärung in London vom 18. Februar 1920 anerkannte, dass die immerwährende Neutralität der Schweiz durch die Interessen des allgemeinen Friedens gerechtfertigt und daher mit dem Pakte vereinbar ist, Genehmigt den Bericht des Vertreters von Schweden, Nimmt unter diesen Umständen Kenntnis von der durch die Schweiz unter Berufung auf ihre immerwährende Neutralität ausgesprochenen Absicht, sich in keiner Weise mehr an der Durchführung der Paktbestimmungen über die Sanktionen zu beteiligen und erklärt, dass sie nicht eingeladen werden wird, an ihnen mitzuwirken, Stellt fest, dass die schweizerische Eegierung ihren Willen zum Ausdruck bringt, in allen andern Beziehungen ihre Stellung als Völkerbundsmitglied unverändert beizubehalten und auch weiterhin dem Völkerbund die Erleichterungen zu gewähren, die ihm für die freie Betätigung seiner Institutionen auf Schweizergebiet eingeräumt wurden.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Neutralität der Schweiz im Völkerbund. (Vom 3. Juni 1938.)

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08.06.1938

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