Inspektion zur Führung und Beaufsichtigung der Arbeitslosenversicherung durch den Bund Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats zuhanden des Bundesrats vom 17. Februar 2009

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S) beschloss im Rahmen ihres Jahresprogramms 2007, den Vollzug der Arbeitslosenversicherung (ALV) vertieft zu untersuchen. Sie beauftragte die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) mit der Durchführung einer Evaluation, welche den Schwerpunkt auf die Führung und Beaufsichtigung der ALV durch den Bund legte und das Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren in diesem Bereich aufzeigen sollte (Aufsichtskommission für den Ausgleichsfonds der ALV und Bundesrat, Ausgleichstelle, private und öffentliche Arbeitslosenkassen, kantonale Amtsstellen, die regionalen Arbeitsvermittlungszentren etc.).

Die im Frühling 2008 abgeschlossene Evaluation (Evaluation der Führung und Beaufsichtigung der Arbeitslosenversicherung durch den Bund, Bericht der PVK zuhanden der GPK-S vom 27. März 2008) erlaubte es der GPK-S, die Führung und Beaufsichtigung aus der Perspektive der parlamentarischen Oberaufsicht zu beurteilen. Sie gelangte dabei zu folgenden Schlussfolgerungen, welche sich auf die Resultate der Evaluation stützen.

Die GPK-S nahm mit grosser Zufriedenheit zur Kenntnis, dass die Evaluation keine zentralen Probleme in der Führung und Beaufsichtigung der ALV durch den Bund zu Tage brachte. Die aktuelle Aufgabenteilung bei der Führung und Beaufsichtigung der ALV und die Praxis der involvierten Organe gewährleistet das gute Funktionieren der ALV in der Schweiz.

Allerdings existiert in verschiedenen Bereichen unter dem Aspekt der Zweckmässigkeit Optimierungsspielraum.

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Zweckmässigkeit der Rechtsgrundlagen (Seiten 11­21 der PVK-Evaluation)

Die GPK-S ist der Ansicht, dass bei der Tätigkeit der Aufsichtskommission für den Ausgleichfonds der ALV (nachfolgend Aufsichtskommission) richtigerweise die Beratung und Konsensfindung im Vordergrund steht. Allerdings sollten die Zusammensetzung wie auch die Wahlkriterien verbessert und allfällige Interessenskonflikte soweit möglich vermieden werden.

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Der Bundesrat wird deshalb eingeladen, 1.

die Vertretung der Wissenschaft in der Aufsichtskommission zu stärken.

2.

die Kriterien, die bei der Auswahl der Sozialpartner für die Mitgliedschaft in der Aufsichtskommission zur Anwendung gelangen, im Hinblick auf ihre Repräsentativität und Transparenz zu überprüfen und geeignete Massnahmen zur Verbesserung dieser Aspekte zu ergreifen.

3.

organisatorische Massnahmen zu ergreifen, damit die Behandlung der Verwaltungskosten frei von potentiellen Interessenskonflikten erfolgen kann.

4.

das Risiko einer Ausweitung der Kategorien der Leistungsempfänger, die in den Bereich des Ausgleichsfonds der ALV fallen, im Rahmen des Risikomanagements des Bundes eng zu verfolgen.

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Zweckmässigkeit der Führungs- und Aufsichtstätigkeiten (Seiten 22­70 der PVK-Evaluation)

Die Führungs- und Aufsichtstätigkeit ist so konzipiert, dass sie bei den involvierten Stellen Lernprozesse und damit laufende Verbesserungen ermöglicht. Eine wichtige Erkenntnis der Evaluation ist auch die strenge Handhabung der Kontrollen durch die Ausgleichstelle. Dennoch existiert auch bei der Führungs- und Aufsichtstätigkeit ­ beispielsweise bei der Informationspolitik, der Gleichbehandlung von Arbeitslosenkassen und Regionalen Arbeitsvermittlungen (RAVs), der Verwertung von Forschungsresultaten ­ Optimierungsspielraum.

Der Bundesrat wird eingeladen, 5.

Massnahmen zu ergreifen, welche den durch die Evaluation identifizierten Optimierungsspielraum im Bereich der Führung und Steuerung der Arbeitslosenkassen und der kantonalen Amtsstellen nutzen. Dabei ist ­ soweit sinnvoll ­ auf eine Gleichbehandlung der Arbeitslosenkassen und der RAV zu achten. So wären beispielsweise Massnahmen zu ergreifen, damit finanzielle Konsequenzen von Fehlentscheiden (z.B. wenn das RAV die Vermittlungsfähigkeit einer arbeitslosen Person zu Unrecht bejaht und dadurch unberechtigte Leistungsbezüge aus der ALV resultieren) zu Lasten des Entscheidorgans gehen.

6.

Massnahmen zu ergreifen, damit die Aufsichtskommission ein Informationskonzept definiert, das transparent ist, und dieses dann auch anwendet, um so die Information der Durchführungsorgane zu verbessern.

7.

Massnahmen zu ergreifen, damit der durch die Evaluation identifizierten Kritik im Bereich der finanziellen Beteiligung des Bundes an den Kosten der Ausgleichsstelle in Zukunft in geeigneter Form Rechnung getragen wird.

8.

organisatorische Vorkehrungen zu treffen, damit Themen im Bereich der aktuellen Entwicklung und künftiger Trends, die aufgrund von potentiellen Interessenskonflikten der Kommissionsmitglieder allenfalls tabu sind, zusätzlich durch eine kompetente Stelle in der Bundesverwaltung, welche nicht den gleichen potenziellen Interessenskonflikten ausgesetzt ist, verfolgt werden.

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9.

eine effiziente Strategie zur Nutzung der Forschungsresultate im Bereich der ALV zu definieren.

10. die Koordination zwischen den verschiedenen Aufsichtsinstrumenten der Ausgleichsstelle zu verbessern.

11. die durch die Evaluation aufgedeckten Mängel auf der Ebene der Weisungen der Ausgleichsstelle zu beheben.

Ein besonderes Augenmerk richtete die GPK-S auf zwei Aspekte im Bereich der Führungs- und Aufsichtstätigkeiten des Bundes auf die Verteilung der Verantwortung bei der Finanzkontrolle in diesem Bereich und auf die Praktiken der vorübergehenden Beschäftigungen und Berufspraktika in den Kantonen, insbesondere im Kanton Genf.

Die Finanzkontrolle wird einerseits durch die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) ausgeübt, welche gemäss Artikel 83 Absatz 2 des Bundesgesetzes über die obligatorische ALV und die Insolvenzentschädigung (AVIG)1 die Jahresrechnung des Ausgleichsfonds prüft. Gemäss Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe c AVIG ist die Ausgleichstelle für die periodische Überprüfung der Geschäftsführung der Kassen und der involvierten kantonalen Amtsstellen zuständig. Darunter fällt sicherlich auch die Stichprobenkontrolle der Anspruchsberechtigungen der Arbeitslosen. Allerdings war es für die GPK-S unklar, inwieweit auch die EFK Anspruchsberechtigungen überprüfen kann und muss, namentlich wenn allgemeine Zweifel wie im Fall Genf bestehen.

12. Die GPK-S fordert den Bundesrat deshalb auf, zum Kompetenz- und Verantwortungsbereich der EFK Stellung zu nehmen.

Der Kanton Genf kannte bis anfangs 2008 eine Praxis, die ein Anrecht auf kantonale Temporärstellen und Berufspraktika begründete, welche den Versicherten automatisch eine weitere Bezugsdauer für die Arbeitslosenentschädigung sicherte.

Anlässlich der Genehmigung des Einführungsgesetzes zum Arbeitslosenversicherungsgesetz des Kantons Genf gemäss Artikel 113 Absatz 1 AVIG stellte der Bundesrat am 28. März 2007 bezüglich dieser Praxis des Kantons Genf zu den vorübergehenden Beschäftigungen und den Berufspraktika fest, dass diese dem Bundesrecht widersprechten. Nicht vereinbar mit dem Bundesrecht war gemäss der Medienmitteilung des Bundesrates vom 28. März 2007, dass in der Praxis die Temporärstellen und Berufspraktika primär den erneuten Bezug der Arbeitslosenentschädigung bezweckten und nicht die berufliche Wiedereingliederung. In seinem Entscheid BGE 133 V 515, der knapp fünf Monate später erging, führte das Bundesgericht aus, dass es bisher
anerkannt sei, dass eine Tätigkeit im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms, welche der Beitragspflicht des AVIG untersteht, an die für den Bezug von Arbeitslosengeld notwendige Beitragsdauer angerechnet werden könne. Dies gelte unabhängig davon, ob das Beschäftigungsprogramm einen genügenden Beitrag leiste, damit die Beschäftigten im regulären Arbeitsmarkt reintegriert werden können. Die Vorsteherin EVD führte in der Folge am 16. Oktober 2008 gegenüber der GPK-S aus, dass die so genannte «Genfer Praxis» ausserhalb der Zuständigkeit der ALV, nämlich bei der kantonal organisierten Sozialhilfe liege. Rechtlich habe diese 1

Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz, AVIG; SR 837.0)

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Praxis nicht verboten werden können. Diese sei zwar sozialpolitisch fragwürdig, könne aber nicht als rechtswidrig bezeichnet werden.

Vor dem Hintergrund des Artikels 61b des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG)2, der die Genehmigung kantonaler Vollzugserlasse durch den Bundesrat als Gültigkeitsvoraussetzung für den Vollzugserlass festhält, befremdet die Jahre nach der Inkraftsetzung und sehr spät erfolgte Genehmigung der Genfer Vollzugsgesetzgebung durch den Bundesrat. Auch wenn die Verantwortung für die Unterbreitung des Vollzugserlasses zwecks Genehmigung in erster Linie bei den Kantonen liegt, kann die GPK-S im konkreten Fall nicht nachvollziehen, dass die Aufsichtsorgane diesbezüglich keine Massnahmen ergriffen. Die Kommission fordert deshalb den Bundesrat auf, 13. die Praxis der Kantone zur Unterbreitung der kantonalen Vollzugserlasse im Bereich der ALV zu überprüfen und gegebenenfalls Massnahmen zu beschliessen, um den Sinn und Zweck des AVIG zu gewährleisten.

Mit Befriedigung nahm die GPK-S von den Ausführungen der Vorsteherin EVD Kenntnis, dass mit der nächsten Revision des AVIG Praktiken wie die des Kantons Genf ausgeschlossen werden sollen.

Aus der Perspektive der Oberaufsicht müssen organisatorische Vorkehrungen für die Zukunft getroffen werden, die allfällig ungerechtfertige Zahlungen aus der ALV frühzeitig verhindern. Die Kommission fordert deshalb den Bundesrat auf, 14. Vorkehrungen zu treffen, dass eine allenfalls bundesrechtswidrige Praxis der Kantone frühzeitig erkannt wird und unmittelbar zu entsprechenden Korrekturmassnahmen führt.

Die GPK-S erörterte im Weiteren die Frage, welchen Beitrag die kantonalen Kontrollen gemäss den Artikeln 4 und 11 des Bundesgesetzes gegen die Schwarzarbeit (BGSA)3 zur Aufdeckung von unberechtigten Bezügen aus der ALV leisten. Da das erwähnte Bundesgesetz erst im Jahr 2008 in Kraft trat, konnte dieser Aspekt in der Evaluation noch nicht berücksichtigt werden. Die GPK-S lädt den Bundesrat jedoch ein, die Kommission im Rahmen seiner Stellungnahme zu dieser Inspektion über die ersten Erfahrungen in diesem Bereich zu informieren.

Um Wiederholungen mit der Evaluation zu vermeiden, beschränkt sich die GPK-S in diesem Brief auf die Darlegung ihrer Schlussfolgerungen und Empfehlungen, welche in Ergänzung zur Evaluation der PVK zu lesen
sind. Die GPK-S beschloss heute, sowohl ihre Schlussfolgerungen/Empfehlungen wie auch die PVK-Evaluation zu veröffentlichen.

Die GPK-S ersucht den Bundesrat, bis Ende April 2009 zu ihrem Schreiben und der PVK-Evaluation Stellung zu nehmen und lädt ihn ein, in seiner Stellungnahme aufzuzeigen, mit welchen Massnahmen und bis wann er die Empfehlungen der GPK-S umzusetzen gedenkt. Die Kommission möchte ebenfalls darüber orientiert werden, inwieweit ihre Empfehlungen budgetneutral umgesetzt werden können.

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Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010) Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit (Bundesgesetz gegen die Schwarzarbeit, BGSA; SR 822.41)

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Genehmigen Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte, den Ausdruck unserer ausgezeichneten Hochachtung.

17. Februar 2009

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates Der Kommissionspräsident: Hans Hess, Ständerat Der Präsident der Subkommission EFD/EVD: Helen Leumann, Ständerätin Die Sekretärin der Geschäftsprüfungskommissionen: Beatrice Meli Andres Der Sekretär der Subkommission EFD/EVD: Christoph Albrecht

Beilage: Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zur Führung und Beaufsichtigung der Arbeitslosenversicherung durch den Bund vom 27. März 2008

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Abkürzungsverzeichnis ALV AVIG BGE EFK GPK-S PVK RAV RVOG

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Arbeitslosenversicherung Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung Bundesgerichtsentscheid Eidgenössische Finanzkontrolle Geschäftsprüfungskommission des Ständerates Parlamentarische Verwaltungskontrolle Regionalen Arbeitsvermittlungen Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz