19.476 Parlamentarische Initiative Gewährleistung der Ergänzungsleistungen ehemaliger Verdingkinder und Administrativversorgter Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 29. Oktober 2019

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates unterbreitet Ihnen ihren Bericht über den Entwurf des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (Gewährleistung der Ergänzungsleistungen für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981). Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

29. Oktober 2019

Im Namen der Kommission Der Präsident: Joachim Eder

2019-3726

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Bericht 1

Ausgangslage und Entstehungsgeschichte dieses Entwurfs

Am 3. September 2019 beschloss die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-SR) einstimmig, die vorliegende Initiative auszuarbeiten. Diese soll sicherstellen, dass die Genugtuung für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 den Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) nicht beeinträchtigt. Zu diesem Zweck soll insbesondere der letzte Satzteil von Artikel 4 Absatz 6 Buchstabe c des Bundesgesetzes vom 30. September 20161 über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) gestrichen werden.

1.1

Das AFZFG und seine Entstehung

Die Entstehung des AFZFG steht in engem Zusammenhang mit der Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahme» (Wiedergutmachungsinitiative). Die im Dezember 2014 eingereichte Volksinitiative forderte die Schaffung eines mit 500 Millionen Franken dotierten Fonds für Wiedergutmachungszahlungen sowie eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981.

Im Januar 2015 entschied der Bundesrat, der Volksinitiative einen indirekten Gegenentwurf gegenüberzustellen. Im Dezember desselben Jahres unterbreitete er den eidgenössischen Räten seine Botschaft und den Entwurf (15.082).2 Mit dem neuen Gesetz sollten die Rahmenbedingungen geschaffen werden, um eine umfassende gesellschaftliche und individuelle Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zu ermöglichen.

Der Nationalrat stimmte als Erstrat den Vorschlägen des Bundesrates weitestgehend zu und nahm die Vorlage am 27. April 2016 mit 155 zu 25 Stimmen bei 2 Enthaltungen in der Gesamtabstimmung an.3 Der Ständerat folgte dem Nationalrat in allen Punkten und nahm die Vorlage am 15. September 2016 mit 36 zu 1 Stimme in der Gesamtabstimmung an.4 Das Gesetz trat am 1. April 2017 in Kraft und enthielt im Wesentlichen folgende Punkte: ­

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Das den Opfern zugefügte Leid und die damit verbundenen belastenden Auswirkungen auf ihr ganzes Leben werden anerkannt (Art. 3). Mit der Anerkennung des Unrechts und der Bitte um Entschuldigung für das den Opfern angetane Unrecht und Leid ist eine Rehabilitierung aller Opfer verbun-

SR 211.223.13 BBl 2016 101 (Botschaft) und BBl 2016 147 (Entwurf).

AB NR 26.4.16 und AB NR 27.4.16 AB SR 15.9.16

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den, so wie dies bereits bei den administrativ versorgten Personen gemacht wurde.5 ­

Als Zeichen der Wiedergutmachung und der Solidarität sind Leistungen im Umfang von 300 Millionen Franken vorgesehen. Die Beiträge betragen höchstens 25 000 Franken pro Opfer (Art. 7 Abs. 1). Diese Leistungen sind ein Zeichen der Anerkennung des Unrechts und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Für die Einreichung der Gesuche um Gewährung der Solidaritätsbeiträge gilt eine Frist von 12 Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes (Art. 5 Abs. 1).

­

Die Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden sorgen für die Aufbewahrung der Akten zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und den Fremdplatzierungen vor 1981 (Art. 10). Betroffene erhalten das Recht auf einen einfachen und kostenlosen Zugang zu den sie betreffenden Akten (Art. 11).

­

Die Kantone betreiben Anlaufstellen, die den Opfern und anderen Betroffenen Beratung, Betreuung und Hilfe bieten (Art. 14).

­

Der Bundesrat sorgt für die wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Die Erkenntnisse aus diesen Arbeiten wurden der Öffentlichkeit, etwa durch Medienproduktionen, Ausstellungen und Vorträgen, vermittelt (Art. 15).6

1.2

Solidaritätsbeiträge im Fokus der Politik

Nach Inkrafttreten des AFZFG erkundigte sich Nationalrat Roger Golay in der Fragestunde, ob die Opfer hinreichend über ihre Rechte und die Existenz der Solidaritätsbeiträge informiert wurden (18.5181). In seiner Antwort vom 12. März 2018 erklärte der Bundesrat, dass in insgesamt sechs Medienmitteilungen über das neue Gesetz informiert wurde. Überdies wurden zwei Pressekonferenzen durchgeführt und insgesamt über 45 000 Flyer verteilt. Schliesslich berichteten zahlreiche Medien in hunderten Presseartikeln, Radio- und Fernsehsendungen über die neuen Bestimmungen und die Solidaritätszahlungen.

5

6

Das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen (SR 211.223.12) ging auf eine parlamentarische Initiative von Ständerat Paul Rechsteiner zurück (11.431). Es sah die Anerkennung des Unrechts, die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse, die Aufbewahrung der Akten zur administrativen Versorgung sowie ein Akteneinsichtsrecht für Betroffene vor. Finanzielle Ansprüche wurden ausgeschlossen. Das Gesetz wurde mit Inkrafttreten des AFZFG aufgehoben (Art. 21 Abs. 1 AFZFG).

Siehe hierzu die Webseite der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) und insbesondere den Schlussbericht der Kommission vom 2. September 2019: www.uek-administrative-versorgungen.ch. Die UEK wurde mit dem Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen (siehe Fussnote 5) ins Leben gerufen.

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Nach Ablauf der Frist für die Einreichung von Gesuchen um Gewährung des Solidaritätsbeitrages am 31. März 2018 stellte Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer in der Fragestunde Fragen zur Anzahl eingegangener Gesuche und zur Höhe der bewilligten Beiträge (18.5308). Am 4. Juni 2018 bezifferte der Bundesrat die Zahl eingegangener Gesuche auf 9018. Personen, deren Gesuch gutgeheissen wurde, würden alle den maximalen Beitrag in der Höhe von 25 000 Franken erhalten. Prioritär behandelt würden die Gesuche von schwerkranken oder hochbetagten Personen. Grundsätzlich werde alles daran gesetzt, sämtliche Gesuche innerhalb der vorgegebenen Frist bis Ende März 2021 zu prüfen.7 In seiner Antwort auf die Frage von Nationalrat Beat Jans (18.5706) bestätigte der Bundesrat am 10. Dezember 2018 im Kern diese Aussagen und wies darauf hin, dass auch zu spät eingereichte Gesuche bearbeitet würden, sofern die Frist unverschuldeterweise verpasst wurde.

Eine von Nationalrat Beat Jans am 14. Dezember 2018 eingereichte und noch nicht im Rat behandelte Motion fordert eine Verlängerung der Frist für Gesuche um Gewährung von Solidaritätsbeiträgen bis zum 31. Dezember 2022 (18.4295). Der Bundesrat lehnt diesen Vorstoss ab, da er dem Ziel einer raschen Gesuchsbearbeitung zuwiderlaufen würde.8 Eine parlamentarische Initiative von Ständerat Raphaël Comte verlangt ebenfalls eine Verlängerung der Frist in Artikel 5 Absatz 1 AFZFG (19.471). Die Initiative wurde am 28. Oktober 2019 von der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-S) vorgeprüft. Die Kommission hat der Initiative Folge gegeben.

1.3

Die Solidaritätsbeiträge und die Ergänzungsleistungen

Neben der Frage, ob die Solidaritätsbeiträge alle Opfer erreichen, wurde auch die Koordination des AFZFG mit dem Bundesgesetz vom 6. Oktober 20069 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) thematisiert.

Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel bemerkte in ihrer Frage vom 12. März 2019, dass die Auszahlung des Solidaritätsbeitrages zur Kürzung der EL führen kann. Sie wollte vom Bundesrat wissen, wie viele Personen von einer Kürzung der Leistungen betroffen seien und welche Möglichkeiten bestünden, um diesen unerwünschten Effekt abzuwenden (19.5157). Am 18. März 2019 antwortete der Bundesrat, dass Solidaritätsbeiträge nicht zu einer Reduktion von Leistungen der Sozialhilfe und EL führen dürften. Dieser Grundsatz würde in Artikel 11 Absatz 1 Buchstaben b und c ELG jedoch eingeschränkt. Vermögenserträge auf dem Solidaritätsbeitrag würden in der EL-Berechnung als Einnahmen angerechnet. Ausserdem werde der Solidaritätsbeitrag als Teil des Vermögens berücksichtigt. Der Bundesrat unterstrich, dass die 7

8 9

Vgl. zum Zeitplan für die Bearbeitung der Gesuche die Interpellation von Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel vom 28. September 2017 (17.3811) und die Antwort des Bundesrates vom 22. November 2017.

Siehe auch die Frage von Nationalrätin Sandra Sollberger vom 13. März 2019 (19.5192) und die Antwort des Bundesrates vom 18. März 2019.

SR 831.30

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Nichtanrechnung des Solidaritätsbeitrages nur durch eine Gesetzesänderung zu erreichen sei. Die Anzahl der von einer Kürzung der EL betroffenen Personen kannte der Bundesrat nicht. Er wies jedoch darauf hin, dass das Bundesamt für Justiz (BJ) rund 20 Anfragen vonseiten der Opfer erhalten habe.

Ende August 2019 standen die Solidaritätsbeiträge abermals im Fokus der Öffentlichkeit. Die SRF-Sendung «Kassensturz» berichtete über ein Opfer, bei welchem die Leistungen gemäss ELG aufgrund der Anrechnung des Solidaritätsbeitrages an das Vermögen gekürzt wurden.10 Am 30. August 2019 beschloss die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) eine Motion, welche den Bundesrat auffordert, Massnahmen zu treffen, damit die Genugtuung für ehemalige Verdingkinder ohne Anrechnung an die EL unverzüglich ausbezahlt wird (19.3971). An ihrer Sitzung vom 3. September 2019 reichte auch die RK-S einstimmig eine gleichlautende Motion ein (19.3973).

Ebenfalls am 3. September 2019 nahm sich auch die SGK-SR der Frage an und beschloss einstimmig die vorliegende Initiative auszuarbeiten. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) unterstützte dieses Vorgehen am 17. Oktober 2019 ebenfalls einstimmig. Am 29. Oktober 2019 nahm die SGK-SR den Erlassentwurf einstimmig an und unterbreitete ihn mit dem vorliegenden Bericht dem Ständerat. Gleichzeitig stellte sie den Erlassentwurf und den Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme zu.11 In seiner Antwort zu einer Frage von Nationalrat Gerhard Pfister (19.5412) bekräftigte der Bundesrat am 16. September 2019, dass für eine Nichtanrechnung der Solidaritätsleistungen eine Gesetzesänderung notwendig sei. Weiter schrieb er: «Der Bundesrat erachtet eine Änderung, die Einkommenseinbussen aufgrund der Ausrichtung von Solidaritätsbeiträgen ausschliessen will, als gerechtfertigt. Sollte sich das Parlament für den Weg einer parlamentarischen Initiative entscheiden, wird der Bundesrat zu einer raschen Klärung beitragen.»

2

Verzicht auf das Vernehmlassungsverfahren

Gemäss Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 200512 (VlG) ist bei der Vorbereitung von Gesetzesvorlagen grundsätzlich ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen. Auf dieses kann jedoch verzichtet werden, wenn keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind, weil die Positionen der interessierten Kreise bekannt sind, insbesondere weil über den Gegenstand des Vorhabens bereits eine Vernehmlassung durchgeführt worden ist.13 10 11

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Kassensturz vom 27. August 2019: «Schlag ins Gesicht. Verdingkindern wird Rente gekürzt».

In der Herbstsession 2019 reichte Nationalrat Beat Jans eine parlamentarische Initiative mit dem Titel «Keine Kürzung der Ergänzungsleistungen von Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» ein (19.483). Die Kernforderung, den letzten Satzteil von Artikel 4 Absatz 6 Buchstabe c AFZFG zu streichen, deckt sich mit der vorliegenden Initiative.

SR 172.061 Art. 3a Abs. 1 Bst. b VlG

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Der Vorentwurf zum AFZFG war zwischen dem 24. Juni 2015 und dem 30. September 2015 in der Vernehmlassung.14 Insgesamt gingen fast 90 Stellungnahmen ein. Im Grundsatz waren die eingegangenen Stellungnahmen positiv bis sehr positiv.

Unbestritten blieb, dass den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 Unrecht angetan wurde und dass dadurch grosses Leid entstanden ist. Die überwiegende Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer wollten die Rehabilitierung und moralische Wiedergutmachung der Opfer mit finanziellen Leistungen verbinden. Vorbehalte zu den finanziellen Leistungen äusserten die SVP, die FDP, der Schweizerische Gewerbeverband, das Centre Patronal und der Kanton Appenzell Ausserrhoden.

Im Vorentwurf war der Grundsatz verankert, wonach die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrages nicht dazu führen darf, dass diese Leistung aufgrund von steuer-, schuldbetreibungs- und sozialhilferechtlichen Normen wieder geschmälert werden kann (Art. 4 Abs. 5 VE-AFZFG). Diese Bestimmung wurde in der Vernehmlassung von verschiedenen Seiten explizit begrüsst (Kantone AR, BL, FR, SG sowie SP, Grüne). Die Frage, ob Solidaritätsbeiträge bei der Ermittlung von Leistungen gemäss ELG angerechnet werden sollten, war indes nicht Gegenstand des Vorentwurfs und wurde auch im erläuternden Bericht nicht thematisiert. Einzelne Vernehmlassungsteilnehmer wiesen aber auf diesen Punkt hin. Die Kantone GE, SG, VD, das Komitee der Wiedergutmachungsinitiative, der Verein RAVIA zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten 1942 ­ 1981, der Schweizerische Städteverband und der Verein netzwerk-verdingt empfahlen, Solidaritätsbeiträge weder als Einnahme noch als Vermögen bei der EL zu berücksichtigen.

Der Entwurf, welchen der Bundesrat dem Parlament vorlegte, berücksichtigte diese Anliegen nur in Bezug auf die Einnahmen, nicht jedoch in Bezug auf das Vermögen und die Vermögenserträge. Die entsprechende Bestimmung in Artikel 4 Absatz 6 Buchstaben b und c AFZFG wurde weder in den Kommissionen noch in den Räten diskutiert und unverändert angenommen (vgl. Ziff. 3).

Keine der für den Solidaritätsbeitrag geltenden Privilegierungen steuer-, betreibungs-, sozialhilfe- und sozialversicherungsrechtlicher Natur wurde seit der Inkraftsetzung des AFZFG jemals ernsthaft bestritten. Dem BJ sind bislang keine Reaktionen
von Seiten üblicher Vernehmlassungsteilnehmer bekannt, die zum Ziel gehabt hätten, den symbolischen Wert des Solidaritätsbeitrages für die Opfer in irgendeiner Weise schmälern zu wollen, wie dies in Bezug auf die Ergänzungsleistungen nun tatsächlich der Fall sein kann. Es scheint wenig wahrscheinlich, dass sich im Rahmen einer allfälligen erneuten Vernehmlassung noch Teilnehmer mit neuen Erkenntnissen oder neuen Argumenten melden würden. Beim vorliegenden Revisionsbegehren geht es zudem um eine Gesetzesänderung mit sehr geringfügigen finanziellen Auswirkungen für Bund und Kantone (vgl. Ziff. 5.1). Vor diesem Hintergrund erscheint der Verzicht auf ein Vernehmlassungsverfahren zulässig.

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Die Vernehmlassungsergebnisse können online abgerufen werden: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2015 > EJPD.

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3

Grundzüge der Vorlage

Das AFZFG sieht vor, dass Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von maximal 25 000 Franken erhalten. Ein Teil dieser Personen ist zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf Leistungen der öffentlichen Hand angewiesen.

Zwar soll der Solidaritätsbeitrag nicht zu einer Reduktion von Leistungen gemäss ELG führen, nach dem Wortlaut von Artikel 4 Absatz 6 Buchstabe c AFZFG bleibt Artikel 11 Absatz 1 Buchstaben b und c ELG aber vorbehalten. Dies bedeutet, dass Vermögenserträge auf dem Solidaritätsbeitrag in der EL-Berechnung als Einnahmen angerechnet werden. Ausserdem wird der Solidaritätsbeitrag selbst in der EL-Berechnung als Teil des Vermögens berücksichtigt. Bei der EL-Berechnung wird auf dem Vermögen ein Freibetrag gewährt. Dieser liegt gegenwärtig bei 37 500 Franken für Alleinstehende und 60 000 Franken für Ehepaare.15 Vermögenswerte unter diesen Vermögensfreibeträgen bleiben bei der EL unberücksichtigt. Vermögen über dieser Schwelle wird zum Teil (in der Regel zu 1/10, höchstens zu 1/5 pro Jahr) als Einnahme angerechnet. Bei Personen, deren Vermögenswerte aufgrund des Solidaritätsbeitrages die Vermögensfreibeträge überschreiten, kann der höhere Vermögensverzehr zu einer Reduktion der EL führen.

Dass der Solidaritätsbeitrag zu einer Reduktion oder, in seltenen Fällen, zu einem Verlust des Anspruchs auf Leistungen gemäss ELG führen kann, empfindet die SGK-SR als stossend. Solidaritätsbeiträge sind ein Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Dass der Bund Beträge an die Opfer ausbezahlt und zugleich einen Teil der Leistungen mittels Reduktion der EL faktisch wieder zurückfordert, höhlt die Geste der Anerkennung in den Augen der Kommission in inakzeptabler Weise aus.

Solidaritätsbeiträge sollen deshalb in keinem Fall zu einer Reduktion von Leistungen gemäss ELG führen. Der in Artikel 4 Absatz 6 Buchstabe c AFZFG festgelegte Vorbehalt soll gestrichen werden. So würden Solidaritätsbeiträge nicht mehr als Vermögen oder Vermögenserträge im Sinne von Artikel 11 Absatz 1 Buchstaben b und c ELG gewertet werden. Für die betroffenen Personen heisst das, dass die Berücksichtigung des Solidaritätsbeitrags bei der Berechnung der EL annulliert wird und dass diese neue Berechnungsmethode
zur Anwendung kommt, wenn sie für die Betroffenen günstiger ausfällt. Die EL-Kürzungen, die in der Vergangenheit aufgrund der Anrechnung des Solidaritätsbeitrages erfolgt sind, werden aufgehoben und ein Betrag im Umfang der Kürzungen den Betroffenen zurückerstattet. In den wenigen Fällen, in denen die Anrechnung des Solidaritätsbeitrags zum Verlust des ELAnspruchs geführt hat, können die Betroffenen wieder einen Anspruch auf EL erwerben; der Anspruch kann ab Auszahlung der Solidaritätsleistung geltend gemacht werden, vorausgesetzt die übrigen Anspruchsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt.

15

Mit der am 22. März 2019 vom Parlament beschlossenen Revision des ELG (16.065) werden die Freibeträge auf 30 000 Franken für Alleinstehende und 50 000 Franken für Ehepaare angepasst.

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Wenn die Vorlage angenommen wird, würde das BJ in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Personen, die einen Solidaritätsbeitrag erhalten haben, schriftlich über die Änderung des Gesetztes informieren. So könnten sich jene Personen, die eine Kürzung oder gar die Streichung der EL hinnehmen mussten, für die Rückerstattung des Betrages an die kantonale EL-Stelle wenden. Das Schreiben würde die Gesetzesänderung erläutern und die Personen informieren, wie sie vorgehen müssten, damit der Betrag rückerstattet wird. Ausserdem wären die Kontaktangaben der kantonalen EL-Stellen aufgeführt.

Bei der Nichtberücksichtigung des Vermögens im Zusammenhang mit dem Solidaritätsbeitrag zugunsten von Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 handelt es sich um eine Spezialregelung, welche kein Präjudiz für andere Fälle von Genugtuungsleistungen darstellt.

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Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Art. 4 Abs. 6 Bst. c Die geltende Bestimmung legt den Grundsatz fest, dass der Solidaritätsbeitrag nicht zu einer Reduktion von Leistungen der Sozialhilfe und von Leistungen gemäss ELG führt, macht jedoch für die Berücksichtigung des Vermögens bei der Berechnung der Ergänzungsleitungen einen Vorbehalt. Nach den geltenden Bestimmungen von Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe b und c ELG wird zur Berechnung der Ergänzungsleistungen bei Altersrentnerinnen und Altersrentner ein Zehntel des Reinvermögens als Einnahmen angerechnet, soweit es den Freibetrag von 37 500 Franken für alleinstehende, respektive 60 000 Franken für Ehepaare übersteigt. Diese Beträge werden mit der Reform des ELG auf 30 000 Franken (Alleinstehende) und 50 000 Franken (Ehepaare) gesenkt. Daneben werden Einkünfte aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen ebenfalls als Einnahmen angerechnet. Die derzeitige Regelung gilt ebenso für Genugtuungsleistungen, weshalb auch Solidaritätsbeiträge nach Artikel 4 Absatz 1 AFZFG als Vermögen berücksichtigt werden. Dieser Vorbehalt soll ersatzlos gestrichen werden. Mit der ersatzlosen Aufhebung des letzten Satzteils von Artikel 4 Absatz 6 Buchstabe c AFZFG, sollen Solidaritätsbeiträge nach AFZFG künftig, aber auch rückwirkend (vgl. unten, Art. 21a), bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen nicht mehr berücksichtigt werden. Die Nichtberücksichtigung der Solidaritätsbeiträge gilt auch für die Eintrittsschwelle für die Ergänzungsleistungen, die mit der Änderung des ELG vom 22. März 2019 (EL-Reform) eingeführt werden soll.

Art. 21a Die Nichtberücksichtigung der Solidaritätsbeiträge bei der EL-Berechnung soll während der ganzen Anwendungsdauer des AFZFG gelten. Da das AFZFG bereits per 1. April 2017 in Kraft getreten ist, muss der Änderung daher Rückwirkung zukommen.

Derzeit ist es nicht möglich, unter den Bezügerinnen und Bezügern des Solidaritätsbeitrags jene Personen zu ermitteln, die EL beziehen, da die EL-Stellen keine Daten 8088

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über die Zusammensetzung und die genaue Herkunft der Vermögenswerte erheben.

Daher können EL-Stellen Versicherungsfälle, bei denen eine Kürzung oder ein Verlust des EL-Anspruchs erfolgt ist, nicht herausfiltern. Dem BJ wiederum sind die Bezügerinnen und Bezüger eines Solidaritätsbeitrags bekannt, aber das Bundesamt ist nicht in der Lage, unter diesen Personen EL-Bezügerinnen und -Bezüger zu ermitteln. Aufgrund fehlender Daten zur AHV-Nummer kann die Ermittlung der EL-Bezügerinnen und Bezüger nicht automatisch über einen Datentransfer erfolgen.

Aus diesem Grund ist vorgesehen, dass sich die betroffenen Personen selber bei der zuständigen EL-Stelle melden müssen. Das BJ wird in Zusammenarbeit mit dem BSV einen Informationsbrief an die Personen versenden, die einen Solidaritätsbeitrag erhalten haben. Dieser Brief wird alle wesentlichen Informationen zur Gesetzesänderung enthalten und erläutern, wie die betroffene Person vorgehen muss, damit der Betrag rückerstattet wird. Ausserdem werden die Kontaktangaben der kantonalen EL-Stellen aufgelistet sein.

Der Antrag auf Nichtberücksichtigung des Solidaritätsbeitrages bei der EL-Berechnung ist an keine besondere Form gebunden. Dies kann in einfacher Weise, zum Beispiel mittels eines Telefonanrufes, geschehen.

Sofern die Änderung von Artikel 4 Absatz 6 Buchstabe c AFZFG einen höheren Betrag der jährlichen Ergänzungsleistungen zur Folge hat, wird die Verfügung über die Leistungsfestsetzung auf Antrag durch die EL-Stelle in Wiedererwägung gezogen. Besteht aufgrund dieser Neuberechnung ein Anspruch auf Nachzahlung von Ergänzungsleistungen, unterliegt dieser nicht der Verwirkung nach Artikel 24 des Bundesgesetztes vom 6. Oktober 200016 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf die EL

Die Anzahl der EL-Bezügerinnen und Bezüger, die durch den Solidaritätsbeitrag eine Reduktion der Ergänzungsleistungen erlitten haben, muss geschätzt werden.

Das BJ verfügt nicht über die Angaben, ob eine gesuchstellende Person EL-Bezügerin ist, da die Vermögensverhältnisse für die Ausrichtung des Solidaritätsbeitrages unerheblich sind. Im EL-Register sind ebenfalls keine Angaben über die Personen vorhanden, die einen Solidaritätsbeitrag erhalten haben. Für die vorliegende Schätzung mussten Annahmen über den Bezug der Ergänzungsleistungen und die Vermögenssituation getroffen werden. Insgesamt sind rund 9 000 Gesuche um Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags eingegangen. Seit 2018 wurden an 8 300 Personen (Stand Oktober 2019) Solidaritätsbeiträge ausbezahlt, rund 600 Gesuche sind noch hängig.

Rund zwei Drittel der Personen, die einen Solidariätsbeitrag erhalten haben, sind im Rentenalter. In Anwendung der EL-Quote zur AHV von 13,8 Prozent ergibt dies auf der Basis von 6000 Personen, die einen Solidariätsbeitrag beantragt haben und die im Rentenalter sind rund 828 potenzielle EL-Bezügerinnen und Bezüger, die von der Änderung betroffen sein könnten.

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SR 830.1

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Bei diesen Betroffenen wird davon ausgegangen, dass ein Teil über keine anderen Vermögenswerte verfügt und somit nicht von einer möglichen Reduktion der Ergänzungsleistungen betroffen ist. Denn nur bei Vorhandensein anderer Vermögenswerte ist von einer Reduktion der Ergänzungsleistungen auszugehen, da der Solidaritätsbeitrag von 25 000 Franken unter dem anwendbaren Vermögensfreibetrag liegt (vgl. Ziff. 4). Es ist davon auszugehen, dass ab 2018, dem Jahr, in dem erstmals Solidaritätsbeiträge ausgerichtet wurden, Nachzahlungen von insgesamt rund 0,6 Millionen Franken vorgenommen werden müssen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die effektive Nachzahlungsumme unter dieser Schätzung liegt. Dies hängt jedoch von der effektiven Vermögensituation der Personen ab.

5.2

Auswirkungen auf den Bund und auf die Kantone

Diese Vorlage hat nur bezüglich der Ergänzungsleistungen Auswirkungen auf den Bund und die Kantone. Gemäss den Schätzungen (vgl. Ziff. 5.1) müsste ab 2018 ein Betrag von insgesamt rund 0,6 Millionen Franken rückerstattet werden, was für den Bund rund 0,2 Millionen Franken und für die Kantone rund 0,4 Millionen Franken ausmacht.

5.3

Andere Auswirkungen

Diese Vorlage hat keine anderen finanziellen oder wirtschaftlichen Auswirkungen.

6

Rechtliche Grundlagen

6.1

Verfassungsmässigkeit

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erfolgten in der Regel in Anwendung von kantonalem Fürsorgerecht oder von bundesrechtlichen Bestimmungen im Bereich des Kindesschutz- oder Vormundschaftsrechts. Das zu revidierende AFZFG steht somit in engem Zusammenhang mit dem Zivilrecht. Die Gesetzgebung auf diesem Gebiet ist Sache des Bundes (Art. 122 Abs. 1 der Bundesverfassung17 (BV)). Die Vorlage stützt sich des Weiteren auf Artikel 112a BV, der dem Bund die Befugnis zur Gesetzgebung für die Ergänzungsleistungen erteilt.

6.2

Erlassform

Die Vorlage ist rechtsetzender Natur. Nach Artikel 164 Absatz 1 BV sind alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen.

17

SR 101

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6.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage sieht eine Erhöhung der Subventionsausgaben für den Bund vor, die unter dem Schwellenwert (20 Millionen Franken für einmalige resp. 2 Millionen Franken für wiederkehrende neue Subventionsausgaben) für die Anwendung der Ausgabenbremse liegt (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV).

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