Fall Tinner: Rechtmässigkeit der Beschlüsse des Bundesrats und Zweckmässigkeit seiner Führung Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte vom 19. Januar 2009

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Übersicht Der Bundesrat beschloss am 14. November 2007, alles Material, das im Rahmen des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen Urs, Marco und Friedrich Tinner beschlagnahmt worden war, vernichten zu lassen. Vernichtet werden sollten insbesondere Baupläne für Kernwaffen, die über das Khan-Netzwerk in den Besitz der Tinners gelangt waren. Die Vernichtung der Pläne sollte nach Aussagen des Bundesrats verhindern, dass sie in unbefugte Hände fallen und damit zu einer Gefahr für die internationale Sicherheit werden. Die GPDel hat die Umstände dieses Bundesratsentscheides sowie seine Rechtmässigkeit und Zweckmässigkeit untersucht.

Es war das EJPD, das im Juli 2006 erstmals erfuhr, dass die Schweiz im Besitz von Kernwaffenbauplänen im Strafverfahren Tinner war. Aus Sicht der GPDel informierte das EJPD den Bundesrat nur schrittweise und mit Verzögerung über den Umfang und die Probleme des Falles. Der Bundesrat befasste sich in der Folge jeweils nur mit Teilproblemen und dies erst dann, wenn der Handlungsbedarf dringlich geworden war. Der Bundesrat war jedoch damit einverstanden, dass er vom EJPD nur von Fall zu Fall informiert wurde. Der Bundesrat verlangte überdies auch nie eine umfassende Darstellung des Falles und eine Strategie, wie die Eidgenossenschaft die sich abzeichnenden Herausforderungen bewältigen sollte. Aus Sicht der GPDel konnte die vom EJPD eingesetzte Projektorganisation dem Bundesrat nicht die notwendige Führungsunterstützung bieten. Ihr fehlte ein klar umschriebener Auftrag, sie war nicht in alle Aspekte des Falles Tinner eingeweiht und die Kontinuität ihrer Arbeit litt unter den vorgegebenen Geheimhaltungsmassnahmen.

Der Bundesrat beschloss die Aktenvernichtung gestützt auf sein Notverfügungsrecht in der Bundesverfassung (Art. 184 und 185 BV). Diese Rechtsgrundlagen sind nur anwendbar, wenn die beschlossene Massnahme notwendig, zeitlich dringlich, durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig ist. Die GPDel stellt fest, dass der Bundesrat sich erst sechzehn Monate, nachdem das EJPD von der Existenz der Kernwaffenbaupläne erfahren hatte, konkret mit der Frage befasste, welches Risiko diese Pläne für die Schweiz darstellten. Zu diesem Zeitpunkt lagen keine konkreten Gefährdungsmomente vor und die Sicherheitsmassnahmen für die Pläne hätten
noch verbessert werden können. Trotzdem beschloss der Bundesrat aus Sicherheitsgründen die Vernichtung der Kernwaffenbaupläne, aber auch des übrigen beschlagnahmten Materials, da eine Ausscheidung der brisanten Akten aus dem gesamten Beweismaterial nicht rechtzeitig vorgenommen worden war. Für eine Anwendung von Artikel 185 Absatz 3 BV (schwere Störung der inneren oder äusseren Sicherheit) genügten diese Voraussetzungen aus Sicht der GPDel nicht. Auch aus völkerrechtlicher Sicht sieht die GPDel keinen zwingenden Grund, um zu diesem Zeitpunkt auf die Kernwaffenbaupläne als Beweismaterial in einem Strafverfahren verzichten zu müssen.

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Aus diesem Grund untersuchte die GPDel, ob die Aktenvernichtung gestützt auf aussenpolitische Überlegungen unter Anwendung von Artikel 184 Absatz 3 BV (Wahrung der Interessen des Landes) zu rechtfertigen war. Die USA hatten der Schweiz nahe gelegt, die Kernwaffenbaupläne in die Obhut eines zum Besitz berechtigten Kernwaffenstaats zu übergeben. Der Bundesrat befasste sich jedoch nie mit letzterem Vorschlag, welcher das Angebot eines weiteren Zugangs der Schweizer Behörden zu den Akten für die Zwecke der Strafverfolgung enthielt. Der Bundesrat zog es vor, den Forderungen der USA zu entsprechen, indem er sich mit der Vernichtung des gesamten Beweismaterials auch der Kernwaffenpläne entledigte. In seiner Güterabwägung machte der Bundesrat jedoch keine konkreten aussenpolitischen Konsequenzen geltend, die nur mit einem solch schwerwiegenden Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz abgewendet werden konnten. Die GPDel betrachtet deshalb den Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 zur integralen Aktenvernichtung als nicht verhältnismässig.

Die GPDel wurde grundsätzlich seit dem Sommer 2004 durch die zuständigen Bundesstellen regelmässig und korrekt über das Strafverfahren, aber auch über die nachrichtendienstlichen Aspekte des Falles Tinner informiert. Der Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 wurde ihr hingegen nicht zur Kenntnis gebracht. Die GPDel ist der Ansicht, dass der Vorsteher EJPD die Delegation über den Beschluss umgehend hätte informieren müssen.

Erst als die GPDel im Februar 2008 beim EJPD vorstellig wurde, erhielt sie Auskunft über die vom Bundesrat beschlossene Aktenvernichtung. Diesen Informationen konnte die GPDel jedoch nicht entnehmen, dass nicht nur die Kernwaffenpläne, sondern auch alle Unterlagen, die bei den Tinners beschlagnahmt worden waren, noch im selben Monat vernichtet würden, ohne dem Eidgenössischen Untersuchungsrichter zugänglich zu sein. Die nachfolgenden Empfehlungen der GPDel an das EJPD und den Bundesrat, zugunsten der Voruntersuchung vorerst die Aktenvernichtung auf die völkerrechtlich problematischen Unterlagen zu beschränken, konnten deshalb keine Wirkung mehr entfalten.

Die Untersuchung der GPDel zeigt, dass die Nachrichtendienste der Schweiz eine untergeordnete Rolle bei der Bewältigung des Falles Tinners durch den Bundesrat spielten. Auch
verzichtete der Bundesrat auf die Unterstützung der eigenen Nachrichtendienste, als er seine Lagebeurteilung bezüglich der Risiken vornahm, die sich aus der Existenz der Kernwaffenbaupläne ergaben.

Der Bundesrat ging davon aus, dass die Vernichtung des Beweismaterials vermutlich zur Einstellung des Strafverfahrens gegen die Tinners führen würde. Die Bundesanwaltschaft beantragte jedoch dem Eidgenössischen Untersuchungsrichter, die Voruntersuchung zu eröffnen, was im März 2008 erfolgte. Als dieser die BKP bat, ihn bei der Beschaffung von Kopien von vernichteten Unterlagen zu unterstützen, untersagte der Direktor fedpol der BKP die gewünschte Zusammenarbeit. Dieses Verbot wurde später von der Vorsteherin EJPD und vom Bundesrat gestützt.

Die GPDel ist der Ansicht, dass der Eidgenössische Untersuchungsrichter einen gesetzlichen Anspruch auf die Unterstützung durch die BKP hat. Da die BKP gemäss Artikel 17 BStP unter der Aufsicht der I. Beschwerdekammer des BStGer

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steht, bat die GPDel diese, das Verbot des Direktors fedpol aufsichtsrechtlich zu beurteilen. Die I. Beschwerdekammer bezeichnete sich jedoch formell und materiell in dieser Sache als nicht zuständig. Die dafür angeführten Gründe erscheinen der GPDel jedoch wenig stichhaltig. Die GPDel bittet deshalb das Bundesgericht, die Aufsicht des BStGer über die Bundesanwaltschaft und die BKP zu überprüfen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einleitung

5014

2 Untersuchungsgegenstand

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3 Aufgaben und Informationsrechte der GPDel

5015

4 Die Entwicklung des Falles Tinner bis Herbst 2008 4.1 Analysen und Vorabklärungen der Nachrichtendienste 4.2 Das gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren gegen Urs, Marco und Friedrich Tinner 4.3 Der Bundesratsbeschluss vom 1. November 2006 4.3.1 Der Vorsteher EJPD erfährt von den Kernwaffenbauplänen im Strafverfahren gegen die Tinners 4.3.2 Der Bundesrat wird über die Kernwaffenbaupläne informiert und gewährt der IAEO Akteneinsicht 4.3.3 Reaktionen der USA 4.4 Der Bundesratsbeschluss vom 29. August 2007 4.4.1 Intervention der USA zugunsten der Tinners 4.4.2 Der Bundesrat verweigert die Ermächtigung zur Strafverfolgung der mutmasslichen Delikte gemäss Artikel 271 und 301 StGB 4.5 Der Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 4.5.1 Arbeiten der Task Force 4.5.2 Der Bundesrat stimmt der Vernichtung des beschlagnahmten Beweismaterials zu 4.5.3 Bilaterale Kontakte zwischen dem Vorsteher EJPD und Vertetern der USA 4.6 Die Umsetzung des Bundesratsbeschlusses vom 14. November 2007 4.7 Die Voruntersuchung des Eidgenössischen Untersuchungsrichters

5017 5017 5019 5020 5020 5021 5023 5023 5023 5024 5026 5026 5028 5030 5030 5032

5 Information der Aufsicht und Oberaufsicht 5.1 Information des Bundesstrafgerichts und des Bundesgerichts 5.2 Information der GPDel in den Jahren 2004­2007 5.3 Information der GPDel im Jahr 2008

5033 5033 5034 5036

6 Beurteilungen der GPDel 6.1 Entscheidungsprozesse und Führung des Bundesrats 6.2 Verfahren und Abläufe auf Stufe Verwaltung 6.3 Die völkerrechtliche Problematik 6.4 Entnahme von Beweismitteln während und nach Abschluss eines Strafverfahrens 6.5 Verhältnismässigkeit des Beschlusses des Bundesrats vom 14. November 2007

5038 5038 5042 5043 5045 5047

5011

6.6 6.7 6.8 6.9

6.5.1 NPT und Sicherheitsrisiken als Grund für die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Aktenvernichtung 6.5.2 Aussenpolitische Argumente für die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Aktenvernichtung 6.5.3 Güterabwägung zwischen der Aussenpolitik und der Unabhängigkeit der Justiz Arbeit der Nachrichtendienste Rolle des Sicherheitsausschusses Information der Delegationen der Aufsichtskommissionen durch den Bundesrat Aufsicht des Bundesstrafgerichts

5048 5050 5052 5053 5055 5056 5058

7 Empfehlungen der GPDel

5060

8 Weiteres Vorgehen

5061

Liste der angehörten Personen

5062

5012

Abkürzungsverzeichnis BA BGer BJ BKP BStGer BV DAP EDA EJPD FBI fedpol FinDel GPDel GPK IAEO KMG LGSi NPT OV OWA ParlG SECO SiA SND StGB UNO URA USA VBS

Bundesanwaltschaft Bundesgericht Bundesamt für Justiz Bundeskriminalpolizei Bundesstrafgericht Bundesverfassung Dienst für Analyse und Prävention Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Federal Bureau of Investigation Bundesamt für Polizei Finanzdelegation Geschäftsprüfungsdelegation Geschäftsprüfungskommission Internationale Atomenergieorganisation Kriegsmaterialgesetz Lenkungsgruppe Sicherheit Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen Organisationsverordnung Operative Working Agreement Parlamentsgesetz Staatsekretariat für Wirtschaft Sicherheitsausschuss des Bundesrats Strategischer Nachrichtendienst Strafgesetzbuch United Nations Organisation Eidgenössisches Untersuchungsrichteramt United States of America Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport

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Bericht 1

Einleitung

Die Aktivitäten des Khan-Netzwerks sind der grösste bekannte Fall, in dem Privatpersonen an der Weiterverbreitung von Kernwaffen beteiligt waren. Der Pakistaner A. Q. Khan hatte das pakistanische Urananreicherungsprogramm dank einer Reihe von Lieferanten, insbesondere aus Europa, aufgebaut. Später schuf er mit solchen Firmen ein internationales Netz, das in Libyen eine schlüsselfertige Anlage zur Urananreicherung mittels Gasultrazentrifugen bauen sollte. Libyen erhielt zudem Pläne und Anleitungen zum Bau einer Kernwaffe.

Am 4. Oktober 2003 wurde eine Lieferung des Khan-Netzwerks mit Komponenten für Urananreicherungszentrifugen im italienischen Hafen Tarent auf dem Weg nach Libyen beschlagnahmt. Am 19. Dezember 2003 kündigte Libyen nach mehrjährigen Verhandlungen mit den USA und Grossbritannien an, es habe beschlossen, sein Kernwaffenprogramm aufzugeben. In der Folge wurden immer mehr Informationen über die Dienstleistungen des Khan-Netzwerks für Libyen bekannt. Dies führte in verschiedenen Ländern zu Strafuntersuchungen. Im Verlauf des Jahres 2004 begannen die Schweizer Behörden gegen Friedrich Tinner sowie seine Söhne Urs und Marco («die Tinners») zu ermitteln und verhafteten den Deutschen Gotthart Lerch aufgrund eines deutschen Rechtshilfegesuches.

Die Strafverfolgung der Tinners stellte die Eidgenossenschaft vor Herausforderungen, die schwierig und neuartig waren. Die internationale Dimension des Falles beschäftigte den Bundesrat mehrmals und führte letztlich dazu, dass der Bundesrat am 14. November 2007 die Vernichtung allen beschlagnahmten Beweismaterials aus dem laufenden Ermittlungsverfahren gegen die Tinners anordnete. Dieser Entscheid erfolgte direkt gestützt auf die Bundesverfassung. Am 23. Mai 2008 informierte der Bundespräsident die Öffentlichkeit darüber.

Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) beschloss am 27. Mai 2008, ihre laufenden Abklärungen zum so genannten «Fall Tinner» in eine formelle Inspektion zu überführen und bis spätestens im Herbst 2008 einen Bericht zu verfassen. Gleichentags informierte die Delegation den Bundesrat und die Öffentlichkeit über ihren Beschluss.

2

Untersuchungsgegenstand

Für ihren Bericht setzte die GPDel folgende Schwerpunkte: -

Darstellung der Entwicklung des Falles und seiner Befassung durch die verschiedenen Stellen des Bundes mit Schwerpunkt auf die Verfahren und Entscheide im Bundesrat;

-

Beurteilung der Rechtmässigkeit und insbesondere der Verhältnismässigkeit des Beschlusses des Bundesrats vom 14. November 2007 zur Vernichtung der im Strafverfahren beschlagnahmten Akten;

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-

Beurteilung der Zweckmässigkeit der Arbeit des Bundesrats im Fall Tinner, insbesondere in Bezug auf Vorbereitung der Geschäfte und die Wahrnehmung der Führungsverantwortung durch den Bundesrat;

-

Beurteilung der Rolle und Leistung der Nachrichtendienste im Fall Tinner;

-

Beurteilung der Information der GPDel und der anderen Aufsichtsorgane durch den Bundesrat und die Departemente.

Die Inspektion sollte zudem aufzeigen, wie der Bundesrat die Geheimhaltung handhabte und wie sich dies auf seine Führungsfähigkeit auswirkte.

3

Aufgaben und Informationsrechte der GPDel

Die Geschäftsprüfungsdelegation nimmt die parlamentarische Oberaufsicht über den Staatsschutz und die Nachrichtendienste wahr. Die Kontrolle des Staatschutzes umfasst nicht nur die Tätigkeit des Inlandnachrichtendienstes, sondern auch die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft (BA) in Bereichen wie verbotener Nachrichtendienst oder Verstösse gegen das Kriegsmaterialgesetz (KMG)1. Der Fall Tinner betrifft ein Strafverfahren im Bereich des Staatsschutzes und überdies die Arbeit der Nachrichtendienste. Er fällt deshalb in den vorgegebenen Aufgabenbereich der GPDel.

Nicht anders als die Geschäftsprüfungskommissionen (GPKs), legt die GPDel den Schwerpunkt ihrer Prüftätigkeit auf die Kriterien der Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit des von ihr beaufsichtigten staatlichen Handelns. Dabei ist die GPDel bestrebt, die geheimen Tätigkeiten des Bundes laufend zu untersuchen, um frühzeitig Probleme zu erkennen, die eine politische Intervention erfordern.

Diese begleitende Oberaufsicht nimmt die GPDel wahr, indem sie vom Bundesrat und von den Departementen regelmässig Auskünfte einholt oder Berichte verlangt, aber auch indem sie Empfehlungen abgibt. Über diese Tätigkeit der Oberaufsicht wird die Öffentlichkeit nur auszugsweise im Jahresbericht der Delegation informiert.

In den Fällen, in denen die GPDel auf Sachverhalte stösst, die grundlegende Probleme oder Fragen betreffen, greift sie zum Mittel der formellen Untersuchung, über deren Resultate jeweils ein Bericht erstellt wird. Anstösse für solche Inspektionen können entweder von den Geschäftsprüfungskommissionen kommen, oder die GPDel wird im öffentlichen Interesse von sich aus tätig.

Das Parlamentsgesetz (ParlG)2 gibt der GPDel die gleichen Informationsrechte wie einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK). Der GPDel können gemäss Artikel 169 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV)3 keine Geheimhaltungspflichten entgegengehalten werden. Im Gegensatz zu den Geschäftsprüfungskommissionen kann die GPDel auch Unterlagen einsehen, die der unmittelbaren Entscheidfindung des Bundesrats dienen. Nur die GPDel hatte deshalb die notwendigen 1 2

3

Bundesgesetz vom 13.12.1996 über das Kriegsmaterial (KMG; SR 514.51).

Bundesgesetz vom 13.12.2002 über die Bundesversammlung (ParlG; SR 171.10).

Art. 166 Abs. 1 ParlG lautet: «Für die Erfüllung [ihres Auftrages] hat die Untersuchungskommission die gleichen Informationsrechte wie die Delegationen der Aufsichtskommissionen».

Bundesverfassung (BV; SR 101). Art. 169 Abs. 2 BV gilt für alle Delegationen der Aufsichtskommissionen, die vom Gesetz vorgesehen sind, d.h. für die Geschäftsprüfungs- und die Finanzdelegation.

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Informationsrechte, um die Beschlussfassung des Bundesrats im Fall Tinner überhaupt untersuchen zu können.

Die umfassenden Informationsrechte der GPDel sind aber auch mit Pflichten verbunden. Die GPDel ist zur Geheimhaltung verpflichtet (Art. 8 ParlG). Sie misst dementsprechend der Handhabung der klassifizierten Informationen über die Tätigkeit der Nachrichtendienste höchste Priorität zu und trifft besondere Vorkehrungen zur Sicherstellung der Geheimhaltung.

Gemäss ihren Handlungsgrundsätzen4 will die GPDel die demokratische Legitimation, die Transparenz und das Vertrauen in das Handeln des Bundesrats und der Verwaltung fördern. Zu diesem Zweck hat sich die GPDel zu einer aktiven Informationspolitik verpflichtet, die den aktuellen Gegebenheiten Rechnung trägt sowie Gerüchten und Spekulationen vorbeugt. Die GPDel beantragt den Geschäftsprüfungskommissionen in der Regel die Veröffentlichung der Ergebnisse einer Inspektion, soweit keine schützenswerten Interessen entgegenstehen.

Vorgängig zur Berichterstattung in den Geschäftsprüfungskommissionen oder zu einer Veröffentlichung ihrer Feststellungen muss die GPDel eine Interessensabwägung zwischen berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Bundesrates und dem öffentlichen Interesse an Transparenz vornehmen (Art. 158 ParlG). Deshalb erhalten die betroffenen Behörden und Personen die Möglichkeit, sich zu allfälligen inhaltlichen Fehlern und Geheimhaltungsinteressen zu äussern (Art. 157 ParlG).

Die GPDel wird von den GPKs ernannt. Sie setzt sich aus je drei Mitgliedern der beiden Kommissionen zusammen. Die GPDel konstituiert sich selbst (Art. 53 Abs. 1 ParlG) und wählt ihren Präsidenten in der Regel für zwei Jahre.

Diese Inspektion führte die GPDel in folgender Zusammensetzung durch: -

Hugo Fasel, Nationalrat, Präsident

-

Claude Janiak, Ständerat, Vizepräsident

-

Alex Kuprecht, Ständerat

-

Isabelle Moret, Nationalrätin

-

Hansruedi Stadler, Ständerat

-

Pierre François Veillon, Nationalrat

Nationalrätin Therese Frösch übernahm ab Dezember 2008 den Sitz von Nationalrat Fasel in der GPDel. Im Januar 2009 beteiligte sie sich an den Schlussarbeiten der Delegation im Hinblick auf die Publikation des Berichts.

Die Sekretärin der GPDel trat bei ihrem Amtsantritt am 1. Juni 2008 für diese Untersuchung in den Ausstand, da sie während ihrer früheren Tätigkeit im Generalsekretariat des Eidgenössischen Justiz und Polizeidepartements (EJPD) auch mit dem Fall Tinner befasst gewesen war.

4

Die Handlungsgrundsätze der GPDel wurden am 16.11.2005 verabschiedet und von den GPKs und dem Bundesrat zur Kenntnis genommen.

(www.parlament.ch/SiteCollectionDocuments/de-gpdel-handlungsgrundsaetze.pdf).

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4

Die Entwicklung des Falles Tinner bis Herbst 2008

4.1

Analysen und Vorabklärungen der Nachrichtendienste

Im regelmässigen Lagebericht des Vorstehers des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) beschrieb der Strategische Nachrichtendienst (SND) für die Bundesratssitzung vom 21. Januar 2004 den Umfang des Khan-Netzwerks. Der SND wies darauf hin, dass auch die Schweiz und Liechtenstein in das von Khan aufgebaute internationale Beschaffungsnetzwerk eingebunden sein dürften. Für die Bundesratssitzung vom 10. Februar 2004 kommentierte der SND die Reaktion der pakistanischen Regierung auf Aktivitäten von A. Q. Khan und warnte davor, dass im Rahmen der Aufklärung der Aktivitäten des Khan-Netzwerks die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) möglicherweise die Schweiz um Auskünfte ersuchen werde.

Am 17. Februar 2004 machte die IAEO die Schweizer Mission bei den Vereinten Nationen (UNO) in Wien darauf aufmerksam, dass verschiedene Schweizer Personen und Firmen für das Khan-Netzwerk aktiv gewesen sein könnten. Auf der Liste, die der Schweizer Vertretung gezeigt wurde, figurierten Friedrich und Urs Tinner.

Die IAEO bat die Schweiz um zusätzliche Informationen zu diesen Personen.

Am 20. Februar 2004 veröffentlichte die malaysische Polizei im Internet einen Bericht ihrer Untersuchung über die Aktivitäten des Khan-Netzwerks. Der Bericht beschuldigte den srilankischen Geschäftsmann Buhary Seyed Abu Tahir, eine malaysische Firma benutzt zu haben, um Teile von Urananreicherungszentrifugen für das libysche Kernwaffenprogramm zu produzieren.

Der malaysische Bericht beschuldigte überdies den Schweizer Urs Tinner, Tahir beim Aufbau der Produktion von Zentrifugenkomponenten behilflich gewesen zu sein. Auch sein Bruder Marco Tinner und der Vater Friedrich Tinner hätten laut Bericht zugunsten des libyschen Urananreicherungsprogramms gearbeitet. Gemäss der malaysischen Polizei habe Urs Tinner Malaysia im Oktober 2003 verlassen.

Nachdem der malaysische Polizeibericht für die breite Öffentlichkeit einen Bezug zwischen dem Khan-Netzwerk und den Tinners hergestellt hatte, befragten Vertreter des Dienstes für Analyse und Prävention (DAP) am 24. Februar 2004 Mitglieder der Familie Tinner an ihrem Wohnort in der Schweiz. Die Tinners gaben den Vertretern des Bundes Auskunft und übergaben ihnen technische Zeichnungen und Geschäftsunterlagen ihrer Firmen. Diese Abklärungen, denen im Verlauf des
Frühjahrs 2004 weitere unter Federführung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) folgten, stützten sich auf Artikel 10 des Güterkontrollgesetzes5. Gestützt auf Artikel 26 der Güterkontrollverordnung6 führt der DAP bei solchen Abklärungen den Informationsdienst.

Der Sicherheitsausschuss des Bundesrats (SiA) nahm erstmals im April 2004 eine Standortbestimmung zu den Implikationen des Falles Tinner für die Schweiz vor.

Der SiA hat zur Aufgabe, die sicherheitspolitische Führungsfähigkeit des Bundesrats

5 6

Bundesgesetz vom 13.12.1996 über die Kontrolle zivil und militärisch verwendbarer Güter sowie besonderer militärischer Güter (GKG; SR 946.202).

Verordnung vom 25.6.1997 über die Aus-, Ein- und Durchfuhr zivil und militärisch verwendbarer Güter sowie besonderer militärischer Güter (GKV; SR 946.202.1).

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zu stärken und zu diesem Zweck Entscheide des Bundesrats vorzubereiten.7 Die monatlichen Beratungen des SiA werden von der Lenkungsgruppe Sicherheit (LGSi) vorbereitet, wo sich die Chefs der Nachrichtendienste und die Chefs der anderen Stellen des Bundes, die sich mit Sicherheitsfragen befassen, regelmässig treffen. Im Rahmen der Diskussion des Falles Tinner sprach sich der SND für vertiefte Abklärungen der Aktivitäten des Khan-Netzwerks aus. Das Khan-Netzwerk dürfte viel mehr Akteure umfassen, als in den Medien bisher bekannt geworden sei. Die Nachrichtendienste müssten deshalb ihr Wissen über die öffentlich bekannt gewordenen Informationen hinaus vertiefen, um frühzeitig das Potenzial für eventuelle Auswirkungen auf die Schweiz zu erkennen. Nur so könne «die politische Führung darauf aufmerksam gemacht werden, bevor es in der Presse zu lesen sei»8.

Aus Sicht des DAP lag hingegen der Handlungsbedarf beim SECO und nicht bei den Nachrichtendiensten: Das SECO müsse zuerst abklären, ob bewilligungspflichtige Güter von Schweizer Firmen direkt oder über Drittstaaten an das libysche Kernwaffenprogramm geliefert worden seien. Die Einschätzung des SND zum Ausmass des Khan-Netzwerkes «sei spekulativ und unüberprüfbar»9. In Bezug auf die Tinners schrieb der DAP für die Lagedarstellung des SiA, dass «die bekannten Schweizer Bezüge [zum Khan-Netzwerk] heute unter Kontrolle [sind] und mit den Behörden [kooperieren]»10.

Im Mai 2004 besprach der SiA allfällige Implikationen eines Nachweises von illegalen Aktivitäten des Khan-Netzwerks in der Schweiz. Der SiA nahm dabei zur Kenntnis, dass möglicherweise bei einem Zehntel der Waren und Dienstleistungen, die in das libysche Urananreicherungsprogramm geflossen waren, ein Bezug zur Schweiz nachweisbar sein könnte. Der SiA zeigte sich deshalb besorgt, dass die Schweiz in einem solchen Fall nicht nur mit internationaler Kritik rechnen müsste, sondern dass auch mit falschen Anschuldigungen Druck auf die Schweiz ausgeübt werden könnte. Er beauftragte deshalb die LGSi, gestützt auf Szenarien mögliche Gegenmassnahmen zu entwickeln und vorzuschlagen.

Der SiA nahm an der folgenden Sitzung vom 22. Juni 2004 das Resultat der Arbeiten der LGSi zur Kenntnis. Das erarbeitete Papier machte geltend, dass die Strafverfolgung der Tinners, sofern sie zu einer rechtskräftigen
Verurteilung führen würde, international als Leistungsausweis für die Nonproliferationspolitik der Schweiz anerkannt würde. Ebenso könnte die freiwillige Zusammenarbeit der Schweizer Behörden mit der IAEO als Leistung der Schweiz ins Feld geführt werden. Im Lauf der Sitzung wurde der SiA auch auf die Bedeutung einer vollständigen Neutralisierung des Khan-Netzwerks hingewiesen: Nur so könne verhindert werden, dass «die Schlüsselpersonen des Khan-Netzwerks ihr Wissen [behalten] und es weiteren, auch nicht-staatlichen Kunden, anbieten [können]»11. Die meisten der vorgeschlagenen Massnahmen betrafen eine proaktive Informationspolitik. Von diesen Massnahmen wurde jedoch allein die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Schweizer Experten und der IAEO in die Tat umgesetzt.

7 8 9 10 11

Vgl. Art. 3 der Verordnung vom 24.10.2007 über die Organisation der sicherheitspolitischen Führung des Bundesrats (SR 120.71).

Protokoll der LGSi-Sitzung vom 22.4.2004, S. 2.

Protokoll der LGSi-Sitzung vom 22.4.2004, S. 3.

Beitrag des DAP vom 22.4.2008 zur Lagedarstellung des SiA, S. 2.

Protokoll der SiA-Sitzung vom 22.6.2004, S. 2.

5018

Die Vorabklärungen von SECO und DAP ergaben, dass Firmen im Besitz von Mitgliedern der Familie Tinner zahlreiche Güter an Firmen in Dubai, Malaysia und in andere Staaten exportiert hatten, die zum Khan-Netzwerk gehörten. Erste technische Abklärungen legten den Schluss nahe, dass bestimmte Güter ohne die entsprechende Bewilligung des SECO ausgeführt worden waren. Es bestand zudem der Verdacht auf den Export von Komponenten von Urananreicherungszentrifugen, die in der Schweiz hergestellt worden waren. Am 22. September 2004 erstattete deshalb das SECO zusammen mit dem DAP bei der Bundesanwaltschaft (BA) Anzeige wegen Verdachts auf Zuwiderhandlung gegen das Güterkontroll- und möglicherweise gegen das Kriegsmaterialgesetz.

4.2

Das gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren gegen Urs, Marco und Friedrich Tinner

Am 13. Oktober 2004 eröffnete die Bundesanwaltschaft ein gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren gegen Urs und Marco Tinner. Urs Tinner war zuvor am 8. Oktober 2004 in Deutschland verhaftet worden. Am 11. November 2004 fand aufgrund eines Rechtshilfeersuchens aus Deutschland eine Hausdurchsuchung bei den Tinners statt.

Am 30. Mai 2005 lieferten die deutschen Behörden Urs Tinner aufgrund eines internationalen Haftbefehls an die Schweiz aus. Am 2. Juni 2005 wurde er vom Eidgenössischen Untersuchungsrichteramt (URA) in Untersuchungshaft gesetzt. Am 18. August 2005 dehnte die Bundesanwaltschaft das Verfahren auf den Vater Friedrich Tinner und den Vorwurf der Geldwäscherei aus. Friedrich und Marco Tinner wurden am 5. September 2005 verhaftet und kamen am 8. September 2005 in Untersuchungshaft. Am 31. Oktober 2005 beantragte die Bundesanwaltschaft der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, die Untersuchungshaft gegen Friedrich Tinner um drei Monate zu verlängern. Als Friedrich Tinner dagegen Beschwerde einreichte, lehnte das Bundesgericht diese ab. Friedrich Tinner wurde Ende Januar 2006 aus der Untersuchungshaft entlassen.

Die Bundesanwaltschaft sandte Rechtshilfeersuche an insgesamt 17 verschiedene Staaten: Liechtenstein, Deutschland, Österreich, Italien, Niederlande, Spanien, Grossbritannien, Litauen, Türkei, USA, Südafrika, Bahamas, Libyen, Malaysia, Thailand, Pakistan und Vereinigte Arabische Emirate. Ende 2005 befragte die Bundesanwaltschaft Buhary Seyed Abu Tahir, der nach der Entdeckung der Lieferung von Zentrifugenkomponenten an Libyen in Malaysia in Haft genommen worden war. Im Frühjahr 2006 konnte die Bundesanwaltschaft auch Zeugen in Libyen befragen.

Die Bundesanwaltschaft hatte bei den Tinners eine grosse Menge elektronischer Daten beschlagnahmt. Für die Auswertung der technischen Unterlagen zog die Bundesanwaltschaft Experten der IAEO in Wien bei. Im Frühjahr 2006 identifizierten die Experten der IAEO in der Menge der Ermittlungsakten Pläne für den Bau von Kernwaffen.12

12

Der Umfang der Unterlagen mit Informationen zum Bau von Kernwaffen wurde der GPDel je nach Auskunftsperson mit 1­2 Bundesordnern, 30­40 elektronische Dateien oder 200­220 Seiten angegeben.

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Gestützt auf den damaligen Stand der Ermittlungen lag der Verdacht auf der Hand, dass die Tinners möglicherweise in illegale nachrichtendienstliche Aktivitäten verwickelt gewesen sein könnten. Aus diesem Grund ersuchte die Bundesanwaltschaft, in Anwendung von Artikel 105 des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege (BStP)13, das EJPD am 18. April 2006 und am 17. Oktober 2006 um die Bewilligung zur gerichtlichen Verfolgung der politischen Delikte nach Artikel 271 (verbotene Handlungen für einen fremden Staat) und 301 des Strafgesetzbuchs (StGB)14 (Nachrichtendienst gegen fremde Staaten).

4.3

Der Bundesratsbeschluss vom 1. November 2006

4.3.1

Der Vorsteher EJPD erfährt von den Kernwaffenbauplänen im Strafverfahren gegen die Tinners

Am 12. Juli 2006 reiste der Vorsteher EJPD zusammen mit dem Direktor des Bundesamtes für Justiz (BJ) und dem Bundesanwalt a.i. nach Washington, um mit dem amerikanischen Justizminister Alberto Gonzales das neue «Operative Working Arrangement» zwischen der Schweiz und den USA zu unterzeichnen. Im Rahmen eines Vier-Augen-Gesprächs mit dem amerikanischen Justizminister wurde dem Vorsteher EJPD erstmals zugetragen, dass die Schweiz infolge des Ermittlungsverfahrens i.S. Tinner in den Besitz von Bauplänen für Kernwaffen geraten war.

Mitte August 2006 sprachen in Washington auch hohe amerikanische Beamte mit Vertretern der Bundesanwaltschaft. Sie teilten der Bundesanwaltschaft mit, dass sich in den Verfahrensakten Tinner Unterlagen befänden, die den Bau einer Kernwaffe beschreiben würden. Am 21. August 2006 meldete der Bundesanwalt a.i. dem Vorsteher EJPD die Existenz von Unterlagen zur Urananreicherung und zum Bau einer Kernwaffe in den Akten des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens i.S. Tinner.

Die Meldung stützte sich auf Artikel 102quater BStP, wonach dem Bundesrat Daten aus einem gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren bekannt gegeben werden dürfen. Der Vorsteher EJPD wurde auch auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass Mitglieder der Familie Tinner weitere Kopien dieser Pläne im In- oder Ausland versteckt halten könnten.

Am 15. September 2006 traf sich eine amerikanische Delegation mit dem Vorsteher EJPD und Angehörigen der Verwaltung in Bern. Die Vertreter der USA erläuterten die internationalen Bestrebungen, der Kernwaffenbaupläne habhaft zu werden, die in den Besitz von Mitgliedern des Khan-Netzwerks und ihrer Kunden gelangt waren.

Diese Unterlagen aus dem pakistanischen Kernwaffenprogramm hätte A. Q. Khan digitalisieren lassen und die Tinners hätten Kopien davon in die Schweiz gebracht.

Staaten oder Terrorgruppen mit Kernwaffenambitionen hätten ein grosses Interesse daran, in den Besitz solcher Baupläne zu kommen. Die USA forderten die Schweiz auf, die Informationen über den Bau von Kernwaffen der Kontrolle eines Kernwaffenstaates im Sinne des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT)15 zu überantworten, und zeigten sich bereit, die Unterlagen zu übernehmen und für 13 14 15

Bundesgesetz vom 15.6.1934 über die Bundesstrafrechtspflege (BStP; SR 312.0).

Strafgesetzbuch (StGB; SR 311.0).

Vertrag vom 1.7.1968 über die die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Treaty on the Nonproliferation of Nuclear Weapons, NPT) (SR 0.515.03).

5020

ihre Sicherheit zu sorgen. An diesem Gespräch wurde seitens der Schweiz auch die Aktenvernichtung als mögliche Alternative zur Übergabe der Akten zur Sprache gebracht.

4.3.2

Der Bundesrat wird über die Kernwaffenbaupläne informiert und gewährt der IAEO Akteneinsicht

Am 16. Oktober 2006 sagte der IAEO-Generaldirektor ElBaradei vor einem internationalen Symposium in Wien, dass die IAEO immer noch damit beschäftigt sei, weitere Aspekte des Khan-Netzwerks aufzudecken. Er fügte in diesem Zusammenhang an, dass Baupläne für den Bau von Urananreicherungszentrifugen und möglicherweise sogar von Kernwaffen auf einer einzigen CD-ROM gespeichert werden könnten.16 Am 25. Oktober 2006 teilte die Mission des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Wien der Bundesanwaltschaft mit, dass die IAEO die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats darüber informiert habe, dass Kernwaffenbaupläne im Besitz eines Nichtkernwaffenstaates aufgetaucht seien.

In dieser Information sei die Schweiz zwar nicht explizit genannt worden, doch ein Zusammenhang zu den Tinners lasse sich herleiten.

Ebenfalls im Oktober 2006 bat die IAEO über die Schweizer Mission in Wien die Bundesanwaltschaft um Einsicht in proliferationsrelevante Informationen aus dem Aktenbestand des Verfahrens i.S. Tinner. Die IAEO wünschte dabei, bestimmte Unterlagen kopieren zu dürfen. Am 25. Oktober 2006 informierte der Bundesanwalt a.i. den Vorsteher EJPD über die Anfrage der IAEO und beantragte, den Bundesrat über das Ersuchen der IAEO zu informieren, damit dieser über die offizielle Einsicht der IAEO in die Akten entscheiden könne.

Für die Vorbereitung des Bundesratsentscheids über das Gesuch der IAEO rief der Vorsteher EJPD in Absprache mit dem EDA eine Task Force ins Leben. Die Task Force wurde vom Direktor BJ geleitet. Ihr gehörten der Direktor des Bundesamtes für Polizei (fedpol), der Bundesanwalt a.i., der verfahrensleitende Staatsanwalt, die Leiterin des Inspektorats im Generalsekretariat EJPD und der stellvertretende Chef der politischen Direktion des EDA an.

Als die Task Force Ende Oktober 2006 ihre Arbeit aufnahm, bestand im Fall Tinner an verschiedenen Fronten Handlungsbedarf. Die Verfahrensunterlagen enthielten Kernwaffenbaupläne, für die eine sichere Aufbewahrung unabdingbar war. Seit August 2006 lag ein Antrag der Bundesanwaltschaft vor, den Bundesrat über die Existenz der Kernwaffenbaupläne zu unterrichten. Überdies verlangte die IAEO Einsicht in proliferationsrelevante Unterlagen des Verfahrens.

Bei einer ersten Auslegeordnung stellte die Task Force fest, dass bei
den Tinners die Originale der beschlagnahmten Daten weiterhin vorhanden waren. Am 27. Oktober 2006 wurde eine erneute Hausdurchsuchung bei Mitgliedern der Familie Tinner durchgeführt, um sämtliches proliferationsrelevante Material, insbesondere Baupläne für Kernwaffen, sicherzustellen.

16

Die Aussagen des Generaldirektors der IAEO wurden am 30.11.2006 in einem Artikel mit dem Titel «Stopping Illicit Trade in Nukes» der Wochenzeitschrift «Newsweek» wiedergegeben.

5021

Die Task Force befasste sich auch mit der Sicherheit der beschlagnahmten Unterlagen. Sie kam zum Schluss, dass die Bundesanwaltschaft nicht in der Lage sei, die grosse Menge an beschlagnahmtem Material sicher aufzubewahren. Allerdings teilte die Bundesanwaltschaft diese Einschätzung nicht. Auf Anweisung des Vorstehers EJPD wurde die Bundeskriminalpolizei (BKP) mit der sicheren Aufbewahrung aller Verfahrensakten beauftragt. Einzig dem verfahrensleitenden Staatsanwalt wurde die Benutzung dieser Akten, aber nicht das Erstellen von Kopien, erlaubt.

Die Task Force bereitete für die Bundesratssitzung vom 1. November 2006 den Antrag des EJPD vor. Der Antrag selber datiert vom 1. November 2006 und wurde den Mitgliedern des Bundesrats am Morgen der Sitzung abgegeben.

In diesem Antrag setzte der Vorsteher EJPD den Bundesrat darüber in Kenntnis, dass im Rahmen eines von der Bundesanwaltschaft gegen drei Schweizer Bürger geführten Ermittlungsverfahrens Pläne für den Bau von Kernwaffen entdeckt worden waren. Auf diesen Sachverhalt sei die Schweiz von der IAEO hingewiesen worden. Auch hätten Vertreter der amerikanischen Behörden mehrmals informell bei der Bundesanwaltschaft und beim Vorsteher EJPD vorgesprochen. Sie hätten die Übergabe dieser Unterlagen verlangt, damit sie an einem sicheren Ort in den USA aufbewahrt und vor dem Zugriff Unberechtigter geschützt werden könnten. Die amerikanische Regierung messe diesem Begehren eine grosse Bedeutung zu und erzeuge einen entsprechenden politischen Druck.

Der Antrag des EJPD ersuchte den Bundesrat, dem Gesuch der IAEO stattzugeben.

Das EJPD wies ferner darauf hin, dass die Bundesanwaltschaft die Abgabe von Kopien der Dokumente an die IAEO im Rahmen der Rechtshilfe in eigener Kompetenz verfügen könne. Gemäss den Regeln der Rechtshilfe müssten die Beschuldigten, bei denen die Dokumente beschlagnahmt worden waren, über die Rechtshilfe informiert werden. Dadurch würden sie in die Lage versetzt, ein Rechtsmittel einzulegen. Dies würde ein Verfahren nach sich ziehen und damit publik machen, dass die Schweiz über brisante Dokumente verfüge.

Das EJPD schlug im Antrag vom 1. November 2006 vor, dass der Bundesrat die Zusammenarbeit mit der IAEO gestützt auf Artikel 184 Absatz 3 BV beschliesse.

Gemäss dem Antrag «verunmöglicht allein diese Variante den Verfahrensbeteiligten,
Rechtsmittel zu ergreifen, die eine unerwünschte Publizität nach sich ziehen»17.

Für einen solchen Entscheid seien der aussenpolitische Bezug, die Erforderlichkeit und die zeitliche Dringlichkeit gegeben. Ebenso würden die aussenpolitischen Interessen der Schweiz gegenüber den privaten Interessen der Beschuldigten überwiegen.

Der Bundesrat nahm am 1. November 2006 von der Bedeutung der Akten mit nukleartechnologischem Inhalt Kenntnis und stimmte gleichzeitig der Zusammenarbeit mit der IAEO gemäss Antrag des EJPD zu.

17

Antrag vom 1.11.2006 des EJPD an den Bundesrat betref. Einsichtnahme und Überlassung von brisanten Dokumenten aus einem gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren der BA an die IAEO, S. 3.

5022

4.3.3

Reaktionen der USA

Einen Tag nach dem Beschluss des Bundesrats schrieb der amerikanische Justizminister dem Vorsteher EJPD. In diesem Schreiben, das auf den 2. November 2006 datiert war, schlug die amerikanische Regierung vor, die «kritischen» Informationen und Dokumente aus dem gerichtspolizeilichen Verfahren i.S. Tinner herauszunehmen und sie in die sichere Obhut der amerikanischen Behörden zu übergeben. Weiter wurde ausgeführt, die USA seien gewillt, der Schweiz für die Zwecke der strafrechtlichen Untersuchung den Zugang zu den Dokumenten zu gewähren.

Gleichzeitig könne die Schweiz ihren Pflichten aus dem NPT nachkommen.

Die vom Vorsteher EJPD geschaffene Task Force erhielt den Auftrag, eine schriftliche Antwort an den amerikanischen Justizminister zu erarbeiten. Am 20. November 2006 schrieb der Vorsteher EJPD seinem amerikanischen Amtskollegen, dass der Bundesrat dem Ersuchen der IAEO in Bezug auf bestimmte Unterlagen aus dem gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren i.S. Tinner vollumfänglich stattgegeben hätte. Der Antwortbrief betonte überdies, dem Vertreter der IAEO habe versichert werden können, dass die Unterlagen sicher aufbewahrt und keinen unbefugten Personen zugänglich seien.

Der Vorsteher EJPD wies zudem auf die laufenden Abklärungen hin, um zu bestimmen, wie mit den sensitiven Unterlagen zu verfahren sei. Es würde in Betracht gezogen, die Unterlagen der IAEO zu übergeben oder sie unter Kontrolle der IAEO zu zerstören. Auf jeden Fall würde sich die angestrebte Lösung im Rahmen der rechtlichen Verpflichtungen der Schweiz bewegen, gleichzeitig aber auch den Interessen beider Staaten Rechnung tragen. Der Vorsteher EJPD verzichtete darauf, in seinem Schreiben auf das Angebot der USA einzugehen, die sensitiven Akten zu übernehmen. Gegenüber der GPDel gab der Vorsteher EJPD zu verstehen, dass er diese Option aus Sicht der Schweiz als nicht opportun betrachtet hatte.

4.4

Der Bundesratsbeschluss vom 29. August 2007

4.4.1

Intervention der USA zugunsten der Tinners

Als die Tinners Anfang 2004 öffentlich mit dem Khan-Netzwerk in Verbindung gebracht wurden, nahmen die US-Nachrichtendienste Kontakt mit dem DAP und dem SND auf. Die beiden Schweizer Dienste wurden darauf aufmerksam gemacht, dass die Tinners auch für die USA gearbeitet und dazu beigetragen hätten, dem Khan-Netzwerk das Handwerk zu legen.

Der DAP informierte in Anwesenheit des Direktors fedpol den Vorsteher EJPD am 4. März 2004 über die Involvierung der amerikanischen Nachrichtendienste. Aufgrund der Orientierung beschloss der Vorsteher EJPD, «dass er beim Stand der gegenwärtigen Erkenntnisse einen Antrag auf Verweigerung der Ermächtigung zur Strafverfolgung an den Bundesrat stellen würde»18.

Im Dezember 2004 traf die amerikanische Botschafterin in der Schweiz auf eigenen Wunsch den Vorsteher EJPD. Bei diesem Treffen war auch der Direktor fedpol zugegen. Das Verhältnis der Tinners zu den amerikanischen Nachrichtendiensten kam dabei zur Sprache.

18

Vgl. Aktennotiz vom 4.3.2004 des DAP betr. Briefing mit Bundesrat Blocher.

5023

Ein weiteres Treffen mit der amerikanischen Botschafterin zum Fall Tinner erfolgte am 19. Januar 2006. Auf Schweizer Seite nahmen der Vorsteher EJPD und der Direktor fedpol teil. Am 27. Januar 2006, am Rande des World Economic Forums, sprach auch der US-Minister für «Homeland Security», Michael Chertoff, in Anwesenheit der amerikanischen Botschafterin den Vorsteher EJPD auf den Fall Tinner an.

Nach der Reise des Vorstehers EJPD vom 12. Juli 2006 nach Washington traf am 15. September 2006 eine amerikanische Delegation mit dem Vorsteher EJPD in Bern zusammen (vgl. Ziff. 4.3.1). Die Delegation thematisierte neben der Brisanz der Kernwaffenbaupläne im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren i.S. Tinner auch den Beitrag, den die Tinners zur Einstellung des libyschen Kernwaffenprogramms geleistet haben sollen. Die USA suchten aber auch die Mitwirkung der Schweiz, um zu vermeiden, dass die Zusammenarbeit der Tinners mit den amerikanischen Diensten im Verlauf des Strafverfahrens aufgedeckt und verfolgt würde.

Als der Vorsteher VBS vom 11.­13. April 2007 zu einem Arbeitsbesuch in den USA weilte, wurde er von all seinen Gesprächspartnern auf den Fall Tinner angesprochen. Namentlich waren dies der Minister für «Homeland Security», dessen Unterstaatssekretär Charles Allen (Chef des Nachrichtendiensts des «Department of Homeland Security»), Verteidigungsminister Robert Gates, der stellvertretende Verteidigungsminister Gordon England und der Vater des amtierenden Präsidenten George W. Bush.19

4.4.2

Der Bundesrat verweigert die Ermächtigung zur Strafverfolgung der mutmasslichen Delikte gemäss Artikel 271 und 301 StGB

Im Sommer 2007 beschloss der Vorsteher EJPD, den Bundesrat über die beiden seit April bzw. Oktober 2006 hängigen Ermächtigungsgesuche der Bundesanwaltschaft betreffend Artikel 271 (verbotene Handlungen für einen fremden Staat) und Artikel 301 StGB (Nachrichtendienst gegen fremde Staaten) entscheiden zu lassen. Der Gesetzgeber hat es in Artikel 105 BStP dem Bundesrat überlassen, über die gerichtliche Verfolgung solcher politischer Vergehen zu entscheiden.20 Am 2. Juli 2007 holte der Vorsteher EJPD in einem Brief die Stellungnahme des EDA und des VBS zur Frage der Opportunität einer Strafverfolgung des mutmasslich betroffenen ausländischen Nachrichtendienstes einerseits und der Tinners andererseits ein.

Zur Begründung führte der Brief des Vorstehers EJPD aus, die Bundesanwaltschaft habe Anfang 2006 erfahren, dass sechs Vertreter der amerikanischen Nachrichtendienste am 21. Juni 2003 am Wohnort der Tinners eine «Hausdurchsuchung» durchgeführt haben sollen. Dabei sollen die Amerikaner Marco Tinner zur Zusammenarbeit mit den US-Behörden bewegt haben. Die Vertreter der amerikanischen 19 20

Vgl. Medienmitteilung des VBS vom 11.4.2007.

In Art. 3 der Organisationsverordnung vom 17.11.1999 für das EJPD (OV-EJPD; SR 172.213.1) delegiert der Bundesrat die Kompetenz zur Ermächtigung an das EJPD.

In Fällen, welche die Beziehungen zum Ausland betreffen, entscheidet das EJPD nach Rücksprache mit dem EDA. Fälle von besonderer Bedeutung können dem Bundesrat vorgelegt werden.

5024

Nachrichtendienste hätten sich zudem bei den Tinners Zugang zu allen Informationen verschafft und die vorhandenen elektronischen Daten kopiert. Bei dieser Sachlage seien die Voraussetzungen für eine Strafverfolgung der mutmasslichen Angehörigen der amerikanischen Nachrichtendienste nach Artikel 271 und der Tinners nach 301 StGB gegeben, weshalb die Ermächtigung erteilt werden müsste.

Drei Wochen später, am 26. Juli 2007, reiste der Vorsteher EJPD wiederum in die USA. Er traf den amerikanischen Justizminister und den Minister für «Homeland Security» sowie den FBI-Direktor Robert Mueller und den US-Nachrichtenkoordinator John M. McConnell.21 Mit dem amerikanischen Nachrichtenkoordinator wurde in Anwesenheit des Direktors BJ das hängige Ermächtigungsverfahren i.S.

Tinner und amerikanische Nachrichtendienste besprochen. Der Vorsteher EJPD informierte seinen Gesprächspartner, dass der Bundesrat über die Ermächtigungsfrage in Bälde entscheiden werde. Gemäss dem Vorsteher EJPD gab er nach vorgängiger Konsultation des EDA und des VBS seinem Gesprächspartner zu verstehen, dass die drei Departemente die Ermächtigung für die gerichtliche Verfolgung der politischen Delikte ablehnen würden.

Am 9. August 2007 kontaktierte die amerikanische Aussenministerin Condoleeza Rice die Vorsteherin EDA zu einem aktuellen aussenpolitischen Thema. In Bezug auf die Ermächtigungsfrage gab die amerikanische Aussenministerin ihre Befriedigung kund, dass sich im Fall Tinner eine für beide Staaten befriedigende Lösung abzuzeichnen scheine.

Am 16. August 2007 gab die Vorsteherin EDA dem Vorsteher EJPD ihre Stellungnahme zur Ermächtigungsfrage ab. Sie sprach sich gegen eine Strafverfolgung der politischen Delikte aus. Sie wies auf die Anzeichen hin, dass die amerikanischen Dienste direkt die Mitwirkung der Tinners für die Aufdeckung des libyschen Kernwaffenprogramms gesucht hätten, ohne sich um den Weg der Rechtshilfe zu bemühen. In diesem Zusammenhang machte die Vorsteherin EDA aber auch darauf aufmerksam, dass die USA den Schweizer Behörden bereits vor Jahren Informationen über die Ableger des Khan-Netzwerks in der Schweiz hätten zukommen lassen.

Aus Sicht des EDA könnte eine gerichtliche Verfolgung der US-Nachrichtendienste und der Tinners den Eindruck erwecken, die Schweiz stehe den internationalen Bemühungen zur Verhinderung
der Proliferation im Weg. Die Publizität eines Prozesses könnte zudem die Bestrebungen der IAEO und der USA erschweren, weitere Teile des Khan-Netzwerks aufzudecken bzw. lahm zu legen. Ein Verfahren gegen Mitarbeiter der amerikanischen Nachrichtendienste würde aussenpolitisch zu schweren Verstimmungen mit den USA führen.

In seiner Stellungnahme vom 20. August 2007 sprach sich der Vorsteher VBS ebenfalls gegen eine Ermächtigung aus. Er wies darauf hin, dass die Schweizer Behörden seit fast 30 Jahren um die Tätigkeit von Personen und Firmen in der Schweiz zugunsten des Khan-Netzwerks gewusst hätten. Das Ungenügen der zuständigen Stellen in der Schweiz gegenüber diesem grössten und gefährlichsten Proliferationsfall der Geschichte müsse als gravierend beurteilt werden. Der Eindruck einer ungenügenden Kooperationsbereitschaft des DAP bei der Aufklärung von Proliferationsfällen hätte den Eigenmächtigkeiten ausländischer Dienste Vorschub geleistet.

21

Vgl. Medienmitteilung des EJPD vom 25.7.2007.

5025

Gestützt auf die Argumente des EDA und des VBS beantragte das EJPD in seinem Antrag vom 27. August 2007 dem Bundesrat, die Ermächtigung zur Strafverfolgung des mutmasslichen ausländischen Nachrichtendienstes und der Tinners zu verweigern. Gemäss dem Antrag des EJPD gab es Anhaltspunkte, dass die USA eigenmächtig auf Schweizer Gebiet tätig geworden waren und damit die Souveränität der Schweiz verletzt hätten. Gleichzeitig machte das EJPD in seinem Antrag geltend, dass die Aktivitäten der amerikanischen Nachrichtendienste wesentlich zur Einstellung des libyschen Kernwaffenprogramms beigetragen hätten. Das EJPD gab auch zu bedenken, dass ein Spionageverfahren gegen die Tinners und die USA die Welt darauf aufmerksam machen würde, welche brisanten Unterlagen sich in der Obhut der Schweiz befänden.

Am 29. August 2007 folgte der Bundesrat dem Antrag des EJPD und lehnte die Ermächtigung zur Strafverfolgung der mutmasslichen Angehörigen der amerikanischen Nachrichtendienste in Bezug auf Artikel 271 StGB und der Tinners in Bezug auf Artikel 301 StGB ab.22

4.5

Der Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007

4.5.1

Arbeiten der Task Force

Die vom Vorsteher EJPD im Oktober 2006 eingesetzte interdepartementale Task Force war ursprünglich geschaffen worden, um den Bundesratsbeschluss vom 1. November 2006 vorzubereiten und sich um die Sicherheit der Akten zu kümmern.

Im November 2006 erarbeitete sie das Schreiben des Vorstehers EJPD an den amerikanischen Justizminister. Danach hatte die Task Force aber keinen fest umschriebenen Auftrag mehr. Ab Frühjahr 2007 begann sich die Task Force in reduzierter und wechselnder Besetzung erneut mit dem Fall Tinner und insbesondere mit den Möglichkeiten eines sicheren Umgangs mit den Kernwaffenbauplänen zu beschäftigen.

Anlässlich der neuerlichen Treffen ab Frühjahr 2007 ging die Task Force grundsätzlich davon aus, dass für die Kernwaffenbaupläne spätestens nach bzw. beim rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens eine endgültige Lösung gefunden werden müsste. Ferner erachtete es die Task Force aus Sicherheitsgründen für notwendig, den Zugang zu den Kernwaffenbauplänen während des laufenden Strafverfahrens zu beschränken oder gar auszuschliessen. Die Möglichkeiten dazu waren jedoch gemäss dem Gutachten des BJ23 beschränkt, das aufgrund eines Planspiels der Bundesanwaltschaft am 19. September 2006 im Auftrag des Vorstehers EJPD erstellt worden war. Das Gutachten, welches aufgrund eines fiktiven Beispiels zu prüfen hatte, ob bei Vorliegen eines entsprechenden öffentlichen Interesses durch Beschluss der Exekutive Beweismittel aus den Akten einer Strafverfolgungsbehörde entfernt werden könnten, war zum Ergebnis gekommen, dass während eines laufenden Strafverfahrens Beweismittel nur mit dem Einverständnis des oder der Beschuldigten aus den Verfahrensakten entfernt werden dürfen.

22

23

In seiner Medieninformation vom 23. Mai 2008 sagte der Bundespräsident, die beiden Ermächtigungsverfahren hätten die Gebrüder Tinner, deren Vater sowie «weitere Unbekannte» betroffen.

Gutachten des BJ vom 2.10.2006.

5026

Anlässlich des Treffens der Task Force vom 11. September 2007 informierte die Bundesanwaltschaft, dass eine Einigung mit den Anwälten der Tinners in absehbarer Zeit erzielt werden könnte.24 Die Anwälte würden aber einer Vernichtung der brisanten Akten nicht zustimmen, um sich die Möglichkeit vorzubehalten, diese Akten wieder ins Gerichtsverfahren einbringen zu können. Die Task Force besprach Alternativen zur Vernichtung der brisanten Akten nach Vorliegen eines rechtsgültigen Urteils. Grundsätzlich wurde die Übergabe an die IAEO einer Vernichtung vorgezogen. Gleichzeitig gelangte die Task Force zum Schluss, dass zuerst alles beschlagnahmte Material ausgewertet werden müsste, um die brisanten Unterlagen von den übrigen Akten überhaupt trennen zu können.

Es stellte sich heraus, dass für diese Triage ebenfalls die Unterlagen und elektronischen Datenträger der Tinners ausgewertet werden müssten, die noch am 27. Oktober 2006 sichergestellt worden waren. Diese Sicherstellung hatte die Menge des beschlagnahmten Materials vervielfacht. Das zusätzliche Material enthielt zudem viele Kopien von Unterlagen, die bereits Eingang ins gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren wegen Widerhandlung gegen das Güterkontroll- und das Kriegsmaterialgesetz gefunden hatte. Da dieses Material für die Strafverfolgungsbehörden nicht oder nur am Rande verfahrensrelevant war, hatte im September 2007 noch keine Auswertung stattgefunden. Die Sicherstellung hatte allein dem Zweck gedient, allfällige weitere brisante Informationen vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen.

Aus diesem Grund hatte es die BKP auch nie für notwendig erachtet, zusätzliche Ressourcen zur Auswertung dieses Materials zu beantragen.

Am 3. Oktober 2007 fanden sich ein Teil der Mitglieder der Task Force zu einem weiteren Treffen ein. Der Leiter der Task Force informierte, dass trotz Verzicht auf die Verfolgung der politischen Delikte im Verfahren Tinner «die USA weiterhin Druck ausüben und nicht gewillt sind, zu warten, bis der Prozess in der Schweiz abgeschlossen ist»25. Die USA würden keine Ruhe geben, solange die Schweiz im Besitz der brisanten Unterlagen sei.

In dieser Situation gewann für die Task Force die Triage zusätzlich an Bedeutung.

Die Bundesanwaltschaft wurde von ihr beauftragt, bis Ende Oktober 2007 die Triage abzuschliessen. Dies sollte die
Voraussetzungen schaffen, um das brisante Material bereits vor einem rechtskräftigen Gerichtsurteil der IAEO übergeben zu können. Es wurde beschlossen, durch das EDA abklären zu lassen, ob die IAEO die brisanten Akten übernehmen würde und wie sie den Zugang zu diesen Akten für das Strafverfahren gewährleisten könnte. Innerhalb der Task Force wurden aber auch Zweifel laut, ob eine internationale Organisation wie die IAEO letztlich ein sicherer Ort für die Aufbewahrung der Kernwaffenbaupläne sein könne.

Berichtet wurde ferner, dass der Direktor BJ und der Direktor fedpol einen Augenschein der Räumlichkeiten vorgenommen hatten, in denen die brisanten Unterlagen aufbewahrt wurden. Gemäss Einschätzung des Direktors BJ wurden die vor Ort möglichen Sicherheitsvorkehrungen zwar angewendet. Er war aber mit dem Direktor fedpol zum Schluss gekommen, dass das Material dort längerfristig nicht wirklich sicher aufbewahrt werden könne.

24

25

Vgl. auch Ziff. 2.5, respektive Ziff. 2.6 der Urteile der Bundesgerichts zu den Haftentlassungsgesuchen von Urs Tinner (BGE 1B 175/200), respektive von Marco Tinner (BGE 1B 177/2008).

Aktennotiz vom 14.10.2007 zur Besprechung der Task Force vom 3.10.2007, S. 2.

5027

Das EDA hatte am 3. Oktober 2007 den Auftrag der Task Force erhalten, sich bei der IAEO nach Möglichkeiten zur Übernahme der Kernwaffenbaupläne zu erkundigen. Gemäss dem Leiter der Task Force hatte jedoch die IAEO bereits im Herbst 2006 angedeutet, es sei nicht ihre Aufgabe, die Kernwaffenpläne zu übernehmen.

Die Anfrage des EDA bei der IAEO erfolgte am 19. Oktober 2007 vor Ort in Wien.

Dabei wurde mit der IAEO bereits über die Möglichkeit einer allfälligen Mitwirkung der IAEO bei der Zerstörung der Unterlagen aus dem Verfahren Tinner gesprochen.

Entgegen dem Auftrag der Task Force betrafen die Abklärungen nicht mehr die Übernahme der brisanten Akten durch die IAEO.

Nach dem 3. Oktober 2007 gab es keine weiteren Treffen der Task Force mehr, um eine neue Lösung für den Umgang mit den brisanten Unterlagen zu suchen. Die Task Force hat dem Vorsteher EJPD auch nie einen Antrag auf Vernichtung der brisanten Akten gestellt. Die GPDel hat festgestellt, dass das EDA einen solchen Eingriff in das Strafverfahren aufgrund der aussen- und sicherheitspolitischen Interessen als gerechtfertigt betrachtete. Da vor allem die Bundesanwaltschaft ein solches Vorgehen ablehnte, wäre dafür in der Task Force kein Konsens zu finden gewesen. Mit einzelnen Mitgliedern der Task Force verfolgte der Vorsteher EJPD jedoch die Diskussion um den Umgang mit den brisanten Akten weiter.

4.5.2

Der Bundesrat stimmt der Vernichtung des beschlagnahmten Beweismaterials zu

Wie bereits in Ziffer 4.4.2 dargelegt, hatte im Juli 2007 der Vorsteher EJPD in Washington mit dem amerikanischen Nachrichtenkoordinator in Anwesenheit des Direktors BJ über das weitere Vorgehen in Bezug auf die brisanten Akten Gespräche geführt. Dabei wies der Vorsteher EJPD auf die Unabhängigkeit der Bundesanwaltschaft hin. Er legte auch dar, dass für die Führung des Prozesses unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Einverständnis des Gerichts nötig sei.

Noch am 13. September 2007 informierte der Vorsteher EJPD die GPDel darüber, dass das Verfahren seinen ordentlichen Lauf nehmen werde (vgl. Ziff. 5.2). Am 12. November 2007 schlug der Vorsteher EJPD jedoch dem Bundesrat vor, bereits vor dem Abschluss des Gerichtsverfahrens eine Lösung für die brisanten Akten zu finden. Für die Vorbereitung des entsprechenden Bundesratsantrags wurde auch die Vertretung des EDA aus der Task Force beigezogen.

Im Antrag des EJPD vom 12. November 2007 wurde festgehalten, dass «der Besitz dieser Akten ein schwerwiegendes Problem für die Eidgenossenschaft [darstellt]».

Die Informationen würden ein Proliferationsrisiko bergen, und «die USA [drängten] auf die Übergabe der Daten an sie selber oder aber auf die vollständige Vernichtung der brisanten Informationen»26. Zudem verletze der blosse Besitz der Kernwaffenbaupläne völkerrechtliche Verpflichtungen der Eidgenossenschaft. Die Schweiz könne sich jedoch «der in Frage stehenden Daten entledigen, indem sie die Kernwaffenbaupläne unter Aufsicht der IAEO vernichtet»27.

26 27

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T, S. 2.

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T, S. 3.

5028

Der Antrag des EJPD verschwieg nicht, dass die zu vernichtenden Informationen Grundlage eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens seien, in welches sich der Bundesrat grundsätzlich nicht einmischen dürfe. Die Anordnung der Vernichtung von Akten würde zudem einen Eingriff des Bundesrats in die Autonomie der Bundesanwaltschaft darstellen, falls Letztere der Aktenvernichtung nicht zustimmen sollte.

Auch die Eigentums- und Verfahrensrechte der Angeschuldigten würden durch einen solchen Schritt beschränkt.

In einer Güterabwägung machte das EJPD geltend, dass die ausserordentliche Brisanz und Gefährlichkeit der Informationen, die völkerrechtlichen Verpflichtungen sowie die aussenpolitischen Überlegungen den Ausschlag gegenüber dem Interesse an der Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens geben würden. Der wichtigste Grund, welcher für die Vernichtung der Daten spreche, sei «die Gefahr für die Sicherheit der Weltgemeinschaft, welche von der blossen Existenz der Daten ausgeht»28.

Im Antrag des EJPD kam eine nur teilweise Vernichtung der Daten zur Sprache, die sich auf die Informationen zum Bau von Kernwaffen beschränkt hätte. Die Vernichtung von sämtlichem Datenmaterial, welches im Verlauf des Verfahrens beschlagnahmt worden war, wurde jedoch aus folgenden Gründe bevorzugt: -

Erstens wäre eine Triage zwischen den Kernwaffenbauplänen und den weniger sensiblen Akten nicht nur aufwändig und schwierig. Sie könnte auch nicht mit Sicherheit erfolgen, ohne dass kernwaffenrelevante Informationen übersehen würden.

-

Zweitens müssten für die Triage zusätzliche Experten eingesetzt werden, womit weitere Personen Zugang zu den Informationen über den Bau von Kernwaffen erhalten würden.

-

Drittens wäre nicht gesichert, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen aus dem NPT nachkommen würde.

-

Viertens hätten die USA darauf hingewiesen, dass mit Hilfe der Urananreicherungstechnik eine so genannte «schmutzige Bombe» gebaut werden könnte.29 Weil mit der teilweisen Vernichtung der Daten ein substantielles Sicherheitsrisiko für die Weltgemeinschaft bestehen bleiben würde, beharrten die USA auf einer integralen Vernichtung der Daten.

Der Antrag des EJPD wies darauf hin, dass mit der vorgeschlagenen Vernichtung allen beschlagnahmten Materials dem Verfahren gegen die Tinners die Beweismittel weitgehend entzogen würden. Infolgedessen müsste das gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren gegen die Tinners wohl eingestellt werden.

Der Bundesrat stimmte dem Antrag des EJPD zu. Er beschloss überdies, dass die Vernichtung unter Aufsicht der IAEO erfolgen sollte. Das Einverständnis der IAEO vorausgesetzt, sollte auch ein offizieller Kernwaffenstaat beigezogen werden. Im

28 29

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T, S. 2.

Gemäss Aussagen verschiedener Experten des Bundes können die diversen radioaktiven Substanzen, welche Terroristen für den Bau einer schmutzigen Bombe benötigen, beschafft werden, ohne dass eine Anreicherung notwendig wäre. Eine Anreicherung des radioaktiven Materials würde die Wirkung der Bombe nicht erhöhen, aber den Bau einer Urananreicherungslage voraussetzen, die hunderte von Mio. Fr. kosten würde.

5029

Bundesrat wurde der Beizug der USA angeregt. Für die Umsetzung der Beschlüsse sorgte anschliessend das EJPD.

4.5.3

Bilaterale Kontakte zwischen dem Vorsteher EJPD und Vertetern der USA

Aufgrund ihrer Untersuchung sind der GPDel verschiedene direkte Kontakte zwischen dem Vorsteher EJPD und amerikanischen Regierungsvertretern bekannt, in denen ein beidseitiges Interesse an der Vernichtung des gesamten Beweismaterials zum Ausdruck kam. Die GPDel verzichtet wegen den berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Bundesrats auf eine detaillierte Darstellung dieser Kontakte.

4.6

Die Umsetzung des Bundesratsbeschlusses vom 14. November 2007

Am 14. November 2007 hatte der Bundesrat den Vorsteher EJPD beauftragt, eine Projektorganisation für die Umsetzung des Beschlusses zur Aktenvernichtung zu schaffen. Gleichentags setzte der Vorsteher EJPD diese Projektorganisation unter der Leitung des Direktors BJ ein und informierte ihre Mitglieder über den Beschluss des Bundesrats zur Aktenvernichtung. Der Projektorganisation gehörten verschiede Mitglieder der Task Force an, darunter der Bundesanwalt, der Direktor fedpol und der stellvertretende Chef der politischen Direktion des EDA.

Nach dieser Information verneinte der Vorsteher EJPD die Frage des Bundesanwalts, ob der Bundesrat mit seinem Entscheid auch beschlossen habe, das gerichtspolizeiliche Verfahren einzustellen. Der Bundesrat überlasse es der Bundesanwaltschaft zu beurteilen, ob sie weiterhin in der Lage sei, das Verfahren vor das Bundesstrafgericht zu bringen oder nicht. Dem Direktor BJ erteilte der Vorsteher EJPD den Auftrag, den Vernichtungsbeschluss mit einer geeigneten Projektorganisation in die Tat umzusetzen. Am 27. November 2007 informierten der Bundesanwalt und der Direktor fedpol die betroffenen Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft und der BKP.

Als Erstes machte sich die Projektorganisation daran, alle Akten, die noch nicht unter der Kontrolle der BKP zentralisiert worden waren, einzuziehen. Der Projektleiter entschied am 27. November 2007, dass auch die Unterlagen der Vorabklärungen des SECO und des DAP aus dem Jahr 2004 zu vernichten seien. Kopien von einem Teil dieser Unterlagen waren auch dem SND abgegeben worden.

In die Unterlagen aus der Vorabklärung hatte die GPDel am 29. August 2006 anlässlich eines unangekündigten Besuchs beim DAP30 Einsicht genommen. Die Unterlagen enthielten neben Geschäftsunterlagen der Tinners auch technische Zeichnungen von Zentrifugenkomponenten. Kernwaffenbaupläne waren keine darunter.

Diese Unterlagen waren von den Tinners freiwillig dem SECO übergeben worden und im September 2004 über die Anzeige von SECO und DAP in das gerichtspolizeiliche Verfahren gelangt. Die Unterlagen waren demzufolge nicht beschlagnahmt worden und bereits vor der Eröffnung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens in 30

Vgl. Medienmitteilung der GPDel vom 30.8.2006.

5030

den Besitz des Bundes gelangt. Trotzdem bestimmte die Projektorganisation diese Akten zur Vernichtung. Der Zusammenzug dieser Akten konnte gegen Ende Dezember 2007 abgeschlossen werden.

Das EDA sorgte für den Beizug der IAEO, welche die Vernichtung gemäss Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 überwachen sollte. Drei Fachleute der IAEO führten am 4. und 5. Dezember 2007 eine Erkundungsmission durch. Sie sichteten das Material, welches in drei Lagerräumen unter Kontrolle der BKP zentralisiert worden war. Damit wollte die IAEO sicherstellen, dass in der Gesamtheit der Unterlagen keine bedeutsamen Informationen unentdeckt blieben. Im Rahmen ihrer früheren Abklärungen zuhanden der Bundesanwaltschaft in den Jahren 2005 bis Anfang 2007 hatte die IAEO erst Zugang zu einem Teil der Akten gehabt. Eine stichprobenartige Sichtung der Akten nach nukleartechnischem Material brachte keine neuen brisanten Informationen an den Tag. Die IAEO stiess aber auf ihr unbekannte Informationen über die Geschäftsverbindungen des Khan-Netzwerks.

Die IAEO-Experten erstellten eine Aktennotiz über ihren Besuch vom 4. und 5. Dezember 2007. In diesem Bericht vom 16. Januar 2008 schlugen sie eine gestaffelte Vernichtung vor. Die in Papierform vorhandenen Unterlagen zur Urananreicherungstechnik und die Pläne für Kernwaffenkomponenten und -bauanleitungen sollten zuerst zerstört werden. Dieses Material bezeichnete die IAEO als proliferationssensitiv. Mit der Zerstörung der restlichen Unterlagen sollte jedoch zugewartet werden, denn sie würden es der IAEO erlauben, ihre Kenntnisse über den Modus Operandi des Khan-Netzwerks zu vertiefen. Dieses Wissen könne zukünftig bei der Unterbindung weiterer Proliferationsfälle von Nutzen sein. Der Bericht der IAEO enthielt auch ein Angebot, nach der Vernichtung der Kernwaffenbaupläne und den Unterlagen zur Urananreicherungstechnik die übrigen Akten zur Aufbewahrung und zum weiteren Studium zu übernehmen.

Vom 5.­8. Februar 2008 sichteten die Vertreter der IAEO die zu vernichtenden Unterlagen erneut. In der Folge bat der stellvertretende Generaldirektor der IAEO am 8. Februar 2008 das EDA per Fax darum, mit der Vernichtung desjenigen Teils der Akten zuzuwarten, die gemäss Einschätzung der IAEO nicht proliferationssensitiv waren. Die Experten der IAEO sollten die zusätzliche Zeit nutzen können,
um in den Unterlagen nach Hinweisen auf weitere Personen und Firmen aus dem KhanNetzwerk zu suchen, die bisher unerkannt geblieben waren.

Am 7. Februar 2008 hatte seinerseits der Bundesanwalt ein in die gleiche Richtung gehendes Wiedererwägungsgesuch an das EJPD zuhanden des Bundesrats gerichtet.

Er schlug vor, in einer ersten Phase nur das waffentechnologisch brisante, zum Bombenbau befähigende und politisch heikle Material zu vernichten.

Am 13. Februar 2008 beschloss der Bundesrat, in einer ersten Phase nur «nukleartechnologisch relevantes Material»31 zu zerstören. Alles übrige Material sollte bis zum 30. Mai 2008 vernichtet werden, sofern nicht die Bedürfnisse der Strafverfolgung eine kurzzeitige weitere Aufbewahrung dieses Materials erfordern würde.

Am 14. Februar 2008 genehmigte die Vorsteherin EJPD ein Konzept des Projektleiters für die Durchführung der Aktenvernichtung. Gemäss diesem Konzept sollte in der ersten Phase alles Material vernichtet werden, an dem die IAEO kein weiteres Interesse mehr hatte. Auf jeden Fall war alles nukleartechnologische Material zur 31

Bundesratsbeschluss vom 13.2.2008 betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T.

5031

Vernichtung bestimmt. Ebenfalls vernichtet werden sollten im Zweifelsfall Daten, deren Natur nicht eindeutig identifiziert werden konnte.

Vom 18. bis am 22. Februar 2008 erhielt die IAEO Gelegenheit, diejenigen Unterlagen auszuscheiden, die sie noch analysieren wollte. Die ausgeschiedenen Unterlagen wurden von den Vertretern der USA daraufhin geprüft, ob sie nicht ebenfalls in der ersten Phase zu vernichten seien. Letztlich verblieben der IAEO rund zwanzig Ordner für das weitere Studium. Ihr Inhalt betraf jedoch hauptsächlich den Fall betreffend Gotthard Lerch, bei dem die Schweiz im Jahr 2004 auf ein Rechtshilfeersuchen Deutschlands hin tätig geworden war. Das übrige Beweismaterial wurde zwischen dem 25. und 27. Februar 2008 vernichtet.

Am 13. März 2008 bedankte sich der stellvertretende Generaldirektor der IAEO schriftlich beim EDA dafür, dass mit der Vernichtung des verbleibenden Materials bis Ende Mai 2008 zugewartet werde, damit es von der IAEO noch analysiert werden könne. Zwischen dem 7. und dem 9. April 2008 nahmen Vertreter der IAEO erneut Einsicht in die noch verbliebenen Akten. Am 6. Juni 2008 wurden diese letzten Unterlagen unter Aufsicht ebenfalls vernichtet.

4.7

Die Voruntersuchung des Eidgenössischen Untersuchungsrichters

Am 29. März 2007 ersuchte die Bundesanwaltschaft im Fall Tinner ein erstes Mal um die Eröffnung der Voruntersuchung durch das URA. Der Eidgenössische Untersuchungsrichter ging jedoch davon aus, dass vor der Eröffnung der eigentlichen Voruntersuchung der Bundesrat noch die Ermächtigungsfrage bezüglich der politischen Delikte nach Artikel 271 und 301 StGB entscheiden müsse. Als sich seitens der Bundesanwaltschaft ein Bedarf nach weiteren gerichtspolizeilichen Ermittlungshandlungen ergab, beschloss der Eidgenössische Untersuchungsrichter im Juni 2007 einstweilen auf die Eröffnung der Voruntersuchung zu verzichten. Ende August 2007 lehnte dann der Bundesrat die beiden Ermächtigungsgesuche ab.

Am 9. Oktober 2007 wies das Bundesgericht ein Haftentlassungsgesuch von Urs Tinner ab, das dieser am 20. April 2007 dem URA gestellt hatte.

Am 31. Januar 2008 stellte die Bundesanwaltschaft dem URA ihren zweiten Antrag auf Eröffnung einer Voruntersuchung zu. Nach einer ersten Sichtung der Akten eröffnete der Eidgenössische Untersuchungsrichter am 7. März 2008 die Voruntersuchung.

Gemäss dem Vernichtungskonzept, welches die Vorsteherin EJPD am 14. Februar 2008 genehmigt hatte, konnte die IAEO bis zum 22. Februar 2008 noch Akten aussondern, um sie in Bern bis zu ihrer Zerstörung Ende Mai 2008 zu studieren.

Diese Akten sollten auch dem Eidgenössischen Untersuchungsrichter zur Einsicht zur Verfügung stehen. Im April 2008 konsultierte er den Inhalt dieser zwanzig Bundesordner mehrmals, wobei ihm einzig erlaubt wurde, handschriftliche Notizen zu machen. Unter diesen Bedingungen war es nur beschränkt möglich, nutzbringende Informationen aus hauptsächlich technischen Unterlagen und Frachtpapieren zu gewinnen. Der Eidgenössische Untersuchungsrichter meldete in der Folge am 25. April 2008 der Vorsteherin EJPD, dass er die zur Verfügung gestellten Unterlagen für seine Untersuchung nicht mehr benötige.

5032

Im Juni 2008 bat der Eidgenössische Untersuchungsrichter den Direktor fedpol um die Unterstützung durch die BKP. Der Direktor fedpol war der Auffassung, dass der Bundesrat mit seinem Entscheid vom 14. November 2007 auch implizit jeden Versuch der Wiederbeschaffung von Kopien der vernichteten Unterlagen untersagt habe. Mit dem Wissen der am Ermittlungsverfahren beteiligten BKP-Mitarbeiter könne der Eidgenössische Untersuchungsrichter jedoch wieder Unterlagen beschaffen und beschlagnahmen, welche der Bundesrat zuvor hatte vernichten lassen.

Der Direktor fedpol teilte deshalb am 11. Juli 2008 dem Eidgenössischen Untersuchungsrichter mit, dass er den Chef der BKP angewiesen habe, «dem URA in der Voruntersuchung Tinner jede Unterstützung seiner Hauptabteilung als gerichtliche Polizei des Bundes zu versagen»32.

Am 5. August 2008 lehnte das Bundesgericht das zweite Haftentlassungsgesuch von Urs Tinner ab, welches dieser zusammen mit seinem Bruder Marco am 16. April 2008 eingereicht hatte. Nachdem der Eidgenössische Untersuchungsrichter die Haftentlassung bewilligt hatte, hiess die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (BStGer) die dagegen erhobene Beschwerde der Bundesanwaltschaft gut.

Diesem Entscheid folgte das Bundesgericht und lehnte beide Haftentlassungsgesuche ab.

5

Information der Aufsicht und Oberaufsicht

5.1

Information des Bundesstrafgerichts und des Bundesgerichts

Am 28. Dezember 2007 informierte der Vorsteher EJPD den Präsidenten des Bundesstrafgerichts über den Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007. Die Information erfolgte mündlich in Bern und in Anwesenheit des Generalsekretärs EJPD und des Direktors BJ. Der Bundesanwalt war nicht zugegen.

Gemäss eigener Auskunft wurde das BStGer «dahingehend informiert, der Bundesrat habe einen geheimen Beschluss darüber gefasst, dass mit Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen der Schweiz ein Teil der Akten aus dem Verfahren Tinner, welche die atomare Aufbereitung betreffen, zu vernichten sei»33. Der Bundesanwalt sei in der Arbeitsgruppe vertreten gewesen, die den Beschluss des Bundesrats vorbereitet habe; auch die Verteidigung der Beschuldigten sei informiert worden. Gegenüber der GPDel wurde seitens des EJPD darauf hingewiesen, mit dieser Information des BstGer hätte verhindert werden sollen, dass das BStGer die Bundesanwaltschaft aufsichtsrechtlich für einen Beschluss des Bundesrats belangen würde. Der Chef EJPD selber sagte der GPDel, er habe das BStGer auch auf die Bedenken der Bundesanwaltschaft gegenüber der Aktenvernichtung aufmerksam gemacht.

Der Präsident des BStGer informierte Anfang 2008 den Präsidenten der I. Beschwerdekammer des BStGer. Dieser setzte an der Sitzung vom 22. Januar 2008 die Beschwerdekammer als fachliche Aufsichtsbehörde über den Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 in Kenntnis.

32 33

Schreiben des Direktor BAP an Untersuchungsrichter A. Müller, vom 11.7.2008.

Schreiben des BStGer an die GPDel vom 17.6.2008.

5033

Die Verwaltungskommission des Bundesgerichts teilte auf Anfrage der GPDel mit, dass das Bundesgericht über den Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007, die Akten aus dem Verfahren Tinner zu vernichten, nicht informiert worden sei.34 Das Bundesgericht habe sich auch nicht mit der Angelegenheit befasst, da sich bereits das Parlament als Oberaufsichtsbehörde der Angelegenheit angenommen habe. Die Zurückhaltung entspreche dem mit dem Parlament vereinbarten Aufsichtskonzept und diene der Vermeidung von Doppelspurigkeiten. Da das Bundesgericht keine einlässlichen Abklärungen der Sachverhaltsumstände vorgenommen habe, könne es sich somit auch nicht als Aufsichtsbehörde zur Sache äussern.

5.2

Information der GPDel in den Jahren 2004­2007

Die GPDel wurde im Frühjahr 2004 sowohl vom VBS als auch vom EJPD in allgemeiner Form über die Aktivitäten des Khan-Netzwerks informiert. Am 5. Juli 2004 erhielt die GPDel eine Präsentation über die Massnahmen der Schweiz gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, welche sie von den zuständigen Bundesstellen verlangt hatte.35 Dabei erfuhr die GPDel auch von den Resultaten der Vorabklärungen des DAP und des SECO zum Fall Tinner.

Am 30. August 2004 erfolgte die jährliche Berichterstattung des DAP über seine Operationen36. Der DAP informierte die GPDel, dass der Fall Tinner unter den Aspekten des verbotenen Nachrichtendienstes und des verbotenen Technologietransfers bearbeitet würde. Die GPDel wurde darauf hingewiesen, dass die Tinners mit den amerikanischen Nachrichtendiensten zusammengearbeitet hätten.

Am 6. September 2004 besprach die GPDel mit dem Vorsteher EJPD die politische Kontrolle des DAP durch den Departementsvorsteher, wie sie Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (VWIS)37 vorschreibt. Der Vorsteher EJPD nannte dabei den Fall Tinner als Beispiel für ausserordentliche Ereignisse, über welche er ausserhalb der jährlichen Berichterstattung zu informieren sei.

Die nächste reguläre Berichterstattung zu den Operationen des DAP erfolgte am 10. Oktober 2005. Die GPDel wurde über die Anzeige bei der Bundesanwaltschaft informiert, die DAP und SECO im September 2004 erstattet hatten. Der Fall Tinner sei damit vom DAP an die Bundesanwaltschaft übergegangen. Der DAP brachte der GPDel auch zur Kenntnis, dass der Vorsteher EJPD am 4. März 2004 über die Zusammenarbeit der Tinners mit den amerikanischen Diensten informiert worden sei und dieser aufgrund der vorliegenden Informationen ein allfälliges Strafverfahren in dieser Sache nicht als opportun erachtet hatte.38

34 35 36 37 38

Schreiben des BGer an die GPDel vom 13.6.2008.

Vgl. Jahresbericht 2004 der GPDel vom 21.1.2005 (BBl 2005 1889) S. 1960.

Vgl. dazu Ziffer 3.9.12 über die Quellenführung durch den DAP im Jahresbericht 2006 der GPK und der GPDel vom 19.1.2007 (BBl 2007 3055), S. 3166­3167.

Verordnung vom 27.6.2001 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (VWIS; SR 120.2).

Vgl. Aktennotiz vom 4.3.2004 des DAP betr. Briefing mit Bundesrat Blocher.

5034

Von der Bundesanwaltschaft wurde die GPDel ab April 2005 regelmässig über das gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren gegen die Tinners informiert. Diese Information erfolgte im Rahmen der halbjährlichen Berichterstattung der Bundesanwaltschaft über ihre staatschutzrelevanten Fälle.39 Am 20. Februar 2006 erkundigte sich die GPDel anlässlich einer Aussprache mit dem Vorsteher EJPD danach, wie sich der Bundesrat allenfalls bei einem Ermächtigungsgesuch zur Verfolgung politischer Vergehen im Fall Tinners verhalten werde.

Der Vorsteher EJPD beschrieb das Verfahren, an welches sich der Bundesrat bei einem Ermächtigungsgesuch der Bundesanwaltschaft zu halten habe. Der Präsident der GPDel bat den Vorsteher EJPD darum, die GPDel zu informieren, falls ein Ermächtigungsgesuch im Fall Tinner gestellt würde.

Anlässlich der Aussprache mit dem Vorsteher EJPD vom 21. November 2006 verlangte die GPDel eine Aufdatierung zum Fall Tinner, worauf dieser in allgemeinen Zügen über seinen diesbezüglichen Wissenstand informierte. Er wies zudem darauf hin, dass sich der Bundesrat kürzlich mit dem Fall befasst habe, wollte aber die GPDel nicht ohne vorherige Genehmigung des Bundesrats näher informieren.

Aufgrund der Berichterstattung der Bundesanwaltschaft wusste die GPDel vom ersten Ermächtigungsgesuch vom 18. April 2006 betreffend Artikel 271 StGB (verbotene Handlungen für einen fremden Staat). Als die Delegation sich am 21. November 2006 nach allfälligen Ermächtigungsgesuchen erkundigte, konnte der Vorsteher EJPD diesbezüglich keine aktuellen Informationen liefern. Deshalb verlangte die GPDel mit Schreiben vom 1. Dezember 2006 vom Vorsteher EJPD einen schriftlichen Bericht über alle hängigen und entschiedenen Ermächtigungsgesuche seit Februar 2006.

Am 21. Februar 2007 besprach die GPDel mit dem Vorsteher EJPD den ausführlichen Bericht, den das EJPD auf ihr Verlangen zu den Ermächtigungsgesuchen erstellt hatte. Die GPDel erfuhr dabei vom zweiten Ermächtigungsgesuch, das am 17. Oktober 2006 eingereicht worden war. Das Gesuch betraf die Strafuntersuchung gegen Angehörige der Familie Tinner wegen Zuwiderhandlung gegen Artikel 301 StGB (verbotener Nachrichtendienst zum Nachteil eines anderen Staates).

Am 16. August 2007 beschloss die GPDel, sich vom Vorsteher EJPD anlässlich der bereits geplanten Aussprache vom
13. September 2007 «erneut über das bisherige und zukünftige Vorgehen der Schweizer Behörden im Fall Tinner aufdatieren zu lassen»40. Die GPDel verlangte zudem vom Vorsteher EJPD, «[seinerseits] und seitens des Bundesrats alles Notwendige vorzukehren, damit die GPDel uneingeschränkt über alle Aspekte des Falles Tinner informiert werden kann»41. Einerseits brachte die GPDel damit zum Ausdruck, dass sie vom Vorsteher EJPD einen möglichst aktuellen und umfassenden Informationstand erwartete. Andererseits stellte die Delegation damit auch klar, dass sie allfällige Geheimhaltungsvorbehalte des

39

40 41

Vgl. dazu Ziffer 10.3.4 über die Oberaufsicht über die BA im Jahresbericht 2004 der GPK und der GPDel vom 21.1.2005 (BBl 2005 1889), S. 1948­1949. Die von der GPDel mit der Bundesanwaltschaft vereinbarte Berichterstattung geht von einem Staatsschutzbegriff im engeren Sinn aus (z.B. verbotener Nachrichtendienst, Verstösse gegen das KMG und das Atomgesetz, Straftaten links- und rechtsextremistischer Gruppierungen oder Straftaten terroristischer Vereinigungen).

Brief der GPDel an den Vorsteher EJPD vom 16.8.2007.

Brief der GPDel an den Vorsteher EJPD vom 16.8.2007.

5035

Vorstehers EJPD mit Hinweis auf eine vorgängige Bewilligung des Bundesrats nicht akzeptieren würde.

Die GPDel erhielt am 13. September 2007 durch den Vorsteher EJPD die verlangte Auskunft zum Stand des Falles Tinner. Der Vorsteher EJPD informierte über den Ende August 2007 getroffenen Entscheid des Bundesrats in Sachen Ermächtigung.

Er informierte ferner darüber, dass die Schweiz im Besitze von Atomwaffenbauplänen sei, sowie über seine Kontakte mit den USA und deren Bestreben, diese Unterlagen zu erhalten, um sie an einem sicheren Ort aufzubewahren. Die GPDel erfuhr zudem erstmals vom Inhalt des Bundesratsbeschlusses vom 1. November 2006 und von der Schaffung der Task Force, die im Oktober 2006 eingesetzt worden war.

Gemäss den Ausführungen des Vorstehers EJPD dürfe die Schweiz unter dem Aspekt der Nonproliferation eigentlich gar nicht im Besitz der Kernwaffenbaupläne sein. Gemäss seiner Sprechnotiz sagte der Vorsteher EJPD zum weiteren Vorgehen: «Bis es zur Anklage kommt, gehen die Akten noch an das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt. Auch dieser Übergang ist sauber zu regeln. [...] Nach Abschluss des eigentlichen Prozesses wird dann noch die Frage zu regeln sein, wie mit den brisanten Unterlagen umzugehen ist: Sollen sie in der Schweiz vernichtet werden?

Sollen sie der IAEO übergeben werden.»42 Die Präsentation des Vorstehers EJPD enthielt keine Anhaltspunkte darauf, dass eine Vernichtung der Unterlagen vor einem rechtsgültigen Urteil in Betracht gezogen wurde.

Nach dieser Aussprache hatte die GPDel keine weiteren Treffen mit dem Vorsteher EJPD. Eine Information der GPDel durch den Vorsteher EJPD über den Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 erfolgte nicht mehr.

5.3

Information der GPDel im Jahr 2008

Nachdem am 7. Februar 2008 in den Medien erste Hinweise43 auf einen geheimen Beschluss des Bundesrats zur Vernichtung von Beweismaterial aus dem Fall Tinner auftauchten, verlangte der Präsident der GPDel bei der Vorsteherin EJPD am 8. Februar 2008 eine Aussprache zum Fall Tinner. Bei diesem Gespräch erfuhr der Präsident der GPDel offiziell vom Entscheid des Bundesrats vom 14. November 2007. Die Vorsteherin EJPD stellte in Aussicht, dass sich der Bundesrat am 13. Februar 2008 noch einmal mit dem Vernichtungsbeschluss vom November 2007 auseinandersetzen werde. Sie informierte am 15. Februar 2008 den Präsidenten der GPDel über die Beratungen des Bundesrats. Die Vorsteherin EJPD wurde danach aufgefordert, die gesamte Delegation am 21. Februar 2008 zu den neuen Entwicklungen im Fall Tinner aufzudatieren.

Am 21. Februar 2008 erläuterte die Vorsteherin EJPD, dass die Triage in zwei Phasen ablaufen würde. In der ersten Phase würde nur das nukleartechnologisch relevante und völkerrechtlichen Verpflichtungen unterliegende Material vernichtet.

In einer zweiten Phase sollte alles übrige Material bis Ende Mai 2008 zerstört werden. Mit der Zweiteilung der Vernichtung habe der Bundesrat einem Wunsch der IAEO entsprochen. Experten der IAEO und der Eidgenössische Untersuchungsrich42 43

Sprechnotiz des Vorstehers EJPD für die Sitzung der GPDel vom 13.9.2007, S. 10.

Am 7.2.2008 erschien der erste Artikel der Tageszeitung Blick zum Beschluss des Bundesrats vom 14.11.2007: «Atombombe für Gaddafi. Lässt Schweiz Beweise verschwinden?».

5036

ter würden dasjenige Material, das erst in einer zweiten Phase vernichtet werden sollte, ausscheiden. Die IAEO werde zusammen mit Vertretern der USA die Vernichtung überwachen.

Die GPDel machte die Vorsteherin EJPD am 29. Februar 2008 noch schriftlich darauf aufmerksam, dass nach dem Verständnis der Delegation das erste Los bloss die Dokumente enthalten dürfe, welche aus völkerrechtlicher Sicht am problematischsten seien. Im gleichen Brief forderte die GPDel die Vorsteherin EJPD auf, dass keine anderen Unterlagen vernichtet würden, bevor die GPDel Gelegenheit erhalten habe, mit dem Bundesanwalt zu sprechen.

Am 26. März 2008 unterhielt sich die GPDel mit dem Bundesanwalt über die Auswirkungen der Aktenvernichtung hinsichtlich der Anklageerhebung. Noch am gleichen Tag empfahl die GPDel dem Bundesrat schriftlich, die Vernichtung der Unterlagen, deren Besitz keine völkerrechtlichen Probleme bereiten würde, aufzuschieben, um den Strafverfolgungsbehörden den Abschluss ihrer Untersuchungen zu erlauben. Am 16. April 2008 relativierten jedoch die Informationen des Direktors BJ die am 21. Februar 2008 von der Vorsteherin EJPD gemachten Aussagen für die GPDel insofern, dass in der ersten Phase nicht nur die Kernwaffenbaupläne vernichtet worden waren, sondern alle Unterlagen, an denen die IAEO kein Interesse angemeldet hatte.

Am 2. April 2008 befasste sich der Bundesrat mit der Empfehlung der GPDel vom 26. März 2008 und informierte am 7. Mai 2008 die Delegation, dass er sich eine kurzzeitige Verschiebung des vorgesehenen Vernichtungsdatums für die restlichen beschlagnahmten Dokumente vorbehalte, falls dies die Bedürfnisse der Strafverfolgung erfordern sollten.

Den Aktennotizen der Projektorganisation, die für die Vernichtung des bei den Tinners beschlagnahmten Materials zuständig war, entnahm die GPDel Anfang Juli 2008, dass die Vernichtung am 6. Juni 2008 abgeschlossen worden war. Als danach die schriftliche Vollzugsmeldung der Vorsteherin EJPD erfolgte, war der Auftrag des Bundesrats vom 14. November 2007, die GPDel über den Bundesratsbeschluss und seinen Vollzug zu informieren, erfüllt.

Am 21. August 2008 erfuhr die GPDel im Verlauf ihrer Anhörungen zum Fall Tinner, dass der Direktor fedpol dem Eidgenössischen Untersuchungsrichter mitgeteilt hatte, dass dieser von der BKP für seine Voruntersuchung
keine Unterstützung erhalten werde. Am 22. August 2008 bestätigte die Vorsteherin EJPD der GPDel diese Information.

Die GPDel bat mit Schreiben vom 5. September 2008 den Bundesrat, zu den Rechtsgrundlagen Stellung zu nehmen, aufgrund welcher der Direktor fedpol der BKP die Zusammenarbeit mit dem URA untersagt habe.

Am 19. September 2008 liess der Bundesrat die GPDel schriftlich wissen, dass die Vorsteherin EJPD den Bundesrat am 27. August 2008 mündlich über den genannten Sachverhalt informiert habe. Gemäss dem Protokoll der Bundesratssitzung schloss sich der Bundesrat ausdrücklich der Haltung des Direktors fedpol an und lehnte die vom URA verlangte Unterstützung ab. Ein formeller Beschluss des Bundesrats lag jedoch nicht vor.

5037

6

Beurteilungen der GPDel

6.1

Entscheidungsprozesse und Führung des Bundesrats

Die GPDel hat festgestellt, dass sich der Bundesrat als Kollegium durchwegs bloss punktuell und stets nur mit Einzelaspekten des Falls Tinner befasst hat. In keiner der drei erwähnten Bundesratssitzungen wurde der Fall Tinner in seiner Gesamtheit beurteilt oder die sich aufdrängenden Fragen im Hinblick auf eine umfassende und kohärente Lösung diskutiert. Dadurch verlor der Bundesrat zunehmend an Handlungsfreiheit. Insbesondere hat er es versäumt, rechtzeitig die Voraussetzungen zu schaffen, um nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv mit der aussergewöhnlichen Herausforderung, vor welche der Fall Tinner die Schweiz stellte, umgehen zu können.

Weiter hat die GPDel festgestellt, dass das EJPD als federführendes Departement nur dann und nur insoweit den Bundesrat konsultierte, als eine Entscheidung durch das höchste Exekutivorgan der Schweiz unumgänglich war.

Der Vorsteher EJPD erfuhr am 12. Juli 2006 in Washington von der Existenz der Kernwaffenbaupläne im Dossier Tinner. Am 21. August 2006 erfolgte ein schriftlicher Antrag des Bundesanwalts a.i, den Bundesrat über die Brisanz der Akten zu informieren, welchem der Vorsteher EJPD keine Folge leistete. Im Oktober 2006 stellte die IAEO der Bundesanwaltschaft ein offizielles Begehren, um Zugang zu bestimmten Akten aus dem Verfahren zu erhalten. Darauf unterbreitete am 25. Oktober 2006 der Bundesanwalt a.i. einen neuerlichen Antrag an den Vorsteher EJPD, wonach der Bundesrat über die brisanten Akten in Kenntnis zu setzen sei und zugleich über das Einsichtsgesuch der IAEO um Akteneinsicht entscheiden solle.

Erst dieses Einsichtsbegehren der IAEO bewog den Vorsteher EJPD dazu, den Bundesrat am 1. November 2006 über die Kernwaffenbaupläne im Strafverfahren Tinner zu informieren. Angesichts der Brisanz dieser Information ist es für die GPDel unverständlich, warum der Bundesrat nicht früher darüber in Kenntnis gesetzt wurde.

Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass der Bundesrat bereits an der Sitzung vom 1. November 2006 davon erfuhr, dass die Bundesanwaltschaft dem EJPD zwei Gesuche zur Ermächtigung der Strafverfolgung der Tinners sowie verschiedener Mitarbeiter der amerikanischen Nachrichtendienste wegen politischer Vergehen unterbreitet hatte. Das erste Gesuch betreffend Artikel 271 StGB lag zu diesem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahr zurück und das
zweite Gesuch (Art. 301 StGB) war am 17. Oktober 2006 eingereicht worden. Bis der Vorsteher EJPD die beiden Ermächtigungsgesuche dem Bundesrat am 29. August 2007 zum Entscheid vorlegte, dauerte es noch zehn Monate.

Die Tatsache, dass die Schweiz völkerrechtlich in eine problematische Situation geraten war, kam weder im Antrag des EJPD vom 1. November 2006 noch in der Bundesratssitzung des gleichen Tages zur Sprache. Gemäss den Erkenntnissen der GPDel beschäftigte den Bundesrat erst am 14. November 2007 die zentrale Frage, wie die Schweiz mit der noch nie dagewesenen Situation umzugehen habe, als Nichtkernwaffenstaat plötzlich im Besitze von Kernwaffenbauplänen zu sein.

Mit einer summarischen rechtlichen Beurteilung wurde im Antrag des EJPD vom 12. November 2007 geltend gemacht, dass die Schweiz bereits mit dem blossen Besitz dieser Pläne gegen den NPT verstosse. Demgegenüber beurteilte der Antrag aber nicht die relevante Frage der Verwendung von Kernwaffenbauplänen als 5038

Beweismittel in einem Strafverfahren. Auch erachtete es das EJPD nicht für notwendig, ein Gutachten zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz aufgrund des NPT erstellen zu lassen. Dafür wäre ausreichend Zeit vorhanden gewesen, denn der Entscheid vom 14. November 2007 erfolgte sechzehn Monate nachdem ein Mitglied des Bundesrats erstmals von der Existenz der Kernwaffenbaupläne erfahren hatte. Die GPDel vermag keine objektiven Gründe auszumachen, die dieses lange Zuwarten gerechtfertigt hätten. Alle Informationen und Argumente, die am 14. November 2007 vom Bundesrat für die Vernichtung der Kernwaffenbaupläne herangezogen wurden, waren dem Vorsteher EJPD am 1. November 2006 bereits bekannt. Nach Auffassung der GPDel hätten sie dem Bundesrat auch schon zu diesem Zeitpunkt unterbreitet werden müssen.

Für die GPDel nicht nachvollziehbar ist sodann der Umstand, dass der Bundesrat weder dem federführenden Departement noch dem EDA im Nachgang an die Kenntnisnahme vom 1. November 2006 den Auftrag erteilte, die Situation umfassend zu analysieren und Vorgehensvorschläge zu unterbreiten. Vielmehr war der Bundesrat offenbar damit einverstanden, dass «der Vorsteher des EJPD den Bundesrat situativ über die weitere Entwicklung informieren wird und ihm zu gegebener Zeit das weitere Vorgehen mit Bezug auf die von der Bundesanwaltschaft beschlagnahmten Unterlagen betreffend Atomwaffenprogramm unterbreiten [wird]»44, wie im Antrag des EJPD vom 27. August 2007 zum Ausdruck kommt. Auf Nachfrage der GPDel schien dieses Vorgehen sowohl der Vorsteherin EDA, als auch dem Vorsteher VBS als durchaus angemessen.

Die GPDel gelangt zum Schluss, dass es dem Bundesrat unter den geschilderten Umständen nicht möglich war, seine Verantwortung als oberste leitende Behörde wahrzunehmen und den seit Herbst 2006 bestehenden Handlungsbedarf im weiteren Umgang mit den Kernwaffenbauplänen rechtzeitig zu erkennen. Gegenüber der GPDel machte der Vorsteher EJPD dazu geltend, dass die Behandlung des Geschäfts durch den Bundesrat nicht allein anhand der Informationen über die Arbeit des Kollegiums beurteilt werden könne. Er habe immer wieder mit einzelnen Mitgliedern des Bundesrats und den jeweiligen Bundespräsidenten über den Fall Tinner gesprochen.

Der Bundesrat setzte sich erst unmittelbar vor dem Vernichtungsbeschluss vom
14. November 2007 erstmals mit den rechtlichen Möglichkeiten des Umgangs mit Kernwaffenplänen in einem Strafverfahren näher auseinander. Vorher war ihm nicht bekannt, dass ­ wie im Antrag des EJPD vom 12. November 2007 ausgeführt ­ eine Triage der beschlagnahmten und sichergestellten Unterlagen eine notwendige Voraussetzung gewesen wäre, um die völkerrechtlich problematischen Unterlagen auszusondern. Denn nur eine Triage des vorhandenen Materials hätte es ermöglicht, die Vernichtung auf das absolute Minimum zu beschränken beziehungsweise eine Vernichtung sämtlichen beschlagnahmten Beweismaterials zu vermeiden.

Mit der frühzeitigen Anordnung der Triage hätte der Bundesrat seine Handlungsfreiheit im Hinblick auf den Entscheid vom 14. November 2007 weitgehend wahren können. Der Bundesrat hätte aber die Notwendigkeit einer rechtzeitigen Triage nur dann erkennen können, wenn das EJPD frühzeitig auf den grossen Aufwand hingewiesen hätte, welcher wegen des zusätzlich im Oktober 2006 sichergestellten Materials zu erwarten war.

44

Antrag vom 27.8.2007 des Vorstehers EJPD an den Bundesrat betref. Ermächtigung zur Strafverfolgung, S. 3.

5039

Die Geheimhaltung war für den Bundesrat von grosser Bedeutung. Er bemühte sich systematisch, die Existenz der Kernwaffenbaupläne geheim zu halten, was ihm denn auch über längere Zeit gelang. So stützte er sich am 1. November 2006 bei der geheimen Genehmigung der Akteneinsicht durch die IAEO auf Artikel 184 Absatz 3 BV. Damit waren die Beschuldigten in Ermangelung jeglicher Kenntnis des getroffenen Entscheids nicht in der Lage, ein Rechtsmittel gegen die Abgabe von Kopien einzelner Unterlagen an die IAEO zu ergreifen. Der Bundesrat verhinderte damit, dass bereits im Herbst 2006 die Existenz der brisanten Akten über ein Rekursverfahren der Beschuldigten bekannt werden konnte. Am 29. August 2007 ermächtigte der Bundesrat den Vorsteher EJPD zudem, «die notwendigen Massnahmen zu treffen, damit im hängigen gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren die sicherheits- und staatspolitischen Aspekte geheim bleiben»45.

Ebenfalls unter dem Aspekt der Geheimhaltung ist der Ausschluss der Bundeskanzlerin von der Behandlung des Akteneinsichtsgesuchs der IAEO am 1. November 2006 zu verstehen. Diese Massnahme erachtet die GPDel als rechtswidrig, denn Artikel 18 Absatz 2 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes (RVOG)46 schreibt vor, dass der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin an den Verhandlungen des Bundesrats mit beratender Stimme teilnimmt. Das Gesetz erlaubt einzig den Ausschluss der Vizekanzler oder der Vizekanzlerinnen von der Bundesratssitzung. Die Untersuchung der GPDel hat ergeben, dass der Bundesrat seinen «Irrtum»47 nachträglich erkannt und danach gesetzeskonform gehandelt hat.

Für die GPDel steht fest, dass der Bundesrat mit seinem Entscheid vom 14. November 2007 eine Einstellung des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens in Kauf nahm. Gegenüber den Mitgliedern der Projektorganisation, welche den Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 umsetzen sollte, liess der Vorsteher EJPD offen, ob das Verfahren eingestellt werden sollte. Es sei der Bundesanwaltschaft überlassen, zu entscheiden, ob sie noch in der Lage sei, das Verfahren fortzuführen.

Im Zentrum der Überlegungen, welche den Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 leiteten, standen die Kernwaffenbaupläne. Gemäss der Argumentation des Antrags des EJPD an den Bundesrat vom 12. November 2007 waren es diese Pläne, welche
die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Vernichtungsbeschlusses begründeten. Alles andere Beweismaterial war von der Vernichtung betroffen, nur weil es nicht innert nützlicher Frist von den Kernwaffenplänen getrennt werden konnte. Als der Bundesrat die Zerstörung allen Beweismaterials in seinem Besitz beschloss, musste er sich bewusst sein, dass Kopien vieler dieser Unterlagen weiterhin in der Schweiz und im Ausland vorhanden bleiben würden.

Der Bundesrat wusste auch um gewisse Kopien von minder brisanten technischen Dokumenten in den Aktenbeständen der Gerichte, die sich bereits mit dem Fall befasst hatten. Dieses Wissen hinderte jedoch den Bundesrat nicht daran, die Kopien dieser Dokumente in den Akten des Strafverfahrens aus Gründen der internationalen Sicherheit vernichten zu lassen.

Da der Bundesrat am 14. November 2007 die Vernichtung des gesamten Beweismaterials angeordnet hatte, welches im Rahmen des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen die Tinners beschlagnahmt worden war, wollte die Bundes45 46 47

Antrag vom 27.8.2007 des Vorstehers EJPD an den Bundesrat betref. Ermächtigung zur Strafverfolgung, S. 9.

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21.3.1997 (RVOG; SR 172.010).

Vgl. Brief des Bundesrats an die GPDel vom 21. August 2008, S. 3.

5040

anwaltschaft den Beschluss des Bundesrats nicht hintertreiben, indem sie im Rahmen ihrer weiteren Ermittlungstätigkeit dieses Material via Rechtshilfe wieder zu beschaffen versuchte. Der Beschluss des Bundesrats machte jedoch keine Auflagen in Bezug auf die Voruntersuchung des Eidgenössischen Untersuchungsrichters, welche erst am 7. Februar 2008 eröffnet wurde.

Als der Eidgenössische Untersuchungsrichter die Mitarbeit der BKP suchte, um u.a.

Beweismaterial wieder zu beschaffen, verbot der Direktor fedpol am 11. Juli 2008 der BKP jegliche Unterstützung des URA im Fall Tinner. Die Vorsteherin EJPD war mit diesem Entscheid des Direktors fedpol einverstanden, ebenso der Bundesrat, der am 27. August 2008 von ihr mündlich unterrichtet wurde.

Die GPDel stellt fest, dass gemäss dem BStP die gerichtliche Polizei unter der Leitung des Bundesanwalts steht. Praxisgemäss ist auch die Zusammenarbeitspflicht der gerichtlichen Polizei mit dem Eidgenössischen URA unbestritten, obwohl sie positivrechtlich nicht verankert ist.48 Das vom Direktor fedpol der BKP erteilte Verbot, für den zuständigen Untersuchungsrichter zu arbeiten, ist unter rechtlichen Gesichtspunkten bedenklich. Eine solche, die Gewaltenteilung verletzende Massnahme, müsste vom Bundesrat auf Antrag hin gestützt auf die Bundesverfassung ausdrücklich beschlossen werden.

In dem von der GPDel verlangten Kurzgutachten des BJ vom 12. September 2008 zum Verbot des Direktors fedpol wird argumentiert, dass in diesem Fall, «die Verweigerung der Unterstützung [der BKP] ihre rechtliche Grundlage im Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 hat, welcher sich wiederum direkt auf Artikel 184 Absatz 3 sowie 185 Absatz 3 der Bundesverfassung stützt»49. Weiter führt das Gutachten aus: «Der Beschluss des Bundesrats, das die Sicherheit gefährdende Material zu vernichten, [impliziert] auch ein Verbot, dieses Material wieder herzustellen oder zu beschaffen. Eine andere Auslegung des Bundesratsbeschlusses widerspräche jeglicher Logik und liefe auf eine klare Umgehung des getroffenen Entscheides hinaus».50 Diese Argumentation basiert letztlich allein auf der Gefährlichkeit der Kernwaffenbaupläne im Strafverfahren Tinner. Die GPDel vermag aber nicht zu sehen, warum diese Überlegungen auch für anderes Material wie Bankunterlagen, Frachtpapiere oder Reiseunterlagen gelten
sollen, insbesondere angesichts der daraus folgenden Konsequenzen für die Unabhängigkeit der Justiz. Die Notwendigkeit, solches Material zu vernichten, war im Antrag des EJPD vom 12. November 2007 allein mit den Schwierigkeiten einer Triage begründet worden. Für die GPDel ist es deshalb nicht nachvollziehbar, warum der Bundesrat das URA daran hindern sollte, Beweismittel, sofern es keine Pläne zum Bau von Kernwaffen sind, für das Verfahren wieder zu beschaffen.

Die GPDel stellt fest, dass der Bundesrat am 14. November 2007 wie bei seinen früheren Beschlüssen zum Fall Tinner wiederum einen Einzelentscheid ohne Gesamtstrategie gefällt hat. Zu diesem Zeitpunkt wollte der Bundesrat offensichtlich nicht die Verantwortung dafür übernehmen, der Bundesanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens anzuordnen. Nachdem die Bundesanwaltschaft das Verfahren an das URA weiterleitete und der Eidgenössische Untersuchungsrichter die Unterstützung 48 49 50

Vgl. Kurzgutachten des BJ vom 12.9.2008, S. 2.

Vgl. Kurzgutachten des BJ vom 12.9.2008, S. 2.

Vgl. Kurzgutachten des BJ vom 12.9.2008, S. 2.

5041

der BKP verlangte, zeigte sich jedoch, dass der Bundesrat die Tragweite seines Beschlusses vom 14. November 2007 nicht zu Ende gedacht hatte. Deshalb genügt in den Augen der GPDel der Verweis auf den Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 nicht als rechtliche Grundlage, um der BKP die Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Untersuchungsrichter zu verbieten.

6.2

Verfahren und Abläufe auf Stufe Verwaltung

Die GPDel hält es für richtig, dass der Vorsteher EJPD relativ schnell im Herbst 2006 eine interdepartementale Organisation auf Stufe Verwaltung einsetzte, um seine Geschäftsführung im Fall Tinner zu unterstützen. Aus Sicht der GPDel hätte der Vorsteher EJPD jedoch die Task Force auch dafür verwenden müssen, um eine langfristige Strategie für die Entscheide des Bundesrats im Fall Tinner zu erarbeiten.

Demgegenüber wurde die Task Force jedoch vor allem dafür eingesetzt, unter sich fortlaufend ändernden Rahmenbedingungen dem Vorsteher EJPD bei der Lösung auftretender Probleme ad hoc an die Hand zu gehen. Die Aufgaben und Kompetenzen der Task Force wurden auch vom Vorsteher EJPD nie schriftlich festgelegt.

Der Vorsteher EJPD zog überdies die Task Force nicht in alle Aspekte des Falles Tinner ein. Die beiden Ermächtigungsgesuche der Bundesanwaltschaft und die Vorbereitung des Bundesratsbeschlusses vom 29. August 2007 betreute das Generalsekretariat EJPD allein. Der Beschluss zur Aktenvernichtung erfolgte ohne Konsultation der Task Force. Die Mitglieder der Task Force waren auch nicht gleichermassen informiert über die Kontakte des Vorstehers EJPD mit den amerikanischen Behörden oder über seine diesbezüglichen Absichten.

Die GPDel ist der Auffassung, dass angesichts der Bedeutung des Falles Tinner der Bundesrat sich zur Bewältigung der ausserordentlichen Herausforderungen die notwendigen Instrumente hätte geben müssen. Es war nicht angebracht, dass die Task Force nur punktuell zur Lösung anfallender Probleme eingesetzt wurde. Die Task Force hätte einen klaren Auftrag zur Unterstützung der Führung des Bundesrats erhalten sollen. Dazu hätte die Task Force über die notwendigen Kompetenzen, Ressourcen und insbesondere über alle relevanten Informationen verfügen müssen.

Ferner hätte das umfangreiche Hintergrundwissen des SND zum Khan-Netzwerk und zur Kernwaffenproliferation auf geeignete Art und Weise der Task Force zur Verfügung stehen müssen.

Teil der Informationsschutzstrategie des EJPD im Fall Tinner war es, das Erstellen schriftlicher Unterlagen zu vermeiden und keine Sitzungsprotokolle zu verfassen.

Da verschiedene Anträge der Task Force an den Vorsteher EJPD nicht mehr auffindbar sind, muss davon ausgegangen werden, dass Unterlagen nach Erfüllung ihres unmittelbaren Zwecks vollständig vernichtet
worden sind. Die GPDel stellt zudem fest, dass die gezielte Strategie des EJPD, Schriftlichkeit zu vermeiden, ihre nachträgliche Oberaufsicht erschwert hat.

Das Fehlen schriftlicher Unterlagen verunmöglichte zudem eine systematische Arbeit der Task Force. Da die Task Force oft nicht in voller Besetzung tagte, war es für ihre Mitglieder ohne schriftliche Dokumentation schwierig, einen aktuellen Überblick über den Stand des Geschäfts zu behalten. Die zwischendurch erstellten Aktennotizen waren nur für den Leiter der Task Force bestimmt, um diesem die Antragstellung an den Vorsteher EJPD zu erleichtern. Aus Sicht der GPDel wäre für 5042

das langfristige Funktionieren einer solchen Task Force eine minimale ständige Infrastruktur unabdingbar gewesen.

Zur Tätigkeit der Projektorganisation, die vom Bundesrat am 14. November 2007 beschlossen und vom EJPD zur Vernichtung der Akten eingesetzt wurde, fand die GPDel relativ umfassende Unterlagen. In dieser letzten Phase verfügte die verantwortliche Projektorganisation auch über die notwendigen Kompetenzen und Kapazitäten für die Erfüllung dieses Auftrags. Offenbar war der Aktenvernichtungsprozess besser organisiert als die Vorbereitung der Bundesratsentscheide, die zur Aktenvernichtung führten.

6.3

Die völkerrechtliche Problematik

Die Schweiz hat am 9. März 1977 den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) ratifiziert. Das Abkommen verpflichtet alle Nichtkernwaffenstaaten in Artikel 2 dazu, Kernwaffen weder herzustellen noch sonst wie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen zu suchen oder anzunehmen.

Der NPT und insbesondere der erwähnte Artikel 2 haben zum Ziel, jegliche Handlung, welche den Erwerb von Kernwaffen bezweckt, zu verbieten.

In seiner Botschaft vom 30. Oktober 1974 zum NPT ging der Bundesrat von einem weitgehenden Recht der Schweiz aus, Wissen über die Funktionsweise von Kernwaffen besitzen zu dürfen. Im Bereich der nuklearen Waffen, so die Botschaft, lasse Artikel 2 NPT die Möglichkeit von eigenen theoretischen Studien und Forschungen offen. Gemäss Botschaft widerspricht auch Artikel 4 NPT betreffend die friedliche Nutzung der Kernenergie der Auslegung nicht, «wonach auch unterzeichnende Nichtkernwaffenstaaten weiterhin das Recht haben, theoretische Studien und Forschungen auf dem Gebiet der Kernwaffen zu betreiben»51.

Die GPDel geht davon aus, dass der Übergang zwischen einer Studie über die Konstruktionsprinzipien einer Kernwaffe und der eigentlichen Anleitung zum Bau dazu fliessend ist. Die Pläne für Kernwaffenkomponenten und Anleitungen zum Kernwaffenbau (Kochrezepte)52, welche sich in den Akten des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens befunden haben, dürften jedoch auch Informationen enthalten haben, die über das Gebiet der theoretischen Studien hinausgehen.

Gemäss einem Gutachten, welches die GPDel beim Bundesrat zu verschiedenen Fragen über den NPT in Auftrag gegeben hat, «sind Baupläne von Kernwaffen als Unterstützung im Sinne von Artikel 2 NPT zu betrachten, wenn sie von einem Staat in der (versteckten) Absicht, Kernwaffen zu entwickeln, erworben wurden»53. Das Gutachten weist darauf hin, dass bei der Beurteilung der Rechtmässigkeit der Annahme oder des Erwerbs von Kernwaffenbauplänen durch einen Staat «immer auch das Ziel und die Verwendung berücksichtigt werden müssen»54. Der Erwerb von solchen Plänen im Rahmen eines Kernwaffenprogramms wäre der Schweiz 51 52 53 54

Botschaft des Bundesrats vom 30.10.1974 an die Bundesversammlung betreffend den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (BBl 1974 II 1032).

Eine Aktennotiz der IAEO vom 16.1.2008 über ihrer Sichtung der Akten am 4.­5.12.2007 spricht von «drawings of weapons components and ».

Pflichten der Schweiz im Rahmen des NPT, Schreiben des Bundesrats an die GPDel vom 25.6.2008, S. 2.

Pflichten der Schweiz im Rahmen des NPT, Schreiben des Bundesrats an die GPDel vom 25.6.2008, S. 2.

5043

deshalb eindeutig untersagt. Die GPDel stellt aber auch fest, dass sich der NPT darüber ausschweigt, ob der Besitz von Kernwaffenbauplänen mit einer anderen Absicht als zum Bau einer Kernwaffe erlaubt ist.

Im vorliegenden Fall ist es offensichtlich, dass eine Beschlagnahmung von Kernwaffenbauplänen im Rahmen eines Strafverfahrens nicht mit dem Erwerb von Kernwaffenbauplänen durch die Eidgenossenschaft zwecks Aufbaus einer militärischen Nuklearkapazität gleichgesetzt werden kann. Der einzige Grund, warum sich Kernwaffenbaupläne in den Akten der Strafbehörden befanden, war die Durchführung des Strafverfahrens.

Die Beschlagnahmung ist eine notwendige Massnahme, um einem Beschuldigten einen allfälligen Verstoss gegen das Kriegsmaterialgesetz nachweisen zu können.

Artikel 7 Absatz 1 KMG verbietet unter anderem, Kernwaffen zu entwickeln, zu erwerben, anderweitig über sie zu verfügen oder eine solche Handlung zu fördern.

Die Schweiz ist zudem auch an die Resolution 1540 des UNO-Sicherheitsrats vom 24. April 2004 gebunden. Diese verlangt, dass alle Staaten wirksame Rechtsvorschriften erlassen und anwenden, welche es nichtstaatlichen Akteuren untersagen, nukleare, chemische oder biologische Waffen zu besitzen, zu erwerben und zu entwickeln sowie es ihnen verbieten, sich an solchen Aktivitäten zu beteiligen oder sie zu unterstützen. Diese Resolution war nicht zuletzt als Reaktion auf die im Jahr 2004 bekannt gewordenen Aktivitäten des Khan-Netzwerks beschlossen worden.

Zusammenfassend stellt die GPDel fest, dass der NPT die Verwendung von Kernwaffenbauplänen zum ausschliesslichen Zweck der Beweisführung in einem Strafverfahren nicht verbietet. Ein solches Verbot würde insbesondere die innerstaatliche Durchsetzung des Ziels des NPT, nämlich die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen, verunmöglichen. Der NPT und die damit verbundenen Abkommen mit der IAEO über Sicherungsmassnahmen55 schreiben der Schweiz auch nicht den Umgang mit Kernwaffenbauplänen vor, welche im Laufe eines Strafverfahrens beschlagnahmt werden. Die GPDel stellt aber auch fest, dass der Besitz von Kernwaffenbauplänen nicht durch die vom NPT garantierte friedliche Nutzung der Kernenergie abgedeckt ist. Die GPDel kommt deshalb zum Schluss, dass der NPT der Schweiz den Besitz von Kernwaffenbauplänen auf die Dauer nicht gestattet.

Die GPDel
geht aber auch davon aus, dass der NPT der Schweiz einen beschränkten Spielraum einräumt, Kernwaffenbaupläne als Beweismittel in einem Schweizer Strafverfahren zu verwenden. In einem solchen Fall muss die internationale Gemeinschaft die Gewähr haben, dass diese Kernwaffenbaupläne nicht zu einem verbotenen Zweck missbraucht werden können. Aus diesem Grund ist die IAEO unverzüglich über die Existenz der entsprechenden Informationen zu benachrichtigen, und es liegt an ihr, die notwendigen Sicherungsmassnahmen zu treffen. Die Dauer der Aufbewahrung in der Schweiz ist allerdings auf das absolute Minimum zu beschränken, welche mit einer wirksamen Strafverfolgung gerechtfertigt werden kann.

55

Abkommen vom 6.9.1978 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der IAEO über die Anwendung von Sicherungsmassnahmen im Rahmen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (SR 0.515.031) sowie Zusatzprotokoll vom 16.6.2000 zum Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der IAEO über die Anwendung von Sicherungsmassnahmen im Rahmen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (SR 0.515.031.1).

5044

Gemäss NPT wäre es der Schweiz auch gestattet, die Kernwaffenbaupläne einem der fünf Nuklearmächte für die Dauer des Verfahrens zu übergeben und mit dem betreffenden Staat einen Zugang für die Bedürfnisse der Strafverfolgung auszuhandeln. Die USA hatten der Schweiz im November 2006 ein solches Angebot gemacht. Im Falle einer Zusage hätte die Schweiz sogar die Möglichkeit gehabt, von der IAEO die Übergabe und Aufbewahrung derartiger Akten überwachen zu lassen.

Für die endgültige Entledigung der Kernwaffenbaupläne bietet der NPT der Schweiz grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Die Schweiz könnte die Unterlagen unter Aufsicht der IAEO vernichten oder sie einem zum Besitz von Kernwaffen berechtigten Staat überlassen. Den letzteren Weg beschritt Libyen im Januar 2004 als es einwilligte, die vom Khan-Netzwerk erhaltenen Kernwaffenbaupläne an die USA zu übergeben. Die IAEO versiegelte die Dokumente und erhielt die Zusicherung der USA, für die weitere Untersuchung des Khan-Netzwerks darauf zugreifen zu können. Die USA und Grossbritannien hatten mit Libyen Ende 2003 nach jahrelangen Verhandlungen die Beendigung des libyschen Kernwaffenprogramms vereinbart.

Die besondere Rolle dieser beiden Staaten wurde durch den IAEO-Gouverneursrat56 sowie in einer Erklärung des Präsidenten des UN-Sicherheitsrats vom 23. Dezember 2003 anerkannt.

In Bezug auf die technischen Unterlagen zur Urananreicherung im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren gegen die Tinners ist die völkerrechtliche Lage ohne weitere Erwägungen klar. Der NPT legt der Schweiz keine Restriktionen auf in Bezug auf den Besitz von Technologie zur Urananreicherung. Die Schweiz dürfte demnach auch eine Urananreicherungsanlage bauen und betreiben, wie es beispielsweise Brasilien, Japan oder es gemeinsam die Niederlande, Deutschland und Grossbritannien tun. Die Anlagen müssen aber den Kontrollen der IAEO zugänglich gemacht werden, um sicherzustellen, dass das angereicherte Uran an der Quelle erfasst wird und über das Kontrollsystem der IAEO eine Verwendung für Kernwaffen verhindert werden kann. Das Recht auf Zugang zu sämtlicher zivil verwendbarer Nukleartechnik ist ein Anliegen, dem in der Botschaft des Bundesrats vom 30. Oktober 1974 grosse Bedeutung zugemessen wurde. Die Botschaft nennt sogar die Gaszentrifugentechnik als eine der Technologien, welche die Schweiz auch aus dem Ausland beziehen dürfte, solange deren zweckmässige Verwendung von der IAEO überwacht werden könnte.

6.4

Entnahme von Beweismitteln während und nach Abschluss eines Strafverfahrens

Gemäss Artikel 69 StGB verfügt das zuständige Gericht ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person die Einziehung von Gegenständen, die zur Begehung einer Straftat gedient haben, wenn diese Gegenstände beispielsweise die Sicherheit von Menschen oder die öffentliche Ordnung gefährden. Das Gericht kann auch anordnen, dass die eingezogenen Gegenstände unbrauchbar gemacht oder vernichtet werden (Abs. 2). Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass das zustän56

Die Resolution des IAEO-Gouverneursrats vom 10.3.2004 begrüsst zustimmend in Bst. i der Präambel «die vom Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika auf Begehren der Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Dschamahirija geleistete Arbeit, um waffenrelevantes Material, Ausrüstung und Programme zu eliminieren oder zu demontieren».

5045

dige Gericht entweder die Vernichtung der Kernwaffenbaupläne oder deren Übergabe an einen berechtigten Staat zur Aufbewahrung oder Vernichtung beschliessen könnte.

Während eines laufenden Ermittlungsverfahrens bestehen hingegen nur beschränkte Möglichkeiten, Beweismittel aus den Strafakten der Strafverfolgungsbehörden zu entfernen. Dazu verfasste das BJ am 2. Oktober 2006 ein Gutachten, das entsprechende Möglichkeiten geprüft hatte.

Gemäss dem erwähnten Gutachten liegt es im Ermessen der Bundesanwaltschaft, darüber zu entscheiden, welche Beweismittel sie im gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren verwenden will. So kann sie im Einvernehmen mit den Beschuldigten Dokumente aus den Akten entfernen. Bei einer Entfernung von Dokumenten ohne Zustimmung der Beschuldigten müssen diese darüber informiert werden und sie können dagegen Beschwerde beim Bundesstrafgericht führen.

Das BJ prüfte auch die Frage, ob der Bundesrat die Möglichkeit hat, eine Entnahme von Beweismitteln aus einem laufenden Verfahren zu veranlassen. Die administrative Aufsicht, welche vom Bundesrat bzw. stellvertretend für ihn vom EJPD wahrgenommen wird, erlaubt ihm nicht, in einem konkreten Fall auf Einleitung, Durchführung oder Abschluss eines Strafverfahrens einzuwirken. Obwohl die Bundesanwaltschaft institutionell betrachtet der Exekutive zuzuordnen ist, «könnte ein solches Einwirken die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellen»57.

Das Gutachten des BJ kommt zum Schluss, dass der Bundesrat gestützt auf Artikel 184 oder 185 BV ausnahmsweise in die Unabhängigkeit der Justiz eingreifen kann.

Artikel 185 Absatz 3 BV erlaubt es dem Bundesrat, zur Wahrung der inneren oder äusseren Sicherheit Massnahmen zu treffen, für welche die im Normalfall gebotenen Rechtsgrundlagen fehlen (praeter legem). Das BJ ist zusammen mit einem Teil der Lehre der Ansicht, dass Artikel 185 Absatz 3 BV dem Bundesrat auch das Ergreifen von Massnahmen im Widerspruch zu geltendem Recht (contra legem) erlaubt.58 Unbestritten ist gemäss dem Gutachten, dass von der Ausnahmemöglichkeit nach Artikel 185 Absatz 3 BV «nur sehr restriktiv und unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Bedingungen und Voraussetzungen Gebrauch gemacht werden darf»59.

Die Massnahmen, die auf diese Bestimmung abgestützt werden, müssen deshalb notwendig, zeitlich
dringlich, durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertig und verhältnismässig sein. Es muss eine schwere Störung der öffentlichen Ordnung, welcher auf dem Weg der ordentlichen oder dringlichen Rechtsetzung nicht oder nicht rechtzeitig begegnet werden kann, entweder bereits eingetreten sein oder aber unmittelbar bevorstehen. Beispiele für solche ausserordentliche innen- oder aussenpolitische Lagen sind schwere Unruhen, eine militärische Bedrohung, Naturkatastrophen oder Epidemien.

Gemäss dem Gutachten des BJ gehen die auf Artikel 184 Absatz 3 BV beruhenden Kompetenzen weiter als diejenigen gestützt auf Artikel 185 Absatz 3 BV. Der aussenpolitische Zweck von Artikel 184 Absatz 3 BV, welchen die vom Bundesrat zu treffenden Massnahmen verfolgen können, ist weniger eng und präzise umschrieben 57 58 59

Gutachten des BJ vom 2.10.2006, S. 3.

Vgl. Urs Saxer, St. Galler Kommentar zur Bundesverfassung, 2. Aufl. Zürich 2008, S. 2722; Daniel Thürer, ebenda, S. 2704.

Gutachten des BJ vom 2.10.2006, S. 4.

5046

als die Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit, wie sie Artikel 185 Absatz 3 BV voraussetzt. Die Massnahmen müssen aber auf jeden Fall notwendig, durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein.

6.5

Verhältnismässigkeit des Beschlusses des Bundesrats vom 14. November 2007

Das Gutachten des BJ vom 2. Oktober 2006 legt dar, dass dem Bundesrat im Normalfall die gebotenen Rechtsgrundlagen fehlen, um Beweismaterial aus einem laufenden gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren entfernen zu lassen. Für seinen Beschluss vom 14. November 2007, alles beschlagnahmte Beweismaterial aus dem Verfahren Tinner zu zerstören, musste sich der Bundesrat deshalb direkt auf die Bundesverfassung stützen.

Der Bundesratsbeschluss verweist auf den Antrag des EJPD vom 12. November 2007, der als Rechtsgrundlage Artikel 184 Absatz 3 BV und Artikel 185 Absatz 3 BV nennt. Diese beiden Bestimmungen haben folgenden Inhalt: Art. 184 Abs. 3 BV (Beziehungen zum Ausland): Wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert, kann der Bundesrat Verordnungen und Verfügungen erlassen. Verordnungen sind zu befristen.

Art. 185 Abs. 3 BV (Äussere und innere Sicherheit): [Der Bundesrat] kann, unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu befristen.

Stützt sich der Bundesrat für eine Massnahme direkt auf die Verfassung, so muss diese Massnahme einem überwiegenden öffentlichen Interesse dienen und in Bezug auf das angestrebte Ziel verhältnismässig sein. Zudem muss die Massnahme geeignet und, mangels milderer Alternative, notwendig sein. Sie muss überdies auch dringlich sein.

Diese Voraussetzungen gelten ebenfalls für Artikel 184 Absatz 3 BV, der bezüglich des Zwecks der Massnahme weitergehende Kompetenzen begründet als Artikel 185 Absatz 3 BV.

In der Protokollnotiz zur Beratung des Bundesratsbeschlusses vom 14. November 2007 finden sich keine Hinweise auf eine Bewertung und Abwägung der öffentlichen Interessen, welche mit der Aktenvernichtung geschützt oder deswegen in Mitleidenschaft gezogen würden.

Der Antrag des EJPD vom 12. November 2007 führt folgende Interessen auf: -

Erstens müsse die Schweiz verhindern, dass die Kernwaffenbaupläne in die falschen Hände geraten würden, denn diese Informationen würden einer terroristischen Organisation oder einem Staat mit Kenwaffenambitionen den Bau einer Atombombe wesentlich erleichtern.

-

Zweitens stehe die Schweiz wegen der damit verbundenen Gefahr unter amerikanischem Druck, die Unterlagen zu vernichten oder in die Obhut der USA zu übergeben.

5047

-

Drittens verletze der blosse Besitz dieser Informationen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Da Artikel 2 NPT jegliche Suche oder Annahme von Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen verbiete, gelte dies auch für den Besitz von Anleitungen zum Bau von Kernwaffen, wie sie bei den Tinners beschlagnahmt worden seien.

-

Viertens bestehe ein Interesse an der Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, das gegenüber den anderen Interessen abzuwägen sei.

Die GPDel hat ihrerseits den Entscheid des Bundesrats daraufhin untersucht, ob die vom EJPD geltend gemachten ersten drei Interessen die Kriterien der Notwendigkeit und Dringlichkeit zu erfüllen vermögen. Wo die vom Bundesrat angeführten Interessen diesen Kriterien genügen, müssen diese überdies nachvollziehbar gegen das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung abgewogen werden. Dabei muss diese Güterabwägung die vom Bundesrat beschlossene Aktenvernichtung als verhältnismässig erscheinen lassen.

6.5.1

NPT und Sicherheitsrisiken als Grund für die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Aktenvernichtung

Die Vernichtung der Kernwaffenbaupläne ist grundsätzlich geeignet, um das Proliferationsrisiko, welches von diesen Informationen ausgeht, zu beseitigen. Was die rechtlichen Pflichten der Schweiz aus dem NPT betrifft, so ist die GPDel zum Schluss gelangt, dass die Schweiz nicht berechtigt ist, Kernwaffenbaupläne, wie sie im Rahmen des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen die Tinners in die Obhut der Bundesbehörden gelangt sind, auf Dauer zu besitzen.

Die GPDel ist aber auch der Ansicht, dass der NPT der Schweiz einen ausreichenden Spielraum gewährt, um die Pläne für die Zeit der Strafverfolgung in ihrer Verfügungsgewalt zu behalten. Diese Annahme gilt zumindest, solange das Verfahren nicht unnötig verzögert wird. Zum Zeitpunkt des Beschlusses des Bundesrats war gemäss den Abklärungen der GPDel absehbar, dass das Ermittlungsverfahren bis Ende 2007 hätte abgeschlossen werden können. Die GPDel kommt deshalb zum Schluss, dass im besagten Zeitpunkt unter den gegebenen Umständen die Vernichtung der Kernwaffenbaupläne aufgrund der bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz nicht erforderlich war.

Aus Sicht der GPDel hätte der Bundesrat auch Schwierigkeiten, die Dringlichkeit der Vernichtung der Akten aus völkerrechtlichen Gründen zu rechtfertigen. Als sich der Bundesrat am 1. November 2006 erstmals mit der Existenz von Kernwaffenbauplänen im Fall Tinner befasste, besass er bereits die gleichen Informationen wie am 14. November 2007, um sich der völkerrechtliche Problematik bewusst zu werden, welche mit diesen Plänen verbunden war. Mit den diesbezüglichen rechtlichen Konsequenzen setzte sich der Bundesrat aber erst bei der Begründung seines Beschlusses vom 14. November 2007 auseinander.

Die GPDel ist weiter der Frage nachgegangen, ob die IAEO gegenüber den Schweizer Behörden auf eine Vernichtung der Kernwaffenbaupläne gedrängt hatte. Im Schriftverkehr mit der IAEO finden sich keine Anhaltspunkte dafür, und die Frage wurde von allen dazu angehörten Personen verneint.

5048

Im Antrag des EJPD vom 12. November 2007 wird «die Gefahr für die Sicherheit der Weltgemeinschaft, welche von der blossen Existenz der Daten ausgeht»60, als wichtigster Grund für die Vernichtung der Unterlagen vorgebracht. Die GPDel hat deshalb auch die Frage untersucht, ob die Vernichtungsmassnahme nicht nur eine geeignete, sondern auch eine erforderliche Massnahme gewesen sei, um die Kernwaffenpläne vor unbefugtem Zugriff zu schützen.

Im Herbst 2006 veranlasste die Task Force, dass die Sicherheitsmassnahmen für die Aufbewahrung der Unterlagen aus dem gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren gegen die Tinners verbessert wurden. Die Akten wurden örtlich konzentriert, und den Zugang zu ihnen konnten nur zwei Personen mit separaten Zutrittsberechtigungen gewähren. Die GPDel fand keine Anhaltspunkte dafür, dass nach der Anordnung dieser Massnahmen die Strafverfolgungsbehörden bis im Herbst 2007 die Sicherheit als unzureichend erachtet hätten. Die von der GPDel angehörten Personen, welche direkt mit dem sensiblen Material arbeiteten, betrachteten die Sicherheit als gewährleistet.

Die Direktoren BJ und fedpol hatten im September 2007 den Aufbewahrungsort der Akten und die Schutzmassnahmen inspiziert. Der Augenschein habe sie gemäss Direktor BJ zur Beurteilung veranlasst, dass die Unterlagen zumindest längerfristig dort nicht wirklich sicher aufbewahrt seien. Es wurde aber auch nicht bestritten, dass die Sicherheitsmassnahmen bei Bedarf weiter verschärft werden könnten.

Aus Sicht der GPDel hätte eine Erschwerung der Arbeit für die mit dem Verfahren betrauten Angestellten des Bundes allenfalls in Kauf genommen werden müssen.

Mit der Möglichkeit der weiteren Verschärfung der Schutzmassnahmen bestand eine reale Alternative zur Vernichtung der brisanten Akten. Grundsätzlich geht die GPDel davon aus, dass die Schweiz als souveräner Staat in der Lage sein muss, sensitive Informationen ausreichend zu schützen. Dies gilt für die Informationen der Nachrichtendienste und der Strafverfolgungsbehörden, aber auch für anderes schützenswertes Material.

Im Antrag vom 12. November 2007 machte das EJPD geltend, dass mit einem andauernden Verbleib der Akten «sowohl die Schweiz als auch einzelne Personen weiterhin einem beträchtlichen Erpressungsrisiko ausgesetzt [bleiben]»61. Auf Nachfrage der GPDel präzisierte der
Bundesrat, dass «das Erpressungsrisiko sich weniger auf die Schweiz als Staat [bezog], sondern vielmehr auf einzelne oder mehrere Mitarbeitende des Bundesamtes für Polizei oder der Bundesanwaltschaft, welche Zugang zum Aktenmaterial hatten»62.

Die GPDel hat sich deshalb danach erkundigt, ob konkrete Hinweise für ein Interesse unbefugter Personen an den Verfahrensakten Anlass zu einer Neubeurteilung der Schutzmassnahmen gegeben hätten. Es wurden keine entsprechenden Hinweise oder Versuche festgestellt, die konkret auf ein Interesse Dritter an den brisanten Akten hingewiesen hätten. Es gab allerdings Vorfälle, bei denen Mitarbeiter des Bundes, die mit dem Fall Tinner betraut waren, von unbekannten Personen auf der Strasse angesprochen wurden oder anonyme Telefonanrufe erhalten hatten. Diese Vorfälle konnten jedoch nie in eine konkrete Beziehung zu den brisanten Akten 60 61 62

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD an den Bundesrat betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T., S. 3.

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T., S. 3.

Brief des Bundesrats an die GPDel vom 21. August 2008, S. 1.

5049

gebracht werden. Auch ereignete sich keines dieser Vorkommnisse nach dem Jahr 2006.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geheimhaltung verletzt würde oder Unbefugte versucht sein könnten, an die proliferationssensitiven Unterlagen zu gelangen, nimmt zweifellos mit fortschreitendem Zeitverlauf zu. Eine Verstärkung der Sicherheitsmassnahmen hätte jedoch nach Ansicht der GPDel gereicht, um dieser Entwicklung zu begegnen.

Wenn die GPDel davon ausgeht, dass im November 2007 aus Gründen des Völkerrechts und der Sicherheit die Erforderlichkeit und Dringlichkeit der Vernichtung der eigentlichen Kernwaffenbaupläne nicht gegeben waren, so gilt die gleiche Schlussfolgerung für das restliche Material, welches im Rahmen des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen die Tinners beschlagnahmt worden war.

Zudem halten aus Sicht der GPDel die im Antrag des EJPD vorgebrachten Gründe für die integrale Vernichtung allen Beweismaterials einer genaueren Überprüfung nicht stand. Die Notwendigkeit der integralen Vernichtung wurde mit dem grossen Aufwand begründet, welcher mit der Triage der Kernwaffenbaupläne von den restlichen Beweismitteln verbunden gewesen wäre. Die vollständige Sichtung und Triage aller Unterlagen wäre zweifellos ein aufwändiges Unterfangen gewesen. Eine rudimentäre Hochrechnung der BKP kam auf einen Aufwand im Umfang etlicher Mannjahre. Hätte der Bundesrat bereits Ende 2006 eine Triage angeordnet, wäre das Problem nach Ansicht der GPDel jedoch zu lösen gewesen.

Der Antrag des EJPD sprach sich auch gegen die Durchführung einer Triage aus, weil dafür zusätzliches Personal hätte beigezogen werden müssen. Es trifft zu, dass eine Triage auch zusätzlichen Sicherheitsaufwand verursacht hätte. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass das Material während dem Triagevorgang nicht hätte gesichert werden können.

Der Antrag des EJPD wollte auch nicht ausschliessen, dass bei einer einwandfreien Auswertung und Triage in den restlichen Verfahrensakten nicht doch für den Bau einer Kernwaffe relevante Informationen hätten übersehen werden können. Dieses theoretische Problem konnte jedoch wohl kaum ausschlaggebend gewesen sein, wenn die Strafverfolgungsbehörden keinesfalls garantieren konnten, bei den Tinners überhaupt alle Kopien der Pläne sichergestellt zu haben. Überdies hätte mit dem Einzug und der Vernichtung
aller Unterlagen nach einem rechtsgültigen Gerichtsurteil das Problem allfälliger übersehener Unterlagen abschliessend gelöst werden können.

Für die GPDel vermögen die vom EJPD angeführten Sicherheitsrisiken die Erforderlichkeit und Dringlichkeit einer teilweisen oder integralen Vernichtung allen Beweismaterials im Fall Tinner nicht zu rechtfertigen. Die Delegation hält deshalb die Abstützung des Bundesratsbeschlusses vom 14. November 2007 auf Artikel 185 Absatz 3 BV für nicht nachvollziehbar.

6.5.2

Aussenpolitische Argumente für die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Aktenvernichtung

Die Überlegungen der GPDel zeigen, dass weder das Völkerrecht noch der Schutz der proliferationsrelevanten Unterlagen die Dringlichkeit und Notwendigkeit des Bundesratsbeschlusses vom 14. November 2007 zu begründen vermögen. Folglich 5050

sind die Gründe für den Entscheid des Bundesrats, alles beschlagnahmte Beweismaterial zu vernichten, im Bereich der aussenpolitischen Interessen zu suchen. Als Rechtsgrundlage für den Entscheid des Bundesrats wäre in diesem Fall vor allem Artikel 184 Absatz 3 BV heranzuziehen, da der Sachverhalt eine Abstützung auf Artikel 185 Absatz 3 BV kaum rechtfertigt.

Die Bedeutung der aussenpolitischen Interessen wird bereits sichtbar, wenn der Antrag des EJPD vom 1. November 2006 darauf hinweist, dass «die amerikanische Regierung ihrem Begehren eine grosse Bedeutung [zumisst] und einen entsprechenden politischen Druck [erzeugt]»63. Der amerikanische Justizminister habe im Auftrag seines Präsidenten in der Vergangenheit mehrmals Kontakt mit dem Chef EJPD aufgenommen, um die Anliegen der amerikanischen Regierung zu unterstreichen.

Gemäss Antrag des EJPD vom 12. November 2007 «drängen insbesondere die USA auf die Übergabe der Daten an sie selber oder aber auf die vollständige Vernichtung der brisanten Informationen»64. Damit würden die USA sicherstellen wollen, dass die Informationen nicht in die Hände einer terroristischen Organisation oder einer Nichtatommacht fallen würden. Gemäss dem Wortlaut der Medieninformation des Bundespräsidenten vom 23. Mai 2008 hat der Bundesrat diese Sicherheitsargumente übernommen.

Nachdem der Vorsteher EJPD im Juli 2006 von der Existenz der Kernwaffenbaupläne in der Schweiz erfahren hatte, dauerte es drei Monate, bis die Sicherheit der Unterlagen verstärkt wurde. Als sich der Bundesrat am 1. November erstmals mit den brisanten Akten befasste, stellte der Antrag des EJPD keine Sicherheitsprobleme fest. Bis zum Bundesratsbeschluss vom 14. November 2007 mussten die USA sechzehn Monate lang Druck auf die Schweiz ausüben, bis der Bundesrat aufgrund der Sicherheitsfrage einen Handlungsbedarf sah. Indem der Bundesrat die Risikobeurteilung der USA zu seiner eigenen machte, handelte er zwar formell aus eigenem Antrieb und mit dem Ziel, eine Gefahr für die Sicherheit der Weltgemeinschaft abzuwenden. Der Verdacht lässt sich aber nicht von der Hand weisen, dass im Fall Tinner weniger die Proliferationsgefahr, die von den Akten ausging, als der Druck der USA das zuständige Departement und den Bundesrat beschäftigte.

Die integrale Vernichtung war ein geeignetes Mittel, um dem Druck der
USA rasch nachgeben zu können. Weil unter diesen Umständen keine Zeit für eine Auswertung und Triage benötigt wurde, war die Vernichtung allen beschlagnahmten Beweismaterials die schnellste Lösung, um die brisanten Unterlagen aus der Welt zu schaffen.

Der Antrag des EJPD hat keine Alternativen zur integralen Vernichtung aufgezeigt, obwohl feststeht, dass im November 2006 der amerikanische Justizminister im Namen seiner Regierung angeboten hatte, auch nach einer Übergabe der kritischen Akten an die USA den Schweizer Strafverfolgungsbehörden weiterhin den für das Verfahren notwendigen Zugang zu gewähren.65 Dieses Angebot wurde in keinem der Anträge des EJPD erwähnt.

63

64 65

Antrag vom 1.11.2006 des EJPD an den Bundesrat betref. Einsichtnahme und Überlassung von brisanten Dokumenten aus einem gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren der BA an die IAEO, S. 1.

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T., S. 2.

Brief des amerikanischen Justizministers an den Vorsteher EJPD vom 2.11.2006.

5051

Auf die Frage der GPDel, warum das Angebot der USA nicht im Bundesrat diskutiert wurde, antwortete dieser: «Eine Herausgabe der Akten erachteten sowohl die Task Force als auch der damalige Vorsteher EJPD aufgrund von Souveränitätsüberlegungen jedenfalls zum fraglichen Zeitpunkt [im Jahr 2006] als nicht opportun»66.

Die anderen Bundesräte, welche die GPDel zum Entscheid vom 14. November 2007 anhörte, teilten diese Beurteilung. Da der Bundesrat der Rechtsordnung des eigenen Landes verpflichtet ist, hätten ihn Souveränitätsüberlegungen auch von einem schwerwiegenden Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz abhalten müssen.

6.5.3

Güterabwägung zwischen der Aussenpolitik und der Unabhängigkeit der Justiz

Bei seinem Entscheid vom 14. November 2007 musste der Bundesrat eine Güterabwägung vornehmen zwischen dem Interesse, dem Druck der USA nachzugeben, und dem Eingriff in ein laufendes Strafverfahren. Der Antrag des EJPD vom 12. November 2007 verschwieg keineswegs die Konsequenzen einer integralen Vernichtung des beschlagnahmten Materials auf das Strafverfahren. So wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass damit dem Verfahren gegen die Tinners die Beweismittel weitgehend entzogen würden und dass «infolgedessen das gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren gegen die Tinners wohl eingestellt werden [müsste]»67. Die Unterlagen der Bundesratssitzung vom 14. November 2007 geben aber keine Auskunft darüber, ob sich der Bundesrat konkret mit der Frage befasst hat, ob und welche Nachteile die Schweiz in Kauf nehmen müsste, falls mit der Vernichtung der brisanten Unterlagen bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens zugewartet würde.

Das Gesetz gibt dem Bundesrat für gemeine Delikte nicht die Kompetenz, über die Opportunität der gerichtlichen Verfolgung zu entscheiden. Aus Sicht der GPDel hätte der Bundesrat einen solchen schwerwiegenden Entscheid, welcher «contra legem» erfolgte, nur dann auf Artikel 184 Absatz 3 BV abstützen dürfen, wenn er die von ihm erkannten aussenpolitischen Nachteile nachvollziehbar gegen den zu erwartenden Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz abgewogen hätte. Hinter den vordergründigen Sicherheitsargumenten des Bundesrats brachte die Untersuchung der GPDel jedoch keine konkreten aussenpolitischen Konsequenzen an den Tag, aufgrund deren der Bundesrat zum damaligen Zeitpunkt dem Druck der USA mittels einer integralen Vernichtung der beschlagnahmen Akten hätte nachgeben müssen.

Die nicht näher konkretisierten aussenpolitischen Interessen können in keinem vertretbaren Verhältnis zur erkannten Schwere des Eingriffs in die Unabhängigkeit der Justiz stehen. Die GPDel betrachtet deshalb den Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 als nicht verhältnismässig.

66 67

Brief des Bundesrats an die GPDel vom 21.8.2008, S. 2.

Antrag vom 12.11.2007 des EJPD an den Bundesrat betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Vefahren gegen T., S. 4.

5052

6.6

Arbeit der Nachrichtendienste

Der SND warnte den Bundesrat bereits im Januar 2004 vor möglichen Verbindungen des Khan-Netzwerks in die Schweiz. Dies erfolgte somit bevor die IAEO bei der Schweizer Mission in Wien vorstellig wurde und bevor der malaysische Polizeibericht am 20. Februar 2004 für die breite Öffentlichkeit eine Verbindung zwischen der Schweiz und dem Khan-Netz herstellte.

Mit seinen Analysen zuhanden des Sicherheitsausschusses des Bundesrats versuchte der SND im Frühjahr 2004, die zuständigen Stellen zu einem proaktiven Vorgehen zu bewegen, um die Rolle der Schweiz im Khan-Netzwerk systematisch zu untersuchen. Angesichts der verschiedenen ausländischen Untersuchungen, die möglicherweise auch Bezüge zur Schweiz aufdecken könnten, sollte der Bundesrat so schnell wie möglich in die Lage versetzt werden, sich ein Bild über die Tragweite des Falles machen zu können.

Der DAP seinerseits beschränkte sich darauf, mit dem SECO zusammen konkrete Hinweise zu finden, dass die Tinners illegale Exporte für das libysche Urananreicherungsprogramm getätigt hatten. Ziel dieser Abklärungen war es, hinreichende Verdachtsmomente für einen Verstoss gegen das Güterkontrollgesetz zu sammeln.

Das Phänomen der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen kann in seiner Bedeutung jedoch nicht auf die Frage reduziert werden, ob die notwendigen Bewilligungen für Schweizer Exporte vorliegen. Da die Exporte ein ausländisches Massenvernichtungsprogramm betreffen, hat jeder Einzelfall auch eine sicherheits- und aussenpolitische Dimension. Wegen der internationalen Vernetzung war dieser Aspekt für das Verständnis des Khan-Netzwerks, zu dem auch die Tinners zu zählen sind, besonders wichtig.

Der Inland- und der Auslandnachrichtendienst hätten in diesem Fall eng zusammenarbeiten müssen. Insbesondere hätten sich die Abklärungen des DAP in der Schweiz auch von den internationalen Aspekten des Falles leiten lassen müssen. Die geringe Bereitschaft des DAP, den Fall auch aus Sicht der internationalen Sicherheit zu betrachten, beeinflusste die gemeinsamen Analysen, die DAP und SND zuhanden des SiA erstellten. Die Beurteilungen beschränkten sich oft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den beiden Diensten, anstatt dazu zu führen, dass die Aktivitäten der Tinners als Teil des Khan-Netzwerks analysiert und verstanden worden wären. Die Optik
der internationalen Sicherheit wäre notwendig gewesen, um die Tragweite des Falles Tinner auch für die Schweiz in vollem Ausmass erkennen zu können.

Das Fehlen einer übergeordneten Führung der beiden zivilen Nachrichtendienste und deren mangelnde Bereitschaft zu einer systematischen Zusammenarbeit hatte die GPDel im März 2007 bewogen, die parlamentarische Initiative Hofmann (07.404) einzureichen. In der Herbstsession 2008 haben nun die Eidgenössischen Räte das Bundesgesetz über die Zuständigkeiten im Bereich des zivilen Nachrichtendienstes (ZNDG) genehmigt. Ihre Untersuchung zum Fall Tinner bestätigt der GPDel die Notwendigkeit der von ihr angestrebten Reformen.

Nachdem DAP und SECO bei der Bundesanwaltschaft am 22. September 2004 Anzeige erstattet hatten, schenkte der DAP dem Fall Tinner nur noch geringe Beachtung. Gegenüber der GPDel begründete der Chef DAP den Verzicht auf eine weitere nachrichtendienstliche Bearbeitung des Falles damit, dass «eine solche ohne Detailkenntnisse des Verfahrensdossiers ohnehin kaum [hätte] erstellt werden können und 5053

während des laufenden Verfahrens kaum in der Zuständigkeit des DAP gelegen [hätte]»68. Im Übrigen habe der Vorsteher EJPD vom DAP nie eine Beurteilung des Falles Tinner verlangt.

Die Berichte, die der DAP für den Vorsteher EJPD und andere Kunden erstellte, beschränkten sich ab dem Sommer 2004 auf die Wiedergabe öffentlich bekannter Tatsachen und auf einzelne Informationen aus der BKP zum Stand des Ermittlungsverfahrens. In dieser Form wurde das Khan-Netzwerk und der Fall Tinner seit 2004 jedes Jahr auch im «Bericht Innere Sicherheit Schweiz» thematisiert.

Ab Ende 2004 verfolgte der SND die verschiedenen Strafverfahren im Ausland und gelangte deshalb zur Einschätzung, dass im Ausland zunehmend Informationen über die Aktivitäten des Khan-Netzwerkes in der Schweiz bekannt werden dürften. Die Abklärungen des SND lieferten auch immer mehr Hinweise auf den Umfang und auf die Gefährlichkeit der Aktivitäten des Netzwerks.

Aufgrund der Informationen des SND wies beispielsweise im August 2005 ein Bericht des Nachrichtenkoordinators an den SiA darauf hin, dass nicht nur Urananreicherungstechnologie in den Besitz von Individuen des Khan-Netzwerks gelangt war, sondern «teilweise sogar Pläne für den Bau von Kernwaffen»69. Die Informationen des SND erlaubten allerdings nicht den Schluss, dass diese Pläne auch im Besitz der Tinners waren. An der Sitzung des Sicherheitsausschusses vom 30. August 2005 wurden die anwesenden Bundesräte darauf hingewiesen, dass die Schweiz zur Verhinderung der Proliferation beitragen könne, «indem [sie] die Aktivitäten der Familie Tinner lückenlos aufklärt und ihre Unterlagen dingfest macht, damit nicht weitere Staaten in ihren Besitz gelangen»70. Das bedeutet, dass der Bundesrat mehr als zwei Jahre bevor er die Vernichtung der brisanten und anderen Akten im Fall Tinner beschloss, darauf hingewiesen wurde, dass von den Unterlagen der Tinners ein grosses Proliferationsrisiko ausgehen könnte.

In einem geheimen Bericht an den Vorsteher VBS schrieb der SND im Frühjahr 2006, dass die Tinners dank ihrer Mitarbeit im Khan-Netzwerk über nahezu vollständige Pläne für den Bau von Urananreicherungszentrifugen verfügten. Als besonders gefährlich beurteilte der Bericht die Annahme, dass die Digitalisierung dieser Baupläne deren Verbreitung auf elektronischem Weg ermöglichte. Am 30. Oktober 2006
erstellte der SND einen weiteren geheimen Bericht, der mit dem Satz begann: «Die Behörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind im Besitz von Bauplänen für eine Kernwaffe. Nach Ansicht von Experten handelt es sich um praktisch vollständige Konstruktionsunterlagen, die den Nachbau der Waffe ermöglichen»71.

Der Bericht wies darauf hin, dass der Besitz dieser Baupläne völkerrechtlich nicht unproblematisch sei; ferner analysierte er einlässlich, welche aussenpolitischen Konsequenzen sich für die Schweiz daraus ergeben könnten.

Der SND hatte keinen Zugang zu den Informationen des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens, und das VBS war auch nicht in der vom EJPD im Oktober 2006 geschaffenen Task Force vertreten. Ungeachtet dessen war der SND aufgrund seiner Informationen aus dem Ausland zum Schluss gelangt, dass die Tinners Infor68 69

70 71

Brief des DAP an die GPDel vom 2.9.2008.

Bericht der LGSi über die «Schlüsselfaktoren der Kernwaffenproliferation: nukleare Schwellenländer und Pakistan», vom 30.8.2005, S. 5. Der Bericht wurde am 12.9.2005 auch der GPDel präsentiert.

Protokoll der SiA-Sitzung vom 30.8.2005, S. 3.

Bericht des SND. «Politische Aufarbeitung der Affäre Khan», vom 30.10.2006, S. 1.

5054

mationen zum Bau von Kernwaffen in ihren Besitz und in die Schweiz gebracht hätten. Dank der Arbeit des SND war im VBS die Brisanz des Falles Tinner zwei Tage vor dem 1. November 2006 aktenkundig, als der Vorsteher EJPD die übrigen Bundesräte in die Existenz der Kernwaffenbaupläne einweihte.

Im Gegensatz zum Vorsteher EJPD erhielt der Vorsteher VBS regelmässig von seinem Nachrichtendienst Informationen zum Khan-Netzwerk und zu den Implikationen von dessen Aktivitäten für die Schweiz. Er erteilte dem SND auch entsprechende Informationsaufträge. Während die GPDel die nachrichtendienstliche Leistung des VBS zum Fall Tinner als positiv beurteilt, war die Verwendung der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse auf Stufe der Landesregierung jedoch mehr als mangelhaft.

Das VBS besass die notwendigen Informationen, um bereits im Herbst 2006 die Herausforderungen zu erkennen, vor die der Fall Tinner die Schweiz stellte. Dieses Wissen floss aber in keiner Art und Weise in die Arbeit des Bundesrats ein. Das im Fall Tinner wegen der organisatorischen Ansiedlung der Strafverfolgungsbehörden federführende EJPD verzichtete seinerseits gänzlich darauf, die Nachrichtendienste einzubeziehen, als es darum ging, die sicherheitspolitischen Implikationen und die Proliferationsrisiken, welche von den Kernwaffenbauplänen ausgingen, zu beurteilen. Das EJPD stützte sich vor allem auf die Beurteilung der amerikanischen Behörden, ohne von den eigenen Schweizer Diensten eine unabhängige Analyse einzuholen.

6.7

Rolle des Sicherheitsausschusses

Der Sicherheitsausschuss des Bundesrats wurde mit dem Ziel geschaffen, die sicherheitspolitische Führungsfähigkeit des Bundesrats zu stärken und zu diesem Zweck Entscheide des Bundesrats vorzubereiten.72 Einerseits soll der SiA dafür sorgen, dass er über die Lenkungsgruppe Sicherheit frühzeitig über sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen und Herausforderungen informiert wird. Andererseits soll der SiA Geschäfte, über die der Bundesrat zu entscheiden hat, vorbereiten.

Die GPDel stellt fest, dass im Jahr 2004 verschiedene in der LGSi vertretene Dienststellen wiederholt auf das Risikopotenzial des Falles Tinner aufmerksam gemacht haben. Der SiA nahm die Informationen aus der LGSi punktuell zur Kenntnis.

Keiner der betroffenen Departementsvorsteher zeigte jedoch in den Jahren 2004 und 2005 ein anhaltendes Interesse am Fall Tinner. Auch der Bericht des Nachrichtenkoordinators an den SiA vom August 200573, der darauf hinwies, dass Mitglieder des Khan-Netzwerks in den Besitz von Kernwaffenplänen gelangt waren, konnte das Interesse des SiA am Fall Tinner nicht wecken.

Als der Vorsteher EJPD im Juli 2006 von den Kernwaffenplänen im Dossier Tinner erfuhr, brachte er diese Information später direkt in den Bundesrat, ohne das Geschäft vorher im SiA vorzubereiten. Auch die beiden anderen Mitglieder des SiA waren offensichtlich bereit, den Fall Tinner aus dem SiA herauszuhalten und alle Vorbereitungsarbeiten dem EJPD und der von ihm geschaffenen Task Force zu 72 73

Vgl. Art. 3 der Verordnung vom 24.10.2007 über die Organisation der sicherheitspolitischen Führung des Bundesrats (SR 120.71).

Bericht der LGSi über die «Schlüsselfaktoren der Kernwaffenproliferation: nukleare Schwellenländer und Pakistan», vom 30.8.2005, S. 5.

5055

überlassen. Die GPDel stellt deshalb fest, dass der Bundesrat den Fall Tinner mit ad hoc geschaffenen Strukturen zu bewältigen suchte, anstelle sich auf die von ihm geschaffenen Organe der sicherheitspolitischen Führung zu stützen.

6.8

Information der Delegationen der Aufsichtskommissionen durch den Bundesrat

Bis zum Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 wurde die GPDel durch die zuständigen Ämter über den Fall Tinner regelmässig und unaufgefordert informiert.

Bei der Beurteilung der Information durch den Vorsteher EJPD ist jedoch zu differenzieren. In denjenigen Fällen, wo die GPDel selber schriftlich eine bestimmte Auskunft einverlangte, wurde sie ausführlich und korrekt informiert. Ersuchte die GPDel jedoch ­ ohne vorgängiges schriftliches Begehren ­ um eine Information während einer Aussprache, so wurde sie vom Vorsteher EJPD nicht immer vollständig aufdatiert.

Als es bei der Aussprache vom 21. November 2006 darum ging, die GPDel über den Beschluss des Bundesrats vom 1. November 2006 zu informieren, machte der Vorsteher EJPD geltend, er benötige dazu das vorgängige Einverständnis des Bundesrats. Der Bundesratsbeschluss vom 1. November 2006 schränkte jedoch weder die Information der GPDel ein, noch sah er eine aktive Information vor. Erst im Beschluss vom 29. August 2007 erachtete es der Bundesrat für notwendig, die GPDel von sich aus zu informieren.

Als die GPDel später auf eine vollständige Information über den Bundesratsbeschluss vom 1. November 2006 bestand, wurde sie am 13. September 2007 einlässlich informiert.

Da der GPDel gemäss Artikel 169 Absatz 2 BV keine Geheimhaltungspflichten entgegengehalten werden können, wäre der Vorsteher EJPD verpflichtet gewesen, die GPDel bereits bei seiner Anhörung am 21. November 2006 umfassend zu informieren. Der Bundesrat kann die verfassungsmässigen Informationsrechte der GPDel nicht von sich aus beschränken.

Was den dritten Beschluss des Bundesrats vom 14. November 2007 zur Aktenvernichtung betrifft, so hätte der Vorsteher EJPD die GPDel umgehend und offiziell darüber informieren müssen. Es war nicht vertretbar, die Delegation erst bei der nächsten regulären Aussprache im Frühjahr 2008 informieren zu wollen, da der Vollzug der Vernichtung bereits auf Ende 2007 geplant war. Der Beschluss zur Vernichtung des Beweismaterials stand überdies im Widerspruch zur Auskunft des Vorstehers EJPD vom 13. September 2007, wonach das Strafverfahren gegen die Tinners einen ordentlichen Verlauf nehmen würde. Angesichts der Bedeutung des Geschäfts und des aktiven Interesses, das die GPDel im Fall Tinner geltend gemacht hatte, hätte diese vom Bundesrat beschlossene
grundlegende Änderung des Vorgehens der Delegation zur Kenntnis gebracht werden müssen.

Zudem hatte der Vorsteher EJPD vom Bundesrat am 14. November 2007 den ausdrücklichen Auftrag erhalten, «die Geschäftsprüfungsdelegation über den Beschluss

5056

und seinen Vollzug zu informieren»74. Auf Anfrage der GPDel bestätigte der Bundesrat, dass er keinen Zeitpunkt für die Information der GPDel festgelegt hatte75.

Die GPDel ist der Ansicht, dass es keinen Grund gab, dass der Vorsteher EJPD sie nicht bereits vor dem geplanten Vollzug über den Vernichtungsbeschluss des Bundesrats informierte.

Die GPDel hat für die fehlende Information durch den Vorsteher EJPD auch deshalb kein Verständnis, weil der Vorsteher EJPD die USA auf Ministerebene und Botschafterebene nur wenige Tage nach dem Beschluss vom 14. November 2007 informierte. Der Vorsteher EJPD informierte ferner am 28. Dezember 2007 das Bundesstrafgericht als fachliche Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft, aber nicht die parlamentarische Oberaufsicht.

Die GPDel wurde erst offiziell über den Beschluss zur Aktenvernichtung ins Bild gesetzt, als ihr Präsident am 8. Februar 2008 von sich aus bei der neuen Vorsteherin EJPD vorstellig wurde. Grundsätzlich sorgte ab diesem Zeitpunkt das EJPD für eine regelmässige und proaktive Information der Delegation. Das EJPD unternahm auch grosse Anstrengungen, die vorhandenen Unterlagen für die Untersuchung der GPDel verfügbar zu machen.

Rückblickend stellt die GPDel aber auch fest, dass die Vorsteherin EJPD im Februar 2008 nicht in der Lage war, der Delegation ausreichend Klarheit über die geplante Durchführung der eigentlichen Aktenvernichtung zu verschaffen. Der Bundesratsbeschluss vom 13. Februar 2008 i. S. Tinner sprach davon, dass in der ersten Phase nur «nukleartechnologisch relevantes» Material vernichtet werden sollte. Da die Ausführungen der Vorsteherin EJPD vom 21. Februar 2008 nicht zwischen dem nukleartechnologischen Material und dem Material, dessen Besitz völkerrechtlich problematisch sein könnte, unterschied, musste die GPDel davon ausgehen, dass nur Letzteres in der ersten Phase vernichtet werden sollte. Für ein korrektes Verständnis der Tragweite der ersten Vernichtungsphase hätte der GPDel jedoch das von der Vorsteherin EJPD am 14. Februar 2008 genehmigte Vernichtungskonzept vorliegen müssen.

Gemäss dem Vernichtungskonzept waren die Kernwaffenbaupläne und die Unterlagen über die Urananreicherungstechnik sofort zu vernichten. In Bezug auf das übrige Material gab das Vernichtungskonzept der «IAEO die Möglichkeit, unter Aufsicht der BKP
aus dem beschlagnahmten Material jene Dokumente auszuscheiden, welche noch bis im Mai aufbewahrt werden sollen»76. Es gab deshalb keine Garantie, dass sich die erste Vernichtungsphase auf das Material beschränkte, das «nukleartechnologisch relevant» war. Vielmehr entschieden allein die Bedürfnisse der IAEO, welches Material der Eidgenössische Untersuchungsrichter noch einsehen konnte.

Es handelte sich dabei in erster Linie um Kopien der Unterlagen, welche die Schweiz aufgrund eines Rechtshilfegesuchs der deutschen Justiz im Jahr 2004 bei Gotthard Lerch beschlagnahmt hatte. Die GPDel erfuhr jedoch erst bei einer ihren Anhörungen Mitte April 2008, dass die Gesamtheit des bei den Tinners beschlagnahmten Materials bereits vor Ende Februar 2008 zerstört worden war.

74 75 76

Bundesratsbeschluss vom 14.11.2007 betref. brisante nukleartechnologische Daten aus dem Verfahren gegen T.

Brief des Bundesrats an die GPDel vom 21.8.2008, S. 1.

Antrag vom 14.2.2008 des Projektleiters an die Vorsteherin EJPD betr. Vollzug des geheimen Bundesratsbeschlusses vom 13.2.2008, S. 2.

5057

Aufgrund dieser Tatsache konnten die Empfehlungen der GPDel an die Vorsteherin EJPD (29.2.2008), respektive den Bundesrat (26.3.2008), die laufende Vernichtung auf das völkerrechtlich problematische Material zu beschränken, gar keine Wirkung mehr entfalten. Als der Bundesrat am 2. April 2008 aufgrund der Empfehlung der GPDel vom 26. März 2008 beschloss, allenfalls für die Bedürfnisse der Strafverfolgung die Frist bis zur Vernichtung der letzte Akten zu verlängern, war dieses Entgegenkommen deshalb nur noch formell von Bedeutung. Der Bundesrat hätte wissen können, dass er mit den noch existierenden Akten der Empfehlung der GPDel materiell gar nicht mehr entsprechen konnte. Die GPDel bedauert, dass der Bundesrat sie in seiner Antwort auf ihre Empfehlung nicht über diese Situation ins Bild gesetzt hatte.

Die GPDel ist auch der Frage nachgegangen, ob der Finanzdelegation (FinDel) die fünf Bundesratsbeschlüsse zum Fall Tinner zur Kenntnis gebracht wurden. Mit Schreiben vom 8. Oktober 2008 bestätigte die FinDel, dass der Bundesrat ihr diese Bundesratsbeschlüsse nicht zugestellt hatte. Gemäss Artikel 154. Absatz 3 ParlG sollte die FinDel jedoch laufend und regelmässig sämtliche Beschlüsse des Bundesrats einschliesslich der Mitberichte erhalten.

6.9

Aufsicht des Bundesstrafgerichts

Am 2. Juni 2008 erkundigte sich die GPDel beim Bundesstrafgericht, ob die I. Beschwerdekammer des BStGer die Aktenvernichtung im Fall Tinner als fachliche Aufsichtsbehörde oder als Recht sprechende Instanz gewürdigt hatte. In seinem Antwortschreiben vom 17. Juni 2008 verneinte das BStGer beides.

Als fachliche Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft habe die I. Beschwerdekammer nach ihrer Information durch ihren Präsidenten am 22. Januar 2008 keinen unmittelbaren Handlungsbedarf erkannt, da «[sie] sich damals nicht bewusst [war], dass die Akten noch nicht vernichtet waren»77. Anlass, in das hängige Ermittlungsverfahren von Amtes wegen aufsichtsrechtlich einzugreifen, habe nicht bestanden, «weil die Parteien informiert worden waren und damit sowohl Verteidigung wie auch Bundesanwaltschaft Gelegenheit hatten, sich an die I. Beschwerdekammer zu wenden. Sodann [sei] zu berücksichtigen, dass die Bundesanwaltschaft als Verfahrensleiterin selbst über die fraglichen Akten verfügte und sich somit auch faktisch einer Vernichtung hätte widersetzen können»78. Angesichts der beschränkten Informationslage und ohne konkretes Ersuchen einer Partei habe die I. Beschwerdekammer keinen Anlass gesehen, sich materiell mit der Aktenvernichtung zu befassen.

Die GPDel untersuchte auch die Rechtmässigkeit der Weisung des Direktors fedpol an die BKP, dem URA im Fall Tinner seine Unterstützung zu verweigern. Laut Artikel 17 Absatz 1 BStP steht die gerichtliche Polizei unter der Leitung des Bundesanwalts und unter der Aufsicht79 der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts. Die GPDel bat deshalb mit Schreiben vom 5. September 2008 die I. Beschwerdekammer des BStGer als Aufsichtsorgan, die Weisung des Direktors fedpol zu beurteilen.

77 78 79

Schreiben des BStGer an die GPDel vom 17.6.2008, S. 2.

Schreiben des BStGer an die GPDel vom 17.6.2008, S. 2.

Art. 17 Abs. 1 BStP spricht von «Oberaufsicht».

5058

Mit Schreiben vom 23. September 2008 informierte die I. Beschwerdekammer des BStGer die GPDel, sie sehe sich «weder formell noch materiell in der Lage, eine Beurteilung in der von [der GPDel] gewünschten Weise abzugeben»80. Zur Begründung führte die I. Beschwerdekammer aus, dass «[ein] Vorgehen aufsichtsrechtlicher Art ­ wir denken dabei an den Umstand, dass der Bundesanwalt die Leitung und damit die erste Aufsichtsfunktion über die gerichtliche Polizei innehat (Art. 17, 15 und 105bis Abs. 1 BStP) und die Tatsache, dass die Voruntersuchung der Aufsicht der I. Beschwerdekammer untersteht (Art. 28 Abs. 2 [des Strafgerichtsgesetzes]) ­ offenbar bis anhin weder ins Auge gefasst noch in die Wege geleitet [wurde]»81.

Die GPDel verlangte auch Einsicht in den unveröffentlichten Entscheid der I. Beschwerdekammer vom 28. Mai 2008 zum Haftentlassungsgesuch von Urs Tinner.

Sie stiess dort auf folgende Ausführungen: «Wie bereits erwähnt [...] sind die ermittelnden Behörden nach wie vor daran, weitere Ermittlungshandlungen vorzunehmen.

[...] Nicht verständlich wäre es jedoch in Berücksichtigung des Beschleunigungsgebotes, wenn die Strafverfolgungsbehörden bereits vernichtete Akten wiederbeschaffen wollten. [...] Sich hieraus ergebende Verzögerungen des Verfahrens bzw. deren Konsequenzen hat [Urs Tinner] nicht zu verantworten. Entsprechend dürfen ihm hieraus keinerlei Nachteile erwachsen, zumal das Bundesgericht im Rahmen des letzten Haftentlassungsverfahrens bereits unterstrichen hat, dass die Sache mit besonderer Beschleunigung behandelt werden muss (Urteil des Bundesgerichts 1B_205/2007 vom 9. Oktober 2007 E. 5.6. in fine). Dieser Hinweis ist nach nunmehr weiteren acht Monaten zu bekräftigen und die Voruntersuchung ist rasch abzuschliessen.»82 Im erwähnten Entscheid hatte das Bundesgericht geschrieben, das Ermittlungsverfahren stehe bei der Bundesanwaltschaft unmittelbar vor dem Abschluss. Das Gesuch der Bundesanwaltschaft um Eröffnung des Voruntersuchungsverfahrens sei lediglich vorläufig und aus formellen Gründen abgewiesen worden. Dieser Feststellung fügte das Bundesgericht an, dass «[in] Anbetracht der Dauer der Haft allerdings zu unterstreichen [ist], dass die Sache mit besonderer Beschleunigung behandelt werden muss»83.

Die I. Beschwerdekammer des BStGer hat gemäss eigenen Worten in ihrem Entscheid
vom 28. Mai 2008 «angesichts der (langen) Dauer des Verfahrens dem Beschleunigungsgebot gegenüber der Wiederbeschaffung von Akten ganz klare Priorität eingeräumt und dies deutlich zum Ausdruck gebracht»84. Die I. Beschwerdekammer habe damit jedoch nicht die Zulässigkeit einer Wiederbeschaffung von vernichtetem Beweismaterial verneint. Die GPDel kann davon ausgehen, dass die I. Beschwerdekammer im Entscheid vom 28. Mai 2008 nicht als rechtsprechende Instanz auf einen möglichst schnellen Abschluss der Voruntersuchung gedrängt hat.

Folglich muss die I. Beschwerdekammer sich zu dieser Sache im Sinne der fachlichen Aufsicht geäussert haben.

Das Vorgehen des BStGer wirft für die GPDel die Frage auf, ob es seitens der I. Beschwerdekammer am 28. Mai 2008 noch angebracht war, darauf zu drängen, dass der Eidgenössische Untersuchungsrichter auf die Beschaffung von Kopien des 80 81 82 83 84

Schreiben des BStGer an die GPDel vom 23.9.2008, S. 1.

Schreiben des BStGer an die GPDel vom 23.9.2008, S. 1.

Unveröffentlichter Entscheid der I. Beschwerdekammer des BStrGer vom 28.5.2008, E. 6.3.

Urteil des Bundesgerichts 1B_205/2007 vom 9. Oktober 2007 E. 5.6.

Schreiben der I. Beschwerdekammer des BStrGer an die GPDel vom 15.10.2008, S. 2.

5059

vernichteten Beweismaterials verzichtet. Die I. Beschwerdekammer bezog sich dabei auf die zitierte Forderung des Bundesgerichts, möglichst schnell die Voruntersuchung aufzunehmen. Der betreffende Entscheid des Bundesgerichts war jedoch ohne Kenntnis der späteren Aktenvernichtung ergangen und der Eidgenössische Untersuchungsrichter hatte die Voruntersuchung bereits begonnen, als die I. Beschwerdekammer am 28. Mai 2008 ihren Entscheid fällte.

Aus Sicht der GPDel war im Mai 2008 das Beschleunigungsgebot im Zusammenhang mit der Tatsache zu beurteilen, dass dem Strafverfahren alles beschlagnahmte Beweismaterial entzogen worden war. Es ist deshalb für die GPDel nur schwer nachvollziehbar, warum die I. Beschwerdekammer einen raschen Abschluss der Voruntersuchung als wichtiger beurteilte als die Wiederbeschaffung des Beweismaterials für die Durchführung des Strafverfahrens.

Die GPDel versteht auch nicht, dass die I. Beschwerdekammer einerseits auf einen schnellen Abschluss des Verfahrens ohne Wiederbeschaffung von Kopien der vernichteten Akten drängte, aber andererseits gegenüber der GPDel die Haltung einnahm, es bestehe seitens der I. Beschwerdekammer kein Anlass, sich als Aufsichtsinstanz mit der Aktenvernichtung im Fall Tinner und ihren Konsequenzen zu befassen. Da die Weisung des Direktors fedpol, der BKP die Zusammenarbeit mit den Eidgenössischen Untersuchungsrichter zu untersagen, einer Beschleunigung der Voruntersuchung kaum förderlich sein konnte, hätte sich die I. Beschwerdekammer konsequenterweise auch mit dieser Weisung befassen müssen, als sie von der GPDel davon erfuhr. Dabei wäre die Frage zu beantworten gewesen, ob Teile des vernichteten Beweismaterials für eine Anklage notwendig sind, und ob nicht gerade das Verbot des Direktors fedpol an die BKP, den Eidgenössischen Untersuchungsrichter bei der Wiederbeschaffung von solchem Beweismaterial zu unterstützen, das Beschleunigungsgebot verletzt.

Die GPDel stellt fest, dass die I. Beschwerdekammer des BstGer im Fall Tinner ihre Aufsichtspflicht gegenüber der Bundesanwaltschaft und gegenüber der gerichtlichen Polizei wenn überhaupt, dann nur ungenügend wahrgenommen hat. Die GPDel teilt die Auffassung der I. Beschwerdekammer nicht, ihre Aufsichtspflicht komme erst dann zum Zug, wenn die Bundesanwaltschaft ihre Aufsicht über die gerichtliche
Polizei ausgeübt oder die Bundesanwaltschaft selber das BStGer als Aufsichtsorgan angerufen habe. Die GPDel betrachtet es auch als Teil der Aufsichtsaufgabe der I. Beschwerdekammer des BStGer, darüber zu wachen, dass überhaupt eine Aufsicht über die BKP ausgeübt wird.

7

Empfehlungen der GPDel

Die vorliegende Untersuchung der GPDel hat Mängel in der Führung des Bundesrats festgestellt. Der Bundesrat hat sich auch über verschiedene gesetzliche Bestimmungen hinweg gesetzt. Um die Lehren aus dem Fall Tinner zu ziehen, richtet die GPDel die folgenden Empfehlungen an den Bundesrat: Empfehlung 1: Die GPDel fordert den Bundesrat auf, dafür zu sorgen, dass der Eidgenössische Untersuchungsrichter für die Voruntersuchung im Fall Tinner die ihm gesetzlich zustehende gerichtspolizeiliche Unterstützung erhält.

Empfehlung 2: Die GPDel fordert den Bundesrat auf, ihr ein Konzept vorzulegen, wie die Delegation in Zukunft rechtzeitig über geheime Bundesratsbeschlüsse 5060

informiert werden soll. Bis auf weiteres erwartet die GPDel vom Bundesrat, dass er ihr alle geheim klassifizierten Bundesratsbeschlüsse umgehend zukommen lässt.

Empfehlung 3: Die GPDel fordert den Bundesrat auf, ihr ein Konzept vorzulegen, wie er in Zukunft Geschäfte, die von grosser sicherheits- und aussenpolitischer Bedeutung sind und bei denen der Bundesrat der Geheimhaltung einen hohen Stellenwert einräumt, interdepartemental vorbereiten lassen will.

Empfehlung 4: Die GPDel erwartet vom Bundesrat, dass er in Zukunft von seinen Kompetenzen gemäss Artikel 184 Absatz 3 und Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung nur restriktiv und nach eingehender Prüfung der Voraussetzungen für deren Anwendung Gebrauch macht.

Empfehlung 5: Die GPDel erwartet vom Bundesrat, dass er die Schriftlichkeit all seiner geheimen Beschlüsse lückenlos sicherstellt.

Empfehlung 6: Die GPDel fordert das Bundesgericht auf, zu untersuchen, wie die I. Beschwerdekammer des BStGer ihre Aufsicht über die Bundesanwaltschaft und über die BKP wahrnimmt.

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Weiteres Vorgehen

Die Geschäftsprüfungsdelegation bittet den Bundesrat und das Bundesgericht, zu diesem Bericht und den sie betreffenden Empfehlungen bis Ende Juni 2009 Stellung zu nehmen.

19. Januar 2009

Im Namen der Geschäftsprüfungsdelegation Der Präsident: Claude Janiak, Ständerat Der stellvertretende Sekretär: Ivo Kreiliger

Die Geschäftsprüfungskommissionen haben diesen Bericht am 22. Januar 2009 zur Kenntnis genommen und seiner Veröffentlichung zugestimmt.

22. Januar 2009

Im Namen der Geschäftsprüfungskommissionen Der Präsident der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats: Hans Hess, Ständerat Der Präsident der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats: Pierre-François Veillon, Nationalrat

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Liste der angehörten Personen Beyeler, Erwin

Bundesanwalt, BA

Blocher, Christoph

alt Bundesrat, ehem. Vorsteher EJPD

Calmy-Rey, Micheline

Bundesrätin, Vorsteherin des EDA

Fels, Michel-André

ehem. Bundesanwalt a.i., BA

Fritschi, Thomas

BKP, BAP, EJPD

Lehmann, Peter

Staatsanwalt des Bundes, BA

Leupold, Michael

Direktor des Bundesamtes für Justiz, EJPD

Meli, Andres Beatrice

ehem. Chefin des Inspektorats EJPD

Montanari, Ruedi

stv. Bundesanwalt, BA

Müller, Andreas

Untersuchungsrichter, URA

Schmid, Samuel

Bundesrat, Vorsteher des VBS

Thalmann, Anton

Botschafter, Stv. Politischer Direktor, EDA

Vez, Jean-Luc

Direktor des Bundesamtes für Polizei, EJPD

Widmer-Schlumpf, Eveline

Bundesrätin, Vorsteherin des EJPD

Nuklearexperte

Strategischer Nachrichtendienst, VBS

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