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Aus den Verhandlungen der schweiz. Bundesversammlung.

Vom 19. Februar 1866.)

Die schweiz. Bundesversammlung, welche am 19. Rovember 1865 sich vertagt hatte, ist heute wieder zusammengetreten.

Der Bräsident des Nationalrathes, Herr A. R. B la n ta, die Simung mit nachstehender Anrede :

eröffnete

,,Meine Herren Nationalräthe .

,,Als wir vor drei Monaten die Revision der Bundesverfassung unter einer fast ausfallenden Theilnahmlosigkeit des schweizerischen Volkes in Berathnng nahmen, konnte man kaum vermuthen und hoffen, dass sieh bei herannahender Abstimmung über unsere Vorsehläge eine so rege Bewegung des öffentlichen Geistes in allen Gauen unsers Vaterlandes kund geben werde, wie dies seither der Fall war.

,,We..n das Resultat der Abstimmung dem ungeachtet ein grösstentheils negatives und unsern Erwartungen nicht entsprechendes war, so liegt darin für uns und alle spätern Vertreter des Volkes zunächst wohl die Lehre, dass man bloss ans äussern Veranlassungen und Konvenienzrül.siehten nie an dem obersten und ehrwürdigsten Geseze eines .Landes rütteln und ändern soll. Erfolgreiche Umgestaltungen und Abänderungen der konstitutionellen Grundlagen eines Staates, ganz besonders eines foderatwen, konnen nur aus einem innern Bedürfnisse, gewissermassen nur aus dem innern Drange und Verlangen des Volksbewusstseins hervorgehen.

,,Wenn nun aneh die bisherige Versassungsbestunmung, dass nur das christliche Glaubensbekenntnis.. Jemanden zur sreien Niederlassung in der ganzen Schweiz berechtige, vom Volke sowohl als von der Mehrheit der ùntone aufgehoben und damit die durch den Handelsvertrag mit Frankreieh geschaffene Ungleichheit bezüglich des freien Riederlassungsreehtes zwischen Ausländern und Schweizern nichtehristliehen Glaubens wieder ausgemerzt worden ist, so würden wir, wie ich glaube, gewiss sehr irre gehen, wenn wir darin zugleich eine Sanktion der von den Räthen in lezter Zeit beliebten Anfsassungsweise des Art. 74 der Bundesverfassung erbliken wollten, wonach die Bundesbehorden bei Vertragsabschlüssen mit dem. Ausland Grundsäze, die in der Bundesverfassung klar ausgesprochen sind, ubersehen und dem Ausland gegenüber andere Regeln ausstellen dürften. Gerade diese Jnterpretationsweise unserer Befugnisse hat gewiss

158 am meisten dazu beigetragen, dass unsere Vorsehläge so wenig Beachtung fanden.

,,Das Motiv zur Annahme dieses e i n e n Artikels lag vielmehr in der Sa.hlage selbst. Ein Volk und Land, das seit Jahrhunderten allen verfolgten politischen und religiosen Meinungen ein As^l gewährte, konnte die eigenen Mitbürger nicht länger, ihrer religiosen Anschauungen wegen, unter den , in nur wenigen Kantonen gegen sie noeh bestehenden intoleranten Härten der Geseze sortdulden lassen , nachdem diese leztern zu Gunsten der Ausländer gleichen Glaubens ausgehoben waren.

,.Und wenn man bei diesem .Anlasse nicht noch weiter ging und die Garantie der vollen unbeschränkten Glaubensfreiheit zugleich ^nm ^erfassungsgrundsaz erhob, so kann man sieh mit voller Ueber^eugung damit trosten, dass gar viele im ganzen Lande diese s.honste politische Errungenschaft, die sicherlich bald ein El^renblatt in unserer Geschichte einnehmen wird, auch nicht einmal dem blossen Scheine nach einem Tauschhandel verdanken , sondern nur als reinen unmittelbaren Akt des spontanen schweizerischen Volkswillens ausgesprochen und verwirklicht sehen wollen.

,,Zweiselsohne ist die beste Frucht der jezigen Revisionsbewegung in der wiedererwachten politischen Teilnahme an den Bundesangelegenheiten und in dem gesteigerten Bewusstsein der einzelnen Bürger zu finden.

.,Ru.hts ist natürlicher und zugleich gesunder, als dass bei solchen An^ lassen alle Mängel und Luken zur Sprache kommen , .die sieh im Laufe der Zeit, selbst beim besten und allen Schichten der Bevölkerung liebgewordenen Versassnuaswerke gezeigt haben mogen. Keine Partei erklärt

sich übrigens den Grundlagen der Verfassung von l 848 seitlich gesinnt, sondern alle gehen in der Behauptung einig, an denselben festhalten oder nur ans ihnen sortbauen zu wollen.

.,Wenn aber Man .he mit einiger Beunruhigung wahrnehmen, dass bei allen ihren sonstigen Vorzügen dieser Verfassung in einer Richtung doch eine gewisse Schwäche und Maugelhastigteit anklebt , indem. sle erlauben ...^ie nur den anderswo entlehnten Ausdruk --^ indem sie kaum ein^ ,,g e n ü g e n d e s H e i l m i t t e l g e g e n V e r s e h e n der L e g i s l a t u r g e w ä h r t ^ , so ist es einem aus seine Freiheiten und seine Rechte eisersüchtigen Volke wol^l angemessen. wenn es sieh in Zeiten nach einer derartigen Remednr umsieht.

.

"Jn den konstitutionellen Monarchien stehen neben der Volksvertretung die Fürstengewalt und die lebenslänglichen ersten Kammern, sowie ein zur Appellation an das Volk berechtigtes Ministerium als Wächter der Verfassung und Gesezgebnng da.

,,Jn der grossen ...^ehwesterrepublik jenseits des Oeeans hat nicht nur der Vräsident ausser manchen andern wiehtigen Prärogativen ein suspentives Veto gegenüber den Volksrepräsentanten und bildet der Senat bei seiner dreifa.h Gängern Amtsdauer einen dureh grossere Geschästserfahrung

159 um so gewichtigern und eingreifendere. Faktor der Gesezgebnng , sondern es steht^ den Bnndesgerichten sogar das Recht zu, jedes mit der Versassnng nicht im Einklang stehende Gesez geradezu als kraftlos za erklären.

,^Bei uns dagegen wird die vollziehende Gewalt von der gesetzgebenden gewählt und wird dieser gegenüber um so . abhängiger, je länger die Wiederwählbarkeit .hrer einzelnen Mitglieder dauert. Daneben zeigt sich, namentlich bei den sich stets vermehrenden Rekursen , osters die Reigung,

sich allzuleicht in die Regierungssphäre zu verlieren und bei znsällig aus-

tauchenden Rechtsfragen den Anlass zu benuzen , um, wie es heisst , das konstitutionelle Recht, wenn auch in noch so unzusammenhängender Weise, beliebig weiter zu entwikeln. Ob aber ans die Dauer damit eine kon^ seguente Re.htsprax^is und feste, in der Rechtsanschauuug des gesammten Volkes allenthalben eindringende Rechtsgrundsaze geschassen werden, mochten wir sehr bezweifeln.

..

,,Unser Stunde, ..^ass Verfassung in zuwende und

sehones Jnstitut des Bnndesgeriehtes wartet dafür bis zur man ihm die, in den Artikeln 105 und 106 der Bundes.Aussaht gestellten weitern Befugnisse einmal auch faktisch ausscheide.

..Endlich darf man es wohl auch als einen Uebelstand bezeichnen, dass für die Vertretung der Kantone nicht einmal die gleich lange Amts-

dane.. gilt, wie für einen Delegirten des Volkes, und dass die Verschieden-

heit der Amlsdauer unter den Kantonalabordnungen selbst den Einsluss der Einen zum Rachtheil der Andern steigert und so nothwendig das vom Versassungsgesez angestrebte Gleichgewicht gestort und theilweise ausgehoben wird.

^ ,,Bei solchen Wahrnehmungen und andern aufgetauchten Erscheinungen und Tendenzen der Bundesgewalten ist es daher sicherlich natürlich und vom Guten , wenn man dem Souverän selbst , somit dem ganzen ^..chweizervolk, die Möglichkeit vindiziren mochte, von sich ans die allgemeine Staatsordnung und die jeweilige Entwiklung der Gesezgebung überwachen und dabei ein massgebendes Wort mitreden zu konnen.

,.Di^. Ratur unserer Demokratie, die geringe Ausdehnung des Landes und manche kantonale Jnstitutionen gleicher Art bieten uns zudem dieses rein schweizerische Abhülssmittel unmittelbar aus nächster Hand dar.

,,Weit entfernt demnach in Betreff der neuesten Ereignisse nnd Beftrebnngen aus dem politischen Gebiete unseres Vaterlandes eine Gefährde für das Wohl und Gedeihen des Bundes zu erbliken , sreuen wir uns vielmehr .des sieh kundgebenden ossentlichen Geistes. Jndem die Behorden zunächst dem Volksurtl..eile vertrauen , wird dieses hinwieder um so lieber ihren Anschauungen und Vorschlägen entgegen kommen und dieselben mit um so grosserem Gegenvertrauen ansnehmen.

.,Der gesunde ^erstand und der Bürgersinn des ^chweizervolkes wird endlich auch bei dieser neuen Bewegung den richtigen Weg und die

160 rechten Zielpunkte ^u finden und Unreifes oder Unzwekmässiges auszuscheiden wisfen.

,,Mit ansrichtigem Schmerze betrauern Sie, meine Herren Rationalräthe, aber mit Jhrem Präsidium den gerade in diesem politisch wichtigen Momente erfolgten Hinschied eines Mitgliedes dieser hohen .^ersammlung , das seit dem Bestand der Bundesversammlung ununterbrochen in unserer Mitte sass , und durch sein umfassendes Wissen , durch seinen Scharfsinn , seine vaterländische Gesinnung und seinen versohnliehen Eharakter eine hervorragende Stellung unter uns einnahm.^

Jm Ständerathe sind a.ls neue Mitglieder erschienen : ü... Appenzell A. Rh.: Herr Johannes Hohl, Landesstatthalter, von Wolfhalden, in Herisau.

..

,, J. Rh.: ,, Joh. Anton Ebener , Bataillonskommandant, von und in Appenzell.

(Vom 23. Februar 1866.)

An die Stelle des sel. verstorbenen Hrn. Dr. Eduard B lo s eh ist als Mitglied des schweiz. Bundesgeriehtes gewählt worden : Herr .....ationalrath und Vrosessor Jakob L e u e n b e r g e r , von Rüdersw.^l, in Bern.

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24.02.1866

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