09.021 Botschaft zum Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des revidierten Übereinkommens von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 18. Februar 2009

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einem Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des revidierten Übereinkommens von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

18. Februar 2009

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Hans-Rudolf Merz Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2008-2706

1777

Übersicht Das Lugano-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September 1988 (LugÜ) ist für die Schweiz seit dem 1. Januar 1992 in Kraft.

Vorliegend geht es um eine Revision dieses Übereinkommens.

Mit dem Lugano-Übereinkommen und dem inhaltlich fast gleichlautenden, für die damaligen EU-Staaten relevanten Parallelübereinkommen von Brüssel (gleichsam dem Vorgänger des LugÜ) wurde der grenzüberschreitende Handel im EU- und EFTA-Raum um wichtige Eckpfeiler der Rechtssicherheit ergänzt, nämlich um einheitliche Zuständigkeitsregeln und ein wirksames System der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen. Das Lugano-Übereinkommen hat sich grundsätzlich bewährt. Gleichwohl sind verschiedene Bestimmungen der Parallelübereinkommen umstritten und führen zu Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung.

Zudem haben neuere Entwicklungen, etwa der grenzüberschreitende elektronische Geschäftsverkehr, aber auch der Wunsch nach einer verstärkten Effizienz des Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens, einen Anpassungsdruck geschaffen.

Das revidierte Lugano-Übereinkommen basiert auf dem Revisionsentwurf einer EU/EFTA-Arbeitsgruppe vom April 1999 für zwei revidierte Parallelübereinkommen von Brüssel und Lugano. Aufgrund der Kompetenzen, die der Amsterdamer Vertrag der EU neu einräumte, setzte die EU diesen Entwurf statt in Form eines Übereinkommens in der Form einer EU-Verordnung um, die für die EU-Staaten seit dem 1. März 2002 in Kraft ist. Mit dem am 30. Oktober 2007 in Lugano unterzeichneten, vorliegend zur Ratifikation unterbreiteten, revidierten Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (revLugÜ) werden die Ergebnisse der Einigung von 1999 nun auch im Verhältnis zu den EFTA-Staaten Schweiz, Norwegen und Island umgesetzt. Das revLugÜ stimmt deshalb inhaltlich weitgehend mit der entsprechenden EU-Verordnung überein.

Die wichtigsten Neuerungen des revidierten Lugano-Übereinkommens im Bereich der Zuständigkeitsnormen betreffen: ­

den Vertragsgerichtsstand sowie die Zuständigkeit in Konsumentensachen, insbesondere im Hinblick auf elektronische Geschäftsabschlüsse;

­

vertragsautonome Begriffsbestimmungen betreffend die Rechtshängigkeit sowie den Sitz juristischer Personen, sowie

­

kleinere Anpassungen bei den Gerichtsständen des Arbeitsvertrages, des Gerichtsstands für Versicherungssachen, den ausschliesslichen Gerichtsständen für immobilien- und immaterialgüterrechtliche Klagen und bei den Koordinationsbestimmungen für konnexe Verfahren.

1778

Im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen wurden folgende wesentliche Anpassungen vorgenommen: ­

Materielle Einwände gegen die Vollstreckbarerklärung werden erst im Rechtsmittelstadium geprüft.

­

Unbedeutende Formfehler bei der Übermittlung der Klageschrift können die Anerkennung und Vollstreckung alleine nicht mehr verhindern.

Die wichtigste Neuerung für die Praxis ergibt sich aus der Ausweitung des räumlichen Geltungsbereichs des Lugano-Raums um die EU-Staaten, die im Rahmen der Osterweiterung der EU beigetreten sind, mit Ausnahme Polens, das bereits dem LugÜ beigetreten ist. Dem revLugÜ können weitere Staaten beitreten. Allfällige neue EU-Mitglieder fallen automatisch unter den Anwendungsbereich des Übereinkommens.

Die vorliegende Botschaft behandelt die durch die Revision eingeführten Neuerungen des Übereinkommens sowie die vorgesehenen Anpassungen im Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) und in der Vorlage über eine Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO). Diese Anpassungen betreffen im Wesentlichen die Einführung eines neuen Arrestgrundes und die Ausweitung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts.

Die Inkraftsetzung des revidierten Übereinkommens wird auch zum Anlass genommen, die Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) bezüglich der örtlichen Zuständigkeit sowohl mit dem Übereinkommen als auch mit der ZPO in Einklang zu bringen. Ziel der Anpassungen ist es, Unterschiede zwischen dem IPRG und den übrigen Rechtsquellen dort zu beheben, wo sie sachlich nicht gerechtfertigt sind, und gewisse Regelungslücken bezüglich der örtlichen Zuständigkeit zu schliessen.

1779

Inhaltsverzeichnis Übersicht

1778

1 Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.2 Entstehung und rechtliches Umfeld des revLugÜ 1.3 Neuerungen des Übereinkommens im Überblick 1.4 Gesetzesanpassungen im Überblick 1.5 Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens

1783 1783 1784 1785 1785 1786

2 Die Neuerungen des Übereinkommens im Einzelnen 2.1 Anwendungsbereich des Übereinkommens 2.2 Gerichtsstände für vertragliche Streitigkeiten 2.2.1 Der Gerichtsstand am Erfüllungsort 2.2.1.1 Allgemeines 2.2.1.2 «Vertrag» bzw. «Ansprüche aus einem Vertrag» sowie Waren- und Dienstleistungsverträge 2.2.1.3 Abgrenzung zwischen den Buchstaben a und b 2.2.1.4 Der Klage zugrunde liegende Verpflichtung 2.2.1.5 Bestimmung des Erfüllungsorts 2.2.2 Die Gerichtsstände für versicherungsvertragliche Streitigkeiten 2.2.3 Die Gerichtsstände für konsumentenvertragliche Streitigkeiten 2.2.4 Die Gerichtsstände für arbeitsvertragliche Streitigkeiten 2.3 Weitere Neuerungen bei den Gerichtsständen 2.3.1 Der Gerichtsstand für Unterhaltsklagen 2.3.1.1 Verfahren in Zusammenhang mit der elterlichen Verantwortung 2.3.1.2 Koordination mit der EU-Unterhaltsverordnung 2.3.2 Der Gerichtsstand für vorbeugende Unterlassungsklagen aus unerlaubter Handlung 2.3.3 Der Gerichtsstand für konnexe Klagen 2.3.4 Der Gerichtsstand der Gewährleistungs- und Interventionsklage 2.3.5 Ausschliessliche Gerichtsstände für gesellschaftsrechtliche, immaterialgüterrechtliche und vollstreckungsrechtliche Streitigkeiten 2.3.6 Die Zuständigkeitsvereinbarung 2.4 Rechtshängigkeit 2.5 Autonome Sitzdefinition juristischer Personen 2.6 Anerkennung und Vollstreckung 2.6.1 Grundzüge der Neuerungen 2.6.2 Gründe für die Verweigerung der Anerkennung 2.7 Das revidierte Exequaturverfahren und seine Umsetzung in der Schweiz 2.7.1 Vorbemerkungen 2.7.1.1 Das revLugÜ im schweizerischen Vollstreckungsrecht 2.7.1.2 Grundzüge der Umsetzung 2.7.1.3 Das inzidente Exequatur als Alternative

1787 1787 1788 1788 1788

1780

1789 1789 1790 1791 1792 1792 1795 1797 1797 1797 1797 1798 1798 1799 1799 1801 1801 1804 1805 1805 1805 1807 1807 1807 1808 1810

2.7.2 Das Exequaturverfahren in erster Instanz 2.7.3 Die Rechtsbehelfe gegen den Exequaturentscheid 2.7.3.1 Vorgaben des Übereinkommens 2.7.3.2 Die revLugÜ-Beschwerde 2.7.3.3 Der Rechtsbehelf an das Bundesgericht 2.7.4 Gemeinsame Vorschriften zum Exequatur und zum Rechtsbehelfsverfahren 2.7.5 Sicherungsmittel der Gläubigerinnen und Gläubiger im Exequaturverfahren 2.7.5.1 Vorgaben des Übereinkommens 2.7.5.2 revLugÜ-Sicherungsmittel für die Schweiz 2.8 Rechtsprechung zum revLugÜ und zur EuGVO

1810 1812 1812 1813 1814 1814 1815 1815 1816 1817

3 Vorbehalte und Erklärungen zum Übereinkommen

1818

4 Änderungen im SchKG und der ZPO 4.1 Änderungen im SchKG 4.2 Änderungen in der ZPO

1820 1820 1824

5 Änderungen im IPRG 5.1 Hintergrund und Zweck der Änderungen 5.2 Die Änderungen im Einzelnen

1826 1826 1827

6 Würdigung 6.1 Neuerungen des revidierten Abkommens gegenüber dem geltenden LugÜ 6.2 Verträglichkeit des Übereinkommens mit der schweizerischen Rechtsordnung 6.3 Vorteile des revidierten SchKG-Vollstreckungsverfahrens für Gläubigerinnen und Gläubiger in der Schweiz 6.4 Zweckmässige Anpassungen im IPRG

1830

7 Auswirkungen der Vorlage 7.1 Finanzielle und personelle Auswirkungen auf Bund, Kantone und Gemeinden 7.2 Auswirkungen auf die Informatik 7.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

1832

8 Verhältnis zur Legislaturplanung

1833

9 Rechtliche Aspekte 9.1 Verfassungsmässigkeit der Vorlage 9.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen und Verhältnis zum europäischen Recht

1833 1833

1830 1831 1831 1832

1832 1833 1833

1834

1781

Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des revidierten Übereinkommens von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Entwurf)

1835

Übereinkommen von Lugano vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

1841

1782

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

Das geltende Übereinkommen von Lugano vom 16. September 19881 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom (LugÜ) ist für die Schweiz seit dem 1. Januar 1992 in Kraft. Vorliegend geht es um eine Revision des LugÜ.

Für die Entstehungsgeschichte des LugÜ, dessen wichtigste Wesensmerkmale ­ die weitestgehend unverändert geblieben sind ­ und für die im Rahmen der vorliegenden Revision nicht betroffenen Bestimmungen kann auf die Ausführungen der Botschaft vom 21. Februar 19902 verwiesen werden. Die seitdem erfolgten Entwicklungen in der Rechtsprechung werden, soweit sie keine von der Revision erfassten Bestimmungen betreffen, nachfolgend nicht besprochen.

Das LugÜ hat sich sowohl in der Schweiz als auch in den übrigen Vertragsstaaten anerkanntermassen bewährt. Eine Revision drängt sich gleichwohl aus verschiedenen Gründen auf: Der Gerichtsstand für vertragliche Streitigkeiten bereitet in der Praxis Schwierigkeiten aufgrund seiner Komplexität und fehlenden Berechenbarkeit.

Fehlende Definitionen, etwa der die Rechtshängigkeit auslösenden Handlung oder des Sitzes der juristischen Person, haben ebenfalls zu Auslegungsproblemen geführt.

Wichtige von der Rechtsprechung entwickelte Tatbestandselemente sind im bisherigen Übereinkommenstext nicht enthalten.

Der räumliche Anwendungsbereich des LugÜ umfasst ausserdem mittlerweile nur noch 16 der 27 EU-Mitgliedstaaten, da die im Rahmen der Osterweiterung der Europäischen Union (EU)3 beigetretenen Staaten (mit Ausnahme Polens, das bereits dem LugÜ beigetreten ist) dem LugÜ nicht angehören. Das revidierte Übereinkommen erlaubt die Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs auf 11 neue EU-Staaten. Das vorliegende revidierte Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (revLugÜ) ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen der EU, ihren Mitgliedstaaten und den am LugÜ beteiligten EFTAStaaten, die bis 1997 zurückreichen. Es enthält in zahlreichen Bereichen Verbesserungen, Klarstellungen und Vereinfachungen gegenüber dem geltenden LugÜ.

Nachdem ein gemeinsamer Revisionsentwurf einer gemischten EU/EFTA-Gruppe vom April 1999 bislang lediglich seitens der EU umgesetzt worden ist, besteht
zudem zwischen dem LugÜ und der für die EU-Staaten massgeblichen Rechtsquelle keine weitgehende Parallelität mehr. Das revLugÜ stellt diese Parallelität wieder her.

1 2 3

SR 0.275.11 BBl 1990 II 208, Separatdruck 90.017.

Die Bezeichnung «Europäische Union» (EU) hat in der Umgangssprache den Begriff der «Europäischen Gemeinschaft» (EG) ersetzt. Grundsätzlich wird hier der Ausdruck EU im umgangssprachlichen und nicht im juristischen Sinn verwendet.

1783

Bei Inkrafttreten des LugÜ am 1. Januar 1992 wurde eine Anpassung des Bundesgesetzes vom 11. April 18894 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) an das LugÜ unterlassen. Dieser Umstand hat zu Kritik in Doktrin und Rechtsprechung geführt und sich insofern als nachteilig erwiesen, als wichtige Fragen weiterhin umstritten geblieben sind oder zu kantonal uneinheitlichen Lösungen geführt haben.

In dieser Vorlage werden diese Anpassungen nachgeholt. Die vom Übereinkommen gewollte Beschleunigung und Vereinfachung des Vollstreckungsverfahrens soll nicht durch eine fehlende Abstimmung mit dem SchKG vereitelt werden.

Im Hinblick auf damals noch laufende Verhandlungen für ein revidiertes LugÜ wurde im Rahmen der Vorlage für eine Schweizerische Zivilprozessordnung (Zivilprozessordnung, ZPO) vom 19. Dezember 20085 auf eine Revision der Gerichtsstände im Bundesgesetz vom 18. Dezember 19876 über das Internationale Privatrecht (IPRG) verzichtet. Im Lichte des revidierten LugÜ, vor allem aber auch der Bestimmungen der ZPO zum Gerichtsstandsrecht, drängt sich eine Anpassung der Bestimmungen des IPRG im Sinne einer Harmonisierung der Rechtsetzungsebenen auf. Diese Anpassungen stehen zwar nicht in direktem Zusammenhang mit der Revision des LugÜ, fügen sich jedoch mit den Anpassungen rund um das revLugÜ zu einer eigentlichen Teilrevision des internationalen Zivilprozessrechts der Schweiz zusammen.

1.2

Entstehung und rechtliches Umfeld des revLugÜ

Eine im Dezember 1997 mit den Arbeiten zur Revision des Brüsseler und des Lugano-Übereinkommens beauftragte und im Januar 1998 gebildete gemeinsame EU/EFTA-Arbeitsgruppe schloss am 23. April 1999 ­ unmittelbar vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages7 ­ ihre Arbeit ab und legte einen gemeinsamen Text vor.

Im Juli 1999 beschloss die Europäische Kommission, gestützt auf neue Kompetenzen aus dem Amsterdamer Vertrag, die Revisionsvorschläge nicht in Form eines Übereinkommens, sondern in Form einer EU-Verordnung umzusetzen. Auf dieser Grundlage verabschiedete der EU-Rat am 22. Dezember 2000 die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen («EuGVO»)8. Die EuGVO trat am 1. März 2002 in Kraft und ist mittlerweile für alle EU-Staaten verbindlich. Inhaltlich basiert die EuGVO auf dem Revisionstext vom 23. April 1999.

Die ursprünglich zeitlich parallel vorzunehmende Anpassung des LugÜ verzögerte sich allerdings. So war lange Zeit unklar, ob der EU für den Abschluss des revidierten LugÜ eine ausschliessliche oder bloss eine «gemischte» Aussenkompetenz zukommt. Erst durch ein Gutachten vom 7. Februar 2006 des Europäischen Gerichtshofs wurde die Frage in ersterem Sinne beantwortet. In der Folge sehen sich die Schweiz, Norwegen und Island nun einem einzigen Vertragspartner, der EU, 4 5 6 7 8

SR 281.1 SR 272; BBl 2009 21 SR 291 ABl der EG, C-340 vom 10.11.1997, S. 1.

ABl der EG, L-12 vom 16.1.2001, S. 1.

1784

handelnd durch die Europäische Kommission, gegenüber. Entsprechend tritt die EU im revLugÜ als selbstständige Vertragspartei anstelle ihrer Mitgliedstaaten auf.

Einzig Dänemark ist aufgrund seines Sonderstatus selbstständige Vertragspartei.

Weitere Vertragsparteien sind neben der Schweiz das Königreich Norwegen und Island.

Im Anschluss an das Gutachten vom 7. Februar 2006 nahmen diese Parteien die Verhandlungen wieder auf. Der definitive Revisionstext wurde an der diplomatischen Konferenz von Lugano vom 30. Oktober 2007 unterzeichnet. Zum Übereinkommen existiert ein Bericht des von der EU/EFTA-Arbeitsgruppe ernannten Berichterstatters, Prof. Fausto Pocar.9

1.3

Neuerungen des Übereinkommens im Überblick

Die wichtigsten materiellen Revisionspunkte im Bereich der Zuständigkeitsnormen betreffen den Vertragsgerichtsstand sowie die Zuständigkeit in Konsumentensachen, insbesondere im Hinblick auf elektronische Geschäftsabschlüsse. Ebenfalls bedeutende Neuerungen, meist in Form autonomer Bestimmungen zur Vermeidung bisheriger Unklarheiten oder unbefriedigender Verweisungslösungen, betreffen die Frage der Rechtshängigkeit sowie die Bestimmung des Sitzes juristischer Personen.

Ein weiterer Bereich, in welchem wichtige Anpassungen vorgenommen wurden, betrifft die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen. Ziel dieser Anpassungen war es, die entsprechenden Verfahren zu beschleunigen und dabei die Rechte des Vollstreckungsgegners möglichst weitgehend zu wahren.

Neben diesen Hauptpunkten sind eine Reihe weiterer Änderungen vorgenommen worden. Sie betreffen die Gerichtsstände bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten und für Versicherungssachen, den ausschliesslichen Gerichtsstand für Immobilienklagen sowie die Einlassung.

In formeller Hinsicht gab es ebenfalls nennenswerte Anpassungen. So wurde das Übereinkommen bezüglich der Artikelnummerierung an die EuGVO angeglichen.

Ausserdem wurden sämtliche Auflistungen, etwa der zuständigen Gerichtsbehörden der einzelnen Vertragsstaaten (vgl. Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs. 2, Art. 32, Art. 37 und Art. 40 LugÜ) in verschiedene Anhänge zum Übereinkommen verlegt. Dies erleichtert einerseits die Übersicht und Lesbarkeit des Übereinkommens und erlaubt es andererseits, diese Angaben in einem vereinfachten Verfahren anzupassen, ohne dabei das Übereinkommen formell revidieren zu müssen.

1.4

Gesetzesanpassungen im Überblick

Die reibungslose Umsetzung des revLugÜ in der Schweiz bedingt punktuelle Anpassungen im schweizerischen Verfahrens- und Vollstreckungsrecht, namentlich im SchKG und der ZPO.

9

Der Pocar-Bericht ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/themen/wirtschaft/ref_internationales_privatrech t/ref_lugano_uebereinkommen/ref_0.html

1785

Die Anpassungen im SchKG betreffen im Wesentlichen die Schaffung eines neuen Arrestgrundes für Gläubiger mit einem vollstreckbaren revLugÜ-Entscheid oder einem schweizerischen definitiven Rechtsöffnungstitel. Gleichzeitig erhält das Vollsteckungsgericht, welches neu auch die Funktion des bisherigen Arrestgerichts übernimmt, die Kompetenz, mit dem Arrestgesuch das revLugÜ-Exequatur auszusprechen. Der Arrest wird in mehrfacher Hinsicht prozessual aufgewertet. Neu kann das Vollstreckungsgericht den Arrest ­ analog der Rechtslage für Sicherungsmassnahmen unter der ZPO ­ über sämtliche in der Schweiz belegenen Vermögenswerte (und nicht nur über solche innerhalb seines Gerichtskreises) ausgesprochen werden.

Die örtliche Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts für die Arrestbewilligung wird zudem auf den Betreibungsort des Schuldners ausgeweitet.

Wird mit dem Exequatur kein Gesuch um Sicherungsmassnahmen gestellt oder betreffen diese Massnahmen nicht die Sicherung von Geldforderungen, so wird das Exequatur wie von der ZPO generell vorgesehen vom nach Artikel 339 ZPO zuständigen Vollstreckungsgericht ausgesprochen.

Die Anpassungen in der ZPO betreffen primär den revLugÜ-Rechtsbehelf. Hier wird die Beschwerde an die Besonderheiten des revLugÜ, namentlich bezüglich der Kognition, angepasst. Im Übrigen wird die (nicht modifizierte) Beschwerde generell zum Rechtsbehelf gegen Vollstreckungs- und Sicherungsentscheide.

Auf die Anpassungen im IPRG, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem revLugÜ stehen, wird in Ziffer 5 eingegangen.

1.5

Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens

Das Vernehmlassungsverfahren zum revidierten Lugano-Übereinkommen und den damit einhergehenden Gesetzesanpassungen in SchKG, ZPO und IPRG dauerte vom 30. Mai 2008 bis zum 12. September 2008.10 Die Stellungnahmen zum revLugÜ und den Anpassungen im SchKG und der ZPO lassen sich wie folgt zusammenfassen:

10

­

Sämtliche Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer begrüssen grundsätzlich das revidierte Lugano-Übereinkommen. Am häufigsten positiv hervorgehoben wird dabei die Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs auf 11 neue EU-Staaten, die dem geltenden LugÜ nicht angehören.

­

Sämtliche Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer begrüssen es, dass der Bundesgesetzgeber die Inkraftsetzung des Übereinkommens mit einer Vereinheitlichung des Sicherungsmittels und einer Abstimmung der Verfahrensbestimmungen des Übereinkommens mit dem schweizerischen Prozessrecht (SchKG und ZPO) verbindet. Positiv hervorgehoben wurde die damit einhergehende Beseitigung der bisherigen Rechtsunsicherheit.

­

Die weit überwiegende Anzahl der Stellungnahmen begrüsst die Wahl des Arrests als Sicherungsmittel des Vollstreckungsgläubigers unter dem revLugÜ. Ebenso begrüsst wurde die prozessuale Aufwertung des Arrests (schweizweiter Arrest, Zuständigkeit am Betreibungsort) und die Auswei-

Die Vernehmlassungsunterlagen sind im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/themen/wirtschaft/ref_gesetzgebung/ref_lugano_ uebereinkommen.html

1786

tung gewisser prozessualer Verbesserungen auf schweizerische Gläubigerinnen und Gläubiger mit einem definitiven Rechtsöffnungstitel.

­

Einige Stellungnahmen wünschen bezüglich der Umsetzung im SchKG eine dichtere und ausdrückliche Regelung gewisser Neuerungen im Gesetzestext.

­

Schliesslich wurde in einigen Stellungnahmen der Wunsch geäussert, dass das revLugÜ und die neuen Bestimmungen bezüglich des Inkrafttretens mit der ZPO koordiniert werden und somit wohl erst 2011 in Kraft treten sollen.

Die vorgeschlagenen Anpassungen im IPRG fanden ebenfalls eine durchwegs positive Aufnahme, wobei diese Änderungen weitaus weniger Reaktionen hervorriefen.

Einzig die vorgeschlagene Einschränkung des Erfüllungsortsgerichtsstands (Art. 113 IPRG) auf den Erfüllungsort der charakteristischen Leistung und die damit einhergehende Streichung des Klägergerichtsstands am Zahlungsort rief ­ neben ausdrücklicher Unterstützung ­ auch vereinzelte Kritik hervor. Die Vorteile der Voraussehbarkeit des Gerichtsstands und der Kohärenz der Rechtsquellen vermochten aber gegenüber dem eines hypothetischen zusätzlichen forum actoris zu überwiegen.

Der vorliegende Entwurf wurde aufgrund der Ergebnisse der Vernehmlassung in den folgenden Punkten angepasst: ­

Das SchKG (Art. 81 Abs. 3) wurde um einen ausdrücklichen Hinweis ergänzt, wonach die im Exequaturverfahren zu prüfenden Einreden nicht erneut im Rahmen der Rechtsöffnung vorgebracht werden können (res iudicata);

­

Die Möglichkeit, schweizweit Vermögensgegenstände der Schuldnerin oder des Schuldners mit Arrestbeschlag zu belegen, wird vom Vollstreckungsgericht am Betreibungsort auf das Vollstreckungsgericht am Ort, an dem sich Arrestgegenstände befinden, ausgeweitet. Zugleich wird diese neue Rechtslage ausdrücklich im Gesetz festgehalten (Art. 271 Abs. 1 SchKG).

­

Die ZPO (Art. 327a Abs. 3) wurde um einen ausdrücklichen Hinweis auf den Vorrang der staatsvertraglichen Fristen im Anwendungsbereich der revLugÜ-Beschwerde ergänzt.

­

Die Einschränkung des Erfüllungsortsgerichtsstands (Art. 113 IPRG) auf die charakteristische Leistung wurde grundsätzlich beibehalten. Hingegen wurden der Gesetzeswortlaut leicht geändert und die entsprechende Bestimmung über die indirekte Zuständigkeit (Art. 149 Abs. 2 Bst. a IPRG) an den neuen Art. 113 IPRG angepasst.

Schliesslich enthält die vorliegende Botschaft gegenüber dem Vernehmlassungsbericht vereinzelte zusätzliche Erläuterungen und Klarstellungen, was ebenfalls einem Anliegen verschiedener Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer entspricht.

2

Die Neuerungen des Übereinkommens im Einzelnen

2.1

Anwendungsbereich des Übereinkommens

Der sachliche Anwendungsbereich des revidierten Übereinkommens bleibt unverändert: Das revLugÜ ist weiterhin in Zivil- und Handelssachen anwendbar. Innerhalb dieses Bereiches werden gemäss Artikel 62 revLugÜ neu auch gewisse Entschei1787

dungen eingeschlossen, die nicht von einem Gericht, sondern von Verwaltungsbehörden erlassen worden sind (vgl. dazu Ziff. 2.3.5, Komm. zu Art. 22 Ziff. 5).

Der räumliche Anwendungsbereich des Übereinkommens hingegen wird geändert.

Diese Änderungen werden in Artikel 1 Absatz 3 angesprochen. Indirekt können sich zudem aus den Neuerungen in den Artikeln 18 und 60 (vgl. dazu Ziff. 2.2.4 und Ziff 2.5) punktuelle Ausweitungen des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Übereinkommens ergeben.

Der neu eingefügte Absatz 3 von Artikel 1 wurde notwendig, weil nunmehr die Europäische Gemeinschaft Vertragspartei ist und nicht mehr ihre Mitgliedstaaten, das Übereinkommen jedoch weiterhin unmittelbar die Gerichte ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet. Statt von «Vertragsstaaten» ist daher nunmehr von «durch dieses Übereinkommen gebundenen» Staaten die Rede. Diese etwas schwerfällige Formel umfasst sowohl die Mitgliedstaaten der EU als auch die übrigen Vertragsparteien Island, Norwegen und die Schweiz. Aufgrund seines Sonderstatus innerhalb der EU ist auch Dänemark unmittelbare Vertragspartei. Mit dem zweiten Satz von Absatz 3 wird der hypothetische Fall abgedeckt, dass in Zukunft EU-Gerichte oder sonstige EU-Behörden gewisse Aufgaben staatlicher Gerichte ihrer Mitgliedstaaten übernehmen. Auch solche Gerichte und Behörden sollen unmittelbar dem Übereinkommen unterstehen.

Gegenüber dem geltenden LugÜ erweitert sich unter dem revLugÜ der Geltungsbereich des Lugano-Raums um 11 Staaten auf insgesamt 30. Bei den hinzugekommenen Staaten handelt es sich um die im Verlauf der letzten Jahre der EU beigetretenen Länder Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Malta, Zypern, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien und Rumänien (Polen ist bereits dem LugÜ beigetreten). Aufgrund der EU-Aussenkompetenz stellt das revidierte LugÜ die einzige Möglichkeit dar, die «neuen» EU-Mitgliedstaaten sowie allfällige künftige Mitgliedsstaaten in den LugÜ-Rechtsraum einzubinden.

Dem revLugÜ können in Zukunft auch aussereuropäische Staaten beitreten. Hierzu bedarf es aber des Einverständnisses sämtlicher Vertragsparteien. Allfällige neue EU-Mitglieder treten hingegen automatisch in den Anwendungsbereich des Übereinkommens.

2.2

Gerichtsstände für vertragliche Streitigkeiten

2.2.1

Der Gerichtsstand am Erfüllungsort

2.2.1.1

Allgemeines

Den Anlass zur Revision von Artikel 5 Absatz 1 gaben vorab die unübersehbaren Anwendungsprobleme, welche die bisherige Fassung des Vertragsgerichtsstands bereitet. Die Problematik der bisherigen Bestimmung zeigt nicht nur eine Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum EuGVÜ, sondern auch die noch verhältnismässig junge Rechtsprechung zum LugÜ, wonach ungefähr die Hälfte der gerichtlichen Entscheidungen zum Vertragsgerichtsstand ergehen.

Diese Anwendungsprobleme hatten sich bei einer ganzen Reihe von Verhandlungsdelegationen mit der Einsicht verbunden, dass der Vertragsgerichtsstand im Grunde entbehrlich sei und ersatzlos gestrichen werden könne. Weil aber diesbezüglich kein Konsens zustande kam, verlegte man sich darauf, den Vertragsgerichtsstand gegen1788

über der heutigen Situation einzuschränken. Die Bemühungen zur Einschränkung konzentrierten sich auf den Erfüllungsort der Zahlungsverpflichtung, der in der Doktrin vielfach und unter mehreren Aspekten kritisiert worden ist. Die schweizerische Forderung, den Zahlungsgerichtsstand völlig auszuschalten, indem allein auf den Erfüllungsort der charakteristischen Leistung abgestellt wird, setzte sich in Bezug auf Kauf- und Dienstleistungsverträge, nicht aber für die übrigen Vertragstypen und Innominatverträge durch.

Die neue Regelung führt den erwähnten Vorschlag, allein auf die charakteristische Leistung abzustellen, mit dem status quo zusammen. Buchstabe a ist wörtlich der bestehenden Regelung entnommen; Buchstabe b bezeichnet für Warenkaufs- und Dienstleistungsverträge den Erfüllungsort der vertragscharakteristischen Leistung als massgeblich. Buchstabe c versucht, das Verhältnis zwischen den beiden vorangehenden Ziffern zu klären.

2.2.1.2

«Vertrag» bzw. «Ansprüche aus einem Vertrag» sowie Waren- und Dienstleistungsverträge

Die Gerichtsstandsregel greift grundsätzlich nach wie vor immer dann, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag Verfahrensgegenstand sind (Bst. a). An der vertragsautonomen Auslegung dieser Begriffe hat sich nichts geändert. Der EuGH gibt ihnen bewusst eine breite Auslegung: So fallen darunter auch etwa Streitigkeiten über das Bestehen des Vertragsverhältnisses an sich11. Ebenfalls autonom ist die neue Qualifikation der Warenverkaufs- und Dienstleistungsverträge nach Buchstabe b vorzunehmen. Es handelt sich um breite Begriffe: Der Warenkauf kann sich am CISG12 und an der Richtlinie über den Kauf von Verbrauchsgütern orientieren.13 Artikel 50 des EG-Vertrags14 und die Rechtsprechung zu Artikel 13 Ziffer 3 LugÜ dienen als Ausgangspunkte zur Definition der Dienstleistung. Unter «Dienstleistung» dürften alle (Nominat- und Innominat-) Verträge einzureihen sein, die eine entgeltliche, tätigkeitsbezogene Leistung an die andere Vertragspartei zum Gegenstand haben. Darunter fallen Werk- und Werklieferungsverträge sowie der Auftrag in seinen meisten Ausgestaltungen.

2.2.1.3

Abgrenzung zwischen den Buchstaben a und b

Zur präzisen Bestimmung des für Buchstabe a verbleibenden Bereichs ist die Abgrenzung nach Buchstabe c zu beachten, wonach Buchstabe a gilt, sofern Buchstabe b nicht anwendbar ist. Die alte Regelung nach Buchstabe a ist damit grundsätzlich anwendbar, wenn das betroffene Vertragsverhältnis ausserhalb der Warenlieferungs- und Dienstleistungsverträge anzusiedeln ist. Stimmen aus Literatur und Rechtsprechung, welche der Anwendung von Buchstabe a ein breiteres Anwendungsfeld eröffnen möchten, sind historisch nicht begründbar, denn die Revision 11 12 13 14

EuGH, Urteil vom 4.3.1982, Rs. 38/81, Effer/Kantner, Slg. 1982, 825.

Wiener Übereinkommen vom 11. April 1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf; SR 0.221.211.1 Richtlinie (EG) 99/44 vom 25.5.1999.

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Konsolidierte Fassung), ABl der EG C-325 vom 24. Dezember 2002.

1789

war vom Gedanken getragen, für Warenkauf- und Dienstleistungsverträge eine einheitliche Gerichtsstandsregel zu schaffen.

Interpretiert man Buchstabe c grammatikalisch, so könnte sich eine weitere Einschränkung des Buchstabens b aus der Perspektive des räumlichen Anwendungsbereichs ergeben: Resultiert aus der Anwendung von Buchstabe b eine Zuständigkeit ausserhalb eines Mitgliedstaates, weil die Waren etwa in Brasilien zu liefern sind, so soll ebenfalls Buchstabe a und damit die alte Regelung massgeblich sein.15 Dahinter steckt der Gedanke, dass der Zahlungsgerichtsstand am Wohnsitz der Verkäuferin oder des Verkäufers eingreifen kann, wenn die Leistung der Verkäuferin oder des Verkäufers ausserhalb des Staatsvertragsgebiets zu erfüllen ist ­ immer vorausgesetzt, dass beide Parteien Wohnsitz in einem Vertragsstaat haben und nach anwendbarem materiellem Recht Geldschulden als Bringschulden bei der Verkäuferin oder beim Verkäufer zu erfüllen sind. Diese Regelung kann also zum Vorteil der Exporteurinnen und Exporteure gereichen, die ausserhalb Europa liefern. Gegen eine solche breite Auslegung der Bestimmung spricht jedoch, dass sie gleichzeitig den (ebenfalls europäischen) die Käuferinnen und Käufer benachteiligt, und dass diese Doppelbedeutung des Buchstabens c für die Praktizierenden ohnehin schwer erkennbar ist.

2.2.1.4

Der Klage zugrunde liegende Verpflichtung

Buchstabe a entspricht wörtlich dem bestehenden Text; aus diesem Text leitet der EuGH ab, die der jeweiligen Klage zugrunde liegende vertragliche Verpflichtung sei zur Bestimmung des Erfüllungsgerichtsstands massgeblich. Dabei wird grundsätzlich an jeder einzelnen vertraglichen Verpflichtung gesondert angeknüpft.16 Dies sei am Beispiel des Kaufvertrags erläutert: Die Klage der Käuferin oder des Käufers geht auf Ablieferung des Kaufgegenstandes, die Klage der Verkäuferin oder des Verkäufers auf Bezahlung des Kaufpreises. Der Kaufgegenstand ist gemäss Vertrag in Rotterdam abzuliefern, und das Geld auf eine Bank in Zürich einzuzahlen. Nach dieser Methode ergibt sich eine Mehrzahl potenzieller Gerichtsstände innerhalb eines Vertrags. Weil Geldschulden nach der schweizerischen und nach zahlreichen ausländischen Rechtsordnungen Bringschulden sind, führt der Gerichtsstand am Erfüllungsort der Zahlungsverpflichtung zudem häufig zu einem sachfremden Klägergerichtsstand des Verkäufers. Der EuGH ist von diesem Grundsatz nur bei Arbeitsverträgen abgewichen: Dort wird die vertragscharakteristische Arbeitsleistung zur Bestimmung des Gerichtsstands herangezogen, unabhängig davon, welche vertragliche Verpflichtung der Klage zugrunde liegt.17 Die Revision übernimmt nunmehr die arbeitsvertragliche Rechtsprechung als allgemeine Regel für Klagen, die unter Buchstabe b fallen: Für Warenkauf- und Dienstleistungsverträge findet damit eine Konzentration des Gerichtsstands beim Erfül-

15

16

17

Vorschlag der EU-Kommission vom 14.7.1999 für eine Verordnung (EG) des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, KOM (1999) endg., 15.

Vgl. EuGH, Urteil vom 6.10.1976, Rs. 14/76, De Bloos/Bouyer, N. 13 f., Slg. 1976, 1497; Urteil vom 15.1.1987, Rs. 266/85, Shenavai/Kreischer, Slg. 1987, 239, Nr. 9; Urteil vom 5.10.1999, Rs. 420/97, Leathertex, Slg. 1999, 6747; BGE 124 III 188, 189 f.

EuGH, Urteil vom 25.5.1982, Rs. 133/81, Ivenel/Schwab, Slg. 1982, 1891.

1790

lungsort der charakteristischen Verpflichtung statt.18 Zwar können sich neue Probleme in den ­ in der Praxis weniger häufigen ­ Fällen gemischter und komplexer Verträge stellen, bei denen die Bestimmung der vertragscharakteristischen Leistung Schwierigkeiten bereiten kann. Ein einheitlicher Gerichtsstand innerhalb eines Vertrags bringt indessen eine enorme Vereinfachung, denn die Voraussehbarkeit des Gerichtsstands für die Vertragsparteien wird insgesamt stark verbessert. Sie hängt insbesondere nicht mehr von der Unwägbarkeit ab, welche Verpflichtung der Klage zugrunde gelegt wird; mit der Ausschaltung der Zahlungsverpflichtung ist der Gerichtsstand auch nicht mehr davon abhängig, ob Geldschulden nach der baren Rechtsordnung Bring- oder Holschulden sind.

2.2.1.5

Bestimmung des Erfüllungsorts

Weil der Wortlaut des Artikels 5 Ziffer 1 Buchstabe a demjenigen des LugÜ/EuGVÜ entspricht, ist davon auszugehen, dass der Erfüllungsort in diesem Rahmen gleich wie nach den alten Staatsverträgen ermittelt wird. Nach einer langjährigen Rechtsprechung des EuGH ist der Erfüllungsort grundsätzlich nach der lex causae zu bestimmen, d.h. nach dem Recht, das nach dem internationalen Privatrecht des Gerichtsstaats anzuwenden ist. 19 Ob dieser Ansatz zugunsten einer «autonomen» Definition des Erfüllungsorts aufgegeben werden sollte, war lediglich zu Beginn der Verhandlungen ein vieldiskutiertes und umstrittenes Thema. Verschiedene ausformulierte Vorschläge zu einer «faktischen» Bestimmung des Erfüllungsorts, wonach auf den effektiven oder tatsächlichen oder zwischen den Parteien vereinbarten Erfüllungsort abgestellt werden sollte, brachten keine Einigung in den Revisionsverhandlungen. Die Suche nach einer vom materiellen Recht unabhängigen Bestimmung des Erfüllungsorts gestaltet sich denn auch schwierig. Vor diesem Hintergrund gehen die bisherige Rechtsprechung Deutschlands und Österreichs sowie eine dort stark überwiegende Lehre davon aus, dass beim vereinbarten Erfüllungsort nach wie vor das anwendbare materielle Recht als Bestimmungsgrundlage heranzuziehen ist. Bei der in der Praxis selteneren Bestimmung des Erfüllungsorts, die sich nicht auf eine (auch nur konkludente) Vereinbarung stützen kann, sondern allein einer dispositiven gesetzlichen Vorschrift entnommen wird, postuliert dagegen ein Grossteil der Voten aus Rechtsprechung und Literatur eine autonome und «faktische» Bestimmung des Erfüllungsorts.

In einer kürzlich ergangenen Entscheidung zu Artikel 5 Ziffer 1 Buchstabe b EuGVO spricht sich der EuGH für eine «autonome» ­ nicht aber für eine «faktische» ­ Bestimmung eines Erfüllungsorts («Lieferorts») aus, ohne sich allerdings weitergehend zum Konzept zu äussern.20 Angesichts der allgemeinen Zurückhaltung von Rechtsprechung und Lehre, methodische Aussagen zu machen, ist die Lage als offen zu bezeichnen. Wegen der erwähnten Probleme ist aber davon auszugehen,

18 19

20

EuGH, Urteil vom 3.5.07, Rs. C-386/05, Color Drack, Nr. 26, Nr. 39.

EuGH, Urteil vom 6.10.1976, Rs. 12/76, Tessili/Dunlop, Slg. 1976, 1473; bestätigt in EuGH, Urteile vom 29.6.1994, Rs. 288/92, Custom Made Commercial/Stawa Metallbau, Slg. 1994, 2913 und vom 28.9.1999, Rs. 440/97, GIE Concorde; vgl. BGE 124 III 188, 189.

EuGH, Color Drack, zit. in Fn 18, Nr. 39; vgl. auch Nr. 24, 26 und 30.

1791

dass die Gerichte materiellrechtliche Überlegungen zur Bestimmung des Erfüllungsorts nicht aus ihrem Konzept ausschliessen können werden.

2.2.2

Die Gerichtsstände für versicherungsvertragliche Streitigkeiten

Mit Ausnahme der nachfolgend erläuterten Anpassungen entsprechen die Bestimmungen des 3. Abschnittes (Art. 8­14) inhaltlich denjenigen von Artikel 7­12a LugÜ.

Art. 9

Gerichtsstände gegenüber dem Versicherer

Artikel 9 entspricht weitgehend dem bisherigen Artikel 8 LugÜ. Eine wichtige Ergänzung in Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b eröffnet aber den Gerichtsstand am Wohnsitz der Klägerin oder des Klägers nicht mehr nur der Versicherungsnehmerin oder dem Versicherungsnehmer (Vertragspartner des Versicherers), sondern auch der versicherten Person (zu deren Gunsten oder auf deren Rechnung die Versicherungsnehmerin oder der Versicherungsnehmer die strittige Versicherung abgeschlossen hat) und dem als Begünstigten bezeichneten Dritten aus dem strittigen Versicherungsverhältnis. Als begünstigte Person kommt etwa die Empfängerin einer Leistung einer Lebens- oder Unfallversicherung in Frage. Diese kann auch mit der Person des Versicherten zusammenfallen. Die Bestimmung kommt selbstverständlich nur zum Tragen, wenn der Wohnsitz beziehungsweise Sitz der klagenden Partei und der beklagten Partei in verschiedenen Staaten liegen.

Art. 14 Ziff. 5

Grossrisiken

Soweit ein Versicherungsvertrag Grossrisiken betrifft, ist er von den Einschränkungen bei der Gerichtsstandswahl von Artikel 13 ausgenommen. Es wird angenommen, dass im Zusammenhang mit der Versicherung von Grossrisiken kein Schutzbedürfnis einer Partei besteht. Für die Auslegung des Begriffs der Grossrisiken ist von der entsprechenden Definition in den massgeblichen EU-Richtlinien21 in ihrer Fassung zum Zeitpunkt des Abschlusses des Übereinkommens auszugehen. Das schweizerische Recht hat ebendiese Definition im Rahmen des Abkommens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft betreffend die Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung22 im Artikel 101b Absatz 6 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG)23 übernommen.

2.2.3

Die Gerichtsstände für konsumentenvertragliche Streitigkeiten

Wie bis anhin enthält der 4. Abschnitt besondere Zuständigkeitsnormen für Streitigkeiten im Zusammenhang mit Konsumentenverträgen. Neu wird der Anwendungsbereich dieser Bestimmungen erweitert, hauptsächlich um neuen Kommuni21 22 23

Richtlinie 73/239/EWG des Rates, geändert durch die Richtlinie 88/357 EWG und 90/618 EWG.

SR 0.961.1 SR 221.229.1

1792

kationsmitteln und Vertragsabschlussformen gerecht zu werden (Art. 15 Abs. 1 Bst. c). Artikel 15 Absatz 3 enthält eine Klarstellung betreffend Pauschalreiseverträge.

Die Gerichtsstandsbestimmungen selbst (Art. 16 und 17) entsprechen dem Wortlaut der bisherigen Regelung der Artikel 14 und 15 LugÜ. Es wird daher auf die dazu entwickelte Rechtsprechung und Lehre verwiesen.

Art. 15

Sachlicher Anwendungsbereich

Die schon in Artikel 13 Absatz 1 Ziffern 1 und 2 LugÜ enthaltenen Tatbestände der Teilzahlungs- und Kreditgeschäfte sind in Artikel 15 Absatz 1 Buchstaben a und b unverändert enthalten. Entsprechend kann auf die Auslegung der bisherigen Bestimmungen ­ auch zum Begriff des Konsumenten ­ verwiesen werden.

Hingegen sind die Änderungen in Buchstabe c gegenüber der bisherigen Ziffer 3 von Artikel 13 Absatz 1 LugÜ von grösserer Tragweite. Der Zweck dieser Änderungen liegt darin, einerseits den Anwendungsbereich der Bestimmungen des 4. Abschnitts zu erweitern und andererseits der Verwendung moderner Kommunikationsmittel Rechnung zu tragen.

Neu sind nicht mehr «nur» Dienstleistungs- und Warenkaufverträge, sondern jede Art von Konsumentenvertrag grundsätzlich erfasst (also auch Innominatverträge, vgl. aber Art. 15 Abs. 3). Damit entfallen künftig die kontroversen Fragen rund um die Auslegung des Dienstleistungsvertrags (vgl. zuletzt BGE 133 III 395 zur Problematik der Bankgeschäfte). Da dieser Begriff ohnehin eine in der Tendenz zunehmend weite Auslegung durch die schweizerische (vgl. zit. BGE) und europäische24 Rechtsprechung erfährt, wird sich durch den Wegfall dieser Einschränkung für die Praxis wenig ändern. Der Wegfall führt vielmehr zu einem begrüssenswerten Gewinn an Rechtssicherheit.

Wie bis anhin verlangt Buchstabe c ­ anders als die Tatbestände der Buchstaben a und b ­ die Verwirklichung zusätzlicher Tatbestandselemente. Das bisherige Erfordernis der Werbung oder eines Angebots der Anbieterin oder des Anbieters, verbunden mit dem Vertragsabschluss im Wohnsitzstaat der Konsumentin oder des Konsuments, ist durch eine offenere Norm ersetzt worden. Neu ist bei allen Vertragstypen (bei denen keine besonderen Zahlungsmodalitäten nach Buchstabe a oder b.

bestehen) alternativ ­ statt kumulativ ­ erforderlich, dass entweder: ­

der «andere Vertragspartner in dem [...] Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt», oder

­

der Anbieter «seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit auf irgendeinem Wege auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten [...] ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt».

Für die erstgenannte Alternative verbleibt neben dem in Absatz 1 vorbehaltenen Niederlassungsgerichtsstand von Artikel 5 Ziffer 5 nur ein kleiner Anwendungsbereich. Zu denken ist etwa an eine Tätigkeit im Wohnsitzstaat der Konsumentin oder des Konsumenten, ohne dass eine Niederlassung besteht, etwa durch die schlichte Vornahme einer Dienstleistung. Denkbar ist auch ein Handeln der 24

EuGH, Urteil vom 20. Januar 2005, Rs. 464/01, Johann Gruber/Bay Wa AG, Slg. 2005, 439.

1793

(Zweig-)Niederlassung, welches nicht unmittelbar mit dem Betrieb derselben, sondern mit dem Hauptsitz in Zusammenhang steht.

Für die Praxis wird vor allem die zweite Alternative relevant werden. Diese besteht wiederum aus zwei kumulativen Tatbeständen: Einerseits ist ein «Ausrichten» einer Tätigkeit auf den Wohnsitzstaat der Konsumentin oder des Konsumenten erforderlich. Die fragliche Tätigkeit kann ein allgemeines, nicht zwingend auf den konkreten Vertragsabschluss, jedoch auf den jeweiligen Geschäftsbereich gerichtetes Handeln im Wohnsitzstaat der Konsumentin oder des Konsumenten sein. Eine physische Präsenz der Anbieterin oder des Anbieters im Wohnsitzstaat der Konsumentin oder des Konsumenten ist nicht notwendig.

Andererseits wird gefordert, dass der erfolgte ­ oder strittige ­ Vertragsabschluss in den Bereich der beruflichen Tätigkeit der Anbieterin oder des Anbieters fällt. Wo der Vertragsabschluss erfolgt, ist nicht mehr relevant. Da das Erfordernis der Abschlusshandlungen im Staat der Konsumentin oder des Konsumenten entfällt, wird auch der aktive Konsument geschützt, der entweder ein Kommunikationsmittel zum Vertragsabschluss von seinem Wohnsitz aus verwendet oder sich für den Vertragsschluss gar in den Sitzstaat der Anbieterin oder des Anbieters (oder auch in einen Drittstaat) begibt.

Wie die neu eingefügte Formel «auf irgend einem Wege» andeutet, will die revidierte Bestimmung den Vertragsschluss unter Zuhilfenahme von Kommunikationsmitteln, namentlich des Internets, erfassen, ohne jedoch andere technische Mittel, etwa Telefonmarketing, auszuschliessen. Das Ziel der Revision ist vielmehr eine Gleichbehandlung der Werbe- und Angebotstätigkeit über Internet und derjenigen auf traditionellen Mitteln, etwa mittels Plakat-, Zeitungs- oder Fernsehwerbung. Wie bis anhin wird eine Bearbeitung des Markts im Wohnsitzstaat der Konsumentin oder des Konsumenten gefordert. Dort muss das Angebot des der Anbieterin oder Anbieters öffentlich und somit für die Konsumentin oder den Konsumenten ohne Weiteres zugänglich sein, und zwar unabhängig von den dazu verwendeten Mitteln. Der Konsumentin oder dem Konsumenten muss dabei Gelegenheit geboten werden, ohne weitere wesentliche Bemühungen von seinem Wohnsitzstaat aus mit dem Anbieter einen Vertrag einzugehen.

Im Rahmen des E-Commerce stellt sich die Frage,
ob eine Webseite, die naturgemäss von jedem Staat aus zugänglich ist, ein «Ausrichten» der darin angebotenen Geschäftstätigkeit auf sämtliche Staaten, in denen sich potenzielle Konsumentinnen und Konsumenten finden, impliziert. Diese Frage ist für jeden Einzelfall in Anbetracht aller wesentlichen Umstände zu beurteilen. Ein «Ausrichten» dürfte dann vorliegen, wenn die fragliche Webseite ihr Angebot in keiner Weise auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt und gleichzeitig der betrachtenden Person unmittelbar Gelegenheit zum Vertragsabschluss bietet. Eine geografische Beschränkung des Angebots einer Webseite kann sowohl ausdrücklich aus der Webseite hervorgehen (etwa mittels eines Hinweises auf einen beschränkten Liefer- oder Dienstleistungsbereich oder wenn keine Möglichkeit zur Auswahl eines anderen Staates besteht) als auch aus der Gesamtheit der Umstände. Als solche Umstände kommen primär die Sprache (etwa wenn die Webseite nur in einer Regionalsprache oder nur in der Sprache eines einzigen Vertragsstaates lesbar ist) oder die Natur der Geschäftstätigkeit (etwa wenn diese nur innerhalb eines bestimmten Staates möglich ist, wie etwa Notariatsdienste, Lieferung von Frischprodukten oder Velokurierdienste) in Frage.

Demgegenüber ist die zusätzliche Bewerbung einer Webseite, etwa durch Verwen1794

dung fremdsprachlicher Meta-Tags oder durch ihre Aufführung in einschlägigen, international zugänglichen Verzeichnissen, ein Hinweis auf die internationale Ausrichtung der Geschäftstätigkeit.

In beiden von Buchstabe c erfassten Fällen wird nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass die Anbieterin oder der Anbieter gewerblich handeln muss. Verträge zwischen Nicht-Kaufleuten (auch solche, die über gewerbliche Verkaufsplattformen abgeschlossen wurden) stehen somit ausserhalb des Anwendungsbereichs des 4. Abschnitts.

Der bisherige Ausschluss der Beförderungsverträge in Artikel 13 Absatz 3 bleibt in Artikel 15 Absatz 3 nur insofern bestehen, als nicht Pauschalreisen betroffen sind.

Letztere sind weiterhin vom 4. Abschnitt erfasst. Bei Pauschalreisen wird ein besonderes Schutzbedürfnis der Konsumentinnen und Konsumenten vermutet, zudem werden solche Verträge von den bestehenden Transportübereinkommen nicht ausreichend abgedeckt. Der Anwendungsbereich dieser Ausnahme dürfte sämtliche vom Bundesgesetz vom 18. Juni 199325 über die Pauschalreisen (PauRG) abgedeckten Fälle umfassen. Anders als Artikel 1 Absatz 1 PauRG setzt der Pauschalreisenbegriff von Artikel 15 Absatz 3 revLugÜ jedoch weder eine feste Mindestdauer, Übernachtung noch einen Gesamtpreis voraus.

2.2.4

Die Gerichtsstände für arbeitsvertragliche Streitigkeiten

Die zuvor auf verschiedene Bestimmungen verstreuten Normen zu den arbeitsvertraglichen Streitigkeiten (Art. 5 Ziff. 1, Art. 17 Abs. 5 LugÜ) wurden nunmehr in einen eigenen Abschnitt verlegt (5. Abschnitt, Art. 18­21). Der Aufbau dieses Abschnitts folgt demjenigen über die Gerichtsstände in versicherungsvertraglichen Angelegenheiten im vorangehenden Abschnitt des Übereinkommens.

Art. 18

Anwendungsbereich

Artikel 18 befasst sich mit dem Anwendungsbereich des 5. Abschnitts. Gegenüber seinem Vorgänger (Art. 5 Nr. 1 LugÜ) erweitert Artikel 18 Absatz 2 im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Anwendungsbereich der besonderen Bestimmungen für Arbeitsverträge. So sind neu auch «Zweigniederlassungen, Agenturen oder sonstige Niederlassungen», die sich in einem Vertragsstaat befinden, von den Bestimmungen des 5. Abschnitts erfasst, selbst wenn deren Hauptsitz (Art. 60) nicht in einem Vertragsstaat ist. In sachlicher Hinsicht bleibt der Anwendungsbereich dieser besonderen Bestimmungen (individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem solchen) gegenüber dem LugÜ unverändert, weshalb auch diesbezüglich auf die bisherige Rechtsprechung und Lehre verwiesen werden kann.

Im Gegensatz zu Artikel 5 Ziffer 1, 2. und 3. Teilsatz LugÜ wird im neuen 5. Abschnitt zwischen den Gerichtsständen des beklagten Arbeitgebers (Art. 19) und den Gerichtsständen für Klagen der Arbeitgeberin (Art. 20) unterschieden. Artikel 21 befasst sich anstelle von Artikel 17 Absätze 4 und 5 LugÜ mit der Rechtswahl.

25

SR 944.3

1795

Auf eine Regelung des Gerichtsstands für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie er sich in der EU-Entsenderichtlinie26 findet, wurde verzichtet. Hingegen erlaubt Ziffer 3 des Protokolls Nr. 3 der Schweiz nunmehr, solche in der EU-Gesetzgebung verankerten Gerichtsstände im internen Recht nachzuvollziehen und die Anerkennung und Vollstreckung über das revLugÜ abzuwickeln. Für die Schweiz hat dies zur Folge, dass Urteile, die auf der Grundlage von Artikel 115 Absatz 3 IPRG in der Schweiz ergehen, in anderen Vertragsstaaten nach den Vorschriften des revLugÜ vollstreckt werden können (Art. 67 i.V.m. Protokoll Nr. 3 Ziff. 3).

Art. 19

Gerichtsstände der arbeitnehmenden Partei

Artikel 19 regelt die Gerichtsstände, die der klagenden, arbeitnehmenden Partei zustehen. Unter diesen Vorzeichen nimmt Artikel 19 Ziffer 2 den Regelungsinhalt von Artikel 5 Ziffer 1, 2. Teilsatz LugÜ ­ der besondere alternative Gerichtsstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmers am Arbeitsverrichtungsort oder am Ort der Niederlassung, bei der sie angestellt sind ­ im Wesentlichen unverändert auf.

Entsprechend kann auf die dazu entwickelte Rechtsprechung und Lehre verwiesen werden.

Der hinzugekommene Zusatz «bzw. befand» in Ziffer 2 Buchstabe b in fine macht nunmehr deutlich, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Falle, dass die Niederlassung, bei der sie angestellt sind, woandershin verlegt wird, ihre Klage auch am neuen Niederlassungsort anhängig machen können.

Art. 20

Gerichtsstände der arbeitgebenden Partei

Artikel 20 befasst sich mit den Gerichtsständen, die dem Arbeitgeber für eine Klage gegen die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer zur Verfügung stehen.

Artikel 20 statuiert hierfür einen nunmehr zwingenden Gerichtsstand am Wohnsitz der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers. Vorbehalten bleibt die Widerklage gegen eine Klage der Arbeitnehmerin oder des Arbeitsnehmers an einem anderen Gerichtsstand.

Art. 21

Gerichtsstandsvereinbarungen

Der erste Teil von Artikel 21 entspricht inhaltlich dem bisherigen Artikel 17 Absatz 5 LugÜ. Eine Gerichtsstandsvereinbarung im Arbeitsvertrag ist somit weiterhin unbeachtlich, es sei denn, sie entspräche den Voraussetzungen von Artikel 21 Ziffer 2.

Artikel 21 Ziffer 2 tritt an die Stelle des bisherigen Artikels 17 Absatz 4 LugÜ (die entsprechende Bestimmung ist im neuen Artikel 23 nicht enthalten). Dadurch wird das auslegungsbedürftige Kriterium der einseitigen Bevorzugung («zugunsten einer der Parteien») durch die klareren Kriterien ersetzt, die schon bei versicherungsvertraglichen Streitigkeiten im Rahmen von Artikel 17 Ziffern 1 und 2 (bisher Art. 13 Ziff. 1 und 2 LugÜ) zur Anwendung kommen. Entsprechend kann auf die bisherige Lehre und Rechtsprechung zu Artikel 13 Ziffern 1 und 2 LugÜ verwiesen werden.

26

Richtlinie (EG) 96/71, ABl. der EG L018 von 21.1.1997. Deren Artikel 6 sieht einen Gerichtsstand am Ort, an den der Arbeitnehmer entsendet wird, vor.

1796

2.3

Weitere Neuerungen bei den Gerichtsständen

2.3.1

Der Gerichtsstand für Unterhaltsklagen

2.3.1.1

Verfahren in Zusammenhang mit der elterlichen Verantwortung

Die Zuständigkeit für Unterhaltsklagen in Artikel 5 Ziffer 2 wurde mittels des neu hinzugefügten Buchstabens c um den Fall ergänzt, bei welchem die Unterhaltsklage in Zusammenhang mit der Zuweisung der elterlichen Verantwortung (Sorgerecht) erhoben wird. Mit dieser Ausweitung wird eine wichtige Lücke geschlossen, da bislang nur Verfahren im Zusammenhang mit einer Statusfrage (Scheidung) erfasst waren. Eine entsprechende Regelung ist auch in der für die EU-Staaten einschlägigen Unterhaltsverordnung (vgl. nachfolgend Ziff. 2.3.1.2) enthalten. Die Zuständigkeit für Verfahren betreffend die elterliche Sorge dürfte sich für die Schweiz in aller Regel aus dem Minderjährigenschutzabkommen vom 5. Oktober 196127 (MSA) beziehungsweise künftig aus dem Haager Kindesschutzübereinkommen vom 19. Oktober 199628 ergeben. Ein auf dieser Grundlage ergangenes Urteil kann bezüglich des damit verbundenen Unterhaltsanspruchs in den revLugÜ-Staaten nach den Bestimmungen des revLugÜ vollstreckt werden.

2.3.1.2

Koordination mit der EU-Unterhaltsverordnung

Am 19. Dezember 2008 hat die EU die Verordnung (EG) des Rates über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen29 verabschiedet («EU-Unterhaltsverordnung»). Die EU-Unterhaltsverordnung soll für die EU-Staaten Mitte 2011 in Kraft treten. Aus Sicht des revLugÜ handelt es sich bei der Unterhaltsverordnung um eine «Übereinkunft über ein besonderes Rechtsgebiet» im Sinne von Artikel 67 revLugÜ. Entsprechend gehen die Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung in ihrem Anwendungsbereich (der räumlich die EU-Staaten und sachlich Unterhaltsfragen erfasst) denjenigen des revLugÜ vor. Entscheidungen, die auf der Grundlage der Zuständigkeiten der Verordnung ergangen sind, sind in der Schweiz nach dem revLugÜ zu anerkennen und zu vollstrecken, ausser wenn die Zuständigkeit des urteilenden Gerichts weder unter dem revLugÜ noch unter dem IPRG anerkannt würde und sich der Entscheid gegen eine Person mit Wohnsitz in der Schweiz richtet (Art. 67 Abs. 3 und 4 revLugÜ).

Leider stimmen die Zuständigkeiten in der EU-Unterhaltsverordnung nicht in allen Punkten mit denjenigen des revLugÜ überein. So enthält etwa Artikel 4 der Verordnung (vgl. insb. Ziff. 5 in fine) weitergehendere Einschränkungen der Gerichtsstandswahl als der entsprechende Artikel 23 revLugÜ. Aus dieser Inkongruenz kön-

27 28

29

SR 0.211.231.01 Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern, BBl 2007 2661.

Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. der EG L 7/1 vom 10.1.2009).

1797

nen sich positive und negative Kompetenzkonflikte ergeben.30 Um solche zu vermeiden, sollen die Vertragsparteien noch vor Inkrafttreten des revLugÜ und der EU-Unterhaltsverordnung ein Zusatzprotokoll über das Verhältnis zwischen dem revLugÜ und der EU-Unterhaltsverordnung vereinbaren und in Kraft setzten, welches die beiden Instrumente zum Unterhaltsrecht koordiniert.

Das vorgesehene Zusatzprotokoll soll die Bestimmungen des revLugÜ über Gerichtsstandsvereinbarungen in Bezug auf Unterhaltsfragen punktuell abändern und die Geltung des Grundsatzes der Rechtshängigkeit (lis pendens) im Verhältnis zwischen dem RevLugÜ und der EU-Unterhaltsverordnung bekräftigen. Es soll sich um ein selbständiges Protokoll zum revLugÜ handeln, welches zu den in Artikel 75 genannten drei Protokollen hinzukommt.31 Der Bundesrat wird daher im Rahmen der Ratifikation des revLugÜ ermächtigt, ein solches Zusatzprotokoll zum RevLugÜ abzuschliessen und das noch im Detail auszuhandelnde Protokoll wird im Rahmen dieser Eckwerte vorab genehmigt.

2.3.2

Der Gerichtsstand für vorbeugende Unterlassungsklagen aus unerlaubter Handlung

Mit der Ergänzung des Artikels 5 Ziffer 3 um die Worte «oder einzutreten droht» (in fine) wurde die unter dem LugÜ bestehende Unsicherheit beseitigt, ob vorbeugende Unterlassungsklagen vom Übereinkommen erfasst sind. Dies ist nunmehr unzweifelhaft der Fall und entspricht der Auslegung des bisherigen Texts durch die überwiegende Lehre.

2.3.3

Der Gerichtsstand für konnexe Klagen

Die Präzisierung der Voraussetzungen des Gerichtsstands in Artikel 6 Ziffer 1 als Gerichtsstand einer Klagekonnexität kodifiziert die etablierte Rechtsprechung des EuGH32, der auch die schweizerischen Gerichte gefolgt sind. Die Anpassung hat daher keine materielle Änderung der Rechtslage zur Folge. Dem Zweck dieser Rechtsprechung, widersprüchliche Entscheide zu vermeiden und die effiziente und ökonomische Streiterledigung zu fördern, folgen auch entsprechende Bestimmungen im Gerichtsstandsgesetz vom 24. März 200033 (GestG, Art. 7) und in der ZPO (Art. 15).

30

31

32 33

Zu denken ist etwa an den Fall, bei dem ein schweizerisches Gericht eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten eines EU-Gerichtes aufgrund von Artikel 23 revLugÜ honoriert, das bezeichnete Gericht jedoch die Prorogation aufgrund der strengeren Vorgaben von Artikel 4 der EU-Unterhaltsverordnung abweisen muss (negativer Kompetenzkonflikt).

Denkbar ist auch der umgekehrte Fall, bei dem ein EU-Gericht sich trotz Prorogation eines schweizerischen Gerichts (die nach der Verordnung nicht zu beachten ist) für zuständig erklärt, zugleich aber das schweizerische Gericht (aufgrund der nach Art. 23 gültigen Prorogation) ebenfalls für Zuständig erachtet. Dieser positive Kompetenzkonflikt lässt sich immerhin über die lis pendens-Regel entschärfen.

Das vorgesehene Zusatzprotokoll wird in Artikel 75 revLugÜ nicht erwähnt sein, da eine solche ­ an sich angebrachte ­ Ergänzung eine formelle Revision des Übereinkommens bedingt hätte. Eine solche soll aber mit dem Zusatzprotokoll gerade (vorerst) vermieden werden.

EuGH, Urteil vom 27.9.1988, Rs. C-189/87, Kalfelis/Schröder, Slg. 1988, 5565.

SR 272

1798

2.3.4

Der Gerichtsstand der Gewährleistungs- und Interventionsklage

Mit dem Inkrafttreten der ZPO, die in Artikel 16 einen Gerichtsstand der Streitverkündungsklage vorsieht, wird der bisherige Vorbehalt der Schweiz bezüglich kantonaler Regelungen, die diesen Gerichtsstand nicht kannten (Prot. Nr. 1, Art. 5, neu in Annex IX), hinfällig. Für die Schweiz kommt der Gerichtsstand von Artikel 6 Ziffer 2 somit künftig voll zum Tragen.

2.3.5

Ausschliessliche Gerichtsstände für gesellschaftsrechtliche, immaterialgüterrechtliche und vollstreckungsrechtliche Streitigkeiten

Die ausschliesslichen Gerichtsstände des Artikels 16 LugÜ sind ­ vorbehaltlich der nachfolgend erläuterten Anpassungen ­ inhaltlich unverändert in den neuen Artikel 22 übernommen worden. Entsprechend bleibt es bezüglich der Bestimmungen über die dinglichen Rechte und über die Miete und Pacht (Ziff. 1), über Eintragungen in öffentliche Register (Ziff. 3) und über die Zwangsvollstreckung (Ziff. 5) grundsätzlich bei der bisherigen Rechtslage und der dazu ­ namentlich im Bereich der Zwangsvollstreckung in der Schweiz ­ ergangenen Rechtsprechung.

Art. 22 Ziff. 2

Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten

Der ausschliessliche Gerichtsstand für bestimmte gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten ist von Artikel 16 Ziffer 2 LugÜ unverändert in Artikel 22 Ziffer 2 übernommen worden. Der hinzugekommene Hinweis auf das internationale Privatrecht des Forums zur Bestimmung des Gesellschaftssitzes (2. Satz) soll klarstellen, dass die neue autonome Sitzdefinition von Artikel 60 auf diese Bestimmung nicht anwendbar ist. Damit bleibt es vollumfänglich bei der bisherigen Rechtslage, weshalb auch auf die dazu entwickelte Rechtsprechung und Lehre verwiesen werden kann.

Art. 22 Ziff. 4

Immaterialgüterrechtliche Streitigkeiten

Artikel 22 Ziffer 4 hat gegenüber Artikel 16 Ziffer 4 LugÜ zwei Änderungen erfahren.

Die wichtigste Änderung betrifft zwei gleich lautende Texteinschübe in den Absätzen 1 und 2, wonach es nicht darauf ankommen soll, «ob die Frage klageweise oder einredeweise aufgeworfen wird». Diese haben zum Ziel, eine neuere Rechtsprechung des EuGH34 im Übereinkommenstext selbst festzuschreiben. Dieser ­ nicht unumstrittenen ­ Rechtsprechung zufolge ist das Gericht am Eintragungsort eines Patentes auch dann ausschliesslich zuständig, wenn eine Patentgültigkeitsfrage einredeweise vor einem anderen Gericht aufgeworfen wird. Ein mit einer Verletzungsklage befasstes Erstgericht an einem anderen als dem Eintragungsstaat muss daher, sofern die Einrede der Ungültigkeit des strittigen Patents erhoben wird, das Verfahren zur Klärung dieser Frage zugunsten des Gerichtes am Eintragungsort aussetzen oder sich für unzuständig erklären. Wird das Verfahren sistiert, wird die 34

EuGH, Urteil vom 13.7.2006, Rs C-4/03, GAT/LuK, Slg. 2006, 6501.

1799

Beklagte aufgefordert, innert Frist beim zuständigen Gericht oder der zuständigen Behörde (nach Art. 22 Ziff. 4) ein Gesuch beziehungsweise eine Klage auf Feststellung der Ungültigkeit des Patents zu erheben, ansonsten die Einrede unberücksichtigt bleibt. Das Verfahren wird nach Vorliegen des rechtskräftigen Entscheids über die Gültigkeitsfrage wieder aufgenommen. Die Rechtsprechung des EuGH ist bereits vom Zürcher Handelsgericht übernommen und angewendet worden. Der ursprünglich für Patentstreitigkeiten entwickelte Grundsatz ist nun auf sämtliche von Ziffer 4 erfassten, registerbezogenen immaterialgüterrechtlichen Streitigkeiten anzuwenden.

Die zweite Anpassung ist formeller Natur: Der neu hinzugekommene 2. Absatz von Ziffer 4 wurde weitgehend unverändert aus dem bisherigen Artikel Vd von Protokoll Nr. 1 zum LugÜ übernommen. Darin ist eine Sonderregelung für europäische Patente, die auf der Grundlage des Europäischen Patentübereinkommens vom 29. November 200035 (EPÜ) erteilt werden, enthalten. Dabei ist zu beachten, dass die Zuständigkeits- und Anerkennungsbestimmungen des Anerkennungsprotokolls vom 5. Oktober 197336 zum EPÜ in ihrem Anwendungsbereich den Bestimmungen des revLugÜ vorgehen (Art. 67 Abs. 1). Das nicht realisierte Gemeinschaftspatentübereinkommen wird ­ anders als noch in Artikel Vd des Protokolls Nr. 1 zum LugÜ ­ nicht mehr erwähnt. Auch diese Zuständigkeitsregel wurde, analog dem 1. Absatz, an die im vorangehenden Absatz erwähnte Rechtsprechung angepasst.

Art. 22 Ziff. 5

Vollstreckungsstreitigkeiten

Die in Lehre und Rechtsprechung vieldiskutierte Frage, ob gewisse Instrumente und Klagen des SchKG den Erkenntniszuständigkeiten zuzurechnen sind oder unter den Vollstreckungsgerichtsstand des Artikels 16 Ziffer 5 revLugÜ fallen, stellt sich gleichermassen unter dem unveränderten Artikel 22 Ziffer 5 revLugÜ. Jedenfalls ist die Rechtsprechung im Begriff, viele offene Fragen zu klären, insbesondere was die Einordnung und Behandlung der provisorischen Rechtsöffnung und der Aberkennungsklage unter dem LugÜ betrifft.37 Bei den Instrumenten des SchKG-Einleitungsverfahrens könnten sich immerhin Änderungen durch den neuen Artikel 62 revLugÜ ergeben. Artikel 62 revLugÜ ersetzt Artikel Va des Protokolls Nummer 1 zum LugÜ, wonach bestimmte Entscheide von Verwaltungsbehörden (namentlich in Norwegen, Dänemark, Island und Finnland) auch als Entscheide eines «Gerichts» im Sinne des Übereinkommens zu behandeln seien. Die neue Bestimmung verzichtet nun auf eine Aufzählung der einzelnen Staaten und der jeweiligen Verfahren und überlässt es dem nationalen Recht, auch verwaltungsrechtliche Instanzen mit gerichtlichen Aufgaben im Anwendungsbereich des Übereinkommens zu betrauen.

Für die Frage, ob ein Entscheid als unter das Übereinkommen fallend zu beurteilen ist oder nicht, wird das früher noch als relevant betrachtete Kriterium, ob dieser von einer Verwaltungs- oder einer richterlichen Behörde ausgeht, unter dem revLugÜ unwesentlich. Damit könnte auch der Zahlungsbefehl von der Zuständigkeitsordnung des revLugÜ erfasst werden, sofern er im Hinblick auf eine Forderung ausgestellt ist, die den Zivil- und Handelssachen zuzurechnen ist. Der EuGH hat nämlich 35 36 37

SR 0.232.142.2 SR 0.232.142.22 BGE 130 III 285

1800

in seiner Rechtsprechung Klomps38 und Hengst BV39 den im deutschen Mahnverfahren ausgestellten Vollstreckungsbescheid und den im italienischen Mahnverfahren (procedimento d'ingiunzione) ausgestellten decreto ingiuntivo zur internationalen Vollstreckbarerklärung nach EuGVÜ zugelassen, womit deren Ausstellung zwingend an die Zuständigkeitsvorschriften des Staatsvertrags gebunden ist. Nachdem das deutsche sowie das italienische Mahnverfahren deutliche funktionale Parallelen mit dem schweizerischen Zahlungsbefehlsverfahren aufweisen, besteht der verbleibende Unterschied zum schweizerischen Zahlungsbefehl hauptsächlich in der Tatsache, dass dieser durch eine Verwaltungs- und nicht durch eine Gerichtsbehörde ausgestellt wird. Wird dieser Unterschied unter dem bisherigen LugÜ noch als wesentlich betrachtet,40 so könnte er wegen Artikel 62 unter dem revLugÜ keine Rolle mehr spielen. Für die Praxis spielt diese offene Frage jedenfalls nur in beschränkten Fällen eine Rolle: in aller Regel wird der Zahlungsbefehl ohnehin an einem revLugÜ-Gerichtsstand, meist am Wohnsitz des Betriebenen, ausgestellt.

2.3.6

Die Zuständigkeitsvereinbarung

Die punktuellen Änderungen in Artikel 23 stellen hauptsächlich Kodifizierungen der ­ zumindest für die Schweiz ­ bereits unter Artikel 17 LugÜ geltenden Rechtslage, dar. Dies gilt zunächst für die Präzisierung in Absatz 1, wonach das prorogierte Gericht grundsätzlich ausschliesslich zuständig ist, die Parteien jedoch auch einen nicht ausschliesslichen Gerichtsstand vereinbaren können, sofern auf den nicht ausschliesslichen Charakter ausdrücklich hingewiesen wird.

Der neu eingefügte Absatz 2 stellt die Vereinbarung auf elektronischem Wege der Schriftform (Abs. 1 Bst. a) gleich. Die diesbezügliche Unsicherheit unter dem LugÜ, die meist umgangen werden konnte, indem die Buchstaben b und c herangezogen wurden, wird dadurch beseitigt.

Das unklare Ausnahmekriterium der «Einseitigkeit» einer Vereinbarung in Artikel 17 Absatz 4 LugÜ wurde im revLugÜ gestrichen. Einschränkungen der Prorogationsfreiheit sind daher abschliessend in den Artikeln 13, 17, 21 und 22 geregelt.

2.4

Rechtshängigkeit

Die Artikel 27 ff. (Art. 21 ff. LugÜ) befassen sich mit der Frage der zeitlichen Priorität von konkurrierenden Verfahren, die bei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht werden und dieselben Ansprüche betreffen oder solche, die in einem Zusammenhang stehen. Die Normen haben zum Ziel, widersprüchliche Entscheidungen von Gerichten der Vertragsstaaten zu vermeiden und namentlich die in Artikel 34 Ziffer 3 angesprochenen Situationen zu verhindern. Während die Artikel 27, 28 und 29 den Regelungsgehalt der Artikel 21, 22 und 22 LugÜ in fast identischem Wortlaut wieder aufnehmen, ist Artikel 30 neu hinzugekommen. Entsprechend kann, unter Vorbehalt der nachfolgend besprochenen Änderung in Arti-

38 39 40

EuGH, Urteil vom 16.6.1981, Rs. C-166/80, Klomps/Michel, Slg. 1981, 1593.

EuGH, Urteil vom 13.7.1995, Rs. C-474/93, Hengst Import/Campese, Slg. 1995, 2113.

In diese Richtung BGE 130 III 285 E. 5.1

1801

kel 28 und insbesondere des neuen Artikels 30, auf die zu den entsprechenden Bestimmungen des LugÜ entwickelte Rechtsprechung und Lehre verwiesen werden.

Art. 28

In einem Zusammenhang stehende Klagen

Der revidierte Artikel 28 nimmt ein Anliegen der Lehre auf und korrigiert eine ungewollte Folge des Wortlauts von Artikel 22 LugÜ, wonach ein Verfahren nur solange ausgesetzt werden konnte, als beide Verfahren «im ersten Rechtszug» anhängig waren. Diese Einschränkung ist neu in den Absatz 2 verlegt worden, was aus systematischer Sicht nachvollziehbar erscheint: Die betreffenden Verfahren müssen nicht mehr in der ersten Instanz rechtshängig sein, damit ein Gericht das Verfahren aussetzen darf. Bei der Frage der Unzuständigkeit hingegen rechtfertigt sich die Einschränkung auf Verfahren, die «im ersten Rechtszug» anhängig sind mit dem Schutz des Instanzenzuges. Ein erstinstanzliches Gericht ­ dessen Entscheid mit einem vollkommenen Rechtsmittel anfechtbar wäre ­ soll sich nicht zugunsten einer ausländischen Rechtsmittelinstanz für unzuständig erklären dürfen (vgl. aber den gegenüber Art. 21 LugÜ unveränderten Art. 27 für identische Klagen).

Art. 30

Rechtshängigkeit auslösende Handlung

Der neue Artikel 30 soll die wichtige Frage nach dem massgeblichen Zeitpunkt, an dem die Rechtshängigkeit ausgelöst wird, beantworten. Diese ist von Artikel 21 LugÜ offen gelassen worden. Der EuGH hat diese Frage dahingehend beantwortet, dass sich der Zeitpunkt der Auslösung der Rechtshängigkeit nach dem innerstaatlichen Recht des Orts, an dem die betreffende Prozesshandlung vorgenommen wird, beurteilt.41 Die Auslegung hat zur Folge, dass für den angloamerikanischen Rechtskreis der Zeitpunkt der Zustellung des «writ» massgebend ist, während für die meisten übrigen Rechtsordnungen der Zeitpunkt der Zustellung der Klage, sei es dem Gericht oder der oder dem Beklagten, massgebend ist. Eine solchermassen auf nationale Besonderheiten abgestützte Auslegung birgt das Risiko uneinheitlicher und, in einzelnen Fällen, unbefriedigender Ergebnisse in sich. In BGE 123 III 414 hat sich das Bundesgericht eingehend mit der Anwendung von Artikel 21 LugÜ und der Rechtsprechung des EuGH befasst. Das Bundesgericht erblickte in der EuGHRechtsprechung insofern eine teilautonome Auslegung, als der unter dem nationalen Recht massgebliche Verfahrensschritt eine «endgültige» Festlegung der Rechtshängigkeit erlauben und daher zumindest eine Fortführungslast der Klägerin oder des Klägers enthalten muss (E. 5 d). In der Praxis wirkte sich Artikel 21 LugÜ und die dazu entwickelte Auslegung daraufhin nachteilig, ja geradezu diskriminierend für die in der Schweiz klagende Partei aus, namentlich wenn der die Rechtshängigkeit auslösende Schritt zwingend zu einem späten Zeitpunkt erfolgen musste (etwa erst nach erfolgter Sühnverhandlung) und es dadurch der oder dem Beklagten in der Zwischenzeit möglich war, das Verfahren im Ausland rechtshängig zu machen. Mit dem neuen Artikel 30 sollen diese unerwünschten Wirkungen fortan vermieden werden, indem neu auf einheitliche, leicht identifizierbare prozessuale Schritte abgestellt wird.

Die Grundregel von Artikel 21 betreffend die zeitliche Priorität der zuerst anhängig gemachten Klage (sofern diese den gleichen Anspruch und die gleichen Parteien wie eine zweite betrifft) ist, wie schon erwähnt, unverändert in Artikel 27 revLugÜ 41

EuGH, Urteil vom 7. Juni 1984, C- 129/83, Zelger/Salinitri, Slg. 1984, 2397.

1802

übernommen worden. Neu hinzugekommen sind im Artikel 30 revLugÜ einheitliche autonome Kriterien zur Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem ein Gericht als angerufen, beziehungsweise eine Klage als anhängig gemacht zu gelten hat. Artikel 30 bedient sich dabei zwei leicht identifizierbarer prozessualer Schritte, einerseits der Klageeinreichung beim Gericht (Ziff. 1), andererseits des Empfangs des verfahrenseinleitenden Schriftstücks durch die beklagte Partei (Ziff. 2). Es handelt sich dabei um die beiden in den europäischen Rechtsordnungen vorherrschenden Konzepte massgeblicher verfahrenseinleitender Handlungen. Artikel 30 erlaubt es nun, die die Rechtshängigkeit auslösende Handlung unabhängig vom nationalen Prozessrecht zu identifizieren, sei dies die Einreichung des einleitenden Schriftstücks beim Gericht oder der Empfang desselben durch die beklagte Partei.

Indem in beiden Fällen auf eine früheste prozessuale Handlung abgestellt wird, wird der so bestimmte Zeitpunkt von den Unsicherheiten des weiteren Verfahrensablaufs (Dauer der Weiterleitung oder der Behandlung der Klage durch das Gericht, usw.)

getrennt. Immerhin muss das eingeleitete Verfahren insofern eine gewisse Bindung die klagende Person an das Verfahren enthalten, als die einleitende Handlung nur dann berücksichtigt wird, wenn das eingeleitete Verfahren auch fortgesetzt wird. Die klagende Person hat auch die allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt erforderlichen Schritte für die Fortsetzung des Verfahrens vorzunehmen, etwa indem sie dafür sorgt, dass die beim Gericht eingereichte Klage der beklagten Person zugestellt wird (wenn hierfür ihre Mitwirkung erforderlich ist) oder eine zunächst der beklagten Person zuzustellende Klage auch beim Gericht einreicht. Zu allfälligen Fristen, innert derer allfällige Fortsetzungshandlungen unternommen werden müssten, äussert sich Artikel 30 nicht; er überlässt diese Frage damit dem innerstaatlichen Prozessrecht.

Artikel 30 bezeichnet zwar den Zeitpunkt, der die Rechtshängigkeit begründet, überlässt es aber dem nationalen Prozessrecht festzulegen, welches der zur Auswahl gestellten Konzepte zur Einleitung eines Verfahrens zu verwenden ist und wie dieses ausgestaltet sein soll. Obwohl Artikel 30 das Schlichtungsverfahren nicht ausdrücklich anspricht, kann, auch vor dem Hintergrund der Vorarbeiten zu Artikel
30, das Schlichtungsbegehren ein verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne des Artikels 30 darstellen. In allen Fällen, in denen das Schlichtungsverfahren eine obligatorische prozessuale Vorstufe bildet (vgl. Art. 197 ff. ZPO), löst das Schlichtungsbegehren die Rechtshängigkeit nach Artikel 30 Ziffer 1 aus, wobei diese Wirkung insofern eine bedingte ist, als die Gesuchstellerin oder der Gesuchsteller allenfalls notwendige spätere Schritte zur Fortsetzung des Verfahrens innert Frist vorzunehmen hat. Diese Rechtslage entspricht dem Konzept der ZPO (Art. 62), wonach die Einreichung des Schlichtungsbegehrens ebenfalls die Rechtshängigkeit auslöst. Wo kein Schlichtungsverfahren vorgesehen ist, ist der Zeitpunkt massgebend, zu dem die Klage anhängig gemacht wird, worunter jeder verfahrenseinleitende Vorgang zu subsumieren ist, mit welchem erstmals in bestimmter Form beim Gericht um Rechtsschutz ersucht wird, typischerweise die Einreichung der Klage beim Gericht.

1803

2.5

Autonome Sitzdefinition juristischer Personen

Während die für die Bestimmung des Wohnsitzes natürlicher Personen das bisherige Konzept einer Verweisung auf das internationale Privatrecht des Forumstaates beibehalten wurde (Art. 59, der inhaltlich unverändert Art. 52 LugÜ wiedergibt), wird bei den Gesellschaften und anderen juristischen Personen die Verweisungslösung durch eine staatsvertragsautonome Definition ersetzt.

Die bisherige Bestimmung des Sitzes durch Verweisung auf das internationale Privatrecht des Forumsstaates (Art. 53 Abs. 1 LugÜ) wird weithin als unbefriedigend empfunden. Die unterschiedlichen Anschauungen in den Vertragsstaaten bezüglich der Sitzbestimmung (Sitztheorie v. Inkorporationstheorie oder Gründungstheorie) konnten sowohl zu positiven als auch zu negativen Kompetenzkonflikten führen. Die Revision hat diese unterschiedlichen Ansätze im neuen Artikel 60 in eine autonome Definition integriert.

Der neue Artikel 60 Absatz 1 zeichnet sich dadurch aus, dass das auf die tatsächlichen Verhältnisse ausgerichtete Sitzprinzip und das normativ ausgerichtete Inkorporationsprinzip alternativ miteinander verbunden werden. Die Klägerin oder der Kläger kann zwischen den Gerichtsständen der Hauptverwaltung oder der Hauptniederlassung oder dem Gerichtsstand des satzungsmässigen Sitzes wählen, sofern diese in verschiedenen Vertragsstaaten liegen. Die Begriffe orientieren sich am Vorbild des Artikels 48 Absatz 1 EG-Vertrag. Demnach ergibt sich der satzungsmässige Sitz aus den Gesellschaftsstatuten. Die Hauptverwaltung liegt am Ort, an dem die Willensbildung und die unternehmerische Leitung der Gesellschaft oder anderer juristischer Person erfolgt, somit in der Regel am Sitz ihrer Organe. Die Hauptniederlassung liegt am Ort, wo der erkennbare tatsächliche Geschäftsschwerpunkt liegt, wo sich also die bedeutenden Personal- und Sachmittel befinden.

Besonderheiten des englischen und schottischen Rechts gaben dazu Anlass, in Artikel 60 Absatz 2 eine Konkretisierung des Begriffs des satzungsmässigen Sitzes für die Zwecke des Vereinigten Königreichs vorzunehmen.

Mit der beschriebenen Lösung wird der Hauptnachteil des heutigen Systems beseitigt, der sich aus der Kluft zwischen den beiden verschiedenen nationalen Konzepten ­ Satzungs- beziehungsweise Inkorporationsprinzip contra Sitzprinzip ­ in Europa ergibt: Negative Kompetenzkonflikte werden
in Zukunft vermieden. Die nunmehr wohl häufigeren positiven Kompetenzkonflikte schaffen hingegen ein Wahlrecht der Klägerin oder des Klägers.

Die erweiterte Sitzbestimmung in Artikel 60 führt, in Verbindung mit Artikel 2, zu einer Erweiterung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Übereinkommens. Künftig ist denkbar, dass Gesellschaften welche ihren statutarischen Sitz zwar nicht in einem Vertragsstaat haben, tatsächlich aber in einem Vertragstaat verwaltet werden, vom Übereinkommen erfasst werden.

Artikel 60 gilt nicht für die ausschliessliche Zuständigkeit aufgrund von Artikel 22 Ziffer 2. Dort bleibt es bei der bisherigen Verweisungslösung.

1804

2.6

Anerkennung und Vollstreckung

2.6.1

Grundzüge der Neuerungen

Das Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung wird ­ entgegen neueren Tendenzen innerhalb der EU, auf ein Anerkennungsverfahren rundweg zu verzichten42 ­ beibehalten. Die Neuerungen des Kapitels III (Anerkennung und Vollstreckung) zielen stattdessen auf eine weitere Vereinfachung und Beschleunigung des Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens. Diesen Zielen wird die Revision auf zweierlei Arten gerecht, einerseits durch eine Verschlankung der materiellen Gründe zur Verweigerung der Anerkennung (vgl. nachfolgend Ziff. 2.6.2), andererseits durch eine Straffung des Verfahrens (Ziff. 2.7).

Die Neuerungen im 1. Abschnitt (Anerkennung) bringen punktuelle, jedoch praktisch bedeutsame Einschränkungen der möglichen Einreden (Art. 34). Der wichtige Grundsatz, wonach jede ausländische Entscheidung grundsätzlich anerkannt wird, wurde beibehalten. Entsprechend ist Artikel 33 unverändert von Artikel 26 LugÜ übernommen worden. Wie bis anhin enthält Artikel 33 Absatz 2 eine gesetzliche Grundlage für eine auf die Anerkennbarkeit gerichtete Feststellungsklage. Auch das in Artikel 31 LugÜ verankerte Prinzip, wonach Entscheidungen aus einem Vertragssaat in einem anderen Vertragsstaat grundsätzlich vollstreckbar sind, wurde unverändert in Artikel 38 übernommen.

Die darauf folgenden Bestimmungen über das Vollstreckbarerklärungsverfahren (Exequaturverfahren) haben hingegen wichtige Änderungen erfahren. Das revidierte Vollstreckbarerklärungsverfahren und seine Umsetzung im schweizerischen Recht bilden daher den Gegenstand eines besonderen Abschnitts (Ziff. 2.7).

2.6.2 Art. 34 Ziff. 1

Gründe für die Verweigerung der Anerkennung Offensichtliche Verletzung des ordre public

Der Verweigerungsgrund des materiellen und formellen ordre public in Artikel 34 Ziffer 1 (Art. 27 Ziff. 1 LugÜ) wird auf «offensichtliche» Verstösse reduziert. Die Anpassung ist rein redaktioneller Natur. Der geänderte Text gibt die auch in der Schweiz geltende bundesgerichtliche Rechtsprechung wieder, gemäss welcher insbesondere der anerkennungsrechtliche ordre public nur in Ausnahmefällen herangezogen werden soll (BGE 127 III 300).

Art. 34 Ziff. 2

Fehlerhafte Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks

Im Bereich des rechtlichen Gehörs im Rahmen der Zustellung ergeben sich bedeutsame Neuerungen. Nach bisherigem Übereinkommenstext konnte die Zweitrichterin oder der Zweitrichter die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks auf deren «Ordnungsmässigkeit» hin überprüfen (Art. 27 Ziff. 2 LugÜ). Die im Urteilsstaat geltenden Zustellungsregeln mussten dabei vollumfänglich auf ihre Einhaltung 42

Die Verordnung (EG) 805/2004 vom 21. April 2004 über unbestrittene Forderungen schafft das Vollstreckbarerklärungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in ihrem Anwendungsbereich ab. Ein Gläubiger kann sich einen Titel stattdessen im Ursprungsland selber als Europäischen Vollstreckungstitel bestätigen lassen, wodurch es ohne weitere Prüfung in den übrigen Mitgliedstaaten vollstreckbar wird.

1805

überprüft hin werden. Als Folge davon konnte sich die Vollstreckungsgegnerin oder der Vollstreckungsgegner selbst auf nebensächliche Zustellungsfehler, die ihre oder seine Verteidigungsrechte materiell nicht beeinträchtigen, berufen und damit eine Sperrwirkung für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung auslösen. Ein Ziel der Revision bestand darin, diese Missbrauchsmöglichkeit unter gleichzeitiger Wahrung der Verteidigungsrechte der oder des Vollstreckungsbeklagten zu eliminieren. Deshalb wird die Anerkennung nach revidiertem Text nur verweigert, wenn der beklagten Person das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht so rechtzeitig und nicht in einer Weise zugestellt worden ist, dass sie sich verteidigen konnte. Damit ist zugleich eine minimale, jedoch funktional wesentliche Förmlichkeit der Zustellung gewährleistet. Schwerwiegende Zustellungsmängel dürften allerdings regelmässig ein starkes Indiz dafür bilden, dass der Schuldnerin oder dem Schuldner bei der Verfahrenseinleitung kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt wurde.

Diese Lockerung der Konsequenzen einer formell fehlerhaften Zustellung soll den Vollstreckungsgegner nach dem revidierten Artikel 34 Ziffer 2 nicht davon entbinden, sich soweit möglich, mit den gegebenen Rechtsmitteln gegen einen ­ im Sinne des 1. Teilsatzes korrekt zugestellten43 ­ Entscheid, zur Wehr zu setzen. Artikel 34 Ziffer 2, letzter Teilsatz (ab «es sei denn...») macht dies gar zur Obliegenheit der oder des Vollstreckungsbeklagten: Fall diese oder dieser es unterlassen hat, die zu vollstreckende, korrekt zugestellte Entscheidung anzufechten, obwohl ihr oder ihm dies möglich gewesen wäre, soll sie oder er sich nicht erst im Anerkennungsverfahren auf die mangelhafte Zustellung berufen können.

Diese zusätzliche Einschränkung der Beklagtenrechte geht aus schweizerischer Sicht zu weit: Die Stellung einer beklagten Person, die bereits erstinstanzlich unterlegen ist und die Missachtung ihrer prozessualen Rechte vor einem ausländischen Gericht erst in einem Rechtsmittelverfahren rügen darf, ist mit der prozessualen Stellung einer gehörig zum erstinstanzlichen Verfahren geladenen beklagten Person nicht vergleichbar. Zu denken ist hier etwa an die kurzen Rechtsmittelfristen (um einen Rechtsstandpunkt erstmalig vorzubringen) oder an allfällige Kognitionsbeschränkungen,
die im Rechtsmittelverfahren zum Tragen kommen. Indem die beklagte Person mit ihrem Einwand der mangelhaften Zustellung auf ein Rechtsmittelverfahren verwiesen wird, begünstigt die Regelung von Artikel 32 Ziffer 2 im Ergebnis die klagende Person, die auf der Grundlage einer mangelhaften Zustellung ein Abwesenheitsurteil erhält. Der Umstand, dass das Abwesenheitsurteil seinerseits im Sinne von Artikel 32 Ziffer 2 korrekt zugestellt werden muss44, ändert daran nichts.

Die Schweiz hat sich daher in Protokoll Nummer 1, Artikel III das Recht ausbedungen, gegen diese zu weit gehende Relativierung der Beklagtenrechte einen Vorbehalt anzubringen, und sie beabsichtigt, von diesem Recht Gebrauch zu machen (vgl.

Ziff. 3). Der zweite Teilsatz von Artikel 34 Ziffer 2 wird daher gegenüber einer oder einem in der Schweiz wohnhaften Anerkennungsbeklagten nicht anwendbar sein.

Umgekehrt können sich die übrigen Vertragsstaaten auf die gleiche Rechtslage gegenüber schweizerischen Urteilen berufen. Wie schon der oder dem Beklagten mit Wohnsitz in der Schweiz, steht auch der oder dem Beklagten im Ausland im Rahmen einer Anerkennung und Vollstreckung in der Schweiz die Einrede von Arti-

43 44

So das vom EuGH im Entscheid AMSL/SEMIS vom 14. Dezember 2006, Rs 283/05 aufgestellte Erfordernis.

vgl. den in vorangehender Fussnote erwähnten Entscheid.

1806

kel 34 Ziffer 2 auch dann offen, wenn sie oder er es unterlassen hat, nach Erhalt der (korrekt) zugestellten Entscheides die fehlerhafte Ladung zu rügen.

Art. 34 Ziff. 3

Einrede der res iudicata im Vollstreckungsstaat

Wie schon Artikel 27 Ziffer 3 LugÜ stellt Artikel 34 Ziffer 3 in allgemeiner Weise klar, dass ein widersprechendes Urteil aus einem Vertragsstaat in derselben Sache einer Anerkennung entgegensteht.

Art. 34 Ziff. 4

Einrede der res iudicata in einen anderen als dem Vollstreckungsstaat

Artikel 34 Ziffer 4 erfuhr gegenüber seinem Vorgänger, Artikel 27 Ziffer 5 LugÜ, nur eine Klarstellung, die eine Lücke im bisherigen Wortlaut schliesst: Die Anerkennung eines Entscheids wird nunmehr nicht nur verweigert, wenn sie unvereinbar ist mit einem Entscheid aus einem Drittstaat, der nicht Vertragsstaat ist, sondern auch wenn sie unvereinbar ist mit einem Entscheid aus einem anderen Vertragsstaat als dem ersuchten.

Der in seiner Anwendung komplizierte und in der Praxis kaum relevante Verweigerungsgrund des Artikels 27 Ziffer 4 LugÜ (ein Überbleibsel einer «révision au fond») wurde gestrichen.

2.7

Das revidierte Exequaturverfahren und seine Umsetzung in der Schweiz

2.7.1

Vorbemerkungen

2.7.1.1

Das revLugÜ im schweizerischen Vollstreckungsrecht

Das revLugÜ ist, wie schon das LugÜ, unmittelbar anwendbar und verdrängt in seinem Anwendungsbereich die Zuständigkeits- und die Anerkennungs- und Vollstreckungsnormen des nationalen Rechts, namentlich des IPRG.

Das revLugÜ enthält ausführliche, jedoch nicht abschliessende, Bestimmungen zum Vollstreckbarerklärungsverfahren (Exequatur). Dieses Verfahren hat im revLugÜ bedeutsame Änderungen gegenüber dem LugÜ erfahren, die nachfolgend erläutert werden.

Das revLugÜ enthält ein einheitliches Verfahren zur Vollstreckbarerklärung, welches unabhängig davon anzuwenden ist, ob Urteile oder öffentliche Urkunden auf Geldzahlung oder auf andere Leistungen zu vollstrecken sind. Die schweizerische Zwangsvollstreckung ist demgegenüber von der Trennung in Geld- und andere Leistungen geprägt. Entsprechend gilt es, das Vollstreckbarerklärungsverfahren des revLugÜ sowohl mit der ZPO als auch mit dem SchKG in Einklang zu bringen.

Im Bereich der Vollstreckung von anderen als Geldschulden lassen sich die Verfahrensvorschriften des revLugÜ meist ohne Weiteres mit den einschlägigen Bestimmungen des Zivilprozessrechts (Art. 338 ff. ZPO) vereinbaren. Der Vorrang des revLugÜ wird in Artikel 335 Absatz 3 ZPO ausdrücklich bekräftigt. Dieser Vorrang kommt beim Exequatur im Rahmen der ZPO dahingehend zum Tragen, dass das Vollstreckungsgericht ohne Anhörung der Schuldnerin oder des Schuldners ent1807

scheidet und deren oder dessen Einwendungen erst im Rechtsmittelverfahren zu hören sind (vgl. Ziff. 2.7). Die Voraussetzungen der Anerkennung beurteilen sich ausschliesslich nach dem revLugÜ (vgl. Ziff. 2.6.2). Die vom revLugÜ nicht geregelten Fragen, etwa die zur Verfügung stehenden Sicherungsmittel (nicht aber deren Voraussetzungen, vgl. Ziff. 2.7.5), unterstehen hingegen der ZPO (Art. 343 ff.

ZPO).

Im Anwendungsbereich des SchKG hat die Erfahrung mit dem LugÜ gezeigt, dass sich wichtige prozessuale Vorgaben des LugÜ trotz deren Vorrang (Art. 30a SchKG) nicht ohne Weiteres mit dem geltenden SchKG vereinbaren lassen.45 Zu nennen sind etwa das Erfordernis der Einseitigkeit des Exequaturverfahrens und der damit gewollte Überraschungseffekt. Selbst wenn das Verfahren vor dem Rechtsöffnungsrichter als einseitiges durchgeführt wird, vereitelt das Einleitungsverfahren des SchKG, insbesondere der Zahlungsbefehl, den Überraschungseffekt.

Anders als bei der Vorlage zum LugÜ vom 21. Februar 199046 werden deshalb mit der Ratifizierung des revLugÜ punktuelle Anpassungen des SchKG und der ZPO vorgeschlagen, dank denen sich das Exequaturverfahren nach revLugÜ in das schweizerische Vollstreckungsrecht einfügen lässt. Mit den vorgeschlagenen Anpassungen soll einerseits dem kantonalen «Wildwuchs» ein Ende bereitet und andererseits sichergestellt werden, dass die Wirksamkeit des revLugÜ nicht durch eine fehlende Abstimmung mit dem SchKG oder der ZPO in Frage gestellt wird. Gleichzeitig sollen sie die Vorzüge, die das revLugÜ Gläubigerinnen und Gläubigern mit einem ausländischen Urteil gewährt, auch Gläubigerinnen und Gläubigern mit schweizerischen Urteilen zur Verfügung stehen.

2.7.1.2

Grundzüge der Umsetzung

Das vorgeschlagene Konzept eines revLugÜ-konformen Exequatur- und Vollstreckungsverfahrens beruht auf zwei Pfeilern: ­

der Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts für sämtliche Vollstreckungsmassnahmen, einschliesslich der Erteilung des Exequaturs und des damit zusammenhängenden Sicherungsmittels, sowie

­

dem (prozessual aufgewerteten) Arrest als Sicherungsmittel des revLugÜ für Geldschulden.

Das schweizerische SchKG kennt bereits ein einseitiges Verfahren ohne Teilnahme der Gesuchsgegnerin oder des Gesuchsgegners, wie es das revLugÜ für das Exequatur vorsieht, nämlich das Arrestverfahren nach Artikel 272 ff. SchKG. Es liegt daher nahe, das entsprechende Verfahren für das Exequatur nach revLugÜ zuständig zu erklären, jedenfalls soweit zugleich die Sicherung einer Geldschuld beantragt wird.

Das bisherige Arrestgericht (Art. 272, 274 und 278 SchKG) wird im SchKG neu schlicht als Gericht bezeichnet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass diesem Gericht die Kompetenz zum Erlass sämtlicher mit der Vollstreckung und deren Sicherung zusammenhängenden Massnahmen ­ zu denen auch der Arrest gehört ­ zugewiesen werden kann und im Rahmen des revLugÜ durch die entsprechende Erklärung zugewiesen wird. Die Kompetenzen des bisherigen Arrestgerichts sollen 45 46

BGE 126 III 441 Vgl. Fn 2.

1808

schliesslich neu in den Kompetenzen des Vollstreckungsgerichts im Sinne von Artikel 338 ff. ZPO aufgehen. Gleichzeitig wird mit der Änderung der Grundsatz der sprachlichen Gleichbehandlung umgesetzt.

Weiter wird die örtliche Zuständigkeit des Gerichts für den Erlass des Arrestbefehls in Artikel 272 SchKG ebenfalls an das revLugÜ (Art. 39) und an die ZPO (Art. 339) angepasst.

Steht das Exequatur nicht im Zusammenhang mit einer Vollstreckung einer Geldleistung, sondern einer anderen Leistung (Tun, Dulden oder Unterlassen), so hat das Vollstreckungsgericht nach den Bestimmungen der ZPO (Art. 335 ff. ZPO) vorzugehen. Dabei ist zu beachten, dass das Verfahren der ZPO punktuell, etwa bezüglich der Einseitigkeit des Verfahrens, vom revLugÜ überlagert wird (Art. 335 Abs. 3 ZPO).

Da ein Sicherungsmittel, das gestützt auf das Exequatur beantragt wird, nicht von einem weiteren, gesonderten Gerichtsentscheid abhängig gemacht werden kann,47 muss das für das Exequatur zuständige Gericht stets befugt sein, das entsprechende Sicherungsmittel auszusprechen. Bei der Vollstreckung von Geldschulden spricht daher das Vollstreckungsgericht (als Gericht, welches den Arrestbefehl auf der Grundlage von Art. 272 SchKG ausspricht) sowohl das Exequatur als auch den Arrestbefehl aus. Bezüglich Leistungen, die nicht auf Geld lauten, kommt dem Vollstreckungsgericht diese Kompetenz bereits aufgrund von Artikel 340 ZPO zu.

Wie schon aufgrund von Artikel 340 ZPO soll das Vollstreckungsgericht auch unter Artikel 272 ff. SchKG neu schweizweit Vermögenswerte mit Beschlag belegen dürfen. Damit wird der mit der ZPO geschaffene einheitliche Vollstreckungsraum auf Sicherungsmassnahmen nach SchKG ausgedehnt. Die gleichzeitige Erteilung des Exequatur und eines darauf gestützten Arrestbefehls wird dadurch überhaupt ermöglicht. Müssten nämlich verschiedene Vermögenswerte in verschiedenen Gerichtskreisen gestützt auf dasselbe Urteil mit Arrest belegt werden, ohne dass die Exequaturrichterin oder der Exequaturrichter für alle Gegenstände zuständig wäre, so müssten entweder mehrere (evtl. widersprüchliche) Exequaturentscheide oder gesonderte Arrestbefehle ergehen. Zugleich wird dadurch auch ausserhalb des Anwendungsbereichs des revLugÜ eine sachlich nicht gerechtfertigte prozessuale Hürde für die Arrestgläubigerin oder den Arrestgläubiger
beseitigt.

Die vom Bundesgesetzgeber vorgezeichnete Zusammenfassung der sachlichen Zuständigkeit für Vollstreckungs- und entsprechende Sicherungsmassnahmen, einschliesslich des Arrests, bei einem Gericht (in casu dem Vollstreckungsgericht) entspricht der weit überwiegenden und sinnvollen Praxis der kantonalen Gerichtsorganisationsgesetze. Es ist zu hoffen, dass diese Rechtslage spätestens mit dem Inkrafttreten der ZPO und der vorgeschlagenen Bestimmungen in allen Kantonen besteht.

Die Ausweitung der örtlichen Zuständigkeit und die offenere Terminologie (Gericht statt Arrestgericht) legt es zudem nahe, dass es auch ausserhalb eines Vollstreckungsverfahrens einem mit der Hauptsache befassten Gericht möglich sein sollte, einen Arrestbefehl als vorsorgliche Massnahme auszusprechen, sofern die örtliche Zuständigkeit des Hauptsachegerichts nach Artikel 272 SchKG und dessen sachliche Zuständigkeit gegeben sind. Damit würde auch in diesem Bereich das SchKG mit der entsprechenden Regelung der ZPO (Art. 261) gleichziehen.

47

EuGH, Urteil vom 3.10.1985, Rs 119/84, Capelloni/Pelkmans, Slg. 1985, 1951.

1809

2.7.1.3

Das inzidente Exequatur als Alternative

Neben dem durch das revLugÜ und die vorgeschlagenen Anpassungen geschaffenen neuen revLugÜ-konformen Exequaturverfahren vor dem kantonalen Vollstreckungsgericht (vgl. Anhang II), steht es der Gläubigerin oder dem Gläubiger auch künftig offen, den Weg über die ordentliche Betreibung und dem inzidenten Exequatur im Rahmen der Rechtsöffnung (Art. 81 SchKG) zu beschreiten. Damit verzichtet die Gläubigerin oder der Gläubiger allerdings auf die Anwendung der Verfahrensbestimmungen des revLugÜ und auf die prozessualen Vorzüge, die ihr oder ihm das revLugÜ gewährt. Die Einwendungen des revLugÜ kommen im Rahmen von Artikel 81 Absatz 3 SchKG unbeschränkt zum Tragen und können im Rahmen des darin vorgesehenen zweiseitigen Verfahrens schon in diesem Verfahrensstadium geltend gemacht werden.

Trotzdem dürfte dieses Verfahren für Gläubigerinnen und Gläubiger, die weder ein Sicherungsmittel noch einen Überraschungseffekt beanspruchen wollen (oder können), eine prüfenswerte Option bleiben. Aufgrund von Artikel 309 Buchstabe b Ziffer 3 ZPO steht gegen den Rechtsöffnungsentscheid einzig die Beschwerde zur Verfügung. Diese hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Die Gläubigerin oder der Gläubiger, dem die definitive Rechtsöffnung erteilt wird, kann somit unmittelbar nach Ablauf der Zahlungsfrist von Artikel 88 SchKG die (definitive) Pfändung verlangen. Ihr oder ihm kommen ausserdem die im Vergleich zu Artikel 43 Absatz 5 revLugÜ relativ kurzen Beschwerdefristen von Artikel 321 Absatz 2 ZPO zugute.

2.7.2 Art. 39

Das Exequaturverfahren in erster Instanz Sachliche und örtliche Zuständigkeit des Exequaturgerichts

Artikel 39 enthält gegenüber seinem Vorgänger, Artikel 32 LugÜ, eine rein formelle Anpassung. Die Liste der zuständigen Gerichte oder Behörden ist nicht mehr im Übereinkommen selbst enthalten, sondern in einem Annex II, auf welchen in Artikel 39 verwiesen wird. Dieselbe Methode kommt auch in den Artikeln 43 Absatz 2 und 44 zur Anwendung.

Die diesbezügliche Erklärung der Schweiz (vgl. Ziff. 3) wird im Zuge der angestrebten einheitlichen Regelung des revLugÜ-Exequaturverfahrens und des Sicherungsmittels geändert: Neu ist in der Schweiz ein Vollstreckungsantrag nach revLugÜ grundsätzlich an das kantonale Vollstreckungsgericht (Art. 338 ff. ZPO) zu richten.

Das Vollstreckungsgericht (gleichsam als Arrestgericht gemäss der bisherigen Terminologie agierend) kann dann sowohl das Exequatur als auch einen nach neuem Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6 SchKG darauf gestützten Arrest aussprechen (vgl.

Ziff. 2.7.5). Diese Bestimmung erfasst im Anwendungsbereich des revLugÜ auch das für die Erteilung des Arrestbefehls zuständige Gericht nach Artikel 272 SchKG (vgl. Ziff. 2.7.1.2).

Die örtliche Zuständigkeit des kantonalen Vollstreckungsgerichts richtet sich unmittelbar nach Artikel 39 Absatz 2. Diesem zufolge besteht der Gerichtsstand am Vollstreckungsort nicht mehr subsidiär, sondern alternativ zum Gerichtsstand am Wohnsitz der oder des Beklagten zur Verfügung. Das revLugÜ entspricht damit im 1810

Ergebnis weitgehend der Regelung von Artikel 339 ZPO. Es widerspricht hingegen dem geltenden Artikel 272 SchKG insofern, als dieser keinen Gerichtsstand am Wohnsitz des Schuldners vorsieht. Artikel 272 SchKG soll daher dahingehend angepasst werden, dass der Arrest neu auch am Betreibungsort und damit i.d.R. am Wohnsitz der Schuldnerin oder des Schuldners beantragt werden kann (vgl.

Ziff. 4.1). Damit wird die Zuständigkeit für die Ausstellung des Arrestbefehls nach Artikel 272 SchKG an Artikel 39 und an Artikel 339 ZPO angeglichen und eine Benachteiligung von Gläubigerinnen und Gläubigern in der Schweiz, denen ausserhalb des revLugÜ kein Arrestort am Beklagtenwohnsitz gewährt würde, verhindert.

Das zuerst angerufene, nach Artikel 272 SchKG zuständige Gericht kann den Arrest über sämtliche Vermögensgegenstände der Schuldnerin oder des Schuldners aussprechen, unabhängig davon, wo sich diese in der Schweiz befinden (Art. 271 Abs. 1 SchKG). Damit entspricht das SchKG dem in der ZPO verwirklichten schweizerischen Vollstreckungsraum. Der Gläubigerin oder dem Gläubiger nach dem revLugÜ wird zudem ein wirksames Sicherungsmittel zur Verfügung gestellt, welches gemeinsam mit den Exequaturentscheid gewährt werden kann (vgl. Ziff. 4.1, insb.

Komm. zu Art. 271 und 272 SchKG).

Art. 40

Der Exequaturantrag

Artikel 40 entspricht fast wörtlich Artikel 33 LugÜ. Eine Neuerung ergibt sich aber aus Absatz 3. Dort wird auf Artikel 53 verwiesen, der die dem Antrag beizulegenden Urkunden regelt. Hierzu wird auf die Kommentierung der Artikel 53 und 54 verweisen.

Art. 41

Vollstreckungsautomatismus und Einredeausschluss

Artikel 41 ist eine Schlüsselbestimmung des revidierten Exequaturverfahrens. Dieses charakterisiert sich dadurch, dass die Verweigerungsgründe erst in zweiter Instanz materiell geprüft werden. Die erste Exequaturinstanz erteilt die Vollstreckbarerklärung somit ungeachtet allfälliger materieller Verweigerungsgründe, selbst wenn diese offensichtlich gegeben sein sollten. Allerdings hat das Gericht von Amtes wegen zu prüfen, ob der fragliche Antrag überhaupt in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fällt. Wie bis anhin erfolgt dieses erstinstanzliche Verfahren einseitig, d.h. ohne Einbezug der oder des Vollstreckungsbeklagten, weshalb sich das Gericht selbst bezüglich dieser Fragen vorerst auf die Behauptungen der Gesuchstellerin oder des Gesuchstellers zu stützen hat. Im Übrigen beschränkt sich die Prüfungsbefugnis des Exequaturgerichts im Wesentlichen auf die formelle Prüfung der Urkunden nach Artikel 53 ff.

Für die schweizerischen Gerichte, die für das Exequatur und allfällige Sicherungsmassnahmen, namentlich dem Arrest, zuständig sind, hat dies zur Folge, dass die Schuldnerin oder der Schuldner in dieser Phase nicht zu hören ist. Für das Arrestbewilligungverfahren (Art. 272 ff. SchKG) ist dies nichts Neues, erfolgt doch die Arrestbewilligung seit jeher auf einseitiges Vorbringen der Arrestgläubigerin oder des Arrestgläubigers. Das für den Arrest zuständige Gericht kann nun auch das Exequatur, auf welches sich der Arrestantrag stützt, im gleichen, einseitigen Verfahren aussprechen. Entscheidet das Vollstreckungsgericht nach Artikel 338 ff. ZPO, so werden die Verfahrensbestimmungen der ZPO durch die einschlägigen Bestimmungen des revLugÜ (Art. 40 ff. revLugÜ) überlagert (Art. 335 Abs. 3 ZPO). Das Vollstreckungsgericht darf daher, unabhängig davon, ob sich das Verfahren im 1811

Übrigen nach dem SchKG oder nach der ZPO richtet, weder die Schuldnerin oder den Schuldner anhören noch materielle Verweigerungsgründe prüfen.

Da keine Überprüfung der materiellen Verweigerungsgründe mehr möglich ist, ist eine Schutzschrift nach Artikel 270 ZPO gegen ein revLugÜ-Exequatur zwecklos.

Der diesbezüglich nicht mehr zutreffende Hinweis in Artikel 270 ZPO wird daher gestrichen (Ziff. 4.2).

Art. 42

Zustellung an den Schuldner

Artikel 42 Absatz 1 ist unverändert von Artikel 35 LugÜ übernommen worden.

Neu schreibt das Übereinkommen in Artikel 42 Absatz 2 vor, dass der Exequaturentscheid und, soweit dies noch nicht erfolgt ist, der diesem zugrunde liegende Entscheid, der Schuldnerin oder dem Schuldner zuzustellen sind. Die Zustellung in der Schweiz richtet sich nach der ZPO, ins Ausland nach den anwendbaren staatsvertraglichen Vereinbarungen (zum Vorbehalt der Schweiz zu Art. 1 Abs. 2 des Prot. Nr. 1 vgl. Ziff. 3).

2.7.3

Die Rechtsbehelfe gegen den Exequaturentscheid

2.7.3.1

Vorgaben des Übereinkommens

Art. 43

Der Rechtsbehelf an das «obere kantonale Gericht»

Artikel 43 tritt an die Stelle der Artikel 36 LugÜ (Rechtsbehelf des unterlegenen Vollstreckungsbeklagten) und Artikel 40 LugÜ (Rechtsbehelf des unterlegenen Vollstreckungsklägers). Indem nicht mehr zwischen dem Rechtsbehelf des Vollstreckungsklägers und des Vollstreckungsbeklagten unterschieden wird (Abs. 1), wird das Rechtsbehelfsverfahren vereinfacht.

Der nun vereinheitlichte Rechtsbehelf ist am in Anhang III aufgeführten Gericht einzulegen (Abs. 2). Für die Schweiz wird dort neu das «obere kantonale Gericht» bezeichnet, stellvertretend für die gemäss dem jeweiligen kantonalen Organisationsgesetz zuständigen Rechtsmittelinstanzen gegen Entscheidungen im summarischen Verfahren.

Durfte die Antragsgegnerin oder der Antragsgegner in erster Instanz noch nicht gehört werden, so ist ihr oder ihm im Rahmen des Rechtsbehelfs nach Artikel 43 zwingend Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Abs. 3). Beiden Parteien ­ in besonderem Mass aber der bisher nicht gehörten Schuldnerin oder dem bisher nicht gehörten Schuldner ­ ist ein umfassendes rechtliches Gehör zu gewähren. Lässt sich etwa die Schuldnerin oder der Schuldner auf das von der Gläubigerin oder vom Gläubiger in Gang gebrachte Rechtsbehelfsverfahren nicht ein, so hat das Gericht nach Artikel 43 Absatz 4 in Verbindung mit Artikel 26 Absätze 2­4 das Verfahren auszusetzen, bis festgestellt ist, dass die Verteidigungsrechte der Schuldnerin oder des Schuldners gewahrt wurden. Dieser Schutz erstreckt sich auch auf Schuldnerinnen und Schuldner, die ihren Wohnsitz nicht in einem Übereinkommenstaat haben.

Im Übrigen ist die Ausgestaltung des ­ unter Vorbehalt der Bestimmungen des Übereinkommens selbst ­ nach den auf kontradiktorische Verfahren anwendbaren Vorschriften des Vollstreckungsstaates durchzuführen. Der Anspruch auf ein umfassendes rechtliches Gehör sowie der Umstand, dass die Schuldnerin oder der Schuld1812

ner zuvor nicht gehört wurde, schliessen Kognitionsbeschränkungen des urteilenden Gerichts, etwa eine Beschränkung der Tatsachenüberprüfung auf offensichtliche Unrichtigkeit (Art. 320 Buchstabe b ZPO), aus. Dem Rechtsbehelf kommt zudem nach Artikel 47 Absatz 3 in fine insofern aufschiebende Wirkung zu, als keine über den Sicherungszweck hinaus gehende Eingriffe in das Vermögen der Schuldnerin oder des Schuldners zulässig sind.

Was die Fristen des Rechtsbehelfs betrifft, wird die Regel von Artikel 36 LugÜ inhaltlich unverändert in Artikel 43 Absatz 5 übernommen. Somit bleibt es bei der Frist der unterlegenen Schuldnerin oder des unterlegenen Schuldners von einem Monat. Diese Frist verlängert sich auf zwei Monate, wenn die unterlegenen Schuldnerin oder der unterlegene Schuldner den Wohnsitz nicht in der Schweiz haben.

2.7.3.2

Die revLugÜ-Beschwerde

Die ZPO sieht als Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Vollstreckungsgerichts ausschliesslich die Beschwerde nach Artikel 319 f. vor (Art. 309 Bst. a ZPO). Damit untersteht der Arrest, unter Vorbehalt der Arresteinsprache, dem gleichen Rechtsmittel wie alle übrigen Sicherungsmassnahmen (vgl. Ziff. 4.1).

Ein neuer Artikel 327a ZPO (vgl. Ziff. 4.2) sorgt dafür, dass die Beschwerde im Anwendungsbereich des revLugÜ bezüglich der aufschiebenden Wirkung und der Kognition des Gerichts den Vorgaben des revLugÜ entspricht.

Die Fristen von Artikel 43 Absatz 5 kommen für die unterlegene Schuldnerin oder den unterlegenen Schuldner unmittelbar zur Anwendung. Da sich das revLugÜ zu den Fristen der unterlegenen Gläubigerin oder des unterlegenen Gläubigers ausschweigt, bestimmten sich diese hingegen nach 321 ZPO.

In beiden Fällen beginnen die Fristen erst mit der Zustellung des begründeten Entscheids. Eine solche Zustellung erfolgt nach Artikel 239 ZPO erst auf Verlangen einer Partei. Die dafür vorgesehene zehntägige Frist ist auch im Anwendungsbereich des revLugÜ zu beachten. Verzichtet die unterlegene Partei auf eine Begründung innert dieser Frist, ist darin ein Rechtsmittelverzicht zu sehen, der ­ auch im Anwendungsbereich des revLugÜ ­ seine Wirkung ab dem Ablauf der Frist von Artikel 239 ZPO entfaltet.

Mit der Zustellung des Exequaturentscheids und eines darauf gestützten Arrestbefehls an den Schuldner durch das Vollstreckungsgericht beginnen gleichzeitig sowohl die erwähnten Fristen für den revLugÜ-Rechtsbehelf als auch die zehntätige Frist für die Einreichung einer Arresteinsprache (Art. 278 Abs. 1 SchKG) zu laufen.

Letztere steht im Anwendungsbereich der revLugÜ-Beschwerde nur für ausschliesslich arrestbezogene Einwände zur Verfügung (Bestreitung des Arrestobjekts, Einrede der Pfandsicherheit). Die Überprüfung des Arrestgrunds untersteht ­ im Rahmen der zulässigen Einwendungen ­ ausschliesslich der revLugÜ-Beschwerde (Art. 327a ZPO).

Der Entscheid über die Arresteinsprache untersteht nach revidiertem Artikel 278 Absatz 3 SchKG (vgl. Ziff. 4.2) wiederum der Beschwerde. Werden sowohl der Einspracheentscheid als auch das Exequatur angefochten, so liegt es nahe, die Beschwerden nach Artikel 125 Buchstabe c ZPO zu vereinigen.

1813

Während eines laufenden Beschwerdeverfahrens ist es der Gläubigerinnen oder dem Gläubiger unbenommen, das Betreibungsverfahren mittels eines Betreibungsbegehrens einzuleiten. Eine (definitive) Rechtsöffnung mit anschliessender Pfändung kann jedoch aufgrund des Verbots von Massnahmen, die in das Vermögen der Schuldnerin oder des Schuldners eingreifen (Art. 47 Abs. 3 revLugÜ), erst nach Abweisung der revLugÜ-Beschwerde erfolgen. Das Rechtöffnungsgericht darf dabei die Einreden gegen die inzidente Vollstreckbarerklärung (Art. 81 Abs. 3 SchKG) nicht erneut prüfen (res iudicata).

2.7.3.3

Der Rechtsbehelf an das Bundesgericht

Artikel 44 regelt das Rechtsmittel gegen die Entscheidung über den Rechtsbehelf (Art. 43). Die Beschwerdeinstanz für die jeweiligen Vertragsstaaten ist neu im Annex IV zur revLugÜ aufgeführt. Für die Schweiz wird im entsprechenden Artikel 41 LugÜ seit dem 1. Januar 2007 die «Beschwerde an das Bundesgericht» genannt. Dieser Hinweis wird unverändert in den Annex IV überführt.

Damit kommt in der Schweiz primär die Einheitsbeschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht nach Artikel 72 ff. des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200548 (BGG) zur Anwendung. Wo diese im Einzelfall nicht gegeben ist (vgl. Art. 74 BGG), steht der Beschwerdeführerin oder dem Beschwerdeführer die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG) zur Verfügung, sofern die Voraussetzungen dafür gegeben sind.

Der Rechtsbehelf an das Bundesgericht hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung (Art. 103 Abs. 1 BGG). Die Ausnahmeregelung von Artikel 103 Absatz 2 Buchstabe a BGG (Gestaltungsurteile) ist auf Exequaturentscheide nicht zugeschnitten und auch nicht anwendbar, zumindest sofern diese die Vollstreckung von Leistungsurteilen betreffen.

2.7.4 Art. 45

Gemeinsame Vorschriften zum Exequatur und zum Rechtsbehelfsverfahren Verweigerungsgründe

Artikel 45 Absatz 1 nimmt den Regelungsgehalt von Artikel 34 Absätze 1 und 2 LugÜ auf. Der Entscheid kann demnach nur aus den in den Artikel 34 und 35 (bisher Artikel 27 und 28 LugÜ) genannten Gründen verweigert werden. Aus dem revidierten Absatz 1 geht nunmehr unmissverständlich hervor, dass nur die mit einem Rechtsbehelf befassten Gerichte ­ nicht also das erstinstanzliche Gericht oder die Behörde ­ das Exequatur aus den in den Artikeln 34 und 35 genannten Gründen verweigern können (vgl. vorne Ziff. 2.6.2 und die Kommentierung von Art. 41). Wie bis anhin hat das Gericht «unverzüglich» zu entscheiden.

Art. 45 Absatz 2 entspricht wörtlich dem bisherigen Artikel 34 Absatz 3 LugÜ (Verbot der «révision au fond»).

48

SR 173.110

1814

Art. 46

Aussetzen des Verfahrens

Artikel 46 nimmt den Regelungsgehalt von Artikel 38 LugÜ praktisch unverändert auf. Der neue Wortlaut stellt klar, dass diese Bestimmung auf beide Rechtsbehelfe (Art. 43 und 44) anzuwenden ist.

Art. 48­52

Diverse Vollstreckungsbestimmungen

Die Artikel 48­51 zu verschiedenen Aspekten des Vollstreckungsverfahrens übernehmen fast wörtlich den Regelungsinhalt der Artikel 42­45 LugÜ. Artikel 52 war bisher in Artikel III des Protokolls Nummer 1 zum LugÜ enthalten.

Art. 53 und 54

Einheitliches Zertifikat

Ebenfalls der Vereinfachung und Beschleunigung des Exequaturverfahrens dient ein neues Vollstreckungsformular (Zertifikat). Dieses soll der Exequaturbehörde die Überprüfung der wichtigsten Formalien durch gezielte Hinweise erleichtern und gleichzeitig eine gewisse Garantie für die Vollständigkeit des Antrags auf Vollstreckung bieten. Das vereinheitlichte Formular ist in Anhang V zum Übereinkommen enthalten. Es zielt hauptsächlich auf das erstinstanzliche Exequaturverfahren, enthält aber auch Angaben über die Zustellung, die erst im Hinblick auf das Rechtsbehelfsverfahren relevant sind. Es ersetzt jedoch nicht die Vorlage des eigentlichen Entscheids, der nach wie vor das Objekt der Vollstreckung bildet.

2.7.5

Sicherungsmittel der Gläubigerinnen und Gläubiger im Exequaturverfahren

2.7.5.1

Vorgaben des Übereinkommens

Das Sicherungsmittel der Gläubigerinnen und Gläubiger im Exequaturverfahren ist neu in Artikel 47 geregelt. Dieser nimmt in seinen Absätzen 2 und 3 den Regelungsgehalt von Artikel 39 LugÜ inhaltlich unverändert auf.

Wie schon Artikel 39 LugÜ gewährt Artikel 47 Absatz 2 der Gläubigerin oder dem Gläubiger auf der Grundlage der Vollstreckbarerklärung in erster Instanz und gleichzeitig mit diesem Entscheid einen Anspruch auf eine Sicherungsmassnahme.

Welche Sicherungsmassnahme zulässig ist und deren Modalitäten überlässt das Übereinkommen dem internen Recht des Vollstreckungsstaates. Dieses muss allerdings mindestens eine wirksame und unbedingte (d.h. nicht von weiteren materiellen Erfordernissen, etwa einem Gefährdungstatbestand abhängige) Sicherungsmassnahme zur Verfügung stellen. Die Verhängung einer Sicherungsmassnahme darf zudem nicht Gegenstand eines neben dem Exequatur gesonderten Entscheids bilden.49 Absatz 3 entspricht wörtlich dem Absatz 2 von Artikel 39 LugÜ. Solange die Rechtsbehelfsfrist (Art. 43) nicht abgelaufen ist oder über den Rechtsbehelf rechtskräftig entschieden ist, dürfen vorsorgliche Massnahmen, wie bis anhin, nicht über eine Sicherung hinausgehen.

49

EuGH, Capelloni/Pelkmans, zit. in Fn 47.

1815

Der neue Absatz 1 deckt den von den Absätzen 2 und 3 nicht erfassten Zeitraum vor der Erteilung des erstinstanzlichen Exequaturs. Darin wird der Vollstreckungsstaat für zuständig erklärt, schon zu diesem Zeitpunkt der Gläubigerin oder dem Gläubiger vorsorgliche Massnahmen zu gewähren. Auf die Vollstreckbarkeit im Erststaat darf es nicht ankommen. Sicherungsmassnahmen sind somit auch während einer nach erststaatlichem Recht laufenden Frist möglich ­ allerdings nur, sofern das interne Recht des Vollstreckungsstaates dies vorsieht, und unter dessen Voraussetzungen, was typischerweise einen Gefährdungstatbestand voraussetzt. Anders als im Bereich der Massnahmen, die auf der Grundlage einer Vollstreckbarerklärung nach Absatz 2 ergehen, besteht bei diesen Massnahmen somit kein staatsvertraglich begründeter Anspruch auf deren Erteilung. Für die Schweiz kommt dieser Bestimmung primär deklaratorischer Charakter zu, denn schon nach geltendem Recht hinderte eine Gläubigerin oder einen Gläubiger nichts, bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen sichernde Massnahmen zu verlangen (vgl. Art. 271 Abs. 1 Ziff. 1­4 SchKG sowie Art. 261 ZPO).

2.7.5.2

revLugÜ-Sicherungsmittel für die Schweiz

In der Schweiz ist aufgrund der vorgeschlagenen Umsetzung für die Sicherung von Geldforderungen primär der Arrest nach Artikel 271 ff. SchKG als Sicherungsmittel nach revLugÜ vorgesehen. Dieser wird punktuell an die Vorgaben des revLugÜ angepasst. So trägt etwa ein neuer Arrestgrund in Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6 SchKG dem unbedingten Anspruch des revLugÜ-Gläubigers auf ein Sicherungsmittel Rechnung (vgl. hinten Ziff. 4.2). Die Ausweitung der örtlichen Zuständigkeit des für den Arrest zuständigen Gerichts um den Wohnsitz (bzw. Betreibungsort) der Schuldnerin oder des Schuldners sowie die Möglichkeit dieses Gerichts, künftig schweizweit Vermögenswerte mit Arrest zu belegen, stellen eine wesentliche prozessuale Aufwertung des Sicherungsmittels des Arrests dar. Dank der vorgesehenen Anpassungen im SchKG (vgl. Ziff. 4.2) kommt diese prozessuale Aufwertung Gläubigerinnen und Gläubigern nicht nur aus dem LugÜ-Raum, sondern auch in der Schweiz zugute.

Der Arrest nach Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6 darf im Anwendungsbereich des revLugÜ nicht von einer Sicherheitsleistung nach Artikel 273 SchKG abhängig gemacht werden. Auch in den übrigen Fällen von Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6 SchKG (schweizerische definitive Rechtsöffnungstitel) dürfte es kaum Anwendungsfälle geben, in denen sich eine Kautionspflicht der titulierten Gläubigerin oder des titulierten Gläubigers rechtfertigt. Gleichwohl behält hier das Gericht grundsätzlich das Ermessen, welches ihm Artikel 273 SchKG einräumt.

Für die selteneren Fälle der Sicherung anderer Ansprüche kommen die Artikel 338 ff. ZPO zur Anwendung. Die Gegenpartei wird auch in diesem Falle bezüglich der Sicherungsmittel der ZPO im Rahmen des gleichzeitig zu beurteilenden Exequaturs nicht angehört (Art. 45 Abs. 1 revLugÜ i.V.m. Art. 335 Abs. 3 und Art. 340 ZPO). Auch für Sicherungsmassnahmen nach Artikel 340 ZPO gilt aufgrund des revLugÜ, dass diese nicht von weiteren Bedingungen, etwa einer Dringlichkeit oder einer Gefährdung, abhängig gemacht werden dürfen. Um auch in diesem Bereich schweizerische Urteile nicht gegenüber revLugÜ-Titeln zu benachteiligen, wird Artikel 340 ZPO so angepasst, dass bei Vorliegen eines vollstreckbaren Entscheides grundsätzlich Sicherungsmassnahmen angeordnet werden können 1816

(vgl. dazu Ziff. 4.2). Die obigen Ausführungen zu Artikel 273 SchKG gelten selbstverständlich analog für den Artikel 264 Absatz 1 ZPO.

Mit dem Entscheid für den Arrest als Sicherungsmittel des revLugÜ für Geldschulden wird auf eine Umsetzung der provisorischen Pfändung als revLugÜ-konformes Sicherungsmittel verzichtet. Zwar weist die provisorische Pfändung gegenüber dem Arrest, namentlich für die Gläubigerin oder den Gläubiger, gewisse Vorzüge auf, so etwa keine Obliegenheit, einen Gegenstand substanziiert zu bezeichnen. Doch lässt sich eine Anpassung dieses Sicherungsmittels an die Vorgaben des revLugÜ nur mit schwerwiegenden Eingriffen in das Einleitungsverfahren des SchKG verwirklichen.

Die provisorische Pfändung als Sicherungsmittel auch gegenüber den der Konkursbetreibung unterliegenden Schuldnerinnen und Schuldnern stösst zudem auf dogmatische Bedenken, der Einsatz des Güterverzeichnisses auf Bedenken praktischer Natur. Mit dem Arrest kann hingegen auf eine von der Betreibungsart unabhängige, seit jeher einseitig zu erlassende Massnahme und auf ein entsprechend eingespieltes Verfahren zurückgegriffen werden. Die Wahl des Arrests als Sicherungsmittel des revLugÜ ist denn auch in der Vernehmlassung grossmehrheitlich begrüsst worden.

2.8

Rechtsprechung zum revLugÜ und zur EuGVO

Wie schon das LugÜ enthält das revLugÜ in einem Protokoll 2 Mechanismen, um eine möglichst einheitliche Auslegung der Bestimmungen des revLugÜ und des entsprechenden Parallelinstruments der Europäischen Gemeinschaft, der EuGVO (vgl. dazu Ziff. 1.2), zu fördern. Dazu zählt, als zentrales Element, die in Artikel 1 des Protokolls enthaltene Verpflichtung der Gerichte, den in massgeblichen Entscheidgen von Gerichten anderer Vertragsstaaten oder vom EuGH entwickelten Grundsätzen «gebührend Rechnung zu tragen». Diese Verpflichtung trifft nach Wortlaut alle Gerichte, die das Übereinkommen anwenden, also auch den EuGH; vorbehalten bleibt nach Artikel 1 Absatz 2 lediglich eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Gerichte der EU-Mitgliedstaaten, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen.

Diese Verpflichtung umfasst ­ wie die Präliminarien zum Protokoll 2 ausdrücklich bestätigen ­ auch Entscheide, die zum Brüsseler Übereinkommen oder zum LugÜ ergangen sind oder (bezüglich des LugÜ) noch ergehen könnten.

Gegenüber der bisherigen Rechtslage ergibt sich insofern eine Änderung, als das Parallelinstrument zum revLugÜ nunmehr eine auf Artikel 65 des EG-Vertrags (in der Fassung von Amsterdam) gestützte Verordnung ist und somit Teil des sekundären Gemeinschaftsrechts bildet. Als solche ist sie stärker einer auf das Gemeinschaftsrecht und deren integrative Grundsätze ausgerichteten Rechtsprechung ­ namentlich durch den EuGH ­ ausgesetzt als ihr Vorgänger, das Brüsseler Übereinkommen. Soweit ein Entscheid sich massgeblich auf gemeinschaftsrechtliche Grundsätze stützt, die weder dem revLugÜ noch den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten entnommen worden sind, ist diesem Umstand insofern «Rechnung zu tragen», als diese Grundsätze und die sich daraus ergebenden Auslegungsfolgen nicht unbesehen auf die Auslegung des revLugÜ zu übertragen sind.50

50

In diesem Sinne bereits wegweisend BGE 131 III 227 E. 3.1.

1817

3

Vorbehalte und Erklärungen zum Übereinkommen

Prot. 1, Art. I

Vorbehalt betreffend unmittelbarer Behördenverkehr bei Zustellungen

Die Schweiz beabsichtigt, den in Protokoll 1 Artikel 1 Absatz 2 vorgesehenen Vorbehalt zum alternativen Zustellungsweg des unmittelbaren Behördenverkehrs zwischen den Vertragsparteien zu erklären. Die Schweiz hat den inhaltlich gleich lautenden Vorbehalt bereits zur entsprechenden Bestimmung des geltenden LugÜ (Art. IV Abs. 2 des Prot. 1 zum LugÜ) erklärt.

Als Folge dieses Vorbehalts bestimmt sich der Zustellungsweg zwischen den Vertragsparteien weiterhin aufgrund der einschlägigen multi- und bilateralen Übereinkommen. Die Rechtslage kann diesbezüglich als befriedigend bezeichnet werden.

Mit sämtlichen Nachbarstaaten ist der unmittelbare Behördenverkehr verwirklicht, im Verhältnis zu Österreich ist sogar die unmittelbare postalische Zustellung möglich. Mit den meisten übrigen Vertragsstaaten besteht eine gute Zusammenarbeit auf der Grundlage von Staatsverträgen. Bezüglich des erweiterten Anwendungsbereichs des revLugÜ ist anzumerken, dass sämtliche neu erfassten Staaten (mit Ausnahme Maltas) dem Haager Übereinkommen vom 15. November 196551 über die Zustellung gerichtlicher und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen angehören. Es besteht insbesondere zu diesen Staaten eine bewährte Zustellungspraxis über die jeweiligen Zentralbehörden (für die Schweiz über das Bundesamt für Justiz).

Die Schweiz behält sich dabei das Recht vor, zu einem späteren Zeitpunkt abhängig von den Entwicklungen der europäischen Zustellungspraxis den entsprechenden Vorbehalt zurückzuziehen.

Prot. 1, Art. III

Vorbehalt bezüglich Anerkennung und Vollstreckung

Die Schweiz hat gemäss Artikel III des Protokolls 1 das Recht, zu erklären, dass folgender Teilsatz von Artikel 34 Ziffer 2 nicht angewendet wird: «es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte».

Die Schweiz beabsichtigt, diesen Vorbehalt zu erklären. Sie ist der Ansicht, dass der erwähnte Teilsatz eine zu weitgehende Einschränkung der Beklagtenrechte darstellt.

Hierzu wird auf die Ausführungen unter Ziff. 2.6.2 zu Artikel 34 Ziffer 2 (fehlerhafte Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks) verwiesen.

Aufgrund der in Artikel III Absatz 1, letzter Satz, ausdrücklich erwähnten Reziprozität kann dieser Vorbehalt auch gegenüber schweizerischen Abwesenheitsurteilen, die in einem anderen Vertragsstaat zu vollstrecken sind, angewendet werden.

51

SR 0.274.131

1818

Anhang I

Erklärung der Schweiz zu Artikeln 3 Absatz 2 und 4 Absatz 2 revLugÜ

Die Erklärung der Schweiz lautet wie folgt: ­

in der Schweiz: Artikel 4 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht.

Sie entspricht inhaltlich der bisherigen Erklärung zum LugÜ.

Anhang II

Erklärung der Schweiz zu Artikel 39 revLugÜ

Die Erklärung der Schweiz lautet wie folgt: ­

in der Schweiz beim kantonalen Vollstreckungsgericht,

Die Erklärung der Schweiz bezüglich des für den Exequaturantrag sachlich zuständigen Gerichts wird im Zuge der neuen einheitlichen Regelung des Exequaturverfahrens und des Sicherungsmittels angepasst: Neu ist in der Schweiz ein Vollstreckungsantrag an das kantonale Vollstreckungsgericht (Art. 338 ff. ZPO) zu richten.

Dies betrifft sämtliche Exequaturanträge, unabhängig davon, ob und mit welchem Sicherungsmittel ein Antrag verknüpft ist, und unabhängig davon, ob der Antrag auf eine Geldleistung oder auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet ist. Ein Exequaturantrag nach revLugÜ wird damit grundsätzlich von den gleichen Gerichten beurteilt wie ein (innerstaatliches) Vollstreckungsgesuch oder ein Exequatur nach IPRG.

Die vorgesehene einheitliche Zuständigkeit stellt eine radikale Vereinfachung gegenüber der Rechtslage unter der bisherigen Erklärung zum LugÜ dar.

Bei der bevorstehenden Anpassung der Gerichtsorganisationsgesetze an die ZPO durch die Kantone wäre es sehr zu wünschen, dass sämtliche Kantone der Praxis der Mehrheit der geltenden Gerichtsorganisationsgesetze folgen und generell die Zuständigkeit für Vollstreckungs- und Sicherungsmassnahmen funktional bei einem Gericht, dem Vollstreckungsgericht nach Artikel 338 ff. ZPO konzentrieren, unabhängig davon, ob es sich um die Vollstreckung beziehungsweise die Sicherung von Geld- oder anderen Leistungen handelt. Zumindest im Anwendungsbereich des revLugÜ wird dieses Gericht ohnehin stets befugt sein, sowohl das Exequatur als auch ein darauf basierendes Sicherungsmittel auszusprechen. Der Ersatz des Begriffs «Vollstreckungsgericht» durch «Gericht» im SchKG (vgl. vorne Ziff. 4.1) hat nicht zuletzt auch zum Ziel, den Kantonen die nötige Flexibilität für eine derartige Anpassung des Organisationsrechts zu gewähren und vorzuzeichnen.

Anhang III

Erklärung der Schweiz zu Art. 43 Abs. 2 revLugÜ

Die Erklärung der Schweiz lautet wie folgt: ­

in der Schweiz beim oberen kantonalen Gericht,

Dieser Hinweis ersetzt den bisherigen Hinweis auf das «Kantonsgericht». Dieser erwies sich als irreführend, da nur wenige Kantone diese Bezeichnung kennen und sie zudem nicht immer für das obere Gericht verwenden. Die vorgeschlagene Erklärung orientiert sich an der Terminologie des SchKG und der ZPO.

Aufgrund der diesbezüglichen kantonalen Kompetenz ist es unvermeidlich, dass diese Bezeichnung trotzdem häufig nicht mit der von den kantonalen Organisationsgesetzen gewählten Bezeichnung des Gerichts übereinstimmen wird.

1819

Zur inhaltlichen Ausgestaltung des revLugÜ-Rechtsbehelfs in der Schweiz vgl. die Ausführungen unter Ziffer 2.7.3.2.

Anhang IV

Erklärung der Schweiz zu Art. 44 revLugÜ

Die Erklärung der Schweiz lautet wie folgt: ­

in der Schweiz: Beschwerde beim Bundesgericht,

Diese Erklärung entspricht der Erklärung zu den entsprechenden Bestimmungen des LugÜ, wie sie seit Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes gilt (vgl. dazu Ziff. 2.7.3.3).

4

Änderungen im SchKG und der ZPO

4.1

Änderungen im SchKG

Art. 81 Abs. 3 SchKG

Keine Überprüfung des Exequaturentscheides im Rechtsöffnungsverfahren

Hat das Vollstreckungsgericht das Exequatur ausgesprochen, so kann die Gläubigerin oder der Gläubiger, sofern es um eine Geldschuld geht, eine Betreibung einleiten (dabei einen allfälligen Arrest prosequieren); im Falle eines Rechtsvorschlags kann die Gläubigerin oder der Gläubiger anschliessend die definitive Rechtsöffnung (Art. 81 SchKG) verlangen. Bei der Rechtsöffnungsverhandlung kann die Schuldnerin oder der Schuldner die in Artikel 81 Absatz 1 genannten Einwendungen der Tilgung, Stundung oder Verjährung erheben, nicht aber Einwendungen, die sich gegen die inzidente Vollstreckbarerklärung richten (Abs. 3). Ein in einem gesonderten Verfahren, etwa im Zusammenhang mit einem Arrest nach Art. 271 Ziff. 6 SchKG (vgl. Art. 271 Abs. 3 SchKG) ergangener, schweizerischer Exequaturentscheid ist auch im Rahmen der Rechtsöffnung zu beachten (res iudicata). Artikel 81 Absatz 3 wird um einen ausdrücklichen Hinweis auf diese Rechtslage ergänzt, womit auch einem Anliegen aus der Vernehmlassung entsprochen wird.

Art. 271 SchKG

Schweizweiter Arrest, Arrestgrund des definitiven Rechtsöffnungstitels und Exequaturentscheid

Bezieht sich ein Arrestgesuch auf mehrere Gegenstände, die in verschiedenen Gerichtskreisen gelegen sind, so ist das angerufene Gericht befugt, sämtliche Vermögensgegenstände der Schuldnerin oder des Schuldners die sich in der Schweiz befinden mit Arrest zu belegen. Dadurch wird es einerseits möglich, auch bei mehreren Arrestorten in der Schweiz den Arrestentscheid mit einem (einzigen) Exequaturentscheid zu verknüpfen. Andererseits wird die Rechtslage unter dem SchKG an den schon unter der ZPO verwirklichten schweizweiten Massnahmen- und Vollstreckungsraum angepasst. Nebenbei bestätigt der neue Wortlaut, dass (trotz Ausweitung der örtlichen Zuständigkeit auf den Betreibungsort, vgl. nachfolgend zu Art. 272 SchKG) nach wie vor kein Arrest über Vermögensgegenstände im Ausland ausgesprochen werden kann. Die Neuerung, die eine wesentliche prozessuale Aufwertung des Arrests darstellt, gilt unabhängig vom Arrestgrund. Zur Bestimmung der Belegenheit der Vermögensgegenstände oder -werte kann auf die bestehende Rechtsprechung verwiesen werden.

1820

Der geltende Artikel 271 SchKG macht den Arrest noch von einem der in den Ziffern 1­5 aufgeführten Gefährdungstatbestände abhängig. Das revLugÜ gewährt aber mit dem erstinstanzlichen Exequatur einen unbedingten Anspruch auf ein Sicherungsmittel.

Daher wird in einer neuen Ziffer 6 von Artikel 271 Absatz 1 SchKG das Vorliegen eines definitiven Rechtsöffnungstitels als Arrestgrund aufgenommen. Mit dieser Anpassung wird einerseits Artikel 47 Absatz 2 revLugÜ Rechnung getragen und andererseits Klarheit geschaffen bezüglich des Sicherungsmittels des schweizerischen Rechts und der dafür nötigen Voraussetzungen. Dieser Arrestgrund steht sowohl den Berechtigten aus einem ausländischen Entscheid (Art. 47 revLugÜ i.V.m. Art. 80 Abs. 1 SchKG) als auch den Berechtigten aus einer ausländischen öffentlichen Urkunde, die wie ein gerichtlicher Entscheid vollstreckbar ist (Art. 57 revLugÜ), zur Verfügung.

Der vorgeschlagene Arrestgrund für sämtliche definitiven Rechtsöffnungstitel geht über die eigentlichen Vorgaben des revLugÜ hinaus, indem er auch auf schweizerische definitive Rechtsöffnungstitel (Urteile oder vollstreckbare öffentliche Urkunden) anwendbar ist. Ein wichtiges Ziel der vorgeschlagenen Umsetzung des revLugÜ besteht aber darin, allfällige prozessuale Vorteile, die sich aus dem Übereinkommen für ausländische Gläubigerinnen und Gläubiger ergeben, soweit möglich auch inländischen Gläubigerinnen und Gläubigern zur Verfügung zu stellen (Vermeidung von Inländerdiskriminierungen). Aus dieser Optik wäre es stossend, einem Gläubiger mit einem erstinstanzlich für vollstreckbar erklärten ausländischen Titel weitergehende Sicherungsrechte zu gewähren als einer Gläubigerin, die einen schweizerischen definitiven Rechtsöffnungstitel hält. Der neue Arrestgrund steht grundsätzlich auch den Berechtigten aus einem ausländischen Entscheid (oder einem diesem gleichgestellten Titel, etwa einer ausländischen vollstreckbaren öffentlichen Urkunde) ausserhalb des Anwendungsbereichs des revLugÜ zur Verfügung.

Eine entsprechende Ausweitung wird konsequenterweise auch in Artikel 340 ZPO für die Sicherungsmittel der ZPO vorgenommen (vgl. Ziff. 4.2).

Mit der neuen Ziffer 6 wird der Hinweis in Ziffer 4 auf vollstreckbare gerichtliche Urteile überflüssig. Wo ein solches Urteil vorliegt, ist neu der Arrestgrund von Ziffer 6 gegeben,
und die weiteren Voraussetzungen in Ziffer 4 müssen nicht geprüft werden. Entsprechend wird der Satzteil «oder auf einem vollstreckbaren gerichtlichen Urteil» in Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 4 SchKG gestrichen.

Der neue Absatz 3 stellt klar, dass das Gericht, welches aufgrund eines nach dem revLugÜ vollstreckbaren Entscheids (und damit eines definitiven Rechtöffnungstitels) einen Arrest nach Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6 ausspricht, stets auch einen selbständigen Exequaturentscheid zu fällen hat (vgl. Art. 47 Abs. 2 revLugÜ), selbst wenn diesbezüglich kein selbständiges Begehren gestellt wurde. Die gleiche Rechtlage gilt unter der ZPO im Rahmen von Artikel 341 Absatz 1 ZPO.

Art. 272 SchKG

Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts

Die ZPO bezeichnet in den Artikeln 338 ff. das Vollstreckungsgericht als zuständiges Gericht für Vollstreckungsmassnahmen sowie für sichernde Massnahmen im Zusammenhang mit der Vollstreckung (Art. 340 ZPO). Entsprechend verweist die vorgesehene Erklärung des revLugÜ auf dessen sachliche Zuständigkeit (vgl.

1821

Komm. zu Anhang II in Ziff. 3). Artikel 335 Absatz 2 ZPO behält allerdings die Bestimmungen des SchKG für die Vollstreckung von Geldschulden vor.

Im SchKG war bisher vom Arrestrichter die Rede, der für die Anordnung des Sicherungsmittel des Arrests (Art. 272, aber auch Art. 274 und 278 SchKG) zuständig ist.

Diese Befugnis gehört systematisch und funktional zu den Tätigkeiten des von der ZPO geschaffenen Vollstreckungsgerichts, zumindest sofern sich der Arrest auf eine titulierte Forderung stützt. Für die Sicherung der Vollstreckung von titulierten Geldforderungen liegt es daher nahe, dass das Vollstreckungsgericht nach Artikel 338 ff.

ZPO (was auch ausserhalb des Anwendungsbereichs des revLugÜ gilt) das gleiche Gericht ist wie das nach Artikel 272 SchKG zuständige Gericht. Die meisten kantonalen Gerichtsverfassungsgesetze sehen seit jeher, sinnvollerweise, die gleiche sachliche Zuständigkeit eines Gerichts für sämtliche Sicherungsmassnahmen vor, unabhängig davon, ob diese auf die Sicherung einer Geldleistung oder einer anderen Verpflichtung gerichtet sind. Der Bundesgesetzgeber sollte nicht durch die besondere Bezeichnung eines Gerichts eine Trennung von sachlichen Zuständigkeiten andeuten, wo eine solche nicht sinnvoll ist und von den Kantonen nicht nachgelebt wird. Die Bezeichnung «Arrestgericht» wird daher im SchKG durch die offene Bezeichnung «Gericht» ersetzt. Wo das Gericht nach Artikel 272 SchKG einen Arrest nach Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6 (analog der sichernden Massnahmen nach Art. 340 ZPO) ausspricht, handelt es somit als Vollstreckungsgericht im Sinne der ZPO.

Die offene (und geschlechtsneutrale) Bezeichnung «Gericht» eröffnet zudem die Möglichkeit, dass ein Arrestbefehl, der als sichernde Massnahme ausserhalb einer Vollstreckung im Rahmen eines laufenden Erkenntnisverfahrens ausgesprochen wird, auch vom mit der Hauptsache befassten Gericht ausgesprochen werden kann, sofern dessen örtliche Zuständigkeit nach Artikel 272 SchKG und dessen sachliche Zuständigkeit nach kantonalem Gerichtorganisationsrecht gegeben sind.

Auf der Grundlage dieser Kompetenzzusammenführung kann das kantonale Vollstreckungsgericht sowohl über den Vollstreckungsantrag (Art. 39 Abs. 1) als auch über die damit verbundenen Sicherungsmittel (Art. 47 Abs. 2) entscheiden (vgl.

Komm. zu Anhang II in Ziff. 3). Sofern
diese zweifache Kompetenz beim Vollstreckungsgericht ­ entgegen der bisherigen Regelung der allermeisten kantonalen Gerichtsorganisationsgesetze ­ nicht gegeben wäre, würde sie vom revLugÜ in seinem Anwendungsbereich begründet.

Die örtliche Zuständigkeit des kantonalen Vollstreckungsgerichts bestimmt sich im Anwendungsbereich des revLugÜ im Prinzip unmittelbar nach Artikel 39 Absatz 2 revLugÜ (vgl. vorne Ziff. 2.7.5 zu Art. 39).

Da das Vollstreckungsgericht auch den Arrestbefehl ausspricht, muss für das Exequatur und für den Arrestbefehl eine deckungsgleiche örtliche Zuständigkeit gegeben sein. Daher soll nunmehr der Arrest sowohl am «Ort, wo sich die Vermögensgegenstände befinden» (Art. 272 SchKG) als auch an einem Betreibungsort nach Artikel 46 ff. SchKG (gegebenenfalls am Wohnsitz des Schuldners) ausgesprochen werden können. Das entspricht im Ergebnis weitgehend der Regelung von Artikel 39 Absatz 2 revLugÜ. Die Ausweitung der örtlichen Zuständigkeit in Artikel 272 gilt jedoch generell und unabhängig vom Arrestgrund.

Die (selbstständige) Glaubhaftmachung der dem Rechtsöffnungstitel zugrunde liegenden Forderung (Art. 272 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG) erübrigt sich im Anwendungsbereich von Artikel 271 Absatz 1 Ziffer 6. An die Art und Weise, wie die Gläubige1822

rin oder der Gläubiger glaubhaft macht, dass Vermögensgegenstände der Schuldnerin oder des Schuldners vorhanden sind (Art. 272 Abs. 1 Ziff. 3 SchKG), dürfen zudem keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Es genügt denn auch im Wesentlichen, den Arrestgegenstand, also die beantragte Sicherungsmassnahme, substanziiert zu bezeichnen. Dazu reicht grundsätzlich eine plausibel begründete Behauptung der das Gesuch stellenden Partei, ausser wenn Anhaltspunkte für einen ­ auch unter dem revLugÜ nach wie vor unzulässigen ­ Sucharrest gegeben sind oder wenn die bezeichneten Arrestgegenstände dem Anschein nach Dritten gehören.

Im Übrigen wird auf die bisherige Rechtsprechung und Praxis zum Arrest verwiesen.

Art. 274 SchKG

Gericht statt Arrestgericht

«Der Arrestrichter» in Absatz 1 wird durch «Das Gericht» ersetzt (vgl. Komm. zu Art. 272 SchKG).

Art. 278 SchKG

Beschwerde gegen den Einspracheentscheid

Die Hinweise auf den Arrestrichter in den Absätzen 1 und 2 werden durch Hinweise auf das Gericht ersetzt (vgl. Komm. zu Art. 272 SchKG).

Wie alle übrigen Entscheide des Vollstreckungsgerichts untersteht der Einspracheentscheid betreffend den Arrestbefehl alleine der Beschwerde (vgl. unten Komm. zu Art. 309 ZPO). Artikel 278 Absatz 3 SchKG (in der revidierten Fassung gemäss ZPO) wird entsprechend angepasst und der Hinweis auf die Berufung gestrichen.

Ebenfalls gestrichen wird Artikel 278 Absatz 5 SchKG, dessen Regelungsgehalt vom neuen Artikel 279 Absatz 5 SchKG aufgenommen wird.

Art. 279 SchKG

Beginn der Prosequierungsfrist

Der Gläubiger, der aufgrund des revLugÜ einen Arrest gegen die Schuldnerin oder den Schuldner erwirkt hat, sollte nicht verpflichtet werden, seine Forderungen durch Betreibung geltend zu machen (den Arrest prosequieren), solange ein Rechtsbehelf gegen das Exequatur hängig ist oder die Frist dazu noch nicht abgelaufen ist. Artikel 47 Absatz 3 revLugÜ verlangt zudem, dass vor Ablauf der Rechtsbehelfsfristen keine Eingriffe in das Vermögen der Schuldnerin oder des Schuldners erfolgen dürfen, die über eine reine Sicherung hinausgehen.

Folglich sollen die Prosequierungsfristen nach Artikel 279 SchKG frühestens dann zu laufen beginnen, wenn über einen allfälligen Rechtsbehelf endgültig entschieden worden ist oder die Frist zu dessen Ergreifung ungenutzt abgelaufen ist. Der Gläubigerin oder dem Gläubiger bleibt es selbstverständlich unbenommen, den Arrest gleichwohl auf dem Wege der Betreibung vorher zu prosequieren (Art. 279 Abs. 5 Ziff. 2 SchKG).

Aus gesetzessystematischen Gründen wird die bislang in Artikel 278 Absatz 5 SchKG enthaltene Regelung über die Auslösung der Frist von Artikel 279 SchKG ebenfalls in den neuen Artikel 279 Absatz 5 SchKG überführt.

Im Zuge dieser Revision von Artikel 279 SchKG soll zugleich eine Schwierigkeit beseitigt werden, die insbesondere bei der Zustellung eines Zahlungsbefehls an Schuldnerinnen und Schuldner im Ausland aufgetreten ist: Erhebt eine Schuldnerin oder ein Schuldner nach der Zustellung des Zahlungsbefehls Rechtsvorschlag, so 1823

muss die Gläubigerin oder der Gläubiger gemäss der geltenden Formulierung der Bestimmung innert zehn Tagen, nachdem ihr oder ihm dies mitgeteilt worden ist, ein Rechtsöffnungsbegehren stellen oder Anerkennungsklage einreichen (Art. 279 Abs. 2 SchKG). Die Frist wird in diesem Fall ausgelöst durch die Mitteilung des Rechtsvorschlags an die Gläubigerin. Erhebt die Schuldnerin oder der Schuldner dagegen keinen Rechtsvorschlag, so ist dies zwar auf dem Gläubigerdoppel anzumerken (Art. 76 Abs. 2 SchKG), die Zehntagefrist zur Fortsetzung der Betreibung beginnt aber (jedenfalls gemäss dem Wortlaut von Art. 279 Abs. 3 SchKG) bereits mit dem Zeitpunkt, in welchem die Gläubigerin oder der Gläubiger zur Fortsetzung der Betreibung berechtigt ist, d.h. «20 Tage nach der Zustellung des Zahlungsbefehls» an die Schuldnerin oder den Schuldner (Art. 88 Abs. 1 SchKG). Sofern die Schuldnerin oder der Schuldner also keinen Rechtsvorschlag erhebt und mehr als 20 Tage vergehen, bis die Gläubigerin oder der Gläubiger von dieser Tatsache Kenntnis erhält (was bei einer Zustellung im Ausland regelmässig der Fall ist), wird der Fristenlauf ausgelöst, ohne dass die betreibende Gläubigerin oder der betreibende Gläubiger davon weiss. Die betreffende Situation wird dadurch verschärft, dass Artikel 33 Absatz 2 SchKG eine Verlängerung der Frist nur zugunsten derjenigen Partei vorsieht, welche im Ausland wohnt, nicht dagegen für die sich in der Schweiz befindliche Partei, welche sich einer ausländischen Gegenpartei gegenübersieht. Die Praxis hat sich in diesen Fällen damit beholfen, die Frist gemäss Artikel 279 Absatz 3 SchKG erst auslösen zu lassen, wenn die Schuldnerin oder der Schuldner von der Zustellung des Zahlungsbefehls Kenntnis genommen hat (KG GR, PKG 2002, Nr. 32).

Mit der vorgeschlagenen Formulierung in Absatz 3 soll vor allem der allgemeine Grundsatz umgesetzt werden, dass eine Verwirkungsfrist erst dann zu laufen beginnt, wenn die mit der Frist belastete Partei vom fristauslösenden Ereignis Kenntnis erhalten hat. Deshalb soll der Gläubigerin oder dem Gläubiger Doppel des Zahlungsbefehls zugestellt werden. Diesem kann sie oder er entnehmen, ob Rechtsvorschlag erhoben worden ist oder nicht (Art. 76 SchKG). Erst ab diesem Zeitpunkt weiss sie oder er, ob sie oder er den Arrest durch eine Fortsetzung der Betreibung oder
ein Rechtsöffnungsbegehren beziehungsweise eine Anerkennungsklage voranzutreiben hat. Absatz 2 wird an die präzisere Formulierung von Absatz 3 angepasst.

Daraus ergibt sich keine Änderung gegenüber der bisherigen Rechtslage.

4.2

Änderungen in der ZPO

Am 19. Dezember 2008 hat die Bundesversammlung die Schweizerische Zivilprozessordnung (Zivilprozessordnung, ZPO) verabschiedet. Die Referendumsfrist läuft bis zum 16. April 2009. Das Inkrafttreten der ZPO ist für den 1. Januar 2011 vorgesehen. Die nachfolgend vorgeschlagenen Anpassungen sollen gemeinsam mit der ZPO in Kraft treten.

Art. 270

Keine Schutzschrift gegen den Exequaturentscheid

Artikel 270 ZPO sieht das Instrument der Schutzschrift ausdrücklich für den Fall einer «Vollstreckbarerklärung nach den Artikeln 31­45 des [LugÜ]» vor. Im Rahmen des revLugÜ besteht kein Anwendungsbereich für die Schutzschrift mehr, denn das revLugÜ verlangt ­ anders als noch das LugÜ ­, dass Einwendungen gegen die Vollstreckbarerklärung erst im Rechtsbehelfsverfahren zu hören sind (Art. 41 rev1824

LugÜ). Konsequenterweise ist der Tatbestand der Vollstreckbarerklärung nach LugÜ in Artikel 270 ZPO zu streichen.

Weiterhin erhalten bleibt in Artikel 270 ZPO der Hinweis auf den Arrest. Somit kann die oder der Arrestbeklagte auf dem Wege der Schutzschrift weiterhin Einwände vorbringen, die sich alleine auf den drohenden Arrest beziehen (etwa, dass ein mutmasslicher Arrestgegenstand nicht ausreichend spezifiziert oder unpfändbar sein könnte), selbst wenn sich der Arrestbefehl auf einen revLugÜ-Titel stützt.

Werden in der Schutzschrift gleichwohl Einwendungen gegen die Vollstreckbarerklärung erhoben, so darf das Gericht diese nicht beachten.

Art. 309 Bst. b

Keine Berufung gegen die Arrestverweigerung oder den Einspracheentscheid

Artikel 309 Buchstabe a ZPO schliesst die Berufung gegen Entscheide des Vollstreckungsgerichts aus. Hintergrund dieses Ausschlusses ist der Umstand, dass diese Entscheidungen im summarischen Verfahren ergehen und dem Summarentscheid bereits ein Entscheid in der Sache vorausgegangen ist.

Die Überlegungen, die zum Ausschluss der Berufung bei Entscheidungen des Vollstreckungsgerichts führen, gelten ohne Weiteres für Entscheide über die Arrestbewilligung. Es ist nicht einzusehen, weshalb Massnahmen zur Sicherung der Vollstreckung einer Leistung auf Geld (Arrest) einem anderen Rechtsmittel unterstehen sollten als Massnahmen zur Sicherung der Vollstreckung anderer Leistungen. Ebenso wenig ist es sinnvoll, den Exequaturentscheid des für den Arrest zuständigen Gerichts einem anderen Rechtsmittel zu unterstellen als das Exequatur durch das Vollstreckungsgericht. Dieses Gericht soll nunmehr ohnehin sowohl den Arrest als auch die übrigen Massnahmen bewilligen.

Der Katalog der SchKG-bezogenen Ausnahmen von der Berufung wird erweitert: Eine neue Ziffer in Artikel 309 Buchstabe b führt den Arrest als weitere SchKGAngelegenheit auf, gegen die die Berufung unzulässig ist. Somit ist gegen den abweisenden Entscheid über den Arrestbefehl oder gegen den Einspracheentscheid über einen bewilligten Arrest die Beschwerde gegeben. Diese hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Die Gläubigerin oder der Gläubiger, die oder der eine (erstinstanzliche) definitive Rechtsöffnung erhält, kann daher nach Ablauf der Zahlungsfrist von Artikel 88 Absatz 1 SchKG die Pfändung verlangen. Vorbehalten bleiben die Anwendungsfälle der neuen revLugÜ-Beschwerde (Art. 327a ZPO, vgl.

nachfolgend).

Art. 327a (neu)

Beschwerde als Rechtsbehelf nach Art. 43 revLugÜ

Neben den Fristen schreibt Artikel 43 Absatz 3 revLugÜ vor, dass über den Rechtsbehelf nach den Vorschriften zu entscheiden ist, «die für Verfahren mit beiderseitigem rechtlichem Gehör massgebend sind». Das Gericht hat zwar allein zu prüfen, ob einer der in den Artikeln 34 und 35 revLugÜ aufgelisteten Gründe vorliegt. Die Schuldnerin oder der Schuldner muss im Rahmen des revLugÜ-Rechtsbehelfs aber die Möglichkeit haben, diese Anerkennungsversagungsgründe einer Prüfung bei voller Kognition zu unterbreiten. Dazu gehören auch tatsächliche Einwände, etwa, dass das verfahreneinleitende Schriftstück nicht rechtzeitig zugestellt worden sei (Art. 34 Ziff. 2 revLugÜ). Eine Einschränkung der Tatsachenüberprüfung auf «offensichtliche Unrichtigkeit», wie sie nach Artikel 320 Buchstabe b ZPO gegen 1825

einen Exequaturentscheid des Vollstreckungsgerichts zum Tragen käme, ist mit dem revLugÜ nicht vereinbar.

Artikel 47 Absatz 3 revLugÜ verbietet ausserdem während eines laufenden Rechtsbehelfsverfahrens Massnahmen, die in das Vermögen der Schuldnerin oder des Schuldners eingreifen (vgl. aber Art. 325 Abs. 1 ZPO).

Der neue Artikel 327a trägt den Vorgaben des revLugÜ Rechnung, indem er die Beschwerde gegen Exequaturentscheide des Vollstreckungsgerichts, die in Anwendung des revLugÜ ergehen, bezüglich der Kognition an das revLugÜ anpasst. Die revLugÜ-Beschwerde hemmt ausserdem die Vollstreckbarkeit des angefochtenen Exequaturentscheides. Davon ausgenommen sind selbstverständlich die mit dem Exequatur gewährten Sicherungsmittel (vgl. Ziff. 2.7.5).

Schliesslich wird der Vollständigkeit halber ausdrücklich auf die vorrangigen Fristen von Artikel 43 Absatz 5 revLugÜ hingewiesen (Abs. 3). Diese kommen allerdings nur gegenüber einem erteilten Exequatur zum Tragen. Die Fristen der unterlegenen Gesuchstellerin oder des unterlegenen Gesuchstellers richten sich hingegen nach Art. 321 ZPO.

Art. 340

Sicherungsmassnahmen bei vollstreckbarem Entscheid

Das unbedingte Sicherungsmittel des mit einem vollstreckbaren Entscheid ausgestatteten Gläubigers muss (für revLugÜ-Entscheide wie für schweizerische Entscheide) unabhängig davon gewährt werden, ob dieser Entscheid auf Geld oder auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet ist. Entsprechend ist Artikel 340 ZPO als Gegenstück zu Artikel 271 Ziffer 6 SchKG dahingehend anzupassen, dass auch ein vollstreckbarer Entscheid zu einer vorsorglichen, auf Sicherung gerichteten Massnahme berechtigt. Im Anwendungsbereich des revLugÜ ist dieser Anspruch ein unbedingter (Art. 335 Abs. 3 ZPO).

5

Änderungen im IPRG

5.1

Hintergrund und Zweck der Änderungen

Die ZPO übernimmt bezüglich der Gerichtsstände zum grössten Teil die Regelung des GestG. Sie erweitert die Gerichtsstände allerdings um denjenigen des Erfüllungsorts und regelt die Tatbestände der Klagenhäufung teilweise neu. Gleichzeitig enthält auch das revLugÜ Neuerungen im Gerichtsstandsrecht. Die Inkraftsetzung und Umsetzung des revLugÜ bilden daher einen geeigneten Anlass, das Gerichtsstandsrecht des IPRG mit demjenigen der ZPO und des revLugÜ abzustimmen. Ziel der Anpassungen ist es, Unterschiede zwischen dem IPRG und den übrigen Rechtsquellen dort zu beheben, wo sie sachlich nicht gerechtfertigt sind, und gewisse Regelungslücken bezüglich der örtlichen Zuständigkeit zu schliessen.

Ein für die Praxis relevantes Problem besteht namentlich dort, wo trotz vorhandener Gerichtsstände in der Schweiz keine örtliche Verfahrenskonzentration an einem einzigen schweizerischen Gerichtsstand möglich ist, weil, anders als im GestG/ZPO und dem revLugÜ, im IPRG eine entsprechende Regelung fehlt. Konkret geht es um den Gerichtsstand der objektiven und subjektiven Klagenhäufung, der Gewährleistungs- und der Adhäsionsklage.

1826

Beim Gerichtsstand des Erfüllungsorts geht es darum, eine ungerechtfertigte Benachteilung der klagenden Person im internationalen Verhältnis zu beseitigen.

Dieser steht der Gerichtsstand am Erfüllungsort unter dem IPRG nur subsidiär zur Verfügung, in der ZPO hingegen alternativ. Die gleiche Frage stellt sich beim für die Praxis weniger relevanten Gerichtsstand der dinglichen Klagen am Ort der gelegenen Sache.

Die vorgeschlagenen Anpassungen sind darauf gerichtet, die praktischen Probleme zu beseitigen, die sich aus der fehlenden Übereinstimmung der Gerichtsstände im IPRG und den übrigen Rechtsquellen (insb. GestG/ZPO) ergeben. Dabei gilt es, die bereits grosszügig vorhandenen Zuständigkeitsgründe des IPRG für schweizerische Gerichte im internationalen Verhältnis nicht unnötig zu vermehren. Sachlich gerechtfertigte Abweichungen zwischen den Rechtsquellen bleiben unangetastet.

Mit der Entscheidung für die vorgeschlagene örtliche Verfahrenskonzentration bei Vorliegen mehrerer schweizerischer Gerichtsstände wird implizit die Lösung verworfen, echte internationale Gerichtsstände (also solche, die von sich aus eine internationale Zuständigkeit begründen) nach dem Vorbild des LugÜ/revLugÜ ins IPRG zu übernehmen. Solche «echten» internationalen Gerichtsstände, etwa der Klagenhäufung oder der Adhäsionsklage, wurden aus folgenden Gründen abgelehnt: ­

Anders als beim LugÜ/revLugÜ als conventions doubles ist die Anerkennung im Ausland von Entscheiden, die auf der Grundlage solcher Gerichtsstandsbestimmungen im IPRG ergehen, sehr ungewiss.

­

Das IPRG enthält einen sehr weiten, in aller Regel ausreichenden, Katalog direkter Zuständigkeiten. Wo, etwa bei einer unerlaubten Handlung, weder ein Handlungs- noch ein Erfolgsort in der Schweiz bestehen, dürften die Anknüpfungspunkte, die gleichwohl ein strafrechtliches Verfahren in der Schweiz begründen könnten (bspw. aktives oder passives Personalitätsprinzip), in zivilprozessualer Hinsicht als exorbitant gelten.

Ein echter internationaler Gerichtsstand dürfte ­ wie von der Lehre einstimmig postuliert ­ auf der Grundlage von Artikel 3 IPRG für bestimmte Fälle der notwendigen Streitgenossenschaft bestehen, namentlich dann, wenn eine Rechtsverfolgung aller notwendigen Streitgenossen im Ausland unmöglich oder unzumutbar erscheint.

5.2

Die Änderungen im Einzelnen

Art. 8a IPRG Örtliche Verfahrenskonzentration (Klagekonnexität, Klagenhäufung, Streitgenossenschaft) Bestehen bezüglich mehrerer Ansprüche, die unter die Tatbestände von Artikel 15 ZPO fallen (objektive und subjektive Klagenhäufung), unterschiedliche Gerichtsstände in der Schweiz und erlaubt die ZPO für diese Fälle eine Konzentration der örtlichen Zuständigkeit an einem schweizerischen Gericht, so soll die örtliche Verfahrenskonzentration auch im Anwendungsbereich des IPRG zulässig sein. Es gibt keinen sachlichen Grund, weshalb die Vorteile einer (zudem rein innerschweizerischen) Verfahrenkonzentration nicht auch im Anwendungsbereich des IPRG zum Tragen kommen sollen.

Anders als namentlich Artikel 6 Ziffer 1 revLugÜ soll die vorgeschlagene Norm keine internationalen Gerichtsstände der Klagenhäufung schaffen. Die Klagenhäu1827

fung begründet gemäss der vorgeschlagenen Anpassung des IPRG den schweizerischen Gerichtsstand nicht, sie erlaubt lediglich eine örtliche Verfahrenskonzentration. Sollen mehrere Parteien (oder dieselbe bezüglich verschiedener Ansprüche) aufgrund einer Klagenhäufung vor einem einzigen schweizerischen Gericht verklagt werden, so muss bezüglich jeder beklagten Partei (oder jedes eingeklagten Anspruches) ein Gerichtsstand aufgrund der übrigen Bestimmungen des IPRG in der Schweiz gegeben sein.

Der Verzicht auf einen echten Gerichtsstand der Klagenhäufung nach dem Vorbild von Artikel 6 Ziffer 1 revLugÜ ist darin begründet, dass das IPRG bereits eine Vielzahl von Gerichtsständen bietet, aufgrund derer sich das Ziel der Verfahrenskonzentration auch durch die vorgeschlagene örtliche Zusammenführung verwirklichen lässt. Ausserhalb des revLugÜ wäre ein Urteil, welches auf einer Zuständigkeit aufgrund einer dem Artikel 6 Ziffer 1 revLugÜ nachempfundenen Bestimmung beruht, nur in den seltensten Fällen einer Anerkennung im Ausland zugänglich.

Auch das IPRG kennt diesen indirekten Zuständigkeitsgrund nicht.

Die vorgeschlagene Lösung entspricht den schon vorhandenen punktuellen Regelungen in den Artikeln 109 Absatz 2 und 129 Absatz 3 IPRG, die mit der generellen Regelung überflüssig würden und gestrichen werden könnten. Entsprechend der rein innerstaatlichen Wirkung des vorgeschlagenen Artikel 8a IPRG lehnt sich dessen Wortlaut eng an denjenigen von Artikel 15 ZPO, und nicht an denjenigen von Artikel 6 Ziffer 1 revLugÜ.

Art. 8b IPRG Streitverkündungsklage Die vorgeschlagene Bestimmung soll die Fälle erfassen, wo ­ im Anwendungsbereich des IPRG ­ im Rahmen eines Verfahrens in der Schweiz gegenüber einer Drittpartei die nunmehr unter der ZPO generell zulässige Streitverkündigungsklage (Art. 16 ZPO) erhoben wird. Auch in diesem Fall führt die Anpassung des IPRG, abweichend von der Rechtslage unter Artikel 6 Ziffer 2 LugÜ, nur zu einer örtlichen Verfahrenskonzentration beziehungsweise zu einer Angleichung an die ZPO. Stets ist aufgrund der übrigen Bestimmungen des IPRG gegenüber beiden beklagten Parteien ein Gerichtsstand in der Schweiz erforderlich.

Der Wortlaut orientiert sich an Artikel 16 E-ZPO.

Art. 8c IPRG

Adhäsionsklage

Erlaubt die schweizerische Strafprozessordnung die adhäsionsweise Geltendmachung eines zivilrechtlichen Anspruchs und besteht für solche Ansprüche ein Gerichtsstand in der Schweiz, so sollen diese Ansprüche künftig auch im internationalen Verhältnis am für die Strafsache zuständigen schweizerischen Gericht anhängig gemacht werden können.

Sowohl das GestG als auch das revLugÜ sehen einen Vorbehalt der Zuständigkeit von Strafgerichten für Adhäsionsprozesse vor. Solche Zuständigkeiten der Strafgerichte sind sowohl auf Bundesebene (Art. 38 Abs. 1 OHG52) wie auch im kantonalen Strafprozessrecht bekannt. Die künftige schweizerische Strafprozessordnung sieht eine generelle örtliche Zuständigkeit für Adhäsionsklagen vor. Demgegenüber 52

Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz), SR 312.5

1828

enthält das IPRG keinen Vorbehalt zugunsten der strafrechtlichen Zuständigkeiten.

Artikel 129 IPRG (Zuständigkeiten für Klagen aus unerlaubten Handlungen) sieht zwar eine schweizerische Zuständigkeit am Wohnsitz oder (subsidiär) gewöhnlichen Aufenthaltsort oder (alternativ) am Ort der Niederlassung oder am Handlungs- oder Erfolgsort vor. In Einzelfällen kann es aber durchaus sein, dass der Strafprozess in der Schweiz an keinem der in Artikel 129 IPRG vorgesehenen Gerichte stattfindet (vgl. den BGE 6P.190/2006 zugrunde liegenden Sachverhalt).

Mit der vorgeschlagenen Bestimmung wird eine örtliche Verfahrenskonzentration der zivilrechtlichen Adhäsionsklage am Gerichtsstand des Strafverfahrens bewirkt.

Stets vorausgesetzt wird ein Gerichtsstand (der Zivilklage) in der Schweiz aufgrund des IPRG (anders hingegen Art. 6 Ziff. 3 revLugÜ, der diesen Gerichtsstand auch international selbstständig begründet). Ein solcher dürfte in den typischen Fällen von Klagen auf Ersatz eines durch unerlaubte Handlung entstandenen Schadens angesichts der Wahlrechte von Artikel 129 IPRG häufig zu finden sein. Für die Voraussetzungen der Adhäsionsklage wird auf die einschlägigen Bestimmungen der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO)53 verwiesen.

Das Bundesgericht hat in einem neueren Entscheid auf die mit der vorgeschlagenen Bestimmung aufgehobene Lücke bereits hingewiesen und hat schon auf richterlichem Wege einen Gerichtsstand der Adhäsionsklage am Ort der Strafverfolgung eingeführt54. Dieser Bundesgerichtsentscheid lässt allerdings die Frage offen, ob der Adhäsionsgerichtsstand nur dann zur Verfügung stehen soll, wenn gegen den Beklagten aufgrund des IPRG mindestens ein Gerichtsstand in der Schweiz besteht (unechter internationaler Gerichtsstand), oder ob das Strafverfahren in der Schweiz per se eine Zuständigkeit in der Schweiz für die zivilrechtlichen Ansprüche begründet (echter internationaler Gerichtsstand). Diese Rechtsunsicherheit und diese gesetzgeberische Lücke werden mit der vorgeschlagenen Bestimmung behoben.

Art. 98 Abs. 2 IPRG

Alternativer Gerichtsstand am Ort der gelegenen Sache

Artikel 30 E-ZPO sieht für dingliche Klagen betreffend bewegliche Sachen einen Gerichtsstand am Ort der gelegenen Sache vor. Dieser besteht alternativ neben dem Gerichtsstand am Wohnsitz der oder des Beklagten.

In Artikel 98 IPRG besteht der Gerichtsstand am Ort der gelegenen Sache hingegen nur subsidiär zum Beklagtenwohnsitz.

Diese Ungleichbehandlung wirkt sich aus, wenn in einem dem IPRG unterstehenden Fall sowohl der Beklagtenwohnsitz als auch die fragliche Sache in der Schweiz liegen. Dann hat die Klägerin oder der Kläger unter dem IPRG nur einen Gerichtsstand (den Wohnsitz der oder des Beklagten), unter der ZPO zwei (zusätzlich denjenigen der gelegenen Sache) zur Verfügung. Diese sich aus der Subsidiaritätsregel von Artikel 98 Absatz 2 IPRG ergebende Einschränkung der Gerichtsstände gegenüber der ZPO (Alternativität) lässt sich sachlich nicht rechtfertigen. Aus diesem Grund wird Artikel 98 Absatz 2 IPRG dahingehend geändert, dass, wie in der ZPO, der Gerichtsstand am Ort der gelegenen Sache künftig alternativ statt subsidiär neben dem Gerichtsstand am Beklagtenwohnsitz besteht.

53 54

Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO), BBl 2007 6977 BGE 6P.190/2006

1829

Art. 113 IPRG

Alternativer Gerichtsstand am Erfüllungsort

Artikel 31 ZPO sieht für vertragliche Klagen einen Gerichtsstand am Erfüllungsort der charakteristischen Leistung vor. Dieser Gerichtsstand soll fortan im internen Verhältnis alternativ zum Gerichtsstand am Wohnsitz der oder des Beklagten zur Verfügung stehen. Damit wird das interne Gerichtsstandsrecht an die Rechtslage unter dem revLugÜ angeglichen, das in Artikel 5 Ziffer 1 LugÜ ebenfalls einen Gerichtsstand am Erfüllungsort vorsieht.

Im IPRG besteht zwar ebenfalls ein Gerichtsstand des Erfüllungsorts (Art. 113 IPRG). Allerdings gilt dieser nur subsidiär, falls die oder der Beklagte keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat. Dadurch entsteht die bereits zu Artikel 98 Absatz 2 IPRG geschilderte Ungleichbehandlung von Klägerinnen und Klägern, die dem IPRG unterstehen, gegenüber solchen, die der ZPO unterstehen (bzw. deren Gerichtsstandsbestimmungen). Durch die vorgeschlagene Anpassung von Artikel 113 IPRG wird das Erfordernis der Subsidiarität nun ebenfalls durch eine Alternativität ersetzt.

Zudem ist neu der Erfüllungsort der charakteristischen Leistung massgeblich. Damit entspricht Artikel 113 IPRG auch inhaltlich den in Artikel 31 ZPO und in Artikel 5 Ziffer 1 revLugÜ (für die wichtigsten Vertragstypen) geltenden Regelungen.55 Mit der Änderung von Artikel 113 IPRG drängt sich eine Anpassung der entsprechenden Bestimmung über die indirekte Zuständigkeit (Art. 149 Abs. 2 Bst. a IPRG) auf. Es liesse sich nicht rechtfertigen, dass der Kreis der Anerkennungszuständigkeiten (zumindest gegenüber in der Schweiz nicht wohnhaften Personen) weiter gezogen würde als die entsprechenden direkten Zuständigkeiten.

Zur Bestimmung der charakteristischen Leistung liegt es nahe ­ soweit keine vertragliche Vereinbarung vorliegt ­ die Definitionen in Artikel 117 Absatz 3 IPRG und die dazu entwickelte Rechtsprechung heranzuziehen. Wo es aufgrund der Besonderheiten des Vertrags ­ etwa beim Tausch ­ nicht möglich ist, eine einzelne charakteristische Leistung zu isolieren, sind beide Leistungen als solche zu betrachten beziehungsweise auf die konkret eingeklagte abzustellen.56

6

Würdigung

6.1

Neuerungen des revidierten Abkommens gegenüber dem geltenden LugÜ

Dem revLugÜ gehören 30 Staaten an, wovon 11 Staaten (Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Malta, Zypern, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien) dem bisherigen LugÜ nicht angehörten. Auch die neu hinzugekommenen 55 56

Vgl. die Ausführungen zum neuen Artikel 5 Nummer 1 Buchstabe b revLugÜ unter Ziff. 2.2.1.4.

Anders als bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts (Art. 117 IPRG) geht es hier nicht um die Ermittlung des «engsten Zusammenhangs», weshalb auch kein Ausweichen auf die Kriterien von Artikel 117 Absatz 1 IPRG angebracht erscheint. Artikel 5 Nummer 1 revLugÜ umgeht das Problem, indem es für «seltene» Vertragstypen nach wie vor auf die eingeklagte Leistung abstellt (vgl. Ziff. 2.2.1.3). Selbst dann kann sich aber das Problem zweier gleichwertiger Verpflichtungen stellen. Dieses löste der EuGH in seinem Entscheid Color Drack (zit. in Fn. 18) ähnlich der oben postulierten Lösung im Sinne einer Massgeblichkeit beider in Frage kommenden Verpflichtungen.

1830

Staaten sind mit der Schweiz bereits aufgrund der Ausweitung der bilateralen Verträge (I und II) wirtschaftlich und rechtlich eng verflochten. Mit dem Einbezug dieser Staaten in den LugÜ-Rechtsraum wird die Rechtssicherheit im Verhältnis zu diesen Staaten massgeblich verbessert, was insbesondere dem Handel, aber auch Konsumentinnen, Konsumenten und Unterhaltsberechtigten zugute kommt.

Das LugÜ hat sich in der Praxis anerkanntermassen bewährt. Entsprechend behält das revLugÜ die Struktur und die Grundzüge des LugÜ weitgehend bei.

Die Neuerungen sind einerseits darauf gerichtet, modernen Kommunikationsmitteln und Handelsformen Rechnung zu tragen. Andererseits berücksichtigen sie die Rechtsprechung, die unter dem LugÜ ergangen ist, und fügen diese in den Vertragstext ein, was der Rechtssicherheit und der Benutzerfreundlichkeit zugute kommt. Im Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren zielen die Neuerungen insbesondere darauf, dass die Anerkennung und Vollstreckung nicht (mehr) durch missbräuchliche Einwendungen der Schuldnerin oder des Schuldners (etwa die Rüge unwesentlicher Verfahrensfehler) verhindert werden kann. Gleichzeitig wird das Vollstreckbarerklärungsverfahren auch in formeller Hinsicht vereinfacht.

Aufgrund der ausschliesslichen EU-Kompetenzen in diesem Bereich, ist es den vom geltenden LugÜ nicht erfassten EU-Staaten nicht möglich, nachträglich dem geltenden LugÜ beizutreten oder gar bilaterale Abkommen mit der Schweiz zu schliessen.

Will man die Vorzüge des LugÜ auf das Verhältnis zu diesen Staaten ausweiten, so führt kein Weg am revLugÜ vorbei.

6.2

Verträglichkeit des Übereinkommens mit der schweizerischen Rechtsordnung

Aus den punktuellen Neuerungen des revLugÜ sind keine Schwierigkeiten zu erwarten, vielmehr führen die Neuerungen im Gerichtsstandsrecht zu einer Angleichung an die Regelung des IPRG und der ZPO (etwa bezüglich des Gerichtsstands am Erfüllungsort).

Die schon unter der LugÜ bestehenden Schwierigkeiten, das Vollstreckbarerklärungsverfahren sowie den Sicherungsanspruch des Übereinkommens mit den Vorgaben des SchKG zu vereinbaren, werden dank den vorgesehenen Anpassungen im SchKG und der ZPO (Ziff. 4.1. sowie 4.2), endlich einer Lösung zugeführt (vgl. zum revidierten Exequaturverfahren und dem vorgesehenen revLugÜ-Sicherungsmittel vorne Ziff. 2.7 bzw. 2.7.5).

6.3

Vorteile des revidierten SchKGVollstreckungsverfahrens für Gläubigerinnen und Gläubiger in der Schweiz

Es ist ein Ziel der internen Umsetzung des revLugÜ, prozessuale Vorteile, die sich aus dem revLugÜ (i.d.R. für die Gläubigerin oder den Gläubiger) ergeben, auch Parteien in der Schweiz, die nicht unter das revLugÜ fallen, zu eröffnen und so eine Inländerdiskriminierung zu verhindern. Aufgrund der vorgesehenen Anpassungen im SchKG und in der ZPO kommen namentlich die Gläubigerinnen und Gläubiger ­

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unabhängig davon, ob das revLugÜ zur Anwendung kommt oder nicht ­ in den Genuss prozessualer Verbesserungen gegenüber dem geltenden Recht. Diese sind: ­

ein alternativer Arrestgerichtsstand am Betreibungsort,

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die Möglichkeit, von diesem Gerichtsstand aus schweizweit Vermögenswerte der Schuldnerin oder des Schuldners mit Arrest zu belegen, sowie

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ein Anspruch auf einen Arrest aufgrund eines definitiven Rechtsöffnungstitels oder auf eine andere sichernde Massnahme aufgrund eines vollstreckbaren Entscheids.

Mit diesen Neuerungen wird das Arrestrecht an entsprechende Bestimmungen der ZPO (sichernde Massnahmen, die auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet sind) die den schweizerischen Vollstreckungsraum bereits verwirklichen, angeglichen. Gleichzeitig wird der Arrest in seiner grundlegenden Ausgestaltung beibehalten. Namentlich das Erfordernis der Bezeichnung des Arrestgegenstandes ­ und damit das Verbot von Sucharresten ­ bleiben erhalten.

6.4

Zweckmässige Anpassungen im IPRG

Im Zuge der Umsetzung des revLugÜ werden einzelne Bestimmungen des IPRG an die ZPO und das revLugÜ angepasst. Diese Anpassungen sind darauf gerichtet, praktische Probleme, die sich aus der fehlenden Übereinstimmung der Gerichtsstände im IPRG und den übrigen Rechtsquellen (insb. GestG/ZPO) ergeben, zu beseitigen. Die in der ZPO (teilweise bereits im GestG) oder in der E-StPO vorgesehenen Möglichkeiten der Verfahrenskonzentration an einem Gerichtsstand (Klagenhäufung, Streitverkündungsklage, Adhäsionsklage) sollen auch unter dem IPRG zum Tragen kommen. Sachlich nicht gerechtfertigte prozessuale Benachteiligungen der Klägerin oder des Klägers unter dem IPRG werden behoben und unnötige parallele Prozesse an verschiedenen schweizerischen Gerichtsständen vermieden.

Mit der Anpassung des Gerichtsstands am Erfüllungsort wird ebenfalls den dargelegten Zielen entsprochen und zugleich die Rechtslage an die ZPO und an das revLugÜ angepasst. Das Ergebnis ist ein kohärentes schweizerisches Gerichtsstandsrecht.

7

Auswirkungen der Vorlage

7.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen auf Bund, Kantone und Gemeinden

Finanzielle oder personelle Auswirkungen sind von der Ratifikation des Übereinkommens weder auf Bundes-, noch auf Kantons- oder Gemeindeebene zu erwarten.

Bei der aktuellen Vorlage geht es nicht darum, eine neue Grundlage für staatliches Handeln zu schaffen. Es handelt sich hier vielmehr um Zivilrechtsgesetzgebung in einem weiteren Sinne.

Wie sich die Vorlage auf die Geschäftslast der kantonalen Gerichte auswirken wird, ist schwer abschätzbar. Einerseits dürfte es angesichts der verbesserten Erfolgsaussichten zu häufigeren Anerkennungs- und Vollstreckungsgesuchen, insbesondere im Verhältnis zu den neuen EU-Staaten, kommen. Andererseits wird die Rechts1832

sicherheit verbessert, was die Erledigung der Gesuche beschleunigt und die Arbeit der Gerichte erleichtert. Die Harmonisierung der Gerichtsstände verhindert zudem parallele Verfahren in verschiedenen Vertragsstaaten und erübrigt aufwendige Erkundigungen über ausländische Zuständigkeitsvorschriften. Der neue Arrestgrund dürfte einerseits zu mehr Arrestgesuchen führen. Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts für sämtliche Vermögenswerte in der Schweiz vermeidet andererseits, dass mehrere Arrestgesuche an verschiedene Gerichte gerichtet werden müssen.

7.2

Auswirkungen auf die Informatik

Es sind keine Auswirkungen auf die Informatik zu erwarten.

7.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Das mit der Ratifikation des Übereinkommens geschaffene Plus an Rechtssicherheit bewirkt eine Stärkung des Handels- und Finanzplatzes Schweiz. Handel und Investitionen werden, namentlich im Verhältnis zu den neu hinzukommenden Staaten, in einen Raum der Rechtssicherheit und Rechtsdurchsetzbarkeit eingebettet.

8

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Botschaft über die Legislaturplanung 2007­201157 angekündigt.

9

Rechtliche Aspekte

9.1

Verfassungsmässigkeit der Vorlage

Der vorliegende Bundesbeschluss stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)58, welcher den Bund ermächtigt, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen. Die Zuständigkeit der Bundesversammlung zur Genehmigung solcher Verträge ergibt sich aus Artikel 166 Absatz 2 BV. Die im Bundesbeschluss vorgesehenen Gesetzesänderungen stützen sich auf Artikel 122 Absatz 1 BV, wonach die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts Sache des Bundes ist.

Laut Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV werden völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum unterstellt, wenn sie unbefristet und unkündbar sind (Ziff. 1), den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen (Ziff. 2) oder wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Ziff. 3). Das revidierte Lugano-Übereinkommen ist kündbar (Art. 74 Abs. 2) und impliziert keinen Beitritt zu einer internationalen Organisation. Das Übereinkommen enthält allerdings rechtsetzende Bestimmungen auf dem Gebiet des (internationalen) Zivilprozessrechts. Darüber 57 58

BBl 2008 818 SR 101

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hinaus sieht der vorliegende Entwurf für einen Bundesbeschluss Änderungen in zwei Bundesgesetzen vor. Die Voraussetzungen nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV sind folglich erfüllt.

Die Bundesversammlung erlässt rechtsetzende Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes oder der Verordnung. Die übrigen Erlasse ergehen in der Form des Bundesbeschlusses (Art. 163 BV). Untersteht der Genehmigungsbeschluss eines völkerrechtlichen Vertrags dem fakultativen Referendum, so kann die Bundesversammlung die Gesetzesänderungen, die der Umsetzung des Vertrages dienen, in den Genehmigungsbeschluss aufnehmen (Art. 141a Abs. 2 BV).

9.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen und Verhältnis zum europäischen Recht

Der als Entwurf vorliegende Bundesbeschluss ist mit den bestehenden internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar.

Das Verhältnis des revLugÜ zu anderen staatsvertraglichen Instrumenten sowie zum europäischen Recht wird im Übereinkommen selbst (Art. 64 ff.) geregelt.

Mit dem revLugÜ wird der Parallelismus zum entsprechenden Instrument der EU, der im Wesentlichen gleich lautenden Verordnung (EG) Nr. 44/2001, wieder hergestellt. Dieser war durchbrochen worden, nachdem die EU die Ergebnisse der Einigung vom April 1999 bereits im Jahr 2002 mit der genannten Verordnung umsetzte, die Verabschiedung des revLugÜ sich aber aus EU-internen Gründen um mehrere Jahre verzögerte. Mit dem revLugÜ wird der harmonisierte europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsraum in Zivil- und Handelssachen erneuert und räumlich erweitert.

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