zu 18.034 Zusatzbotschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (Ausgewogene Paar- und Familienbesteuerung) vom 14. August 2019

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Zusatzbotschaft unterbreiten wir Ihnen, in Ergänzung der Botschaft vom 21. März 20181 zur Änderung des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (Ausgewogene Paar- und Familienbesteuerung), aktualisierte und ergänzte Grundlagen zur Reform des Steuer- und Sozialversicherungsrechts.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

14. August 2019

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

1

BBl 2018 2133

2019-2247

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Übersicht Nach Aufhebung der Volksabstimmung zur Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» durch das Bundesgericht am 10. April 2019 beschloss der Bundesrat, dem Parlament eine Zusatzbotschaft zum Entwurf des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (ausgewogene Paar- und Familienbesteuerung) zu unterbreiten. Mit der Zusatzbotschaft werden vor allem neue Schätzungen zur Anzahl der von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare und aktualisierte Schätzungen zu den finanziellen Auswirkungen der Vorlage präsentiert. Zudem wird die Frage einer Benachteiligung von Eheleuten bei den Sozialversicherungen einer aktualisierten Gesamtbetrachtung unterzogen.

Ausgangslage Am 21. März 2018 verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung. Ziel ist es, eine im Einklang mit der Verfassung stehende Ehepaar- und Familienbesteuerung bei der direkten Bundessteuer zu verankern. Damit Ehepaare künftig nicht mehr stärker als unverheiratete Paare belastet werden, soll das Modell «Mehrfachtarif mit alternativer Steuerberechnung» eingeführt werden. Die verfassungswidrige Privilegierung von unverheirateten Paaren mit Kindern soll zudem aufgehoben werden. Neu soll für sämtliche unverheirateten Personen mit Kindern stets der Grundtarif zur Anwendung kommen.

Im Juni 2018 informierte der Bundesrat die Öffentlichkeit über eine neue, deutlich höhere Schätzung der Anzahl Zweiverdienerehepaare, die von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung bei der direkten Bundessteuer betroffen sind. Nach der Bekanntmachung der neuen Schätzung wurden beim Bundesgericht mehrere Beschwerden gegen die Abstimmung zur Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» eingereicht.

Am 10. April 2019 stellte das Bundesgericht eine Verletzung der Abstimmungsfreiheit fest und hob die Abstimmung vom 28. Februar 2016 auf. In der Folge hat der Bundesrat den Erwahrungsbeschluss über die Volksinitiative, der das Abstimmungsergebnis feststellte, am 21. Juni 2019 aufgehoben. Zudem beauftragte er das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD), in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) eine Zusatzbotschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (ausgewogene Paar- und Familienbesteuerung) vorzulegen, um dem Parlament
vor allem neue Schätzungen zur Anzahl der von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare und aktualisierte Schätzungen zu den finanziellen Auswirkungen der Vorlage zu präsentieren. Zudem wird das in der Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» festgehaltene Anliegen, Benachteiligungen von Eheleuten bei den Sozialversicherungen zu beseitigen, einer aktualisierten Gesamtbetrachtung unterzogen.

Inhalt der Zusatzbotschaft Die direkte Bundessteuer wird von den Kantonen veranlagt. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) erhebt bei den Kantonen Statistikdaten (Bundessteuer-

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statistik), denen sich punktuelle Informationen zu den persönlichen Verhältnissen und zur wirtschaftlichen Situation der steuerpflichtigen Person entnehmen lassen.

Die tatsächliche Zahl der von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare kann der Bundessteuerstatistik nicht entnommen werden. Deshalb kennt die ESTV die effektive Anzahl der betroffenen Ehepaare nicht; sie muss deren Anzahl schätzen.

Das EFD will die der ESTV zur Verfügung stehenden statistischen Grundlagen im Bereich der direkten Steuern mit verschiedenen Massnahmen verbessern. Damit sollen Qualität und Präzision von quantitativen Schätzungen für Steuerreformprojekte erhöht werden.

Die neue Schätzung der Anzahl der von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare wurde im Juni 2018 vorgenommen. Sie ergab, dass schätzungsweise 450 000 Zweiverdienerehepaare und 250 000 Rentnerehepaare betroffen sind. Es handelt sich dabei um eine grobe Schätzung, die mit Unsicherheiten verbunden ist.

Der Reformvorschlag des Bundesrates bewirkt geschätzte Mindereinnahmen von rund 1,5 Milliarden Franken. Davon entfallen 78,8 Prozent (rund 1,2 Mrd. Fr.) auf den Bund und 21,2 Prozent (rund 300 Mio. Fr.) auf die Kantone.

Bei den Sozialversicherungen sind Ehepaare zwar gegenüber gleich situierten Konkubinatspaaren durch die Plafonierung der AHV-Renten auf 150 Prozent der Maximalrente für Einzelpersonen in einer Hinsicht schlechter gestellt. Bei den übrigen Leistungen und bei den Beiträgen der AHV sind Ehepaare gegenüber Konkubinatspaaren jedoch besser gestellt, sodass sich in einer Gesamtbetrachtung ein ausgewogenes Bild mit leichten Vorteilen der verheirateten Personen ergibt. Aus Sicht des Bundesrates besteht deshalb bei den Sozialversicherungen diesbezüglich kein Handlungsbedarf.

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Zusatzbotschaft 1

Ausgangslage

1.1

Ziel und Inhalt der Botschaft zur «ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung»

Zunächst werden das Ziel und der Inhalt der Botschaft «ausgewogene Paar- und Familienbesteuerung» des Bundesrates kurz in Erinnerung gerufen. Das vollständige Reformvorhaben wird in jener Botschaft im Einzelnen erläutert.2 Bei der direkten Bundessteuer werden zahlreiche Zweiverdiener- und Rentnerehepaare mit mittleren und höheren Einkommen nach wie vor steuerlich schlechter gestellt als unverheiratete Paare in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Übersteigt diese Mehrbelastung zehn Prozent bei Ehepaaren ohne Kinder, so liegt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine verfassungswidrige Mehrbelastung vor.

Beim Belastungsvergleich zwischen Ehepaaren mit Kindern und Konkubinatspaaren mit Kindern sind die verfassungsrechtlichen Fragen hingegen nicht abschliessend geklärt.3 Die Benachteiligung ist einerseits auf das Zusammenrechnen der steuerbaren Einkommen bei Ehepaaren zurückzuführen. Dabei spielt die Einkommensaufteilung zwischen den Eheleuten eine bedeutende Rolle: Je gleichmässiger die Einkommensaufteilung ist, desto eher resultiert tendenziell eine steuerliche Benachteiligung eines verheirateten Paares gegenüber einem Konkubinatspaar in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Zudem variiert die steuerliche Ungleichbehandlung mit der Einkommenshöhe: Je höher das Einkommen des Paares ist, desto eher resultiert eine steuerliche Benachteiligung des verheirateten Paares. Bei sehr hohen Einkommen verschwindet die steuerliche Benachteiligung allerdings, da der Steuersatz auf 11,5 Prozent begrenzt ist.

2 3

BBl 2018 2133 BGE 110 Ia 7 Erw. 4. c und d: Das Bundesgericht hielt fest, dass eine Mehrbelastung eines Ehepaares gegenüber einem Konkubinatspaar von 10 % sich nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz verträgt und somit vor der Verfassung nicht standhält. In BGE 120 Ia 329 Erw. 6. relativierte das Bundesgericht seine Rechtsprechung in Bezug auf Ehepaare mit Kindern. Im Vordergrund stehe für den Gesetzgeber nicht der Vergleich zwischen Ehepaaren und Konkubinatspaaren mit Kindern, sondern der Vergleich zwischen Ehepaaren und Konkubinatspaaren ohne Kinder, da Konkubinatspaare ohne Kinder die viel grössere Zahl ausmachen würden als Konkubinatspaare mit Kindern. Für die Steuerbemessung beim verheirateten Paar mit Kindern sei zum Vergleich nicht in erster Linie auf die Steuerbelastung des unverheirateten Paares mit Kindern abzustellen, sondern auf die Steuerbelastung der anderen Gruppen von Steuerpflichtigen, besonders der Alleinstehenden und der Konkubinatspartnerinnen und -partner ohne Kinder. Wenn daher der Steuergesetzgeber die Mehrbelastung von Verheirateten, verglichen mit den relativ viel weniger zahlreichen Konkubinatspaaren mit Kindern, in Kauf nehme, sei dagegen unter dem Gesichtswinkel des Rechtsgleichheitsgebots nichts einzuwenden. Gemäss Bundesgericht ist daher auch eine relative Mehrbelastung in der Grössenordnung von mehr als 10 % eines Ehepaares mit Kindern im Vergleich zu einem Konkubinatspaar mit Kindern keine Verletzung des verfassungsmässigen Rechtsgleichheitsgebots.

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Andererseits erhalten bei der direkten Bundessteuer die verwitweten, gerichtlich oder tatsächlich getrenntlebenden, geschiedenen und ledigen steuerpflichtigen Personen, die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen im gleichen Haushalt zusammenleben und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten, die gleiche tarifliche Ermässigung wie Ehepaare mit Kindern (sog. Elterntarif nach Art. 36 Abs. 2bis BG vom 14. Dez. 19904 über die direkte Bundessteuer, DBG: Verheiratetentarif nach Art. 36 Abs. 2 DBG und Abzug pro Kind vom Steuerbetrag).5 Von dieser Sonderregelung profitieren nicht nur Alleinerziehende, sondern auch im Konkubinat lebende Personen mit Kindern, obwohl ihre Einkommen nicht wie bei einem Ehepaar addiert werden. Dies führt zu einer verfassungswidrigen Privilegierung von unverheirateten Paaren mit Kindern. Diese Regelung wird daher vom Bundesgericht als Verstoss gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gewertet.6 Am 28. Februar 2016 wurde die Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» trotz Ständemehr mit 50,8 Prozent der Stimmen knapp verworfen. Die Initiative forderte, dass die Ehe gegenüber anderen Lebensformen nicht benachteiligt wird, insbesondere nicht bei den Steuern und den Sozialversicherungen. Die Ehe sollte die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sein, und das Ehepaar sollte in steuerlicher Hinsicht eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden.

Auch nach Ablehnung der Volksinitiative sah sich der Bundesrat weiterhin in der Pflicht, eine verfassungskonforme Ehepaarbesteuerung bei der direkten Bundessteuer zu erwirken. Am 21. März 2018 verabschiedete er die Botschaft zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung. Mit der angestrebten Revision soll im DBG eine im Einklang mit der Bundesverfassung (BV)7 stehende Ehepaar- und Familienbesteuerung verankert werden, die sich möglichst neutral gegenüber den verschiedenen Partnerschafts- und Familienmodellen verhält und zu möglichst ausgewogenen Belastungsrelationen führt. Der Bundesrat ist nach wie vor der Ansicht, dass die Vorlage einen praktikablen Weg aufzeigt, die Aufhebung der verfassungswidrigen Mehrbelastung von Ehepaaren gezielt zu erwirken. Mit der Vorlage könnten zudem die steuerlichen Anliegen der Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die
Heiratsstrafe» erfüllt werden.

Damit Ehepaare künftig nicht mehr stärker als unverheiratete Paare belastet werden, soll das Modell «Mehrfachtarif mit alternativer Steuerberechnung» eingeführt werden. Bei diesem Modell berechnet die veranlagende Behörde in einem ersten Schritt die Steuerbelastung des Ehepaars im Rahmen der ordentlichen gemeinsamen Veranlagung, indem die Einkommen der Eheleute zusammengerechnet werden. In einem zweiten Schritt wird eine alternative Berechnung der Steuerbelastung vorgenommen, die sich an eine Besteuerung von Konkubinatspaaren (d. h. getrennte Besteuerung) anlehnt. Der tiefere der beiden Steuerbeträge wird dem Ehepaar in Rechnung gestellt.

4 5

6 7

SR 642.11 «Paare mit Kindern» bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Kinder im gleichen Haushalt mit der steuerpflichtigen Person zusammenleben und dass die steuerpflichtige Person deren Unterhalt zur Hauptsache bestreitet (vgl. Art. 36 Abs. 2bis DBG).

Vgl. dazu BGE 131 II 710 und 131 II 697 mit Hinweisen auf die Lehre.

SR 101

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Gleichzeitig soll die verfassungswidrige Privilegierung von unverheirateten Paaren mit Kindern aufgehoben werden. In der Vorlage ist deshalb vorgesehen, dass neu für sämtliche unverheirateten Personen mit Kindern stets der Grundtarif (Art. 36 Abs. 1 DBG) zur Anwendung kommt. Dies hat zur Folge, dass für unverheiratete Paare mit Kindern in Abhängigkeit des Einkommens die Steuerbelastung steigt. Für Alleinerziehende ist eine Kompensation in Form eines neuen Abzugs vorgesehen.

1.2

Entwicklungen seit Verabschiedung der Botschaft

1.2.1

Neue Schätzung vom Juni 2018

Am 15. Juni 2018 informierte der Bundesrat die Öffentlichkeit über eine neue Schätzung der Anzahl Zweiverdienerehepaare, die von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung bei der direkten Bundessteuer betroffen sind. Die Meldung erfolgte im Hinblick auf die anstehende parlamentarische Beratung der vom Bundesrat mit Botschaft vom 21. März 2018 vorgelegten Änderung des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (ausgewogene Paar- und Familienbesteuerung).

Die neuen Schätzungen ergaben, dass 450 000 Zweiverdienerehepaare anstelle der bisher angegebenen 80 000 von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen sind. Die deutlich höhere Zahl war zum einen auf eine Aktualisierung aufgrund neuerer statistischer Daten zurückzuführen. Zum anderen hatte die ESTV ihr Schätzmodell weiterentwickelt und die diesem zugrunde liegenden Annahmen teilweise angepasst.

Nach der Bekanntmachung der Schätzkorrektur wurden beim Bundesgericht neun Abstimmungsbeschwerden gegen die Volksabstimmung eingereicht.

1.2.2

Bundesgerichtsurteil vom 10. April 2019

Am 10. April 2019 hob das Bundesgericht die Volksabstimmung vom 28. Februar 2016 über die Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» auf.8 Das Bundesgericht hielt fest, dass die Bundesbehörden über den Zweck und die Tragweite einer Vorlage korrekt informieren müssen und für den Entscheid der Stimmberechtigten wichtige Elemente nicht unterdrücken dürfen. Das Transparenzgebot erfordere, dass erhebliche Unsicherheiten bei der Einschätzung von Ausgangssituationen offengelegt werden.

Gemäss Bundesgericht informierte der Bundesrat die Stimmberechtigten im vorliegenden Fall in folgender Hinsicht fehler- oder lückenhaft:

8

Die Verfahren 1C_315/2018, 1C_316/2018, 1C_329/2018, 1C_331/2018, 1C_335/2018, 1C_337/2018, 1C_339/2018 und 1C_347/2018 wurden vom Bundesgericht vereinigt und in einem deutsch verfassten Urteil entschieden (1C_315/2018 et al.). Das Verfahren 1C_338/2018 wurde mit einem französischsprachigen Urteil separat abgeschlossen.

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­

Die Zahl von 80 000 Zweiverdienerehepaaren, die von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen sind, sei falsch gewesen (E. 5.1; E. 3.1)9.

­

Der Bundesrat hätte gegenüber den Stimmberechtigten deutlich machen müssen, dass es sich bei den Angaben um Schätzungen handelt, die zudem auf unzuverlässigen Daten basieren. Weil er im Vorfeld der Abstimmung nicht auf diesen Umstand hingewiesen habe, könne die nachträgliche Änderung der Schätzmethode die mangelhafte Information nicht rechtfertigen (E. 5.2; E. 3.2).

­

Die Schätzung sei zudem nicht aktualisiert worden, sondern basierte auf veralteten Daten (E. 5.3; E. 3.3). Die Bundesbehörden hätten gewusst, dass die Zahl von 80 000 nicht mehr aktuell sei, und sie hätten die Stimmberechtigten über diesen Umstand nicht informiert.

Da die Angaben einen wesentlichen Teil der öffentlichen Diskussion im Vorfeld der Abstimmung betrafen, sei die Abstimmungsfreiheit nach Artikel 34 Absatz 2 BV als verletzt anzusehen (E. 5.4; E. 3.4).

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Abstimmung seien erfüllt. Angesichts des knappen Ergebnisses und der Bedeutung der Zahlenangabe für die Willensbildung sei ein Einfluss der Unregelmässigkeiten auf das Ergebnis möglich. Die Rechtssicherheit stehe einer Aufhebung nicht entgegen, da dieser im vorliegenden Fall gegenüber dem Interesse an einer auf vollständigen und exakten Informationen basierenden Willensbildung der Stimmbürgerschaft kein Vorrang zukomme (E. 6.3; E. 4.3).

Das Bundesgericht verlangt in seinem Urteil nicht ausdrücklich die Neuansetzung oder Wiederholung der Volksabstimmung, obschon die Beschwerdeführer dies in ihren Rechtsbegehren beantragten. Die Erwägungen weisen aber darauf hin, dass bei der Beurteilung der Voraussetzungen einer Kassation bedacht werden müsse, dass eine Wiederholung der Abstimmung nicht mehr unter den gleichen Bedingungen möglich sei (E. 6.1; E. 4.1). Das Bundesgericht macht mit Verweis auf Artikel 182 Absatz 2 BV jedoch deutlich, dass der Bundesrat für den Vollzug des Urteils zu sorgen habe und in diesem Zusammenhang den Erwahrungsbeschluss über das Ergebnis der Abstimmung über die Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» aufheben müsse (E. 6.2; E. 4.2).

1.3

Ziel der Zusatzbotschaft

Mit dieser Zusatzbotschaft werden dem Parlament die neuen Schätzungen zur Anzahl der von der verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare präsentiert. Zudem werden die Schätzungen zu den finanziellen Auswirkungen der Vorlage zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung aufgrund der vorhandenen neueren statistischen Daten aktualisiert. Diese Ausführungen ersetzen die entsprechenden Aussagen in der Botschaft zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung (na9

Die erste Angabe bezieht sich jeweils auf das Urteil BGer 1C_315/2018 et al., die zweite auf die Fundstelle im französischsprachigen Urteil BGer C_338/2018.

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mentlich die Ziff. 1.1.3.1, 3.1 und 3.3.1). Bezüglich anderer Aspekte, die in der Zusatzbotschaft nicht angesprochen werden, haben die Ausführungen in der Botschaft zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung weiterhin Gültigkeit.

Zudem wird das in der Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» festgehaltene Anliegen der Beseitigung der Benachteiligung der Ehe bei den Sozialversicherungen einer aktualisierten Gesamtbetrachtung unterzogen.

Dies erlaubt es dem Parlament, verschiedene Anliegen der Volksinitiative im Rahmen der Vorlage zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung inhaltlich zu behandeln und gegebenenfalls einen faktischen Gegenvorschlag zu erarbeiten.

Die Initianten haben nach Artikel 139 Absatz 5 i.V.m. Artikel 34 BV einen verfassungsmässig verbürgten Rechtsanspruch darauf, dass die Volksinitiative Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet wird. Eine Abstimmung über eine gültige Volksinitiative kann nur dann unterbleiben, wenn das Initiativkomitee diese nach Artikel 73 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 197610 über die politischen Rechte (BPR) mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder zurückzieht. Ein Rückzug ist nach Artikel 73 Absatz 2 BPR zulässig, bis der Bundesrat die Volksabstimmung festsetzt. Nach Ansicht des Bundesrates kann die Volksinitiative entsprechend vor der Festsetzung der Wiederholungsabstimmung zurückgezogen werden.

Im Falle eines Rückzugs durch das Initiativkomitee würde über die Volksinitiative nicht nochmals abgestimmt.

1.4

Weiteres Vorgehen nach der Kassation der Volksabstimmung durch den Bundesrat

1.4.1

Gesetzliche Vorgaben

Das BPR und das Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 200211 (ParlG) enthalten keine ausdrücklichen Bestimmungen, welche die Kassation einer Volkabstimmung regeln und deren konkrete Folgen festlegen.

Da die kassierte Volksabstimmung eine Volksinitiative zum Gegenstand hat, bilden die gesetzlichen Bestimmungen über deren Behandlung durch die Bundesbehörden den Referenzrahmen für das weitere Vorgehen. Das Verfahren für Volksinitiativen gibt von der Lancierung der Unterschriftensammlung bis zur Volksabstimmung durchgehend (Maximal-)Fristen vor (Art. 71 BPR, Art. 97, 100, 105, 106 ParlG, Art. 75a BPR). Der Prozess ist damit in zeitlicher Hinsicht formalisiert.12 Die gesetzlichen Behandlungsfristen für eine Volksinitiative sind Verwirkungsfristen (Art. 97 Abs. 3 und Art. 106 ParlG13). Und auch die Fristen für die Anordnung der Volksabstimmung beschränken den Handlungsspielraum des Bundesrates. Nach 10 11 12

13

SR 161.1 SR 171.10 Vgl. dazu die Botschaft des Bundesrates vom 28. Okt. 1998 zur Volksinitiative «für Beschleunigung der direkten Demokratie (Behandlungsfristen für Volksinitiativen in Form des ausgearbeiteten Entwurfs)» (BBl 1999 I 864, zur Genese der Behandlungsfristen: 869­871).

Siehe dazu BBl 1999 I 876 m.w.H.

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Auffassung des Bundesrates rechtfertigt es sich, die gesetzlichen Fristvorgaben analog für das Verfahren nach der Kassation einer Abstimmung über eine Volksinitiative anzuwenden. Das Bundesgericht geht für den Bereich des nachträglichen Rechtsschutzes, den es direkt aus Artikel 29 Absatz 1 i.V.m. Artikel 29a BV ableitet, im Übrigen ebenso davon aus, dass die gesetzlichen Verfahrensvorschriften und -fristen analog zur Anwendung kommen.14

1.4.2

Beschluss des Bundesrates zum weiteren Vorgehen

Am 21. Juni 2019 beschloss der Bundesrat, die Erwahrung des Ergebnisses der Volksabstimmung über die Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» per 21. Juni 2019 aufzuheben.15 Nach Ansicht des Bundesrates beginnt die Frist für die Anordnung der Volksabstimmung nach Artikel 75a Absätze 1 und 3bis BPR mit der Aufhebung des Erwahrungsbeschlusses zu laufen. In diesem Fall muss die Wiederholung der Abstimmung innerhalb der nächsten 16 Monate stattfinden, also spätestens am 27. September 2020. Der Bundesrat hat spätestens am 27. Mai 2020 die Volksabstimmung anzuordnen.

2

Datenlage und Schätzungen

2.1

Datenlage

Die direkte Bundessteuer wird von den Kantonen veranlagt. Die ESTV erhebt bei den Kantonen Statistikdaten (Bundessteuerstatistik), woraus sich punktuelle Informationen zu den persönlichen Verhältnissen und der wirtschaftlichen Situation der steuerpflichtigen Person entnehmen lassen. Diese Statistikdaten ­ die aufgrund der benötigten Qualität mit einer rund dreijährigen Verzögerung verfügbar sind (Veranlagungsstand in den Kantonen) ­ enthalten keine Angaben über die Einkommensaufteilung unter den Eheleuten und über die Inhaberin oder den Inhaber der elterlichen Sorge. Die tatsächliche Zahl der von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare kann also der Bundessteuerstatistik nicht entnommen werden.

Deshalb kennt die ESTV die effektive Anzahl der betroffenen Ehepaare nicht; sie muss deren Anzahl schätzen.

Ehepaare, bei denen das satzbestimmende vom steuerbaren Einkommen abweicht (aufgrund nur teilweiser Steuerpflicht, z. B. bei Liegenschaftsbesitz im Ausland), wurden für die Schätzung der Anzahl betroffener Ehepaare nicht berücksichtigt: Erstens sind in der Bundessteuerstatistik keine Angaben über das satzbestimmende Einkommen vorhanden, und dieses lässt sich mit den verfügbaren Daten nicht in allen Fällen bestimmen. Zweitens kommt den Sonderfällen anzahlmässig eine untergeordnete Bedeutung zu.

14 15

Vgl. dazu BGer 1C_315/2018 et al., E. 2.1; BGer 1C_338/2018, E. 1.1; zur Herleitung der Rechtsprechung siehe BGE 138 I 61 E. 4.2ff., insb. E. 4.6.).

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Aufgrund der grossen Datenmenge nimmt die ESTV für die quantitativen Schätzungen eine Aggregation der Daten vor. Dabei werden Beobachtungen, die bezüglich einiger Schlüsselvariablen dieselbe Merkmalsausprägung haben, zu einer Einheit zusammengefasst.

2.2

Schätzungen gemäss Botschaft zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung

Angesichts der unvollständigen Datenlage muss die ESTV für die Schätzung der Anzahl der von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffenen Ehepaare gewichtige Annahmen treffen, namentlich wie sich das Gesamteinkommen des Ehepaars auf die beiden Eheleute aufteilt und wer die elterliche Sorge innehat. Diese Annahmen beeinflussen das Ergebnis der Schätzung erheblich. Werden sie verändert, so kann dies zu Schätzungsunterschieden im sechsstelligen Bereich führen.

Sämtliche quantitativen Angaben beruhen somit auf Schätzungen, die mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sind.

Für die Schätzung der Anzahl betroffener Ehepaare hat die ESTV in der Botschaft vom 21. März 2018 zur ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung die gleichen Annahmen getroffen wie in der Botschaft vom 17. Mai 200616 zu den Sofortmassnahmen im Bereich der Ehepaarbesteuerung: ­

Einkommensaufteilung: Bei Zweiverdienerehepaaren und bei Rentnerehepaaren wird von einer Einkommensaufteilung von 70:30 ausgegangen. Das heisst, es wird die Annahme unterstellt, dass eine Person 70 % des Gesamteinkommens erzielt und die andere Person 30 %.17 Bei Einverdienerehepaaren wird von einer Einkommensaufteilung 100:0 ausgegangen. Als Einverdienerehepaare gelten Ehepaare, die keinen Zweiverdienerabzug geltend machen und keine Rente beziehen.

16 17 18

­

Person mit dem niedrigeren Einkommen ist Inhaber der elterlichen Sorge: Bei Ehepaaren mit Kindern wird für den Belastungsvergleich mit einem Konkubinatspaar mit Kindern der Elterntarif dem Elternteil mit dem niedrigeren Einkommen gewährt. Jeder Elternteil kann den halben Kinderabzug sowie den halben Versicherungs- und Sparzinsenabzug für das Kind geltend machen.

­

Verfassungswidrige Mehrbelastung: Beim Belastungsvergleich zwischen Ehepaaren und Konkubinatspaaren wird sowohl bei Paaren ohne Kinder wie auch bei Paaren mit Kindern davon ausgegangen, dass eine Mehrbelastung von 10 Prozent und mehr verfassungswidrig ist.18

BBl 2006 4471.

Diese pauschale Annahme basiert auf einer Analyse von Steuerdaten des Kantons Bern aus dem Jahr 2003.

Vgl. dazu die Rechtsprechung des Bundesgerichts in Ziff. 1.1.

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Im Hinblick auf die Botschaft 2018 hat die ESTV die bisher geschätzte Anzahl Zweiverdienerehepaare, die von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen sind, plausibilisiert. Dabei wurden die betroffenen Paare mit Kindern allerdings fälschlicherweise nicht berücksichtigt. Die so vorgenommene Plausibilisierung hat zu einem ähnlichen Resultat geführt, wie wenn die bisherige Schätzung der Anzahl Betroffener aktualisiert worden wäre. Deshalb wurde die bisherige Schätzung von 80 000 Betroffenen fortgeschrieben.

Die Anzahl Rentnerehepaare, die von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen sind, wurde auf 250 000 geschätzt.

Bei den finanziellen Auswirkungen der Vorlage schätzte die ESTV die Mindereinnahmen bei der direkten Bundessteuer auf 1,158 Milliarden Franken (Zahlengrundlage: Steuerstatistik 2013, Sollertrag der Steuerperiode 2016).

2.3

Schätzungen vom Juni 2018

2.3.1

Anzahl von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffener Ehepaare

Für die Schätzung der Anzahl betroffener Ehepaare hat die ESTV im Juni 2018 eine neue Schätzmethode verwendet. Dabei wurden zur Einkommensaufteilung auf die Eheleute die gleichen Annahmen getroffen. Für die Zuweisung des anwendbaren Tarifs und der kinderrelevanten Abzüge auf die Eltern wurde hingegen eine neue Annahme verwendet: Bei Ehepaaren mit Kindern wurde für den Belastungsvergleich mit einem Konkubinatspaar der Elterntarif dem Elternteil mit dem höheren Einkommen gewährt, wie es bei gemeinsamer elterlicher Sorge der Fall ist.19 Die Schätzung auf Basis der Bundessteuerstatistik 2013 ergab, dass rund 450 000 Zweiverdienerehepaare und rund 250 000 Rentnerehepaare von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen sind. Die Schätzung reagiert sehr stark auf die Annahme bei der Einkommensaufteilung. Zur Illustration: Würde bei Rentnerehepaaren anstelle einer Einkommensaufteilung zwischen den Eheleuten von 70:30 eine solche von 50:50 unterstellt, so würde sich die geschätzte Anzahl der verfassungswidrig benachteiligten Rentnerehepaare auf rund 300 000 erhöhen.

Im Weiteren geht aus den Schätzungen bezüglich der Belastungsrelation zwischen Ehepaaren und Konkubinatspaaren im geltenden Recht Folgendes hervor: ­

19

Rund 200 000 Einverdiener- und 125 000 Zweiverdienerehepaare kommen in den Genuss einer Minderbelastung von mehr als 10 Prozent gegenüber einem Konkubinatspaar in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen (Heiratsvorteil).

Zum Schätzverfahren vergleiche den Bericht der ESTV «Schätzungen zur Reform der Ehepaar- und Familienbesteuerung. Dokumentation zum statistischen Material und zur Schätzmethode» als Anhang zum Bericht des Gutachters «Externe Überprüfung der Schätzmethoden und des statistischen Materials der ESTV», abrufbar unter www.efd.admin.ch > Themen > Steuern, Reform der Ehe- und Familienbesteuerung > Medien 8.11.2018, Heiratsstrafe: Externer Gutachter empfiehlt breitere Datenbasis für die ESTV > Dokumente.

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­

Innerhalb der Bandbreite von ±10 Prozent bewegen sich rund 100 000 Einverdiener- und 240 000 Zweiverdienerehepaare. Darunter befinden sich auch rund 260 000 Ehepaare, die aufgrund ihres niedrigen steuerbaren Einkommens keine direkte Bundessteuer zahlen und in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen auch als Konkubinatspaar keine zahlen würden. Sie sind deshalb weder von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen noch geniessen sie einen Heiratsvorteil.

Zur Anzahl Konkubinatspaare, die gegenüber den Ehepaaren deutlich besser oder deutlich schlechter gestellt sind, können keine Aussagen gemacht werden, da die ESTV über keine entsprechenden statistischen Grundlagen verfügt. In der Bundessteuerstatistik können zwar Ehepaare identifiziert werden, bei den Unverheirateten kann jedoch nicht zwischen Konkubinatspaaren und anderen Lebensformen wie Wohngemeinschaften oder Alleinstehenden unterschieden werden.

Übersicht: Geschätzte Anzahl Ehepaare mit steuerlichem Nachteil bzw. Vorteil gegenüber Konkubinatspaaren (Schätzung vom Juni 2018 auf Basis der Bundessteuerstatistik 2013) Steuerlicher Nachteil

Einverdienerehepaare

Keine Steuerlast

Steuerlicher Vorteil

Total

> 10 %

10 %

0

10 %

> 10 %

300 000

0

0

90 000

10 000

200 000

0,0 %

0,0 %

30,0 %

3,3 %

66,7 %

25 000

172 000

41 000

124 000

Zweiverdienerehepaare

816 000

454 000 55,6 %

3,1 %

21,1 %

5,0 %

15,2 %

ohne Kinder

313 000

148 000

24 000

5 000

40 000

96 000

mit Kindern

503 000

306 000

1000

167 000

1000

28 000

Rentnerehepaare (mit und ohne Kinder)

400 000

250 000

20 000

38 000

34 000

58 000

62,5 %

5,0 %

9,5 %

8,5 %

14,5 %

1 516 000

704 000

45 000

300 000

85 000

382 000

46,4 %

3,0 %

19,8 %

5,6 %

25,2 %

Total

Bei den insgesamt 306 000 betroffenen Zweiverdienerehepaaren mit Kindern beeinflussen zwei Faktoren den Belastungsvergleich mit Konkubinatspaaren: ­

5798

Zum einen werden (wie bei allen Ehepaaren) die steuerbaren Einkommen addiert, was zu einer Verschärfung der Progression führt. Dieser Faktor allein führt zu 121 000 betroffenen Zweiverdienerehepaaren mit Kindern.

BBl 2019

­

2.3.2

Zum anderen erhalten Konkubinatspaare mit Kindern heute einen verfassungswidrigen Vorteil, da je nach Konstellation bei einer oder beiden Personen der Elterntarif angewendet wird, obwohl die Einkommen der beiden Personen nicht zusammengezählt werden. Durch diesen Konkubinatsvorteil sind geschätzte weitere 185 000 Zweiverdienerehepaare von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen.

Haushaltstypen mit einer verfassungswidrigen Mehrbelastung

Neben der Anzahl betroffener Ehepaare interessiert auch, welche Haushaltstypen mit welcher Einkommenshöhe und -aufteilung von einer verfassungswidrigen Mehrbelastung betroffen sind. Dies lässt sich am besten grafisch darstellen. Die folgenden zwei Grafiken zeigen die steuerliche Ungleichbehandlung eines Zweiverdienerehepaares ohne Kinder bzw. mit zwei Kindern gegenüber Konkubinatspaaren in jeweils derselben Situation in Abhängigkeit von der Höhe des Gesamteinkommens und dessen Aufteilung auf die beiden Personen.

5799

BBl 2019

Abbildungen: Steuerliche Mehr- oder Minderbelastung eines Zweiverdienerehepaars im Vergleich zu einem Konkubinatspaar in Abhängigkeit von der Höhe des Gesamteinkommens.

Dargestellt ist der Steuerbelastungsvergleich jeweils für Einkommensaufteilungen von 50/50 (gestrichelte Linie), 70/30 (durchgezogene Linie) und 90/10 (punkt-gestrichelte Linie). Obere Grafik: Zweiverdienerehepaare ohne Kinder. Untere Grafik: Zweiverdienerehepaare mit zwei Kindern. Zu beachten sind die unterschiedlichen Skalierungen der vertikalen Achsen. Steuertarife und Abzüge der direkten Bundessteuer im geltenden Recht.

Lesehilfe: Wenn bei einem Zweiverdienerehepaar ohne Kinder die beiden Eheleute im Verhältnis 70/30 zu einem Gesamteinkommen von 200 000 Franken beitragen, beträgt die steuerliche Mehrbelastung gegenüber einem Konkubinatspaar in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen rund 45 %.

Die Linien in den Abbildungen stellen die prozentuale Mehr- oder Minderbelastung eines Zweiverdienerehepaars gegenüber einem Konkubinatspaar in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen dar. Punkte oberhalb der Nulllinie stellen einen steuerlichen Nachteil, Punkte unterhalt der Nulllinie einen steuerlichen Vorteil von Ehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren dar.

Die Grafiken20 machen den Einfluss der zwei wesentlichen Bestimmungsfaktoren der steuerlichen Ungleichbehandlung von Zweiverdienerehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren ­ Höhe des Gesamteinkommens und dessen Aufteilung auf die beiden Personen ­ deutlich. Es ergeben sich namentlich folgende Erkenntnisse:

20

Für weitere grafische Darstellungen zu Steuerbelastungsvergleichen für Zweiverdienerehepaare ohne Kinder oder mit einem, zwei oder drei Kindern sei auf den Bericht der ESTV vom August 2019 «Benachteiligung oder Begünstigung von ZweiverdienerEhepaaren im Tarif der direkten Bundessteuer» verwiesen.

5800

BBl 2019

1.

Bei Zweiverdienerehepaaren ohne Kinder ist eine steuerliche Benachteiligung gegenüber Konkubinatspaaren in gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen umso wahrscheinlicher, je höher das Gesamteinkommen ist und je gleichmässiger sich dieses auf die beiden Personen aufteilt.21 Zweiverdienerehepaare mit hohen und gleichmässig auf die Eheleute aufgeteilten Gesamteinkommen sind tendenziell steuerlich benachteiligt, Zweiverdienerehepaare mit niedrigen und ungleichmässig aufgeteilten Gesamteinkommen sind tendenziell steuerlich bevorteilt.

2.

Für Zweiverdienerehepaare mit zwei Kindern gilt ebenfalls, dass eine steuerliche Benachteiligung in der Tendenz umso wahrscheinlicher ist, je höher das Gesamteinkommen ist. Der Einfluss der Aufteilung des Gesamteinkommens auf die steuerliche Ungleichbehandlung ist aufgrund der verfassungswidrigen Privilegierung von Konkubinatspaaren mit Kindern etwas komplexer als in der Betrachtung ohne Kinder. So ist die prozentuale steuerliche Benachteiligung von Zweiverdienerehepaaren bei einem Gesamteinkommen zwischen 100 000 und 120 000 Franken grösser, wenn die Einkommensaufteilung 70/30 beträgt, als wenn sie 50/50 beträgt.

2.4

Aktualisierte Schätzung der finanziellen Auswirkungen

Zur Schätzung der finanziellen Auswirkungen wird die Differenz gebildet zwischen der Summe der Steuerbelastungen aller Haushaltstypen im Reformszenario und der Summe der Steuerbelastungen aller Haushaltstypen im geltenden Recht. Diese Differenz wird ins Verhältnis zum gesamten Steuerertrag der natürlichen Personen gesetzt. Danach wird eine Hochrechnung (auf einen geschätzten zukünftigen Sollertrag) auf den Zeitpunkt des frühestmöglichen Inkrafttretens der Reform ­ neu per 1.

Januar 2021 ­ vorgenommen.

Auf Basis der Bundessteuerstatistik 2015 und hochgerechnet auf das Jahr 2021 bewirkt der Reformvorschlag des Bundesrates geschätzte Mindereinnahmen von rund 1,5 Milliarden Franken. Davon entfallen 78,8 Prozent (rund 1,2 Mrd. Fr.) auf den Bund und 21,2 Prozent (rund 300 Mio. Fr.) auf die Kantone. Es handelt sich um eine grobe Schätzung, die mit Unsicherheiten verbunden ist. Im Weiteren ist diese Schätzung statisch, d. h. Auswirkungen von Verhaltensanpassungen (z. B. beim Arbeitsangebot) werden nicht berücksichtigt.

Die konsequente Anwendung des Grundtarifs für alle Konkubinatspaare führt zu Mehreinnahmen, die aber nicht quantifiziert werden können, weil die Bundessteuerstatistik nicht zwischen Alleinerziehenden und im Konkubinat lebenden Personen mit Kindern unterscheiden kann.

Zur Bestimmung des Sozialabzugs für Alleinerziehende wurde die Annahme getroffen, dass sämtliche unverheirateten Steuerpflichtigen mit Kindern den Sozialabzug 21

Bei sehr hohen Einkommen verschwindet die steuerliche Ungleichbehandlung, weil der Steuersatz sowohl beim Ehepaar als auch beim Konkubinatspaar auf 11,5 % begrenzt ist.

5801

BBl 2019

erhalten. Weil der Sozialabzug für Alleinerziehende den im Konkubinat lebenden Steuerpflichtigen mit Kindern jedoch nicht gewährt wird, wird der Wechsel zum Grundtarif bei gleichzeitig eingeführtem Sozialabzug für Alleinerziehende in der Höhe von 11 500 Franken zu Mehreinnahmen führen. Diese lassen sich ebenfalls nicht quantifizieren.

Bei den Kantons- und Gemeindesteuern ändert sich durch die Vorlage nichts, weshalb sich ­ statisch betrachtet ­ auch keine finanziellen Auswirkungen ergeben.

2.5

Verteilungswirkungen

Mit der Vorlage werden im Wesentlichen drei Personengruppen mittels verschiedener Teilmassnahmen entlastet: (1) Die Steuerbelastung der Zweiverdienerehepaare, die bisher von der steuerlichen Benachteiligung betroffen sind, verringert sich durch die Einführung der alternativen Steuerberechnung (geschätztes Entlastungsvolumen 945 Mio.

Fr.; 63 % der Mindereinnahmen).

(2) Die alternative Steuerberechnung reduziert ausserdem die Steuerbelastung zahlreicher Rentnerehepaare (geschätztes Entlastungsvolumen 390 Mio. Fr.; 26 % der Mindereinnahmen).

(3) Die Einführung des Einverdienerabzugs von 8100 Franken und die Anhebung der Untergrenze des bestehenden Zweiverdienerabzugs auf die Höhe des Einverdienerabzugs von 8100 Franken entlasten alle Einverdienerehepaare und die Zweiverdienerehepaare mit geringem Zweitverdienst (geschätztes Entlastungsvolumen 165 Mio. Fr.; 11 % der Mindereinnahmen).

Aufgrund dieses Massnahmenbündels ergeben sich die folgenden geschätzten Verteilungswirkungen:

22

­

Die erwerbstätigen Verheirateten werden insgesamt um 1,11 Milliarden Franken entlastet.

­

Die Rentnerehepaare werden insgesamt um 390 Millionen Franken entlastet.

Diese Entlastung verteilt sich auf die Mehrzahl der Rentnerehepaare.

­

Die Mehr- oder Minderbelastungen bei Alleinerziehenden hängen von der Höhe des Einkommens und der Anzahl Kinder ab. Alleinerziehende mit zwei Kindern werden bei Nettoeinkommen von rund 80 000­105 000 entlastet und im Bereich zwischen rund 110 000 und 175 000 stärker belastet. Danach resultieren mit steigendem Einkommen abwechselnd Minder- und Mehrbelastungen.

­

Der Wechsel zum Grundtarif für alle nicht verheirateten Personen hat zur Folge, dass für Konkubinatspaare mit Kindern die Steuerbelastung abhängig vom Einkommen steigt, da diesen Personen der für Alleinerziehende konzipierte neue Sozialabzug nicht gewährt wird.22 Die Anzahl der von der steigenden Steuerbelastung betroffenen Konkubinatspaare mit Kindern kennt Vgl. dazu auch Ziff. 2.4.

5802

BBl 2019

die ESTV nicht, weil diese in der Bundessteuerstatistik nicht von Alleinerziehenden unterschieden werden können. Gemäss der Strukturerhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) lebten im Jahr 2017 in der Schweiz rund 97 000 Konkubinatspaare mit mindestens einem Kind unter 25 Jahren.23 Dies liefert einen groben Anhaltspunkt zur Anzahl Konkubinatspaare mit Kindern, die aufgrund des Wechsels zum Grundtarif potenziell von einer steigenden Steuerbelastung betroffen sein könnten.

Wird der zu erwartende Minderertrag aufgrund der Verteilung der steuerpflichtigen Personen nach Klassen des steuerbaren Einkommens analysiert, so ergibt sich, dass das Gros des Minderertrags (geschätzte 1,192 Mrd. Fr.) den Personen mit einem steuerbaren Einkommen zwischen 100 000 und 500 000 Franken zugutekommt. Es sind denn im Wesentlichen auch die Zweiverdienerehepaare in diesen Einkommensklassen, die heute gegenüber nicht verheirateten Paaren derselben Einkommensklasse eine starke steuerliche Benachteiligung zu verzeichnen haben. Mit geschätzten 165 Millionen Franken werden die Personen mit einem steuerbaren Einkommen zwischen 50 000 und 100 000 Franken entlastet. Zu dieser Einkommensklasse gehören viele Rentnerehepaare. In der folgenden Tabelle ist die Verteilung des Minderertrags und der Steuerpflichtigen nach Klassen des steuerbaren Einkommens dargestellt.

Verteilung des Minderertrags nach Einkommensklassen (Bundessteuerstatistik 2015) Steuerbares Einkommen

Minderertrag

Steuerpflichtige Personen

von

bis

in Mio. Fr.

in % des Minderertrags

in % des Ertrags pro Klasse

in absoluten Zahlen

in % der Gesamtzahl

0 50 000 100 000 200 000 500 000

49 900 99 900 199 900 499 900 und mehr

­5,3 ­164,5 ­592,9 ­599,5 ­100,0

0,4 11,3 40,5 41,0 6,8

­1,3 ­6,9 ­15,5 ­16,8 ­3,4

2 499 512 1 567 517 447 676 83 838 12 863

54,2 34,0 9,7 1,8 0,3

­1462,2

100,0

4 611 406

100,0

Total

2.6

Externes Gutachten zur Schätzmethode der ESTV

Im Sommer 2018 beauftragte das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) Professor Raphael Parchet von der Università della Svizzera italiana, die Schätzmethode und das der Schätzung vom Juni 2018 zugrunde liegende statistische Material der ESTV zu prüfen.

In seinem Gutachten, publiziert am 8. November 2018, gelangt Prof. Parchet zu der Erkenntnis, dass die Datenlage der ESTV nicht ausreicht, um die Anzahl betroffener 23

BFS, Strukturerhebung 2017, «Einfamilienhaushalte mit mindestens einem Kind unter 25 Jahren nach Sprachgebiet, 2017».

5803

BBl 2019

Ehepaare oder die finanziellen Auswirkungen des Reformvorschlags berechnen zu können. Sämtliche quantitativen Angaben sind Schätzungen, die mit Unsicherheit behaftet und deshalb mit Vorsicht zu interpretieren sind. Die ESTV muss für ihre Schätzungen verschiedene Annahmen treffen. Die Wahl dieser Annahmen beeinflusst das Ergebnis der Schätzungen erheblich. Aus Sicht des Gutachters verfügt die ESTV damit nicht über die nötigen Rahmenbedingungen, um ihren politischen Auftrag zu erfüllen. Den Empfehlungen des Gutachters zufolge sollte die ESTV alle für die Veranlagung der direkten Bundessteuer relevanten Elemente der Steuererklärung zur Verfügung haben, einschliesslich der Einkommen und Abzüge der einzelnen Steuerpflichtigen. Diese Daten sind bei den Veranlagungsbehörden der Kantone vorhanden, stehen aber der ESTV nur zu einem kleinen Teil zur Verfügung.

Der Gutachter bestätigt, dass die ESTV die von ihr gewählte Schätzmethode im Juni 2018 technisch korrekt angewendet hat. Der Gutachter war in der Lage, die Ergebnisse zu reproduzieren. Für die Methode empfiehlt der Gutachter: ­

Ehepaare, die keinen Zweiverdienerabzug geltend machen und keine Rente beziehen, nicht von vornherein von der Schätzung der Anzahl Betroffener auszunehmen;

­

als Referenzszenario statt der Annahme einer konstanten Einkommensaufteilung zwischen den Eheleuten von 70:30 eine Gewichtung aufgrund einer (nicht repräsentativen) Stichprobe des Kantons Zürich zu verwenden;

­

Einzeldaten statt aggregierte Daten zu verwenden.

Der externe Gutachter würde bei der Annahme hinsichtlich der Einkommensaufteilung zwischen den Eheleuten einen anderen Ansatz bevorzugen und eher auf einen (nicht repräsentativen) Datensatz aus dem Kanton Zürich abstellen. Dieser Ansatz würde, basierend auf der Bundessteuerstatistik 2015, zu einer tieferen Zahl (rund 600 000) betroffener Zweiverdiener- und Rentnerehepaare führen. Aufgrund der vorherrschenden Unsicherheiten verzichtete der Gutachter aber darauf, eine von der Schätzung der ESTV abweichende Zahl zu empfehlen.

Das EFD teilte den Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben beider Räte und einer Subkommission der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates am 7. November 2018 mit, dass es ­ entgegen den Überlegungen des Gutachters ­ auf eine Korrektur bei der Schätzung der Anzahl betroffener Zweiverdienerehepaare nach unten verzichtet. Es verzichtet ebenso auf eine Aktualisierung, die zu einer Korrektur nach oben führen würde, obwohl mittlerweile Daten für die Steuerperiode 2015 vorliegen. Eine neue Schätzung soll erst vorgenommen werden, wenn die ESTV über detaillierte statistische Informationen über die steuerpflichtigen Personen verfügt (vgl. Ziff. 3).

Auch bezüglich der finanziellen Auswirkungen des Reformvorschlags bevorzugt der Gutachter eine gestützt auf die (nicht repräsentative) Stichprobe aus dem Kanton Zürich vorzunehmende Schätzung. Aufgrund der vorherrschenden Unsicherheiten verzichtet er hier aber ebenfalls darauf, eine von der Schätzung der ESTV abweichende Zahl zu empfehlen. Die ESTV hält deshalb an ihrer Schätzmethode fest. Sie wird die Schätzung jedoch jährlich aktualisieren.

5804

BBl 2019

2.7

Überprüfung und Optimierung der Prozesse der ESTV

Zusätzlich zum externen Gutachten hat die ESTV ihre Prozesse überprüft und verschiedene Optimierungen eingeleitet. Als wichtigste Massnahme beschloss sie, dass künftig ausgewählte Schätzungen einer externen sachverständigenden Person zur Plausibilisierung unterbreitet werden.

Zudem wurden Verbesserungen des ESTV-internen Austausches über Schätzungen für Steuerreformprojekte und des internen Kontrollsystems in die Wege geleitet.

3

Massnahmen zur Verbesserung der Datenlage der ESTV

Das EFD will die der ESTV zur Verfügung stehenden statistischen Grundlagen im Bereich der direkten Steuern verbessern. Damit sollen Qualität und Präzision von quantitativen Schätzungen für Steuerreformprojekte erhöht werden. Diese Arbeiten erfolgen in enger Zusammenarbeit mit dem BFS.

4

Sozialversicherungsrechtlicher Aspekt der Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe»

4.1

Generelle Beurteilung

Bei den Sozialversicherungen hat der Zivilstand in verschiedenen Bereichen Auswirkungen. In der AHV/IV (1. Säule) sind Ehepaare wegen der Plafonierung der beiden Einzelrenten bei 150 Prozent der entsprechenden Maximalrente für eine Einzelperson in dieser Hinsicht schlechter gestellt als Konkubinatspaare, da diese von der Plafonierung nicht betroffen sind. Dieser Umstand darf aber nicht isoliert betrachtet werden, denn Verheiratete profitieren in drei Bereichen der Altersvorsorge stärker als Unverheiratete: So müssen verheiratete Nichterwerbstätige keine eigenen Beiträge bezahlen, wenn die Ehepartnerin oder der Ehepartner erwerbstätig ist und pro Jahr mindestens den doppelten Mindestbeitrag an die AHV entrichtet.

Auf der Leistungsseite bestehen mit den Witwen- und Witwerrenten sowie dem Verwitwetenzuschlag Privilegien, die ebenfalls nur Ehepaaren zustehen. Dasselbe gilt für Paare in eingetragener Partnerschaft. Werden diese Leistungen mitberücksichtigt, so ist festzustellen, dass Verheiratete in der AHV und in der IV insgesamt sogar besser gestellt sind als Unverheiratete. In der 1. Säule existiert somit insgesamt keine Benachteiligung für Ehepaare.

Auch in der beruflichen Vorsorge (2. Säule) sind Verheiratete und in eingetragenen Partnerschaften lebende Personen speziell geschützt und finanziell gegenüber Unverheirateten privilegiert. Zwar erbringt ein Teil der Vorsorgeeinrichtungen auf reglementarischer Basis auch Hinterlassenenleistungen für überlebende Konkubinatspartnerinnen und -partner. Diese Leistungen können an strengere Voraussetzungen gebunden sein als die Witwen- und Witwerrenten. Darüber hinaus werden 5805

BBl 2019

Hinterlassenenrenten für Witwen und Witwer beispielsweise auch durch die Unfallversicherung oder die Militärversicherung erbracht.

In seiner Botschaft vom 23. Oktober 2013 zur Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» hat der Bundesrat anhand dieser Mechanismen aufgezeigt, dass bei einer Gesamtbetrachtung des geltenden Rechts bei den Sozialversicherungen keine Benachteiligung der Ehepaare besteht.24 Diese Feststellung gilt weiterhin.

4.2

Aktualisierte Schätzung und Ausblick

Der Zivilstand «verheiratet» wirkt sich in der 1. Säule wegen der zuvor erläuterten Effekte sowohl zugunsten wie auch zuungunsten der betroffenen Rentnerinnen und Rentner aus. Die folgende Tabelle zeigt dies im Überblick (aktualisierte Zahlen für das Jahr 2018): Mio. Fr.

Wegfall von AHV-Beiträgen verheirateter Personen (Beitragsprivileg) Leistungen der AHV, wenn die Ehe durch Tod aufgelöst wird

200

Witwen- und Witwerrenten

1700

Verwitwetenzuschlag

1200

Effekte zugunsten Verheirateter

+3100

Leistungsbeschränkung der AHV bei verheirateten Personen (Rentenplafonierung)

­2700

Effekte zuungunsten Verheirateter

­2700

Gesamteffekt (zugunsten Verheirateter)

+400

Die Tabelle zeigt, dass sich 2018 auf der Basis dieser vier Komponenten in der AHV ein «Bonus» von 400 Millionen Franken zugunsten der Verheirateten errechnen lässt. In der Botschaft von 2013 zur Volksinitiative wurde gestützt auf Zahlen aus dem Jahr 2012 der Bonus auf 800 Millionen Franken geschätzt. Die Aktualisierung der finanziellen Auswirkungen erfolgte nicht aufgrund der statistischen Korrekturen, die im Nachgang zur Volksabstimmung über die Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» nötig wurden, sondern aufgrund der in der Zwischenzeit erfolgten demografischen Entwicklung: Einerseits gibt es eine steigende Anzahl von Ehepaaren im Ruhestand, wodurch sich die Einsparungen bei der AHV durch die Rentenplafonierung um rund 700 Millionen Franken erhöhen. Andererseits haben die Ausgaben für Witwen- und Witwerrenten um 300 Millionen Franken zugenommen, weshalb der Bonus 2018 in der Summe nur noch 400 Millionen Franken beträgt.

Diese Berechnung bildet lediglich Ehepaare ab, denn verglichen mit den Rentnerehepaaren machten Rentnerpaare in eingetragener Partnerschaft 2018 weniger als ein Promille des Rentenbestandes aus. Ihr Einfluss auf die Finanzen der AHV ist 24

BBl 2013 8513

5806

BBl 2019

daher vernachlässigbar, weshalb Paare in eingetragener Partnerschaft nicht in die Berechnung einbezogen wurden.

Für eine qualitative Abschätzung der künftigen Entwicklung muss in Betracht gezogen werden, dass die Faktoren, die den «Heiratsbonus» in der AHV auf der positiven wie auch auf der negativen Seite beeinflussen, von der demografischen Entwicklung abhängig sind: Nicht nur die Rentenplafonierung wird durch die steigende Anzahl von verheirateten Paaren im Ruhestand beeinflusst, auch die Witwen- und Witwerrenten sowie der Verwitwetenzuschlag verändern sich. Es kommt langfristig darauf an, wie sich das Zahlenverhältnis zwischen Ehepaaren und Verwitweten entwickeln wird. Die Anzahl von Ehepaaren mit einer Rentenplafonierung wird in den kommenden Jahren weiter steigen, aber im Lauf der Zeit wieder zurückgehen, wenn die Anzahl der Rentnerpaare infolge Verwitwung sinken wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass der «Heiratsbonus» in der AHV noch lange weiter bestehen bleibt, dürfte daher relativ gross sein.

4.3

Fazit

Bei den Sozialversicherungen sind Ehepaare zwar gegenüber gleich situierten Konkubinatspaaren durch die Plafonierung der Renten auf 150 Prozent der Maximalrente für Einzelpersonen in einer Hinsicht schlechter gestellt. Bei den übrigen Leistungen und den Beiträgen der AHV sind Ehepaare gegenüber Konkubinatspaaren jedoch besser gestellt, sodass sich in einer Gesamtbetrachtung ein ausgewogenes Bild mit leichten Vorteilen der verheirateten Personen ergibt. Es findet in diesem Bereich somit keine signifikante Übervorteilung statt, weder der Ehepaare noch der Konkubinatspaare. Auch in anderen Sozialversicherungen, beispielsweise im Bereich der 2. Säule, besteht tendenziell eher eine Privilegierung der Ehepaare. Aus Sicht des Bundesrates besteht deshalb bei den Sozialversicherungen diesbezüglich kein Handlungsbedarf.

5

Verbesserung der Datenqualität im zukünftigen Gesetzgebungsprozess

Quantitative Angaben und Informationen, insbesondere über die Ausgangslage und die Auswirkungen einer Vorlage (Kosten, Anzahl von Betroffenen etc.), sind im gesetzgeberischen Prozess zentral für die Meinungsbildung und Entscheidfindung der involvierten Organe (Bundesrat, Parlament, Volk) und der politischen Akteure (Kantone, Parteien, Verbände und Interessengruppen). Die mangelnde Vollständigkeit und Richtigkeit solcher Angaben sind in der jüngeren Vergangenheit mehrfach und nicht nur im Zusammenhang mit der Volksabstimmung über die Volksinitiative «Für Ehe und Familie ­ gegen die Heiratsstrafe» kritisiert worden.

Vor diesem Hintergrund prüfte eine vom Bundeskanzler im Jahr 2018 eingesetzte Arbeitsgruppe mit Vertretern der Bundeskanzlei (BK), des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) und des Bundesamtes für Justiz (BJ) Massnahmen, die eine gute Qualität quantitativer Angaben im 5807

BBl 2019

zukünftigen Gesetzgebungsprozess bis und mit Volksabstimmung über eine Vorlage sicherstellen sollen.

In der Folge beauftragte der Bundesrat am 21. Juni 2019 die BK, in Zusammenarbeit mit der EFV, dem BJ, dem BFS und dem SECO sowie in Absprache mit den Parlamentsdiensten die Darstellung der Datengrundlagen zu systematisieren und damit sicherzustellen, dass objektive und aktuelle Entscheidungsgrundlagen zuhanden des Bundesrates, des Parlaments und der Stimmberechtigten vorliegen. Über die dazu erforderlichen Massnahmen soll dem Bundesrat bis Ende Januar 2020 Bericht erstattet sowie bei Bedarf Antrag zum weiteren Vorgehen gestellt werden. Folgende Ansätze sind zu vertiefen: a)

systematische Identifikation der relevanten quantitativen Angaben des Gesetzgebungsprojekts ab Projektbeginn;

b)

standardisierte Offenlegung der verwendeten quantitativen Angaben, ihrer Quellen, der Schätzmethoden, der Grenzen der Aussagekraft, der sinnvollen Aktualisierungszeitpunkte über den ganzen Gesetzgebungsprozess hinweg;

c)

Festlegung des Vorgehens bei Änderung der Datenlage im Verlauf des Gesetzgebungsprojekts;

d)

Verankerung im bestehenden Gesetzgebungsprozess (Anpassungen im Gesetzgebungsleitfaden, im Botschaftsleitfaden, in Weisungen usw.).

Das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (und hier das SECO) wurde beauftragt abzuklären, wie die bei einer Regulierungsfolgenabschätzung (im Sinne der Beschlüsse des Bundesrates zum Geschäft «Umsetzung der Motionen 15.3400 Vogler und 15.3445 FDP-Liberale Fraktion betreffend die Regulierungsfolgenabschätzung») benutzten Daten und Modellannahmen in die systematisierte Darstellung der Datengrundlage integriert werden können.

5808