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Bundesblatt 90. Jahrgang.

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Bern, den 28. Februar 1988.

Band L

Erseheint wöchentlich. Preis HO Franken im Jahr, 10 Franken im Halbjahr, zuzüglich Nachnahme- and Postbestellungsgebühr.

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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Abänderung der Art. 28 und 40 des Bundesbeschlusses vom 28. März 1917 betreffend die Organisation und das Verfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichtes.

(Vom 18. Februar 1938.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

In der Junisession des letzten Jahres hat der Nationalrat ein Postulat seiner Geschäftsprüfungskommission vom 10. Juni 1987 angenommen, das folgenden Wortlaut hat: «Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und dem Parlament Berieht und Antrag vorzulegen, ob 1. das eidgenössische Versicherungsgericht vom Volkswirtschaftsdepartement abzulösen und dem Justiz- und Polizeidepartement zu unterstellen sei, 2. am eidgenössischen Versicherungsgericht die öffentliche Urteilsberatung einzuführen sei.» Wir beehren uns, Ihnen hiermit den gewünschten Bericht zu erstatten und einen Entwurf zur Abänderung des Bundesbeschlusses vom 28. März 1917 betreffend die Organisation und das Verfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichts zu unterbreiten.

I.

In seinem ersten Teil verlangt das Postulat Bericht und Antrag darüber, «ob das eidgenössische Versicherungsgericht vom Volkswirtschaftsdepartement abzulösen und dem Justiz- und Polizeidepartement zu unterstellen sei». Gemeint ist damit eine Änderung von Art. 28, Abs. 3, des erwähnten Bundesbeschlusses, welcher sagt: «Der Verkehr mit dem Bundesrat geschieht durch dasjenige Departement, zu dem das Bundesamt für Sozialversicherung Bundesblatt. 90. Jahrg. Bd. I.

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gehört.» -- An Stelle dieses Departements, das heute das Volkswirtschaf tsdepartement ist, soll künftig das Justiz- und Polizeidepartement diesen Verkehr vermitteln. Diese Änderung wird von der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission namentlich deswegen gewünscht, weil die Zuteilung zum Volkswirtschaftsdepartement immer wieder zu falschen Vorstellungen. über die Funktionen des Versicherungsgerichts führe, indem seine Aufgaben als rein administrative betrachtet werden, während sie in Wirklichkeit doch Jurisdiktionelle seien.

Das Versicherungsgericht selbst hatte bereits im Juli 1936 ein gleiches Begehren an den Bundesrat gerichtet. Darin ist dargetan worden, dass man bei der Schaffung der heute geltenden Bestimmung von der Annahme ausgegangen sei, dass das Gericht sich fast ausschliesslich mit Unfallversicherungsfälleu werde zu befassen haben, und zwar mit Fragen mehr praktischer und sozialer als juristischer Art. Dies habe sich inzwischen als unrichtig erwiesen. Die bei weitem wichtigste Aufgabe erwachse ihm aus der Militärversicherung (im Jahre 1935 z. B. 1253 Fälle gegenüber 163 Fällen aus der Unfallversicherung).

Man könne daher die Vermittlung des Verkehrs mit dem Bundesrat ebensogut dem Militärdepartement oder, da es sich um eine gerichtliche Institution handle, noch besser dem Justiz- und Polizeidepartement übertragen, wie dies überall üblich sei. Die Folge der geltenden Eegelung sei ein Zustand «de complet et préjudiciable isolement». So seien z. B. die wiederholten Wünsche des Versicherungsgerichts um Beseitigung gewisser Ungleichheiten oder von Kollisionen in der Eechtsprechung der beiden eidgenössischen Gerichte ohne Erfolg geblieben. Ferner seien beispielsweise die Eeiseentschädigungen für das Bundesgericht neu geregelt worden, ohne dass jemand daran gedacht hätte, dieselbe Frage gleichzeitig auch für das Versicherungsgericht zu ordnen. Die vorgeschlagene Eegelung würde diese Schwierigkeiten zum mindesten verringern. Insbesondere könnte dann der Geschäftsbericht des Versicherungsgerichts im Anschluss an denjenigen des Justiz- und Polizeidepartements und des Bundesgerichts behandelt werden. Ausserdem würde durch diese Lösung der Jurisdiktionelle Charakter des Versicherungsgerichts betont.

Mit dieser Neuregelung haben sich alle speziell interessierten Verwaltungsabteilungen
(Bundesamt für Sozialversicherung, Militärversicherung und Justizabteilung) und die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Luzern einverstanden erklärt. Dabei ist nur der Vorbehalt gemacht worden, dass das Volkswirtschaftsdepartement, das Militärdepartement und die Suval wie bisher Gelegenheit erhalten sollen, in Fällen, die sie interessieren, ihre Ansicht zu äussern.

Sachliche Bedenken dürften dieser Änderung, die ja nur die interne Ver. teilung der Geschäfte unter den Departementen betrifft, kaum entgegenstehen. Zwar würde die Art der Fälle, welche das Gericht ganz vorwiegend beschäftigen, mehr auf das Militärdepartement hinweisen. Allein es ist nicht zu verkennen, dass es gewisse Vorteile bietet, wenn der Verkehr beider eidgenössischer Gerichte mit dem Bundesrat durch das gleiche Departement

119 vermittelt wird, wofür, entsprechend der Eegelung in andern Staaten, nur das Justiz- und Polizeidepartement in Frage kommt. Auf diese Weise wird eine parallele Behandlung dieser beiden Gerichte in Organisationsfragen gewährleistet. Und auf solche Fragen bezieht sich die Bestimmung Art. 28, Abs. 3, in erster Linie. Ferner mag es zutreffen, dass die selbständige, von der Verwaltung unabhängige Stellung des Gerichts auf diese Weise besser markiert wird, was zu begrüssen wäre. Wir glauben daher, dass sich diese Neuerung rechtfertigt.

Fragen kann man sich, ob es zweckmässig ist, die Kompetenz im Bundesbeschluss festzulegen und das Justiz- und Polizeidepartement als zuständig zu bezeichnen oder ob diese Frage dem Bundesrat überlassen bleiben soll, wie dies bereits mit Bezug auf den Verkehr des Bundesgerichts mit dem Bundesrat der Fall ist. Da es sich nicht um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung handelt, empfehlen wir die letztere Lösung, damit nicht eine nochmalige Änderung des Bundesbeschlusses nötig wird, wenn sich später vielleicht eine andere Zuteilung als richtiger erweisen sollte. Für diesen Zweck aber dürfte die blosse Aufhebung des letzten Absatzes von Art. 28, wie sie das Versicherungsgericht vorschlägt, genügen.

II.

Im weitern verlangt das Postulat die Prüfung der Frage, «ob am eidgenössischen Versicherungsgericht die ö f f e n t l i c h e Urteilsberatung einzuführen sei».

Die gegenwärtig für das Versicherungsgericht geltende Vorschrift (Art. 40, Abs. l, OG für das Versicherungsgericht) lautet: «Die Verhandlungen vor dem Gerichte sind öffentlich, die Beratungen sind geheim.» Im Gegensatz dazu erklärt die für das Bundesgericht in Zivilsachen massgebende Vorschrift, Art. 181 BZP: «Die Beratung sowohl als die Abstimmung findet öffentlich statt.» Im OG für das Bundesgericht ist dieser Grundsatz auch auf andere Gebiete ausgedehnt. Art. 36 dieses Gesetzes bestimmt nämlich: «Die Verhandlungen vor dem Bundesgerichte, seinen Abteilungen und den Strafgerichtsbehörden des Bundes, sowie die gerichtlichen Beratungen und Abstimmungen sind öffentlich, mit Ausnahme der Beratungen und Abstimmungen der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer, der Anklagekammer, der Geschworenen und des Bundesstrafgerichts.» Das Postulat tendiert also auf eine Angleichung des Verfahrens vor Versicherungsgericht an dasjenige
vor Bundesgericht in Zivilsachen. Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates und, mit einigen Einschränkungen, das Versicherungsgericht versprechen sich davon bei allen Personen, die mit der Sozialversicherung zu tun haben, eine bessere Kenntnis der dieses Gebiet beherrschenden Grundsätze und namentlich der Praxis dieses Spezialgerichts. Vor allem aber hofft man, dass das Gericht durch die Öffentlichkeit der Beratungen das volle Vertrauen aller Interessenten erlange, das durch die geheime Beratung nie in vollem Umfange errungen werden könne. Auch rechtfertige die oft sehr weitgehende präjudizielle Be-

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deutung vieler Urteile eine öffentliche Beratung. Nach der Auffassung des Versicherungsgerichts haben sich die Gründe, welche seinerzeit f üb .die Einführung der geheiinèn Beratung massgebend gewesen seien, in;seiner fast zwanzigjährigen Praxis als nicht stichhaltig erwiesen, ·.:'..: i.- : Für die Beurteilung dieser Anregung wird es sich empfehlen, zunächst einen Blick auf die Entstehung der heute geltenden Vorschrift zu werfen und sich hierauf umzusehen, wie dieses Problem anderwärts gelöst ist.

Die Einführung der geheimen Beratung beim Versicherungsgericht, die schon der Entwurf des OG vorgesehen hatte, war anfänglich auf den Widerstand des Nationalrates gestossen, der sich mit 52 gegen 51 Stimmen für die öffentliche Berätung ausgesprochen hatte. Als der Ständerat dann, an der geheimen Beratung festhielt, gab der Nationalrat angesichts dei?-geringen Mehrheit nach. Dabei herrschte die Auffassung vor, dass zwar im allgemeinen die öffentliche Urteilsberatung vorzuziehen sei, obschon die dabei zutage tretenden Meinungsverschiedenheiten der Eichter nicht immer geeignet seien, die Autorität des Urteils zu heben. Stärker falle die Tatsache ins'.Gewicht, dass die öffentliche Beratung den Bichter zu sorgfältiger und gründlicher Vorbereitung zwinge und der Öffentlichkeit eine Kontrolle gebe. -Wenn man dennoch für das Versicherungsgericht die geheime Beratung einführte, so geschah dies namentlich aus folgenden Erwägungen: Bei den diesem Gericht unterbreiteten Fällen handle es sich nicht vorwiegend um die Erörterung rein juristischer Fragen, wie z.B. beim Bundesgericht, sondern zu einem'wesentlichen Teil auch um soziale Fragen, d. h. um die Schaffung eines gerechten Interessenausgleichs. Und bei solchen Fragen würde die Stellungnahme des einzelnen Bichters leicht als Parteinahme beurteilt. Sodann berühren die Erwägungen dieses Gerichts häufig höchstpersönliche Gebiete einer Prozesspartei, wie Krankheitsanlagen, Gebrechen, Vererbung, Lebensweise, Selbstverschulden, Simulation, irrtümliche Diagnose, unrichtige Behandlung usw.

Derartige Fragen sollten aber von den Bichtern nicht in der Öffentlichkeit erörtert werden müssen. Der Hauptgrund für die Einführung der geheimen Beratung dürfte jedoch in der Befürchtung bestanden haben, dass einzelne Bichter, die sich als Vertreter einer Interessengruppe betrachten
sollten, durch die in der öffentlichen Beratung liegende Kontrolle ihrer Stimmabgabe in eine schwierige Lage geraten würden. Auch falle es einem Bichter schwerer, in Anwesenheit der Parteien sich belehren zu lassen und seine Meinung zu ändern (vgl. Botschaft vom 18. Dezember 1915 in Bundesbl. 1915, IV, 241 ff., StenBuü StB 1916: 71 und 172 f., NE 1916: 141 ff.).

Andererseits wurde die belehrende Wirkung für die Öffentlichkeit geltend gemacht. Namentlich aber wurde betont, dass vor Versicherungsgericht immer die eine (und zwar häufig die gewinnende) Partei die Bundeskasse1 oder die Suval sei, während auf der andern Seite Leute aus einer bestimmten Bevölkerungsschicht stehen. Es könnte sich daher die Meinung herausbilden, das Gerieht schütze in einseitiger Weise mehr die Interessen des Staates und der Versicherungsanstalt,, und gegen diese Gefahr biete die öffentliche Urteils-

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beratungi:dën besten Schutz. Diese Auffassung vermochte sich aber nicht durchzusetzen.

Nunmehr wird die Einführung der öffentlichen Urteilsberatung angestrebt.

Da hiebei das Verfahren vor Bundesgericht als Vorbild dient, wird es notwendig sein, sich mit diesem etwas näher zu befassen.

Im Bundeszivilprozess findet seit dem Jahre 1850 die öffentliche Urteilsberatung statt. «Das Justizdepartement glaubte, sie als eine in der neuen Zeit immer lauter geforderte Garantie des Bechts um so eher empfehlen zu können, als das Bundesgericht den Interessen der Parteien ferner stehe und unabhängiger sei als untere Gerichte in den Kantonen. Die Würde des Gerichts und das Vertrauen der Parteien und des Volkes würde nach seiner Auffassung nur erhöht werden, wenn die geistige Tätigkeit des Eichters, seine moralische und wissenschaftliche Befähigung und die ganze Gestaltung des Urteils offen vorliegen» (zitiert bei Schurter-Fritzsche, Bundeszivilprozess, S. 868). Man hielt die öffentliche Urteilsberatung damals wohl auch für nötig als eine Garantie gegen die Kabinettsjustiz. So wurde die öffentliche Beratung für das Bundesgericht als eine kühne Neuerung eingeführt und ist seither ununterbrochen beibehalten worden. .

Sie ist aber auch hier nicht unangefochten geblieben. Als anfangs der neunziger Jahre die Eevision des Organisationsgesetzes an die Hand genommen wurde, sah der Entwurf zwar keine Änderung vor. Sein Verfasser, Bundesrichter Hafner, erklärte jedoch in seinem Bericht : «Wenn es sich gegenwärtig um die Frage handelte, ob die öffentliche Beratung neu einzuführen sei, so würden wir kaum anstehen, die Frage zu verneinen. Denn wir haben uns nicht überzeugen können, dass die unvermeidlichen Nachteile der öffentlichen Beratung durch deren Vorzüge aufgewogen werden. Allein an eine Abschaffung derselben kann wohl gegenwärtig nicht mehr gedacht werden, und so enthalten wir uns jeder weitern Bemerkung über diese Frage.» In der Expertenkommission nahmen Bundesrichter Kopp und Bundesrat Euchonnet entschieden gegen die Öffentlichkeit der Beratung Stellung, mit der Begründung, diese schliesse die gegenseitige Belehrung aus, weil es den Eichtern widerstrebe, in Gegenwart von Anwälten und Parteien zu gestehen, dass sie sich geirrt haben. Dazu komme, dass eine Verschiebung der Abstimmung und Urteilseröffnung nicht möglich
sei. Die Expertenkommission entschied sich daher für die geheime Beratung und ebenso der Ständerat. Eine Wendung brachten dann die Beratungen am Juristentag in Solothurn (1892), an welchem energisch die Beibehaltung der öffentlichen Urteilsberatung verlangt wurde (ZSchwE 1892, 686 ff.). Das Gesetz bekannte sich dann zu ihr. Immerhin wurde im Jahre 1895, als man die Oberaufsicht über das Schuldbetreibungsund Konkurswesen vom Bundesrat auf das Bundesgericht übertrug (B G vom 28. Juni 1895), die öffentliche Urteilsberatung für die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer nicht zugelassen. Ebenso hat man bei der Schaffung einer Kammer für Beamtensachen (im Jahre 1928) für die Urteilsberatungen derselben die Öffentlichkeit ausgeschlossen (VDG 39).

122 Das Bundesgericht hat nun in mehr als fünfzigjähriger. Praxis Gelegenheit gehabt, die Vor- und Nachteile der öffentlichen Urteilsberatung «kennen zu lernen. Wir haben es deshalb um Mitteilung seiner Auffassung gebeten, der in dieser Frage eine besondere Bedeutung zukommen dürfte. In seinem Bericht vom 24. November 1937 hat es uns hierüber folgendes mitgeteilt,: «Den Vorteil der öffentlichen Beratung sehen die Mitglieder des Bundesgerichtes darin, dass die Anwälte und Parteien den Beratungen folgen und neben dein juristischen Interesse, das die Debatten :als solche ihnen bieten, die Entscheidungsgründe zugleich mit dem Urteil vernehmen können. Hinsichtlich der unterlegenen Partei kommt ein weiterer Gesichtspunkt in Betracht: Man weiss, dass die Parteien oft so sehr von ihrem Recht überzeugt sind, dass sie im Falle des Unterliegens schwer zu belehren sind, dass nicht ausserhalb rechtlicher Überlegungen liegende Einflüsse auf das Urteil eingewirkt haben. Wenn sie der Beratung persönlich beiwohnen, können sie sich überzeugen, dass ihr Standpunkt in aller Objektivität geprüft und nach rein sachlichen Gesichtspunkten beurteilt wurde. Dieser mehr psychologische Wert der öffentlichen Beratung ist aber nur dann gegeben, wenn das Urteil einstimmig oder mit stark überwiegender Mehrheit gefällt wird. Bildete sich eine erhebliche Minderheit im Sinne des Rechtsstandpunktes der unterlegenen Partei, so ist die Wirkung der öffentlichen Urteilsberatung in dieser Hinsicht die entgegengesetzte; die unterlegene Partei ist von der Richtigkeit des Urteils nicht überzeugt. Da sie begreiflicherweise den für ihren Standpunkt vorgebrachten Argumenten stärkeres Gewicht beilegt, betrachtet sie das Urteil als Fehlentscheid. Die Autorität des Urteils leidet daher in solchem Falle unter der öffentlichen Beratung. Hierin sehen wir die grosse negative Seite der öffentlichen Beratung. Je nachdem man der einen oder andern Seite mehr Bedeutung beilegt, wird man für oder gegen die öffentliche Beratung sein. Andere Gründe, die gegen dieselbe ins Feld geführt werden (besonders die Erschwerung, auf eine geäusserte Ansicht zurückzukommen), mögen eine gewisse praktische Bedeutung haben, besonders dann, wenn die Parteien selbst anwesend sind, dürfen aber nicht als entscheidend angesehen werden, solange man dem Richter das Vertrauen
entgegenbringt, dass er sein Amt pflichtgetreu verwalte.

Für ein Gericht, das nicht (wie das Bundesgericht) nur Rechtsfragen, sondern auch Fragen tatsächlicher. Natur zu würdigen und zu entscheiden hat, erscheint uns die öffentliche Beratung kaum wünschenswert. Man denke nur an die Würdigung der Zeugen auf ihre Wahrheitsliebe in; öffentlicher Beratung. Ebenso ist sie für gewisse Materien gänzlich ungeeignet. Nachdem sie für das Bundesstrafgericht schon früher nicht bestanden hatte, wurde sie daher bei der Revision des Bundesstrafprozesses auch für die Kiriminalkamnier abgeschafft. Ebenso ist sie für die Beratung der Beamtenkammer und die Schuldbetreibungs- und Konkurskamniér des Bundesgerichts mit Recht nicht eingeführt worden, weil hier vielfach Fragen mehr persönlicher Natur zur Diskussion stehen. Darüber, ob die öffentliche Beratung gerade beim eidgenössischen Versicherungsgericht angezeigt wäre, hat sich das Bundesgericht nicht auszuspreohen.» Das Versicherungsgericht, dem wir diese Äusserüng zur Kenntnis .gebracht haben, ist nach wie vor davon überzeugt, dass die öffentliche Urteilsberatung aus den bereits erwähnten Gründen den Vorzug verdiene. Die Bewertung von Zeugenaussagen könne auch in der öffentlichen Beratung mit Takt und Zurückhaltung vorgenommen werden. Das Verfahren-vor Versicherungsgericht sei nicht mit einem strafgerichtlichen oder betreibungs-' und konkursrechtlichen -Verfahren zu vergleichen, sondern viel eher mit Haftpfhchtprozessen oder mit Streitigkeiten aus privaten Versicherungsverträgen

123 oder mit solchen der Pensionskassen der eidgenössischen Beamten und Angestellten. Den Hauptnachteil erblickt es darin, dass grundlegende Änderungen in der Organisation nötig würden. Die Öffentlichkeit der Beratungen würde: namentlich die Erledigung von Streitfällen auf dem · Zirkulationswege verunmöglichen. Weitläufige Verhandlungen aber stünden oft nicht im rieh?

tigen Verhältnis zum Streitwert und wären besonders im Militärversieherungswesen nicht im Interesse der Sache selbst. Die Fälle aus diesem Gebiet eignen sich häufig auch deswegen schlecht für die Öffentlichkeit, weil es sich hier meistens um Krankheiten und um die Bewertung ärztlicher Bescheinigungen und Gutachten handle,.die im Interesse des Versicherten und.des Arztes nicht öffentlich sollten behandelt werden müssen.

Im Zivilprozess des kantonalen Eechts ist teils geheime, teils öffentliche Urteilsberatung vorgesehen. Die geheime Beratung dürfte hier überwiegen, jedenfalls in erster Instanz (vgl. G. v. Coelln: Das Beratungsgeheimnis, in Goldschmidts prozessrechtlichen Abhandlungen, Berlin 1931, S. 109). So »kennen die geheime Beratung z.B. die folgenden Kantone: Thurgau, ZPO § 130, Luzern, ZPO § 33, Abs. 2; und Waadt, Code proc. civ., Art. 335. Dagegen ist die Beratung öffentlich z. B. in Bern, Baselland, ZPO § 205, und für die erstinstanzlichen Gerichte und den Kassationshof in Zürich, ZPO Art. 147.

IQ der schweizerischen Literatur ist die Frage hehr bestritten. Für die öffentliche Beratung haben sich eingesetzt K. Müller (in einem Aufsatz in der Schweizer Bundscb.au 6, 17 ff.) und Winkler (in einem Eeferat ahn Juristentag in Luzern 1889). Hingegen haben sich zugunsten der geheimen Beratung ausgesprochen Bluntschli (Allgemeines Staatsrecht, Bd. II, S. 313), Meili (Kommentar zur zürcherischen ZPO, S. 47), Stooss (in einer Schrift über die. Eevision der bernischen Gerichtsorganisation, 1878) und Fleiner (Bundesstaatsrecht, S. 230, Note 23), während Piccard (JZ Bd. 25, S. 129 ff.)

mit einem non liquet antwortet. Neuestem hat Ziegler die Frage der Ab-1.

Schaffung der öffentlichen Beratung vor dem Bundesgericht wieder aufgeworfen (am schweizerischen Juristentag in Interlaken, 1935, ZSchwB 1935, S. 263aff.): Er machte hiefür geltend, dass das Bundesgericht wegen der Öffentlichkeit der Beratung und der zunehmenden präjudiziellen
Bedeutung der Urteile nicht mehr in der Lage sei, die Beratung über die Entscheidungsgründe zu erschöpfen; es sei daher gezwungen, die Ausarbeitung derselben einem Gerichtsschreiber oder Sekretär zu überlassen. Auch bringe die öffentliche Beratung eine erhebliche Vermehrung der Geschäftslast des Gerichts mit sich.

Der Juristentag hat dann aber zu dieser Frage nicht Stellung bezogen.

Wie stellen sich andere Staaten, insbesondere unsere Nachbarstaaten zu diesem Problem? Die Botschaft des Bundesrates vom S.April 1892 zum OG erklärte diesbezüglich: «Mit Ausnahme des Verfahrens in einigen Schweizer Kantonen und bei dem Schweizerischen Bundesgericht besteht in der ganzen zivilisierten Welt die geheime Beratung» (Bundesbl. 1892, Bd. II, S. 296).

Heute gilt dies jedenfalls für unsere Nachbarstaaten. Die geheime Beratung ist allgemeiner Grundsatz in Deutschland, wo eine öffentliche Beratung und

124 Abstimmung unzulässig ist (§ 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 22. März 1924, vgl. Gaupp-Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO, 15. Auflage, § 809 I 2, v. Coelln S. 102), ferner in Österreich (§ 418 ZPO und §§ 9--14 der Jurisdiktionsnorm, v. Coelln S. 106 ff.), in Frankreich (Art. 116 Code proc. civ.,'Dalloz, Eép. 7, 885, Nr. 145, v. Coelln S. 104) und in Italien (Art. 858 C. proc. civ.-, v. Coelln S. 108), wo sie als selbstverständlich betrachtet wird. Dagegen ist im anglo-amerikanischen Eecht die geheime Urteilsberatung im Zivilprozess beinahe unbekannt (v. Coelln S. 109 ff.).

Es ergibt sich somit, dass die Öffentlichkeit der Urteilsberatung und Abstimmung -- die nicht zu verwechseln ist mit dem in Zivilsachen allgemein anerkannten Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlungen -- im kontinentalen Eecht die Ausnahme bildet : Bundesrechtlich gilt sie im Verfahren vor Bundesgericht mit den erwähnten Einschränkungen; im kantonalen Eecht ist sie wohl nicht die Eegel, und von unsern Nachbarstaaten kennt sie keiner. Dagegen wird sie in England und den Vereinigten Staaten allgemein anerkannt.

Diese Zurückhaltung gegenüber der öffentlichen Beratung auf dem Kontinent« ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass der Eichter sich weniger frei fühlt, wenn er öffentlich seine Stimme abgeben und seine Auffassung motivieren muss. Und zwar gilt dies nicht nur gegenüber den Parteien (so z. B.

wenn der Eichter die Aussagen anwesender Personen bezweifelt), sondern auch im Verhältnis zu seinen Wählern und zur Eegierung. Auch scheut er sich eher, sich in der öffentlichen Diskussion belehren zu lassen. Dazu kommt, dass die Öffentlichkeit der Beratungen geeignet ist, die Geschäftslast zu erhöhen und die Erledigung zu verschleppen, da oft langatmige Diskussionen Platz greifen, wo sonst eine Erledigung auf dem Zirkulationswege stattfinden könnte. Diese Nachteile scheinen im allgemeinen mehr Eindruck zu machen als der offenkundige Vorteil, welcher darin besteht, dass die Öffentlichkeit der Beratung den Eichter zwingt, sich gut vorzubereiten, und dass sie die Gefahr eines übermässigen Einflusses der Eeferenten vermindert und dem demokratischen Empfinden besser entspricht, weil sie dem Volk eine Möglichkeit der Kontrolle gibt (vgl. dazu v. Coelln S. 112 ff. und dortige Zitate).

Unter diesen Umständen muss man sich
ernstlich fragen, ob genügende Veranlassung besteht, von der geheimen Beratung zur öffentlichen überzugehen. Hiebei dürfen allerdings die besondern Verhältnisse, die beim Versieherungsgericht bestehen, nicht ausser acht gelassen werden. Die wichtigste Besonderheit besteht darin, dass vor diesem Gericht auf der einen Seite des Prozesses immer der Bund oder die Suval steht, auf der andern aber Leute aus einer bestimmten Bevölkerungsschicht, wobei die Mehrzahl der Entscheidungen zugunsten der Versicherer ausfällt und wohl auch ausfallen muss, weil diese im allgemeinen mit mehr Sachkenntnis und Vorsicht prozessieren als private Parteien. Auf diese Umstände, in Verbindung mit der geheimen Urteilsberatung, führt das Versicherungsgericht die Tatsache zurück, dass es ihm bisher nicht gelungen sei, sich das volle Vertrauen der Öffentlichkeit zu erobern. Von der Einführung der öffentlichen Urteilsberatung verspricht

125 es sich daher eine Besserung dieses Verhältnisses, und die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates stimmt ihm darin zu.

Diese Auffassung entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung. Wenn es zutreffen mag, dass das Versicherungsgericht unter einer gewissen Vertrauenskrise leidet, so ist ebenso sicher das bestehende Misstrauen unberechtigt.

Weder die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Eichter (nach der einen oder andern Seite) noch ihre richterliche Befähigung kann nach den bisherigen Erfahrungen in Zweifel gezogen werden. Die Ursache liegt in der Tat in den schwierigen Voraussetzungen, unter denen das Gericht zu arbeiten hat. Wenn dem aber so ist, so könnte die Einführung der öffentlichen Urteilsberatung hier, sicher gute Dienste leisten. Sobald die Öffentlichkeit und namentlich die unterliegenden Parteien sehen, mit welcher Selbständigkeit und Sachlichkeit, mit welcher Gründlichkeit und Sachkenntnis das Urteil beraten wird, so werden sie dem Gericht ihr Vertrauen und ihren Eespekt sicher nicht versagen können. Der Verdacht der Kabinettsjustiz -- soweit er überhaupt besteht -- würde sich als unbegründet erweisen (ebenso Piccard, a. a. 0.).

Allerdings versprechen wir- uns von der praktischen Auswirkung dieser Neuerung nicht so viel wie das Versicherungsgericht, schon deswegen nicht, weil unseres Erachtens das Misstrauen gegen dieses Gericht nicht so verbreitet ist, und andererseits, weil die Öffentlichkeit sich um diese Urteilsberatungen nicht sehr lebhaft interessiert. Ferner ist dem Argument, dass die öffentliche Urteilsberatung der Belehrung der Öffentlichkeit diene, nicht grosse Bedeutung beizumessen angesichts der Tatsache, dass die Urteile mit Motiven publiziert werden. Im weitern ist nicht zu vergessen, dass gerade die erwähnte Sonderstellung des Versicherungsgerichts es den Bichtern besonders schwer macht, ihre Auffassung in der Öffentlichkeit zu vertreten, zumal in reinen Ermessensfragen, die hier eine wesentlich grössere Eolle spielen als beim Bundesgericht. Man darf also die Vorteile dieses Systems nicht allzu hoch einschätzen. Ausserdem stehen ihnen die bereits erwähnten Nachteile gegenüber, von denen als wichtigste zu nennen sind die Tatsache, dass die Autorität des Urteils durch die öffentliche Beratung dann leidet, wenn das Urteil nur einen mühsam errungenen Kompromiss
darstellt, und die Gefahr einer Verzögerung in der Erledigung der Prozesse und der Vermehrung der Geschäftslast.

Für die Militärversicherungsangelegenheiten fällt dabei noch besonders ins Gewicht, dass die meisten Fälle wegen ihrer speziellen Artung sich für die Publizität der Beratungen überhaupt nicht eignen, und dass sie auch die damit verbundene Verzögerung nicht wohl ertragen würden, wie das Versicherungsgericht selbst ausführt. Für diesen Teil der Tätigkeit des Gerichts ·wäre es deshalb besser, auf die Öffentlichkeit der Urteilsberatung von vorneherein zu verzichten.

Es bleiben somit noch die Fälle aus dem Kranken- und Unfallversicherungsgesetz, die praktisch eine wesentlich geringere Eolle spielen (z. B. im Jahre 1985 11,5 % aller Fälle). Für diese allein das Prinzip der Öffentlichkeit der

126 Urteilsberatung einzuführen, scheint uns aber nicht zweckmässig zu sein.

Wohl hätte dieses einen Vorteil, der beim Versicherungsgericht von besonderer Bedeutung wäre. Diesem stehen aber auch spezifische Nachteile gegenüber, so z. B. der Umstand, dass das Gericht oft über Ermessensfragen zu erkennen hat, und die Tatsache, dass verhältnismässig viele Fälle sich für die Publizität nicht eignen. Überdies würde die Kegelung auf diese Weise kompliziert. Im ganzen scheinen uns die Nachteile doch zu überwiegen. Wir empfehlen Ihnen daher Ablehnung des zweiten Teils des Postulats.

III.

Hinsichtlich der gesetzgeberischen Fo r m genügt ein einfacher Bundesbeschluss, der nicht allgemein verbindlich ist und daher gemäss Art. 89 BV dem Eeferendum nicht untersteht (vgl. Art. 55, letzter Absatz, des BG über die Militärversicherung).

Indem wir Ihnen den beigeschlossenen Entwurf eines Bundesbeschlusses zur Annahme empfehlen, benützen wir die Gelegenheit, Sie, Herr Präsident, sehr geehrte Herren, aufs neue unserer vollkommenen Hochachtung zu versichern.

Bern, den 18. Februar 1938.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Baumann.

Der Bundeskanzler: 6. Bovet.

127

(Entwurf.)

Bundesbeschluss über

die Abänderung des Art. 28 des Bundesbeschlusses vom 28. März 1917 über die Organisation und das Verfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichts.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht, einer Botschaft des Bundesrates vom 18. Februar 1938, beschliesst :

Art. 1.

Art. 28, Abs. 3, des Bundesbeschlusses vom 28- März 1917 betreffend die Organisation und das Verfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichts wird aufgehoben.

Art. 2.

Dieser Beschluss tritt, als nicht allgemein verbindlicher Natur, sofort in Kraft.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Abänderung der Art. 28 und 40 des Bundesbeschlusses vom 28. März 1917 betreffend die Organisation und das Verfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichtes. (Vom 18. Februar 1938.)

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