Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit vom 1. Mai 2019

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 informieren wir Sie über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

1. Mai 2019

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Beurteilung der Bedrohungslage 1

Ausgangslage

Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 20151 (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland. Die Beurteilung der Bedrohung ist auch Teil der Lageanalyse im Bericht des Bundesrates vom 24. August 20162 über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 2016). Da die sicherheitspolitischen Berichte die Grundlage der Schweizer Sicherheitspolitik bilden, gilt es im Folgenden hauptsächlich, die wichtigsten Aussagen des SIPOL B 2016 zu überprüfen, zu bestätigen oder allenfalls anzupassen.

Für eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive sei auf den jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz» verwiesen. Die Prüfung der Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, bleibt Aufgabe der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz.

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Übersicht

In den gut zwei Jahren, die seit der Publikation des SIPOL B 2016 vergangen sind, haben sich die Bedrohungen für die Schweiz im Wesentlichen nicht geändert. Sie haben aber teilweise stark an Kontur gewonnen und treten schärfer ins Bewusstsein.

Im sicherheitspolitischen Brennpunkt stehen nach wie vor die erhöhte Terrorbedrohung durch dschihadistische Akteure, namentlich den «Islamischen Staat», der intensive und aggressive Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel ­ einschliesslich Cybermitteln ­ durch mehrere Staaten sowie wachsende regionale Spannungen mit globalen Konsequenzen. Generell erlebt die Machtpolitik derzeit eine Renaissance, was die Lösungsfindung in multilateralen Institutionen erschwert.

Was die sicherheitspolitisch bedeutsamen Vorgänge im Ausland angeht, setzen sich die grundlegenden Trends (vgl. Kap. 4) zwar fort. Der Trend hin zu einer multipolaren Weltordnung ist aber mit vielen Fragen behaftet. Die relative Machtverschiebung vom Westen insbesondere in den Osten geht einher mit wachsenden Spannungen insbesondere zwischen den USA, Europa, Russland und China. Sie erfolgt gleichzeitig mit der anhaltenden Zunahme sicherheitspolitisch relevanter nichtstaatlicher Akteure. Das sicherheitspolitische Umfeld ist des Weiteren geprägt durch eine Vielzahl regionaler und subregionaler Konflikte, die die internationale Zusammenarbeit ­ die durchaus weiter existiert ­ erschweren. Militärische Drohgebärden 1 2

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zwischen den Konfliktparteien, gezielte Beeinflussungsoperationen und die Schwächung bestehender länderübergreifender sicherheitspolitischer Institutionen wie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa oder der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) verstärken die Probleme. Die Macht und das Gewaltmonopol auch grosser Staaten werden zudem durch nichtstaatliche Akteure herausgefordert.

Das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz ist zwar immer noch relativ stabil.

«Relativ» ist indessen immer stärker zu betonen. Auch in Europa sind die wachsenden Spannungen zwischen westlichen Staaten und Russland und die zunehmenden Interessengegensätze innerhalb der westlichen Sicherheitsgemeinschaft spürbar.

Nicht nur mit dem geplanten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) und dem Amtsantritt von US-Präsident Trump hat die euroatlantische Sicherheitspolitik in der jüngeren Vergangenheit markantere nationale Züge bekommen. Solche Fixpunkte der bisherigen sicherheitspolitischen Orientierung verlieren an Gewicht und vermitteln weniger Gewissheit ­ auch für die Schweiz.

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Die Bedrohungen im Einzelnen

3.1

Terrorismus

Die Terrorbedrohung in der Schweiz ist seit November 2015 erhöht. Sie wird auch heute noch hauptsächlich durch dschihadistische Akteure geprägt, allen voran durch Anhängerinnen und Anhänger des «Islamischen Staats». Das Kalifat des «Islamischen Staats» ist zwar militärisch zerschlagen, im Verborgenen agierende Netzwerke und Zellen des «Islamischen Staats» und seiner Unterstützer und Sympathisanten prägen aber nach wie vor die Terrorbedrohungslage in Europa. Seine antiwestliche und antidemokratische, dschihadistische Ideologie bleibt populär.

Die Schweiz gehört zur westlichen, von Dschihadisten als islamfeindlich eingestuften Welt und ist damit aus deren Sicht ein legitimes Ziel von Terroranschlägen.

Anschläge auf weiche Ziele mit geringem logistischem Aufwand, ausgeführt von Einzeltäterinnen und Einzeltätern oder Kleingruppen, sind im Bereich Terrorismus derzeit die wahrscheinlichste Bedrohung für die Schweiz. Komplexere Anschläge mit Sprengstoff, Drohnen, einfachen Chemikalien wie toxischen Gasen oder anderen giftigen Substanzen erfordern relativ wenig Aufwand und Ressourcen. Dschihadistische Milizen in Syrien und im Irak haben sowohl Drohnen als auch chemische Stoffe eingesetzt; beide Mittel werden in der Propaganda oft empfohlen. Anschläge mithilfe von chemischen oder biologischen Mitteln bleiben ein realistisches Szenario; weniger wahrscheinlich sind Anschläge mit radioaktivem Material.

Europaweit ist der Umgang mit aus der Haft entlassenen Dschihadisten oder im Gefängnis radikalisierten Personen eine neue Herausforderung. In einzelnen Fällen ist auch in der Schweiz mit Rückkehrenden aus dem Dschihad zu rechnen, unter anderen mit Dschihadrückkehrenden, die derzeit in Syrien oder im Irak festsitzen.

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Der ethno-nationalistische Terrorismus und Gewaltextremismus bleibt für die Bedrohungslage in der Schweiz von Bedeutung. Namentlich zu nennen ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die oberste sicherheitspolitische Priorität der Türkei ist die Schwächung der PKK. Mit dem Verlust des von den syrischen Kurden gegründeten autonomen Gebiets in Nordsyrien (Rojava) würde die PKK deutlich an Einfluss verlieren. Auf solche für sie negativen Entwicklungen kann die PKK in der Schweiz kurzfristig mit Demonstrationen reagieren, die von gewaltsamen Ausschreitungen begleitet werden können.

3.2

Verbotener Nachrichtendienst

Mit der Renaissance der Machtpolitik hat auch der verbotene Nachrichtendienst weiter an Gewicht gewonnen. Derzeit sind in der Schweiz folgende Ziele nachrichtendienstlicher Tätigkeiten festzustellen: Behörden, das internationale Genf bzw.

Diplomatinnen und Diplomaten aus anderen Staaten, die Rüstungsindustrie, der Technologiesektor, das Militär, der Banken- und Handelsplatz, Sportorganisationen, ausländische diplomatische Vertretungen, internationale Organisationen, Schweizer Unternehmen aus verschiedenen Branchen und die Hochschulen. Zur Spionage werden häufig Cybermittel eingesetzt; diese kommen meistens in Kombination mit traditionellen Methoden zum Einsatz.

Spionage verletzt die Souveränität der Schweiz. Datenabflüsse richten direkt oder indirekt Schaden an. Schweizer Unternehmen können dadurch Marktanteile verlieren. Die Reputation des internationalen Genf und die Position der Schweiz als Verhandlungsstandort können geschwächt werden. Die durch Spionage gewonnenen Zugänge können zur Manipulation oder gar Sabotage genutzt werden. Zudem ist vermehrt festzustellen, dass einzelne Staaten ihre Interessen immer rücksichtsloser verfolgen. Dies geschieht häufig auch unter Einsatz nachrichtendienstlicher Instrumente. Zu diesen Vorgängen gehören die völkerrechtswidrige Annexion von Territorium ebenso wie diverse schwere Straftaten auf staatliches Geheiss im Ausland, namentlich die Ermordung von machtpolitischen Konkurrenten, früheren Doppelagenten oder kritischen Oppositionellen bzw. Journalisten. Nachrichtendienste dürften ­ sofern sie nicht vollständig in Eigenregie handeln ­ an der Vor- und Nachbereitung solcher Taten, aber auch an der Durchführung beteiligt sein. Solche Aktionen können jederzeit auch die Schweiz direkt oder indirekt betreffen, wie jüngste Beispiele zeigen.

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3.3

NBC-Proliferation3

Die Schweiz ist weiterhin Zielland zahlreicher Beschaffungsvorgänge für ausländische Massenvernichtungswaffenprogramme. Gut sichtbar sind Beschaffungsbemühungen aus Südasien.

Besonderes Augenmerk kommt der syrischen Geschäftstätigkeit zu, damit verhindert werden kann, dass Ersatz für das syrische Chemiewaffenprogramm beschafft wird.

Mit dem Kriegsende in Syrien nimmt diese in der Schweiz wieder zu.

Der Iran hält sich im Rahmen der Nuklearvereinbarung (Joint Comprehensive Plan of Action) weiterhin an seine Verpflichtungen. Im weiteren Bereich der Raketentechnologie sind aber iranische Beschaffungsvorgänge von Gütern aus der Schweiz über Drittstaaten festzustellen. Solchen Gütern kommt besonderes Gewicht zu, da sie für iranische Waffensysteme gebraucht werden können, die bei einem erneuten Nahostkonflikt von grosser Bedeutung sein werden. Die Verbreitung dieser Technologie in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch Asiens unterstreicht die Wichtigkeit anhaltender Nonproliferationsbemühungen der Schweiz.

3.4

Angriffe auf kritische Infrastrukturen

Cyberoperationen gegen kritische Infrastrukturen können schwere Schäden anrichten. Mehrere Bundesstellen und Privatfirmen wurden in den vergangenen Jahren Opfer ausländischer staatlicher Cyberangriffe. Diese dienten dem politischen oder wirtschaftlichen Nachrichtendienst. Die Opfer erlitten hohen Schaden.

Ihre Stärken in Forschung und Entwicklung machen die Schweiz zu einem bevorzugten Ziel für Staaten, die nach politischer oder wirtschaftlicher Vormacht streben.

Ausserdem spielen kritische Infrastrukturen wie das Labor Spiez im Rahmen der internationalen Sicherheitspolitik eine wichtige Rolle.

Vermehrt steht der Energiesektor im Fokus von Spionage- und Aufklärungskampagnen. Gezielte Sabotageaktionen beschränkten sich bis heute vor allem auf bewaffnete oder strategische Konflikte wie in der Ukraine, allenfalls orchestrieren Hacker aus Patriotismus die Angriffe. Weitreichende physische Schäden waren bislang nicht zu beobachten. Allerdings führten 2015 und 2016 Cyberangriffe zu einem Unterbruch der Stromversorgung bei mehreren hunderttausend Menschen in der Ukraine. Im Mai 2017 hatte der Angriff mit der Schadsoftware Wanna Cry erhebliche Auswirkungen auf die Notfallsysteme der Spitäler im Vereinigten Königreich. Je häufiger solche Cyberangriffe werden, desto grösser ist das Risiko, dass die Schweiz und ihre kritischen Infrastrukturen zumindest Kollateralschäden erleiden.

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Weiterverbreitung nuklearer, biologischer oder chemischer Waffen, einschliesslich ihrer Trägersysteme, sowie aller zur Herstellung dieser Waffen notwendigen zivil und militärisch verwendbaren Güter und Technologien

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3.5

Gewalttätiger Extremismus

Das Gewaltpotenzial des Rechts- und Linksextremismus in der Schweiz besteht weiter.

Der gewalttätigen rechtsextremen Szene bleiben als Anknüpfungspunkte in der Schweiz derzeit einige Themen, aber keine Krisen. Entsprechend schwach ist aktuell die Beschäftigung der hiesigen Szene mit Asyl- und Migrationsfragen oder der Integration des Islams, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern. Die rechtsextremen Gruppierungen zeigen sich derzeit insbesondere im Internet etwas offener als noch vor Jahresfrist, verhalten sich daneben aber weiterhin konspirativ. Gewalttaten Rechtsextremer sind kaum zu verzeichnen. In der Szene sind allerdings grössere Mengen funktionstüchtiger Waffen vorhanden, auch werden Kampfsportarten trainiert.

Anders als der Rechts- ist der Linksextremismus fähig, über längere Zeit gewaltsame Kampagnen zu führen. Er fokussiert seine Kräfte auf selbstgewählte Themen und versucht, direkt Wirkung zu erzielen. International ist die Szene vernetzt, woraus auch Unterstützung bei Gewalttaten resultieren kann. Intensivere Formen der Gewaltausübung wie Brandstiftung dürften aber kleineren Personengruppen zuzuschreiben sein. Hier macht sich die laufende Gewichtsverlagerung zum anarchistischen Gedankengut bemerkbar. Eine stärkere Beteiligung an Gewalttaten ist hingegen etwa anlässlich von Demonstrationen erkennbar: Die Aggressivität gilt dabei nicht nur Sicherheitskräften, sondern Blaulichtorganisationen allgemein. Bei solchen Angriffen werden Schäden an Leib und Leben der Einsatzkräfte in Kauf genommen oder in bestimmten Fällen bezweckt.

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Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland

Der SIPOL B 2016 unterscheidet fünf für die Sicherheitspolitik der Schweiz bedeutsame globale Trends ­ den Übergang zu einer multipolaren Weltordnung, die Ausbreitung von Wohlstand und Technologie, das Anhalten von Krisen, Umbrüchen und Instabilität, Migrationsbewegungen und die Weiterentwicklung des Konfliktbildes. Diese Trends bleiben im Wesentlichen aktuell, ja, sie treten gar noch schärfer hervor als vor zwei Jahren.4 Aus Sicht der Schweizer Sicherheitspolitik ist strategisch bedeutsam, dass zwar die USA, Europa und Japan einflussreich bleiben werden, jedoch im Vergleich zu anderen Ländern vermutlich an Einfluss verlieren, und dass die westlichen Staaten nur noch bedingt als «der Westen» angesehen werden dürfen.

Unter der neuen Administration sind die USA verstärkt dazu übergegangen, ihre Ziele nötigenfalls auch im Widerspruch zu verbündeten Staaten und gegebenenfalls im Zusammenspiel mit anderen Partnern zu verfolgen. Dies zeigt sich in unterschiedlicher Ausprägung im Umgang mit Nordkorea, dem Iran, China und Russland.

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Dies gilt auch für Trends, die bereits den Rahmen des SIPOL B 2016 sprengten, namentlich den Klimawandel, dessen mögliche sicherheitspolitischen Auswirkungen ­ etwa durch humanitäre Katastrophen ausgelösten Migrationsdruck ­ der Voraussicht bedürfen.

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Die USA sind damit in ihrer Sicherheitspolitik unberechenbarer geworden und haben Verunsicherung geschaffen. Gleichzeitig haben sie aber auch ihre eigenen Verteidigungsausgaben deutlich erhöht, um Defizite in der Einsatzbereitschaft zu beheben und um gewisse Verstärkungen und umfangreiche Modernisierungsprogramme zu finanzieren. Zur Verbesserung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten gegenüber Russland setzen die USA unter anderem auf eine Verstärkung ihrer militärischen Fähigkeiten in Europa. Diese Entwicklung wurde bereits unter Präsident Obama eingeleitet. Die Administration Trump führte sie ­ trotz teilweise scharfer Rhetorik auch an die Adresse der europäischen Allianzpartner ­ bisher weiter.

Ein vollständiger Verzicht Nordkoreas auf Nuklearwaffen und für deren Einsatz geeignete Trägersysteme bleibt auch nach den Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Trump und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un unwahrscheinlich.

Demgegenüber hat sich die Atmosphäre bei der Kommunikation zwischen den USA und Nordkorea verbessert. Die einigermassen einheitlich auf der Umsetzung der einschlägigen UNO-Resolutionen beharrenden, in diesem Dossier neben den USA führenden vier Staaten Japan, Südkorea, China und Russland verfolgen aber mittlerweile verstärkt auf bilateraler Basis ihre eigenen Interessen gegenüber Nordkorea.

Unter Präsident Trump haben die USA ihre Politik gegenüber dem Iran wesentlich verschärft. Seit November 2018 gelten erneut sämtliche Sanktionen der USA gegen den Iran, nachdem die USA im Mai 2018 aus der Nuklearvereinbarung mit dem Iran ausgestiegen sind.

Die amerikanischen Sanktionen entfalten ihre Wirkung und bereiten dem Iran grosse wirtschaftliche Probleme. Die iranische Führung wird jedoch versuchen, die geforderte weitgehende Anpassung ihrer Aussen- und Sicherheitspolitik an amerikanische Vorgaben zu vermeiden. In den kommenden zwei Jahren sind keine substanziellen Neuverhandlungen im Nukleardossier, aber auch kein offensives militärisches Vorgehen der USA gegen den Iran zu erwarten.

Die sekundären Wirtschaftssanktionen der USA gegenüber dem Iran haben Auswirkungen auf Drittstaaten. Die EU versucht, den Handel mit dem Iran weiterhin zu ermöglichen, unter anderem durch die Schaffung eines sogenannten Special Purpose Vehicle zur Abwicklung von Exporten und Importen.
Die Konsequenzen der handelspolitischen Konfrontation zwischen den USA und China sind derzeit schwierig abzuschätzen. China dürfte aber von seinen strategischen Plänen nicht abrücken und will in wenigen Jahren zur globalen Technologiemacht aufsteigen. Im Inland werden die eigenen Schlüsselindustrien gezielt gefördert. Für den Marktzugang müssen ausländische Unternehmen teilweise Technologietransfers in Kauf nehmen. Viele Privatunternehmen haben enge Verbindungen zur Kommunistischen Partei. Im Ausland setzen chinesische Akteure zur Umsetzung der staatlichen Politik auf eine breite Palette von Instrumenten, darunter auch nachrichtendienstliche.

Die USA und Russland werden voraussichtlich im August 2019 offiziell aus dem Intermediate Range Nuclear Forces Treaty (INF-Vertrag) aussteigen. Die USA begründen ihre Kündigung mit Verstössen Russlands gegen diesen Vertrag ­ Verstössen, die bereits seit 2014 öffentlich bekannt sind. Russland hat seit der An3153

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kündigung des US-Ausstiegs Anstrengungen unternommen, den USA die Rolle des Aggressors zuzuweisen. Dabei gehört der Vorgang in den Kontext der seit Längerem dauernden Versuche Russlands, die sicherheitspolitische Ordnung herauszufordern und die eigene Rolle zu stärken. Dabei spielen Beeinflussungsoperationen und Cyberangriffe eine zentrale Rolle.

In Europa bleibt die Ukraine das Zentrum der Spannungen zwischen Russland und den westlichen Staaten: Der militärische Konflikt hat fortwährend Todesopfer zur Folge. Während sich in der Ostukraine die Fronten nicht verschieben, hat Russland die territoriale Kontrolle über die Krim und die damit zusammenhängenden Ansprüche in der Strasse von Kertsch ausgebaut. Hier zeigte der gewaltsame Vorfall im November 2018 das Eskalationspotenzial des Konflikts.

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Auswirkungen auf die Schweiz

Die Schweiz ist von den Veränderungen in ihrem sicherheitspolitischen Umfeld direkt betroffen. Zwar ist es angesichts der engen Verflechtungen und der vielfachen Abhängigkeiten fraglich, ob einer der grossen Akteure bereit ist, einen militärischen Grosskonflikt mit einem der anderen grossen Akteure zumindest in Kauf zu nehmen.

Aber die ständigen Versuche, die eigenen Interessen durchzusetzen und dabei die eigenen Fähigkeiten möglichst aggressiv zu präsentieren, bergen Eskalationsrisiken.

Erschwerend kommt hinzu, dass Europa bzw. die EU derzeit als sicherheitspolitischer Akteur Schwächen aufweist. So stehen infolge der Finanzkrise weiterhin diverse Länder vor grossen ökonomischen Herausforderungen und angesichts der Terrorbedrohung sind die Sicherheitskräfte vielfach bereits stark gebunden. Kommt dazu, dass mit dem Vereinigten Königreich ein wichtiger sicherheitspolitischer Akteur in Europa daran ist, die beschlossene Trennung von der EU in die Tat umzusetzen, während andere Staaten innenpolitisch stark absorbiert sind. In einzelnen europäischen Staaten tragen zudem Parteien mit autoritärer Ausrichtung, die den rechtsstaatlichdemokratischen Grundkonsens infrage stellen, Regierungsverantwortung.

Diese Situation lässt sich ausnutzen, etwa über Beeinflussungsoperationen, aber auch über Eingriffe in Abstimmungen und Wahlen. Die Herausforderungen, die sich hier stellen, sind noch nicht in all ihren Dimensionen erkannt. Ziel von Beeinflussungsoperationen ist es heute, Uneinigkeit und Zweifel im und am demokratischen Willensbildungsprozess zu säen ­ es braucht dabei inhaltlich keine Position bevorzugt zu werden. Noch sind solche Bestrebungen erkenn- und zurechenbar, sind deshalb der Analyse zugänglich, mithin in ihren Effekten kalkulier- und damit zumindest theoretisch beherrschbar. Die technische Entwicklung wird künftig jedoch neue Möglichkeiten schaffen, z. B. mit der Deep-fake-Technologie bei Bildund Videobearbeitung, die die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge nochmals erschweren werden. So geschürte und institutionell nicht einzuhegende Meinungsverschiedenheiten können das Funktionieren von Demokratien bedrohen.

Letztlich ist es für einen Staat wie die Schweiz, der seine Interessen vor allem über die Durchsetzung und Weiterentwicklung internationaler Rechtsnormen zu wahren sucht, von Nachteil, wenn Konflikte wieder vermehrt mit Machtmitteln und unter Missachtung geltender Normen entschieden werden. Der Erfolg der Sicherheitspoli3154

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tik der Schweiz hängt deshalb in einem wieder stärker von Konflikten geprägten Umfeld gerade auch von ihrer Fähigkeit ab, sich selbstständig ein eigenes Bild der Ereignisse und Entwicklungen zu machen. Nur so kann sie in der Sicherheitspolitik autonom über ihre Positionierung gegen aussen, aber auch in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung ihrer sicherheitspolitischen Instrumente im Innern entscheiden. Diese Selbstständigkeit beginnt mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur eigenen Informationsbeschaffung, Analyse und Beurteilung. Auf dieser Grundlage kann die Schweiz selbst bestimmen, wie, mit welchen Mitteln und mit welchen Partnern sie den Herausforderungen und Bedrohungen für unsere Sicherheit entgegentreten will.

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