Fall Tinner: Rechtmässigkeit der Beschlüsse des Bundesrats und Zweckmässigkeit seiner Führung Bericht vom 19. Januar 2009 der Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte Stellungnahme des Bundesrates vom 17. Juni 2009

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht vom 19. Januar 2009 der Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte betreffend «Fall Tinner: Rechtmässigkeit der Beschlüsse des Bundesrats und Zweckmässigkeit seiner Führung» nehmen wir nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

17. Juni 2009

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Hans-Rudolf Merz Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) hat den Bundesrat gebeten, bis Ende Juni 2009 zu titelerwähntem Bericht und zu denjenigen Empfehlungen, welche den Bundesrat betreffen, Stellung zu nehmen.

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Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat hat vom umfangreichen Bericht und den Empfehlungen der GPDel Kenntnis genommen. Er anerkennt die Absicht der GPDel, mit der Aufarbeitung des Falles wertvolle Erkenntnisse für den Umgang mit äusserst heiklen Dossiers sowie für die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesrat und den Aufsichtskommissionen zu gewinnen. Der Bundesrat stellt fest, dass die von der GPDel zusammengetragenen Fakten bestätigen, dass er den Fall Tinner im Einklang mit dem geltenden Recht bewältigt hat. Zu den Empfehlungen 1­5 nimmt der Bundesrat folgendermassen Stellung:

Zu Empfehlung 1 Die GPDel fordert den Bundesrat auf, dafür zu sorgen, dass der Eidg. Untersuchungsrichter für die Voruntersuchung im Fall Tinner die ihm gesetzlich zustehende gerichtspolizeiliche Unterstützung erhält.

Der Bundesrat hat entschieden, der Empfehlung Folge zu leisten. Damit ist sichergestellt, dass der Eidgenössische Untersuchungsrichter für die Voruntersuchung im Fall Tinner die ihm rechtlich zustehende gerichtspolizeiliche Unterstützung erhält.

Was die bei der Bundesanwaltschaft wiederentdeckten Verfahrensakten betrifft, hat diese Behörde dem Untersuchungsrichter den eindeutig nicht proliferationsrelevanten Teil der Akten im Sinne von Artikel 108 des Bundesgesetzes vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege (BStP, SR 312.0) formell übergeben. Über das weitere Vorgehen bezüglich des restlichen Teils der Akten hat der Bundesrat die GPDel mit Schreiben vom 1. April 2009 informiert.

Zu Empfehlung 2 Die GPDel fordert den Bundesrat auf, ihr ein Konzept vorzulegen, wie die Delegation in Zukunft rechtzeitig über geheime Bundesratsbeschlüsse informiert werden soll. Bis auf weiteres erwartet die GPDel vom Bundesrat, dass er ihr alle geheim klassifizierten Bundesratsbeschlüsse umgehend zukommen lässt.

Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) hat im Rahmen der parlamentarischen Oberaufsicht über den Bundesrat und die Bundesverwaltung das Recht, in ihrem 5064

Zuständigkeitsbereich geheime Bundesratsbeschlüsse einzusehen (Art. 169 Abs. 2 Bundesverfassung [BV, SR 101] sowie Art. 154 Abs. 2 Parlamentsgesetz vom 13. Dez. 2002 [ParlG, SR 171.10]). Um von diesem Recht Gebrauch machen zu können, muss die GPDel darüber informiert sein, dass ein geheimer Bundesratsbeschluss in ihrem Zuständigkeitsbereich gefasst worden ist. Anders als die Finanzdelegation hat die GPDel gemäss Artikel 154 Absatz 3 ParlG hingegen keinen Anspruch darauf, dass ihr geheime Bundesratsbeschlüsse in ihrem Zuständigkeitsbereich automatisch übermittelt werden.

Im Nachgang zum im Titel erwähnten Bericht kam der Bundesrat dem Wunsch der GPDel nach umgehender Information über geheime Bundesratsbeschlüsse in Zusammenhang mit dem Fall Tinner nach. Seit Anfang 2009 informiert das EJPD die GPDel direkt. Dieses Vorgehen wurde unter Berücksichtigung der besonderen Umstände gewählt und stellt eine Ausnahme ohne präjudizierenden Charakter dar.

Der Bundesrat ist bereit, die Erstellung eines Konzepts für die zukünftige Handhabung der Information der GPDel über geheime Bundesratsbeschlüsse in ihrem Zuständigkeitsbereich zu prüfen. So wäre beispielsweise denkbar, dass künftig die Information über geheime Bundesratsbeschlüsse im Zuständigkeitsbereich der GPDel zentral über die Bundeskanzlerin koordiniert würde. Der Vollständigkeit halber und im Sinne der Transparenz wäre in einem solchen Konzept auch die Information zu den vertraulichen Bundesratsbeschlüssen zu behandeln. Zu prüfen wäre in diesem Zusammenhang auch eine Ergänzung von Artikel 5a der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 1998 (RVOV, SR 172.010.1). Leitlinie jeder allfälligen Reform muss der verfassungsrechtliche Auftrag der parlamentarischen Oberaufsicht gemäss Artikel 169 BV bleiben. Im Unterschied zur Aufsicht gemäss Artikel 187 BV verschafft die Oberaufsicht nicht die Befugnis, Entscheide aufzuheben oder abzuändern. Die parlamentarische Oberaufsicht umfasst Einsichtsrechte, jedoch grundsätzlich keine Ansprüche auf Konsultation oder gar Mitentscheidung. Insbesondere ist zu vermeiden, dass die Ausübung der Oberaufsicht zu einer Verwischung von Verantwortlichkeiten führt.

Zu Empfehlung 3 Die GPDel fordert den Bundesrat auf, ihr ein Konzept vorzulegen, wie er in Zukunft Geschäfte, die von grosser sicherheits- und aussenpolitischer Bedeutung sind und bei denen der Bundesrat der Geheimhaltung einen hohen Stellenwert einräumt, interdepartemental vorbereiten lassen will.

Dem Bundesrat stehen für die Vorbereitung von Geschäften, die einen interdepartementalen Bezug aufweisen und bei denen die Geheimhaltung sehr wichtig ist, verschiedene Instrumente zu Verfügung. So kann er auf politischer Ebene die gestützt auf Artikel 23 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997 (RVOG, SR 172.010) bestehenden Ausschüsse des Bundesrates mit der Vorbereitung der Geschäfte betrauen. Im Weiteren kann der Bundesrat zusätzliche Ausschüsse bilden. Der Bundesrat hat auch die Möglichkeit, interdepartementale Arbeitsgruppen mit Expertinnen und Experten aus der Bundesverwaltung einzusetzen. Ob für ein wichtiges Geschäft sowohl ein Ausschuss wie auch eine oder meh-

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rere interdepartementale Arbeitsgruppen eingesetzt werden oder nicht, hängt vom konkreten Einzelfall ab.

Für die Bewältigung von Krisen von sicherheits- und aussenpolitischer Bedeutung gibt es ständige Strukturen. Im Jahre 1994 wurde der Sicherheitsausschuss des Bundesrates, bestehend aus den Vorsteherinnen und Vorstehern des EDA, des EJPD und des VBS, sowie die Lenkungsgruppe Sicherheit, die sich aus den Linienchefs der mit Sicherheitsfragen betrauten Dienststellen in der Verwaltung sowie zwei Vertreterinnen oder Vertretern der Kantone zusammensetzt, geschaffen. Die Koordination wurde seit Beginn durch ein Stabsorgan sichergestellt, das verschiedene Formen gekannt hat. Seit 2005 ist der interdepartementale Stab des Sicherheitsausschusses (Stab SiA) dafür zuständig.

Im sicherheits- und aussenpolitischen Bereich bestehen somit gut ausgebaute Strukturen, auf die sich der Bundesrat für die Vorbereitung von Geschäften mit grossem Geheimhaltungsinteresse stützen kann. Diese werden auch laufend überprüft und wenn nötig angepasst. So wurden die früheren Weisungen zur Organisation der sicherheitspolitischen Führung des Bundesrates in die Verordnung vom 24. Oktober 2007 über die Organisation der sicherheitspolitische Führung des Bundesrates (SR 120.71) überführt und gleichzeitig inhaltlich überarbeitet. In dieser Verordnung wird insbesondere das Vorgehen auf Stufe Bundesrat bei Naturkatastrophen und zivilisationsbedingten Katastrophen sowie bei Gewaltandrohung gegen erhebliche Teile der Bevölkerung oder wesentliche Institutionen geregelt. Ferner wurde im Jahre 2008 eine Evaluation zum Stab SiA durchgeführt.

Die Herausforderungen, Probleme und Krisen, mit denen sich der Bundesrat zu beschäftigen hat, sind sehr unterschiedlicher Natur. Die bestehenden Strukturen im Rahmen des Sicherheitsausschusses und der weiteren Ausschüsse des Bundesrates haben sich bewährt und sind in der Regel ausreichend für die Erkennung von Risiken und Gefahren und die damit verbundene Vorbereitung von Geschäften des Bundesrates. Im konkreten Einzelfall kann es jedoch angezeigt sein, eigene, auf die besondere Situation angepasste Strukturen zu schaffen. Ein abstraktes Konzept für solche ausserordentliche Fälle, das die bestehenden bewährten Strukturen ergänzt, bringt keinen Mehrwert. Aus diesen Gründen lehnt es der Bundesrat ab, der Empfehlung 3 Folge zu geben.

Zu Empfehlung 4 Die GPDel erwartet vom Bundesrat, dass er in Zukunft von seinen Kompetenzen gemäss Artikel 184 Absatz 3 und Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung nur restriktiv und nach eingehender Prüfung der Voraussetzungen für deren Anwendung Gebrauch macht.

Die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV verleihen dem Bundesrat ein verfassungsunmittelbares, selbstständiges Verordnungs- und Verfügungsrecht. Wenn die in der Verfassung genannten Voraussetzungen erfüllt sind, kann der Bundesrat gestützt auf diese beiden Bestimmungen gesetzesvertretende Verordnungen erlassen und Verfügungen treffen, ohne dass dafür die im Normalfall erforderlichen formellgesetzlichen Grundlagen bestehen. Die Bundesverfassung relativiert damit für ausserordentliche Situationen die Anforderungen des Legalitätsprinzips. Es handelt 5066

sich dabei um eine Ausnahmeregelung. Der Bundesrat teilt deshalb die Auffassung der GPDel, wonach die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV restriktiv anzuwenden sind und dass die Voraussetzungen für deren Anwendung in jedem Einzelfall eingehend geprüft werden müssen. Dabei kommt der politischen Einschätzung bei der Anwendung von Artikel 184 Absatz 3 BV ein grösseres Gewicht zu als bei Massnahmen nach Artikel 185 Absatz 3 BV, sodass dem Bundesrat in der Praxis zu Artikel 184 Absatz 3 BV mehr Spielraum zugestanden wird. Vom Erlass von Verordnungen oder Verfügungen direkt gestützt auf die Artikel 184 Absatz 3 oder 185 Absatz 3 BV ist abzusehen, wenn immer der ordentliche Gesetzgebungsweg ­ allenfalls auch verbunden mit einer Dringlicherklärung gemäss Artikel 165 BV ­ beschritten werden kann. Dieser Weg ist insbesondere dann nicht möglich, wenn es sich um eine Situation handelt, die sich aufgrund ihres singulären Charakters der rechtsetzenden Regelung überhaupt entzieht oder die der ordentliche Gesetzgeber nicht erwarten konnte oder zumindest nicht erwartet hat, die jedoch ein sehr rasches Tätigwerden des Staates erfordert.

Die Praxis des Bundesrates zu den Artikeln 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV trägt dem Ausnahmecharakter der verfassungsrechtlichen Ermächtigung Rechnung. Es gibt nur relativ wenige Fälle, in denen der Bundesrat von seinen Kompetenzen nach diesen beiden Bestimmungen Gebrauch gemacht hat. Im Rahmen der Verfassungsreform ist zudem klar festgehalten worden, dass die verfassungsunmittelbaren Verordnungen zu befristen sind. Und vor allem hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren gestützt auf entsprechende Anträge des Bundesrates mehrere formellgesetzliche Grundlagen geschaffen, die ein verfassungsunmittelbares Handeln des Bundesrates in diversen Bereichen weitgehend erübrigen. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang etwa die entsprechenden Regelungen im Militärgesetz vom 3. Februar 1995 (MG, SR 510.10), im Bundesgesetz vom 21. März 1997 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (SR 120, Vorlage BWIS I betreffend Propagandamaterial), im Embargogesetz vom 22. März 2002 (SR 946.231), im Kriegsmaterialgesetz vom 13. Dezember 1996 (SR 514.51), im Güterkontrollgesetz vom 13. Dezember 1996 (SR 946.202) sowie im Bundesgesetz vom 20. März 2009 über die Schaffung gesetzlicher Grundlagen
für die finanzielle Unterstützung von Schweizer Staatsangehörigen im Ausland (BBl 2009 1989; Ablauf der Referendumsfrist am 9. Juli 2009). Weitere solche formell-gesetzliche Grundlagen sind in Vorbereitung (z.B. Vorlage BWIS II betreffend Verbot von Tätigkeiten zur Förderung von terroristischen oder gewaltextremistischen Umtrieben oder auch die beschlossene Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs bezüglich Potentatengeldern).

Auch wenn die Artikel 184 Absatz 3 und 185 Absatz 3 BV neben diesen formellgesetzlichen Regelungen weiterhin eigenständige Bedeutung haben werden, ist anzunehmen, dass direkt auf die Verfassung abgestützte Verordnungen oder Verfügungen des Bundesrates in diesen Bereichen zukünftig eher seltener werden. Damit wird zweifellos auch dem Anliegen der GPDel entsprochen.

Zu Empfehlung 5 Die GPDel erwartet vom Bundesrat, dass er die Schriftlichkeit all seiner geheimen Beschlüsse lückenlos sicherstellt.

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Artikel 1 Absatz 5 RVOV sieht vor, dass Beschlüsse des Bundesrates schriftlich festgehalten werden. Dies gilt grundsätzlich auch für geheime Beschlüsse. Die Verantwortung für die Schriftlichkeit der Beschlüsse trägt die Bundeskanzlerin respektive der Bundeskanzler.

Für die Behandlung geheimer Geschäfte gilt u.a. weiter, dass diese in zehn nummerierten Exemplaren ausgefertigt und in einem mit «GEHEIM» gekennzeichneten, verschlossenen und versiegelten Umschlag mit dem Vermerk «PERSÖNLICH» direkt übergeben werden.

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