08.515 Parlamentarische Initiative Bedingter Rückzug einer Volksinitiative im Fall eines indirekten Gegenvorschlages Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 12. Mai 2009

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf für eine Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

12. Mai 2009

Im Namen der Kommission Der Präsident: Hansheiri Inderkum

2009-1090

3591

Übersicht Volksinitiativen können gemäss Artikel 73 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vom Initiativkomitee zurückgezogen werden. Verschiedene Gründe können ein Initiativkomitee zu diesem Schritt bewegen. So kann das Anliegen zum Beispiel an Aktualität verloren haben oder es erscheint im Hinblick auf die Volksabstimmung chancenlos. Häufiger sind aber Rückzüge aufgrund von direkten Gegenentwürfen auf Verfassungsstufe oder indirekten Gegenvorschlägen auf Gesetzesstufe, die von der Bundesversammlung erarbeitet worden sind.

Will nun ein Initiativkomitee eine Volksinitiative zurückziehen, weil es mit dem vom Parlament erarbeiteten indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe zufrieden ist, kann es in ein Dilemma kommen. In vielen Fällen sind solche indirekten Gegenvorschläge auf Gesetzesstufe mit einer Klausel versehen, wonach sie erst publiziert werden, sobald die Volksinitiative zurückgezogen oder in der Volksabstimmung abgelehnt worden ist. Damit will der Gesetzgeber verhindern, dass eine Gesetzesänderung in Kraft tritt, welche kurz darauf aufgrund einer anstehenden Volksabstimmung über eine Volksinitiative die Verfassungsgrundlage verlieren könnte. Somit beginnt also die Referendumsfrist für den indirekten Gegenvorschlag erst zu laufen, nachdem die Volksinitiative zurückgezogen oder abgelehnt ist. Dies bedeutet, dass die Initianten und Initiantinnen zu einem Zeitpunkt über den Rückzug ihrer Initiative entscheiden müssen, bei dem das Schicksal des indirekten Gegenvorschlags, mit dem sie sich ja vielleicht zufrieden geben könnten, noch nicht entschieden ist. Wer auf Nummer sicher geht, zieht seine Volksinitiative besser nicht zurück.

Mit den hier vorgeschlagenen Änderungen sollen Initiativkomitees neu die Möglichkeit erhalten, ihre Volksinitiative unter der Bedingung zurückziehen, dass der indirekte Gegenvorschlag auch wirklich in Kraft tritt. Beschliesst das Initiativkomitee einen solchen bedingten Rückzug, beginnt somit die Referendumsfrist für den indirekten Gegenvorschlag zu laufen. Wird das Referendum ergriffen und wird in der Volksabstimmung der Gegenvorschlag abgelehnt, dann findet trotzdem eine Abstimmung über die Volksinitiative statt. In allen anderen Fällen gilt die Initiative als definitiv zurückgezogen, sobald das Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlages durch kein rechtliches Hindernis mehr gefährdet ist.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Die parlamentarische Initiative 08.515 Bedingter Rückzug einer Volksinitiative im Fall eines indirekten Gegenentwurfs

Am 18. Dezember 2008 reichte Ständerat Filippo Lombardi (CVP/TI) eine ausformulierte parlamentarische Initiative ein, mit welcher er den bedingten Rückzug von Volksinitiativen ermöglichen will. In seiner Begründung wies der Initiant darauf hin, dass das Parlament bei der Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlags zu einer Volksinitiative schon mehrmals vor der Situation stand, dass ein Initiativkomitee zwar bereit gewesen wäre, seine Initiative zugunsten eines indirekten Gegenvorschlags zurückzuziehen, jedoch befürchtete, das gegnerische Lager könnte den Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe danach mit einem Referendum zu Fall bringen.

Damit wären die Initianten und Initiantinnen schliesslich mit leeren Händen da gestanden.

Der Initiant ist als Präsident der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK) mit einem konkreten Fall konfrontiert. Auf Antrag der UREK hat der Ständerat am 1. Oktober 2008 beschlossen, die Volksinitiative «Lebendiges Wasser» (07.060) Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen (AB S 2008 795). Gleichzeitig hatte der Rat in der Gesamtabstimmung mit 36 zu 0 Stimmen einer von der UREK ausgearbeiteten Änderung des Gewässerschutzgesetzes zugestimmt (07.492 Pa.Iv. Schutz und Nutzung der Gewässer). Die UREK des Ständerates hat diese Gesetzesänderung als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative konzipiert. In der Schlussbestimmung ist vorgesehen, dass die Vorlage dann publiziert und somit die Referendumsfrist ausgelöst wird, sobald die Volksinitiative entweder zurückgezogen oder abgelehnt ist. Die Vorlage ist nun im Nationalrat hängig.

Wenn die Vorlage von beiden Räten verabschiedet worden ist, könnte es im Interesse sowohl des Parlamentes als auch des Initiativkomitees liegen, wenn die Initiative zurückgezogen wird. So könnten sich sowohl die Behörden als auch das Initiativkomitee den Aufwand für eine Volksabstimmung sparen. Allerdings geht das Initiativkomitee dabei ein erhebliches Risiko ein: Zieht es die Volksinitiative zurück, wird die Revision des Gewässerschutzgesetzes publiziert und die Referendumsfrist läuft. Wird das Referendum ergriffen und die Gesetzesrevision wird in der Volksabstimmung abgelehnt, dann kann das Komitee nicht mehr auf seine Initiative zurückkommen. Das Eingehen auf den Kompromissvorschlag des Parlamentes hätte sich somit nicht gelohnt;
das Initiativkomitee hätte nichts mehr in den Händen.

Hier hakt der Initiant ein: Die von ihm vorgeschlagene Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte soll einem Initiativkomitee ermöglichen, eine Volksinitiative bedingt zurückzuziehen, falls die Bundesversammlung einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe verabschiedet hat. Liegt ein solcher Gegenvorschlag vor, soll das Komitee die Volksinitiative ohne Risiken bedingt zurückziehen können: Infolge des Rückzugs wird der Gegenvorschlag publiziert und die Referendumsfrist ausgelöst. Kommt das Referendum nicht zustande oder gewinnt der Gegenvorschlag in der Volksabstimmung, gilt der Rückzug der Volksinitiative.

Die Initianten und Initiantinnen können aber immerhin den indirekten Gegenvor3593

schlag als Erfolg verbuchen. Sollte jedoch ein Referendum zustande kommen und der Gegenvorschlag in der Volksabstimmung abgelehnt werden, dann wird die Volksinitiative doch noch der Volksabstimmung unterbreitet.

1.2

Speditive Erarbeitung der Vorlage, damit die Änderung auf die Volksinitiative «Lebendiges Wasser» angewendet werden kann

Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerates hat die parlamentarische Initiative von Ständerat Lombardi am 15. Januar 2009 vorgeprüft. Gerade das vom Initianten dargelegte Beispiel der Volksinitiative «Lebendiges Wasser» zeigte der Kommission den Handlungsbedarf auf. Die Kommission ist allerdings überzeugt, dass dies nicht der einzige Anwendungsfall bleiben dürfte. Die Bundesversammlung hat eine rege Praxis in der Ausarbeitung von indirekten Gegenvorschlägen entwickelt. Dabei ist es wichtig, die Verfahren so auszugestalten, dass alle beteiligten Akteure ihren Willen ungehindert zum Ausdruck bringen können, ohne in Entscheidungsdilemmas zu geraten. Die Kommission sieht deshalb generellen Handlungsbedarf und gab der parlamentarischen Initiative einstimmig Folge. Die SPK des Nationalrates stimmte diesen Beschluss am 19. Februar 2009 mit 23 zu 1 Stimmen deutlich zu.

Da nun gerade ein konkreter Fall vorliegt, erachtet es die Kommission als wünschenswert, wenn die vorgeschlagenen Änderungen derart zeitig vorgenommen werden können, dass sie ihre Wirkung bereits auf diesen Fall entfalten können.

Die SPK hat deshalb einen ehrgeizigen Zeitplan für die Ausarbeitung der Vorlage erstellt.

1.3

Verabschiedung des Vorentwurfs zuhanden der Vernehmlassung

An ihrer Sitzung vom 27. März 2009 verabschiedete die SPK des Ständerates einstimmig einen Vorentwurf für eine Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte samt erläuterndem Bericht zuhanden der Vernehmlassung. Es wurden die vom Gesetz vorgesehenen Vernehmlassungsteilnehmer begrüsst. Gemäss Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe a des Vernehmlassungsgesetzes wurde eine verkürzte Frist angesetzt, um den aufgrund des unmittelbaren Handlungsbedarfs kurzen Zeitplan einhalten zu können.

1.4

Ergebnisse der Vernehmlassung und Verabschiedung des Entwurfs zuhanden der Räte

An ihrer Sitzung vom 12. Mai 2009 konnte die SPK des Ständerates Kenntnis von den Ergebnissen der Vernehmlassung nehmen. Es sind insgesamt 44 Stellungnahmen eingegangen. Eine Mehrheit von 32 Vernehmlassungsteilnehmern (darunter 19 Kantone und die Parteien SP und EVP) begrüsst die vorgeschlagenen Änderungen. Sie sehen in der vorgeschlagenen Lösung einen Gewinn für alle Beteiligten, d.h. für das Initiativkomitee, für das Parlament und für die Stimmberechtigten. Es 3594

wurde argumentiert, dass das vorsorgliche Festhalten an einer Volksinitiative vermieden werden könne, ohne dass andererseits gegnerische Kreise zum vorsorglichen Ergreifen eines Referendums genötigt würden.

11 Vernehmlassungsteilnehmer (darunter 6 Kantone und die Parteien SVP und FDP) beurteilen die Neuerung kritisch. Ihrer Ansicht nach handelt es sich hier um eine übereilte Einzelfallgesetzgebung. Die Vorlage würde eine unnötige Komplizierung des Systems der Volksrechte bringen. Es wird auch bezweifelt, ob ein bedingter Rückzug überhaupt Sinn mache, da davon auszugehen sei, dass auch die Volksinitiative in der Volksabstimmung scheitere, wenn schon der indirekte Gegenvorschlag gescheitert sei. Im Weiteren wurde argumentiert, das Problem würde sich nicht stellen, wenn die Bundesversammlung indirekte Gegenvorschläge sofort publizieren und damit nicht den Entscheid über die Volksinitiative abwarten würde.

Die SPK ist jedoch überzeugt, dass aufgrund der Beliebtheit des Instruments des indirekten Gegenvorschlags im Parlament auch weiterhin Situationen entstehen können, in welchen das Instrument des bedingten Rückzugs von Nutzen sein wird.

Gerade die Erfahrungen mit früheren Gewässerschutzinitiativen zeigen, dass das Instrument durchaus auch schon in anderen Fällen von Nutzen gewesen wäre. Einige Vernehmlassungsteilnehmer verkennen auch, dass ein indirekter Gegenvorschlag nicht unbedingt «gemässigter» sein muss als eine Volksinitiative. Häufig geht es darum, auf Gesetzesebene nach Lösungen für die von den Initianten aufgeworfenen Fragen zu suchen. Dabei können auch zusätzliche Aspekte geregelt werden, welche die Initiative nicht enthält. Es ist deshalb durchaus denkbar, dass ein indirekter Gegenvorschlag in der Volksabstimmung scheitert, die Volksinitative aber dann erfolgreich ist. Das von der Bundesversammlung häufig gewählte Vorgehen, den indirekten Gegenvorschlag nur dann zu publizieren, wenn die Volksinitiative gescheitert oder zurückgezogen ist, macht aus verschiedenen Gründen Sinn. Zum einen soll damit vermieden werden, dass eine beschlossene Gesetzesänderung durch eine kurz darauf erfolgte Verfassungsänderung schon wieder obsolet wird. Zum anderen kann eine Mehrheit des Parlamentes in vielen Fällen gut mit dem Status quo leben, zieht jedoch eine von ihr erarbeitete Lösung der von den Initianten
vorgeschlagenen Verfassungsänderung vor.

Anders als von einigen Vernehmlassungsteilnehmern eingewendet, stellt sich die Frage des Rückzugs bei direkten Gegenentwürfen auf Verfassungsstufe nicht analog. Volksinitiativen und direkte Gegenentwürfe kommen immer gleichzeitig zur Volksabstimmung. Ein bedingter Rückzug ist hier gar nicht möglich und bringt den Initianten auch nichts, da sie mit dem System des Doppelten Ja mit Stichfrage nichts zu verlieren haben.

Die Kommission hält fest, dass sie bezüglich der Fristen für die Behandlung von Volksinitiativen die Situation nicht zuungunsten der Initiativkomitees verändert hat, wie dies von einzelnen Vernehmlassungsteilnehmern moniert wird. Im Gegenteil hat sie die bisher zeitlich unbegrenzte Möglichkeit zur Verschiebung der Ansetzung der Volksabstimmung in Artikel 74 Absatz 2 BPR ersetzt durch eine Verlängerungsmöglichkeit der parlamentarischen Behandlungsfrist um höchstens ein Jahr. Hingegen erachtet es die Kommission als wichtig, dass die Bundesversammlung solche Fristverlängerungen nur beschliessen kann, wenn Entwürfe im Parlament hängig sind, und kann deshalb dem Anliegen der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete nicht folgen. Braucht der Bundesrat mehr Zeit für die Erarbeitung eines Entwurfs für einen indirekten Gegenvorschlag, dann hat er bereits eine Fristverlängerungsmöglichkeit gemäss Artikel 97 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes (ParlG).

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Vereinzelt wurden in der Vernehmlassung redaktionelle Einwände vorgebracht. So wurde die Frage gestellt, ob es ausreichend sei, in Artikel 68 BPR lediglich auf Artikel 73 und nicht auch auf Artikel 73a zu verweisen. Hier ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei Artikel 73 um die allgemeine Bestimmung betreffend den Rückzug von Volksinitiativen handelt und Artikel 73a lediglich eine Spezifizierung davon ist.

Somit gelten ­ um die Fragen der Kantone Waadt und Wallis zu beantworten ­ die Bedingungen gemäss Artikel 73 Absätze 1 und 2 BPR auch für bedingte Rückzüge.

Bezüglich der Frage des Kantons Bern nach einem «Musterformular» für den Rückzug von Volksinitiativen ist auf die Verordnung über die politischen Rechte hinzuweisen, welche im Anhang ein solches Formular enthält. Die Verordnung wird dahingehend anzupassen sein, als dass ein zusätzliches Formular «Bedingter Rückzug» anzufügen ist. Schliesslich hält die Kommission fest, dass es die naheliegendste und auch übliche Lösung ist, die Änderung bereits auf alle hängigen Initiative anzuwenden.

Aufgrund dieser Überlegungen verabschiedete die Kommission den Entwurf ohne Änderungen einstimmig zuhanden des Rates.

2

Ausgangslage

2.1

Direkte Gegenentwürfe und indirekte Gegenvorschläge

Die Institutionen der direkten Demokratie in der Schweiz ermöglichen einen intensiven Dialog zwischen den Behörden sowie den Bürgern und Bürgerinnen. Die Behörden präsentieren dem Volk ihre Vorschläge, zum Beispiel im Falle einer Referendumsabstimmung, oder sie reagieren auf Vorschläge aus den Reihen des Volkes, zum Beispiel bei Volksinitiativen. Damit dieser Dialog differenziert geführt werden kann, stehen den Behörden verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um auf eine Volksinitiative zu reagieren. Stimmt das Parlament der mit einer Volksinitiative vorgeschlagenen Lösung nicht zu, sieht aber Handlungsbedarf, so kann es mit einem direkten Gegenentwurf oder einem indirekten Gegenvorschlag darauf reagieren. Diese beiden Instrumente sind strikte auseinander zu halten. Während das Verhältnis zwischen Volksinitiative und direktem Gegenentwurf bereits auf Verfassungsstufe geregelt ist (Art. 139 und 139b BV), handelt es sich beim «indirekten Gegenvorschlag» um einen Begriff, der zwar im Bundesgesetz über die politischen Rechte Eingang gefunden hat, unter dem aber in der politischen Praxis Verschiedenes subsumiert werden kann.

2.2

Direkter Gegenentwurf

Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung sieht vor, dass die Bundesversammlung einer Volksinitiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen kann. Dieser Gegenentwurf wird der Volksinitiative in der Volksabstimmung gegenübergestellt. Volk und Stände haben die Möglichkeit, beiden Vorlagen zuzustimmen. Sie können in der Stichfrage angeben, welcher Vorlage sie den Vorrang geben, falls beide angenommen werden (Art. 139b BV). Solche Vorlagen des Parlamentes befinden sich immer auf Verfassungsstufe und unterstehen der obligatorischen Abstimmung von Volk und Ständen. Sie werden deshalb als «direkte» Gegenentwürfe bezeichnet, weil sie 3596

der Volksinitiative in einer Volksabstimmung gegenübergestellt werden können, falls die Initiative nicht zurückgezogen wird. Dieses Verfahren hat sich in der Praxis bewährt und es besteht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

2.3

Indirekter Gegenvorschlag und «eng mit der Volksinitiative zusammenhängender Erlassentwurf»

Der Begriff «indirekter Gegenvorschlag» findet sich einzig im Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR, SR 161.1). In Artikel 74 Absatz 2 werden «indirekte Gegenvorschläge» als «Gegenvorschläge auf Gesetzesstufe» bezeichnet. Der Gesetzgeber verwendet hier diesen Begriff nur im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Aufschubs der zehnmonatigen Frist zur Ansetzung der Volksabstimmung über eine Volksinitiative. Ein solcher indirekter Gegenvorschlag ist also auf Gesetzesstufe angesiedelt und kann somit nie einer Volksinitiative direkt gegenübergestellt werden. Er untersteht nur dem fakultativen Referendum, und im Falle eines Zustandekommens eines Referendums ist allein das Volksmehr ausreichend.

Das Parlamentsgesetz verwendet den Ausdruck «eng mit der Volksinitiative zusammenhängender Erlassentwurf» (Art. 97 Abs. 2 und 105 Abs. 1 ParlG, SR 171.10). Es geht in diesen Bestimmungen darum, dass die Frist für die Behandlung einer Volksinitiative verlängert werden kann, falls ein solcher Entwurf vorliegt.

Im Parlamentsgesetz wird bewusst nicht der im BPR verwendete Begriff «indirekter Gegenvorschlag» verwendet. Zum einen handelt es sich hier erst um Erlassentwürfe, aus denen allenfalls indirekte Gegenvorschläge im politischen Sinn werden können, falls ihnen schliesslich beide Räte zustimmen. Der Sinn der Bestimmungen im Parlamentsgesetz besteht darin, dass die Behörden ihre gesetzgeberischen Tätigkeiten zeitlich auf die Volksinitiative abstimmen können, damit Volk und Stände in Kenntnis des Ergebnisses dieser Tätigkeiten über die Volksinitiative abstimmen können. Es kann sein, dass ein in thematischer Verwandtschaft mit der Volksinitiative stehender Erlassentwurf, der Grund für eine Fristverlängerung gab, schliesslich im parlamentarischen Prozess scheitert. Dann liegt eben kein «indirekter Gegenvorschlag» vor. Dies stellt für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger eine wichtige Information dar beim Entscheid über die Volksinitiative.

Zum anderen kann es sich bei einem mit einer Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf auch um einen nicht referendumspflichtigen Erlass handeln, zum Beispiel um einen Bundesbeschluss oder um eine Verordnung der Bundesversammlung. In Betracht kommen auch mit der Volksinitiative nicht unmittelbar verknüpfte Verfassungsänderungen.

Die Regelungen bezüglich des
«indirekten Gegenvorschlags» im BPR und des «eng mit der Volksinitiative zusammenhängenden Erlassentwurfs» im ParlG betreffen also einzig die Fristen für die Ansetzung der Abstimmung über eine Volksinitiative bzw. für die Behandlung der Volksinitiative durch die Behörden. Dies ist der einzige rechtliche Zusammenhang zwischen diesen Erlassen bzw. Erlassentwürfen und den Volksinitiativen. Die im BPR vorgesehene Frist will ermöglichen, dass die Bundesversammlung die Arbeiten an einem umfangreichen Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe abschliessen kann, bevor die Volksabstimmung über die Volksinitiative stattfindet, über welche die Räte bereits übereinstimmend Beschluss gefasst haben.

Deshalb bezieht sich die Regelung im BPR nur auf Gesetzesentwürfe. Die im ParlG 3597

vorgesehenen Fristverlängerungen hingegen beziehen sich auf die Behandlung der Initiativen durch Bundesrat und Parlament und können sich auf Entwürfe aller Erlassstufen beziehen.

2.4

Rückzug von Volksbegehren

Derweil ein Referendum im Bund nicht zurückgezogen werden kann (Art. 59b BPR), können Volksinitiativen von Gesetzes wegen vorbehaltlos zurückgezogen werden (Art. 68 Abs. 1 Bst. c in Verbindung mit Art. 73 Abs. 1 BPR).

Ehedem freilich hatte das Bundesgesetz vom 23. März 1962 über das Verfahren bei Volksbegehren auf Revision der Bundesverfassung (Initiativengesetz) in Artikel 4 Absatz 3 eine Rückzugsklausel nur fakultativ vorgesehen, wonach Volksinitiativen entweder zugunsten eines Gegenentwurfs oder aber vorbehaltlos zurückgezogen werden konnten. Insofern nimmt also die hier vorliegende parlamentarische Initiative einen alten Gedanken auf. In der Tat war die Möglichkeit des Rückzugs einer Volksinitiative 1908 von der Praxis entwickelt worden (BBl 1908 IV 475), und zwar anlässlich eines direkten Gegenentwurfs vom 26. Juni 1908 zur Volksinitiative betreffend Nutzung der Wasserkräfte (BBl 1907 II 624), der nach dem Rückzug der Volksinitiative denn auch von Volk und Ständen angenommen wurde (BBl 1908 VI 9, AS 25 6).

2.5

Entwicklung der Rückzugspraxis bei indirekten Gegenvorschlägen

Um die eidgenössischen Räte nicht zum Spielball wechselnder Initiativkomitees zu machen, erhielten Gesetzesvorlagen dieser Art seit der bewussten Entwicklung des «materiellen» (so die frühere Bezeichnung) oder «indirekten Gegenvorschlags» in aller Regel eine bedingte Publikationsanordnung, wonach der indirekte Gegenvorschlag im Bundesblatt zu veröffentlichen (und damit die Referendumsfrist auszulösen) sei, sobald die Volksinitiative zurückgezogen oder von Volk und Ständen abgelehnt worden ist.1

1

Beispiele: Bundesgesetz vom 6. Oktober 1954 über die Zentralstelle für Organisationsfragen der Bundesverwaltung (AS 1955 263) als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative betr. eidgenössische Verwaltungskontrolle (BBl 1953 III 427, 1955 I 301), Kriegsmaterialausfuhrgesetzrevision vom 30. Juni 1972 (AS 1973 108) als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative betr. Rüstungskontrolle und ein Waffenausfuhrverbot (BBl 1970 II 1526, 1972 II 1449), Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 über den Schutz der Schwangerschaft und die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (BBl 1977 III 88) als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative für die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch (BBl 1976 I 844, 1977 III 843), Kernenergiegesetz vom 21. März 2003 (AS 2004 4719) als indirekter Gegenvorschlag zu den beiden Volksinitiativen Moratorium plus (BBl 1998 1490, 1999 8966) und Strom ohne Atom (BBl 1998 1495, 1999 8962), Änderung vom 21. Dezember 2007 des Bundesgesetzes über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG, Verfahren im Kanton/ Beschwerde vor einem kantonalen Gericht, BBl 2008 45 und 6151) als indirekter Gegenvorschlag zu der am 1. Juni 2008 von Volk und Ständen abgelehnten Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen» (BBl 2004 2425, 2006 843, 2008 6161).

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Zuweilen wurde jedoch auch auf diese Klausel betreffend aufgeschobene Veröffentlichung und damit Auslösung der Referendumsfrist verzichtet.2 Die Erfahrung zeigte alsbald, dass dies die Chancen nicht verbesserte, dass die Volksinitiative zurückgezogen wird. Manche Urheber von Volksinitiativen zogen es vor, die Volksinitiative doch noch zur Volksabstimmung zu bringen, auch nachdem der Gegenvorschlag die Referendumsphase erfolgreich bestanden hat. Sie hatten nichts zu verlieren, manches aber gefahrlos zu gewinnen.

Vor allem aber zeigte sich, dass die Auslösung der Referendumsfrist zu indirekten Gegenvorschlägen vor der Klärung der Situation um die auslösende Volksinitiative rechtlich problematische Situationen bewirken kann: Widersprechen sich der indirekte Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe und die Volksinitiative ganz oder teilweise, so kann der Gegenvorschlag nicht oder nicht vollständig umgesetzt werden, falls die Volksinitiative angenommen werden sollte. Wird die Referendumsfrist zum indirekten Gegenvorschlag ausgelöst, bevor die Ausgangslage um die Volksinitiative durch Rückzug oder Ablehnung seitens von Volk und Ständen geklärt ist, so werden Gegnerinnen und Gegner der Gesetzesrevision zu einer Unterschriftensammlung für ein Referendum genötigt, welche sich hinterher im Falle einer Annahme der Volksinitiative als gegenstandslos erweist.

2.6

Problematik des Fehlens einer bedingten Rückzugsmöglichkeit

2.6.1

Die Erfahrungen mit Gewässerschutzinitiativen

Die parlamentarische Initiative ist aus der Situation heraus entstanden, dass die Urheberschaft der Volksinitiative «Lebendiges Wasser» aus eigener historischer Erfahrung heraus wenig Neigung zu einem Rückzug der Volksinitiative verspüren kann; es handelt sich um die dritte Volksinitiative des Fischereiverbandes, und zum dritten Mal erfährt die Urheberschaft als Reaktion der Behörden einen indirekten Gegenvorschlag. Als Reaktion auf die Volksinitiative zum Schutz der Gewässer gegen die Verunreinigung vom 27. Oktober 1967 (BBl 1967 II 1357) hat die Bundesversammlung am 8. Oktober 1971 das Gewässerschutzgesetz verabschiedet (AS 1972 950). Die Initianten zogen daraufhin ihre Initiative zurück (BBl 1972 I 1144) und hatten insofern Glück, als gegen das Gewässerschutzgesetz kein Referendum ergriffen wurde. Am 10. Mai 1983 wurde die Volksinitiative «Rettung unserer Gewässer» eingereicht (BBl 1983 II 354). Auch dieses Mal reagierte das Parlament mit einer Revision des Gewässerschutzgesetzes, welche es am 24. Januar 1991 verabschiedet hat (AS 1992 1860). Dieses Mal waren die Initianten vorsichtiger und sahen von einem Rückzug ihrer Initiative ab. Tatsächlich wurde das Referendum gegen die Revision des Gewässerschutzgesetzes ergriffen (BBl 1991 II 1575). Es kam zu einer Abstimmung über beide Vorlagen am gleichen Tag, wobei die Volks-

2

Beispiele: Bundesbeschluss vom 6. Oktober 1978 zum Atomgesetz (BBl 1978 II 880, 1979 I 377, AS 1979 816) als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative betr. Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen (BBl 1976 II 1126, 1979 II 13) und Aenderung vom 16. Dezember 1983 des Schweizerischen Obligationenrechts (minimaler jährlicher Ferienanspruch im Arbeitsvertragsrecht, AS 1984 580) als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative für die Verlängerung der bezahlten Ferien (BBl 1978 II 907, 1979 III 734, 1985 I 1553).

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initiative abgelehnt, die Gesetzesrevision hingegen angenommen wurde (BBl 1992 V 459 und 455).

Nun stehen die Initianten der Volksinitiative «Lebendiges Wasser» wieder vor dem Entscheid, ob sie ihre Initiative zugunsten eines indirekten Gegenvorschlags zurückziehen sollen (vgl. Ziff. 1.1).

2.6.2

Generelle Problematik

Die Problematik wurde hier an Beispielen aus dem Gewässerschutz aufgezeigt, besteht aber generell. Grundsätzlich hat das Parlament zwei Möglichkeiten: Es kann versuchen, die Situation betreffend den indirekten Gegenvorschlag möglichst vor dem Volksentscheid über die Volksinitiative zu klären und somit die Referendumsfrist so früh als möglich auszulösen. Die andere, häufiger praktizierte Möglichkeit besteht darin, die Referendumsfrist betreffend den indirekten Gegenvorschlag erst auszulösen zu lassen, wenn das Schicksal der Volksinitiative bekannt ist.

Die erste Möglichkeit kann in einzelnen Fällen politisch durchaus beabsichtigt sein, bringt bisweilen aber Nachteile mit sich, wie sie oben aufgezeigt wurden: Wenn das Schicksal des indirekten Gegenvorschlags frühzeitig geklärt ist, haben die Initianten und Initiantinnen wenig Anreiz, die Volksinitiative noch zurückzuziehen; sie haben nichts zu verlieren. Dies kann dazu führen, dass eine Gesetzesänderung, gegen welche vielleicht sogar ein Komitee das Referendum ergriffen und entsprechend Mittel investiert hat, kaum in Kraft treten kann, bevor sie durch eine Volk und Ständen angenommene Verfassungsänderung überholt ist. Etwas anders sieht es aus, wenn der indirekte Gegenvorschlag und die Volksinitiative sich nicht oder nur teilweise widersprechen, sondern vielmehr ergänzen. Dann kann es durchaus sinnvoll sein, die Publikation des Gegenvorschlags nicht an die Volksinitiative zu koppeln.

Die zweite Möglichkeit, die Publikation des indirekten Gegenvorschlags nach Klärung des Schicksals der Volksinitiative, hat den Vorteil, dass nicht zuerst über eine Gesetzesänderung abgestimmt wird, deren Verfassungsgrundlage kurz darauf zur Disposition steht. Allerdings kann dieses Vorgehen wie aufgezeigt das Initiativkomitee um die Früchte seiner Bemühungen bringen, indem irgendeine gegnerische Gruppierung auch das Entgegenkommen des Parlamentes zunichte machen kann, nachdem die Volksinitiative zurückgezogen oder gescheitert ist. Das Initiativkomitee ist deshalb in dieser Situation besser beraten, wenn es vorsorglich an seiner Initiative festhält.

Daher hat der Gesetzgeber eine Interessensabwägung vorzunehmen, welche die begründeten Erwartungen aller Stimmberechtigten gleich welcher Überzeugung ausgleicht. Es gilt, das vorsorgliche Festhalten an einer Volksinitiative zu vermeiden, ohne dass andererseits gegnerische Kreise zum vorsorglichen Ergreifen eines Referendums genötigt werden.

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3

Grundzüge der Vorlage

3.1

Schaffung der Möglichkeit eines bedingten Rückzugs

Es soll den Initiativkomitees neu die Möglichkeit eines Rückzugs unter der aufschiebenden Bedingung eingeräumt werden, dass der indirekte Gegenentwurf tatsächlich in Kraft tritt. Der Rückzug muss damit nicht ohne jegliche Gegenleistung (also zugunsten des vorbestehenden Rechtszustandes) riskiert werden; er kann auch allein zugunsten des indirekten Gegenentwurfs, also einer vom Parlament beschlossenen Rechtsänderung ausgesprochen werden, die die Referendumsfrist noch nicht heil überstanden hat.

Falls vom Instrument des bedingten Rückzugs Gebrauch gemacht wird, dann braucht es eine Verlängerung der Frist, innert welcher der Bundesrat über die Volksinitiative die Volksabstimmung ansetzen muss (BPR Art. 74 Abs. 1). Wird der Rückzug einer Volksinitiative bedingt erklärt, so gilt er ohne weiteres, sobald das Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlags feststeht. Dies ist der Fall: a.

sobald die Referendumsfrist unbenützt abgelaufen ist;

b.

sobald rechtsgültig feststeht, dass ein eingereichtes Referendum nicht zustande gekommen ist;

c.

sobald rechtsverbindlich feststeht, dass der indirekte Gegenvorschlag nach Zustandekommen eines Referendums in der Volksabstimmung angenommen worden ist.

Es ist für die Gestaltung des Abstimmungskalenders und damit für alle Beteiligten (Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden, Parteien, Verbände und interessierte Organisationen wie Initiativkomitee und Gegnerschaft) von grösster Bedeutung, dass der bedingte Rückzug einer Volksinitiative im frühest möglichen Zeitpunkt wirksam wird. Es reicht daher für das unmittelbare Wirksamwerden des Rückzugs, dass das Datum des Inkrafttretens des indirekten Gegenvorschlags feststeht; es ist nicht notwendig, dass die Gesetzesänderung bereits in Kraft tritt, wohl aber, dass sie durch keine rechtliche Schranke mehr am Inkrafttreten gehindert werden kann. Dies kann von Bedeutung sein, wenn ein indirekter Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe verabschiedet ist, aber zur Umsetzung noch umfangreicher Ausführungsbestimmungen bedarf.

3.2

Lösung im Sinne aller Beteiligten

Mit dieser neuen Möglichkeit des bedingten Rückzugs von Volksinitiativen wird eine Lösung im Sinne aller Beteiligten getroffen. Das Initiativkomitee gewinnt, indem es ohne das Risiko einer Nulllösung eine Kompromisslösung des Parlamentes akzeptieren und somit auf einen kostspieligen Abstimmungskampf für die Volksinitiative verzichten kann. Das Parlament gewinnt, indem die Akzeptanz seiner Kompromissvorschläge bei den Initiativkomitees steigt und dadurch aufwändige Volksabstimmungen über Volksinitiativen vermieden werden können. Der Parlamentsmehrheit kann auch nicht mehr vorgeworfen werden, sie lanciere einen indirekten Gegenvorschlag nur aus taktischen Gründen, um ­ nachdem das Initiativkomitee seine Initiative zurückgezogen hat ­ diesen Gegenvorschlag in einer allfälligen Referendumsabstimmung nur halbherzig zu verteidigen oder gar zu bekämpfen.

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Wenn Initiativkomitees vermehrt Volksinitiativen zugunsten von indirekten Gegenvorschlägen zurückziehen, ist auch denjenigen Kreisen gedient, die den Status quo bevorzugen würden. In der heutigen Situation können sie sich gezwungen sehen, Unterschriften zu sammeln, unabhängig davon, ob die Referendumsfrist für den indirekten Gegenvorschlag vor oder nach der Abstimmung über die Volksinitiative läuft. In beiden Fällen gilt es, sowohl die Gesetzesvorlage des Parlamentes als auch die Volksinitiative zu bekämpfen.

Wichtig ist schliesslich auch die Perspektive der Stimmberechtigten. Auch für sie bringt ein bedingter Rückzug der Volksinitiative zugunsten des indirekten Gegenvorschlags eine Klärung. Wenn eine Stimmbürgerin oder ein Stimmbürger zum Beispiel bezüglich der drei Varianten Status quo, indirekter Gegenvorschlag, Volksinitiative die Präferenzordnung indirekter Gegenvorschlag, Volksinitiative, Status quo hat, so steht er oder sie bei der heute häufig praktizierten Ausgangslage, wonach zuerst über die Volksinitiative abgestimmt wird, vor einem gewissen Dilemma. Ist es nun besser, die Volksinitiative, die man ja eigentlich nicht in erster Präferenz will, abzulehnen und zu hoffen, dass das Referendum gegen den Gegenvorschlag nicht ergriffen wird? Oder ist es besser, halt doch der Volksinitiative zuzustimmen, da zu befürchten ist, dass der indirekte Gegenvorschlag scheitern könnte?

Die vorgeschlagene Ergänzung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte schafft die Möglichkeit einer frühzeitigen Klärung der Situation durch die Initianten und Initiantinnen.

4

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

4.1

Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1)

Art. 68 Abs. 1 Bst. c Derzeit ist der Rückzug einzig vorbehaltlos zulässig, und das Gesetz statuiert dies bereits bei den Formanforderungen an sämtliche Unterschriftenlisten (Art. 68 Abs. 1 Bst. c). Nichts geändert werden soll am Erfordernis, dass jede Unterschriftenliste zu ihrer Gültigkeit einer Rückzugsklausel bedarf. Allerdings soll der Rückzug nicht an beliebige Vorbehalte geknüpft werden, damit die Bundesversammlung als ordentlicher Gesetzgeber, der allein für die innere Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung verantwortlich bleibt, nicht zum Spielball irgendwelcher Initiativkomitees gemacht werden kann. Diese Anliegen sind am einfachsten unter einen Hut zu bringen durch einen Verweis auf Artikel 73, wo der Rückzug im Einzelnen geregelt wird.

Art. 73a (neu)

Unbedingter und bedingter Rückzug

Der neue Artikel 73a regelt die Voraussetzungen für die neu geschaffene Möglichkeit eines bedingten Rückzugs.

Der Rückzug soll nicht von beliebigen Bedingungen und Auflagen abhängig gemacht werden können. Der Rückzug ist in der Regel unbedingt oder aber zugunsten des Inkrafttretens des indirekten Gegenvorschlags beschränkt («bedingt») ausgesprochen.

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Der Rückzug ist in der Regel unbedingt, was v. a. bei direkten Gegenentwürfen vorkommen dürfte, bei welchen mit der Schlussabstimmung in den eidgenössischen Räten bereits feststeht, dass sie obligatorisch zur Abstimmung von Volk und Ständen gelangen werden. Denkbar ist der unbedingte Rückzug weiter in Fällen, wo rein faktisch verändertes Handeln der Behörden die Initianten zufrieden stellt oder wo sich das Urheberkomitee einer Volksinitiative ­ beispielsweise aufgrund völlig veränderter Bedingungen ­ für seine Volksinitiative in der Volksabstimmung keinerlei Chancen mehr ausrechnet (Abs. 1).

Der Rückzug kann neu in beschränktem Umfang bedingt erklärt werden (Abs. 2): Dann gilt er unmittelbar ab jenem Moment, in dem keine rechtliche Schranke (Referendum oder Volksabstimmung) das Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlags mehr hindern kann (Abs. 3). Wichtig ist dabei, dass ein solcher indirekter Gegenvorschlag ­ konkret eine Gesetzesänderung ­ spätestens am gleichen Tag wie die Volksinitiative die Schlussabstimmung passiert haben muss (Abs. 2). Andernfalls würde der bedingte Rückzug wieder für beliebige Bedingungen geöffnet.

Art. 74 Abs. 2 Artikel 74 Absatz 2 besagt, dass die Bundesversammlung bei Vorliegen eines Gegenvorschlages auf Gesetzesstufe die Frist zur Ansetzung der Volksabstimmung verlängern kann. Die Bestimmung fand im Rahmen der Teilrevision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vom 21. Juni 1996 (AS 1997 753) aufgrund eines Einzelantrages im Nationalrat diskussionslos Eingang in das Gesetz. Der Bundesversammlung sollte mit dieser Bestimmung bei der Erarbeitung von indirekten Gegenvorschlägen etwas mehr Spielraum eingeräumt werden. Wenn sie an umfangreichen oder politisch komplexen Gegenvorschlägen auf Gesetzesstufe arbeitet, soll sie diese bereinigen können, bevor die Volksinitiative zur Abstimmung kommt (AB 1995 N 463). Es handelt sich somit um eine weitere Frist, welche zusätzlich zu der in Artikel 105 Absatz 1 ParlG vorgesehenen Möglichkeit der Verlängerung der Behandlungsdauer im Parlament beansprucht werden kann.

Die Anwendung dieser Bestimmung wurde von der Bundesversammlung in einzelnen Fällen ins Auge gefasst. So zum Beispiel bei der Volksinitiative 00.046 «Gesundheit muss bezahlbar bleiben». Der Ständerat hat nach Beschlussfassung über die Volksinitiative am
27. November 2002 beschlossen, die Frist für die Ansetzung der Volksabstimmung zu verlängern, bis die Vorlage 00.079 über die Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung zu Ende beraten ist (AB 2002 S 987). Der Nationalrat hat hingegen auf Antrag seiner Kommission diese Fristverlängerung am 5. Dezember 2002 abgelehnt (AB 2002 N 1969). In beiden Räten gutgeheissen wurde in der Frühjahrssession 2002 die Fristverlängerung bei der Volksinitiative 00.086 «für ein ausreichendes Berufsbildungsangebot», als die Bundesversammlung an einem neuen Berufsbildungsgesetz arbeitete, dessen Verabschiedung durch die Räte noch im selben Jahr vorgesehen war (AB 2002 N 397, AB 2002 S 248).

Wird nun neu die Möglichkeit eines bedingten Rückzugs von Volksinitiativen eingeführt, dann müssten auch diese Fälle, bei denen die Bundesversammlung die Differenzbereinigung zum indirekten Gegenvorschlag noch nicht abgeschlossen hat, einbezogen werden. Allerdings würde sich dann die Frage stellen, wann die Initianten über den bedingten Rückzug zu entscheiden hätten, da in diesen Fällen nach Schlussabstimmung über die Volksinitiative, wenn die Initiativkomitees normaler3603

weise über den Rückzug zu entscheiden haben, das Resultat des indirekten Gegenvorschlags im Parlament noch gar nicht vorliegt. Das Verhältnis zwischen dem neuen Artikel 73a und dem bisherigen Artikel 74 Absatz 2 erweist sich somit als problematisch.

Allerdings ist Artikel 74 Absatz 2 des BPR selber in verschiedener Hinsicht problematisch. Zum ersten ist unklar, in welchem Stadium der indirekte Gegenvorschlag sein muss, welcher Anlass zur Verschiebung der Volksabstimmung gibt. Dann wird die maximale Dauer der Verlängerung nicht festgelegt. Theoretisch könnte also die Bundesversammlung, wenn sie gerade mit der Ausarbeitung eines Gesetzes begonnen hat, die Ansetzung der Volksabstimmung über eine bereits behandelte Volksinitiative um Jahre hinausschieben. Somit kann das System der Behandlungsfristen von Volksinitiativen unterlaufen werden.

Es wird hier deshalb eine neue Regelung vorgeschlagen für die Lösung des Problems von noch nicht abgeschlossenen Differenzbereinigungen von indirekten Gegenvorschlägen. Artikel 74 Absatz 2 BPR soll aufgehoben und ersetzt werden durch eine präzisere Formulierung in Artikel 105 des ParlG, wo bereits die einjährige Verlängerung der Behandlungsfrist geregelt ist.

Art. 74 Abs. 2bis (neu) Dem Schutz der Initianten dient die Bestimmung, dass der Bundesrat die Volksinitiative spätestens innert zehn Monaten seit der Schlussabstimmung in den eidgenössischen Räten der Abstimmung des Volkes und der Stände zu unterbreiten hat (BPR Art. 74 Abs. 1). Nun muss hier ergänzt werden, dass im Falle eines bedingten Rückzuges einer Volksinitiative diese Frist erst zu laufen beginnt, wenn der indirekte Gegenvorschlag in der Volksabstimmung abgelehnt worden ist und der Bundesrat das Ergebnis erwahrt hat. Auch jetzt steht den Initiantinnen und Initianten noch eine Rückzugsmöglichkeit gemäss Artikel 73 Absatz 1 BPR zu.

Weil indirekte Gegenvorschläge die Gesetzesstufe beschlagen und damit dem fakultativen Referendum unterliegen, für welches die Sammelfrist von Verfassung wegen 100 Tage beträgt (Art. 141 Abs. 1 BV), kann die Volksabstimmung über die Volksinitiative nicht innert zehn Monaten durchgeführt werden, sofern gegen den indirekten Gegenvorschlag ein Referendum zustande kommt, zumal wenn das Ergebnis knapp ausfällt und durch Beschwerden angefochten wird oder in Wahljahren während
mindestens eines halben Jahres gar keine Volksabstimmung durchgeführt werden kann. Denn die ordnungsgemässe Durchführung eines eidgenössischen Urnengangs erfordert aufgrund aller verfassungsmässigen und gesetzlichen Vorgaben und der faktischen Rahmenbedingungen mindestens 13½ Wochen Zeit (vgl. mit Einzelheiten BBl 2001 6411), und der Bundesrat muss jeden Urnengang spätestens vier Monate vor dem Blankoabstimmungstermin ankündigen (Art. 10 BPR).

Art. 90a (neu) Es wäre wenig sinnvoll, das geltende, nicht in allen Teilen befriedigende Recht zu ändern, ohne die derzeit hängigen Volksinitiativen ebenfalls bereits in den Genuss der Rechtsänderungen gelangen zu lassen. Dies gilt erst recht, nachdem eine hängige Volksinitiative die Rechtsänderung veranlasst hat. Die gleiche Übergangsbestimmung ist auch in Artikel 173 Ziffer 7 ParlG aufzunehmen.

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4.2

Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002 (ParlG; SR 171.10)

Art. 105 Abs. 1bis (neu) Die Bundesversammlung hat gemäss Artikel 105 Absatz 1 des ParlG die Möglichkeit, die Frist für die Behandlung einer Volksinitiative um ein Jahr zu verlängern.

Voraussetzung dafür ist, dass ein Rat über einen direkten Gegenentwurf oder über einen eng mit der Volksinitiative zusammenhängenden Erlassentwurf Beschluss gefasst hat. Die Idee dahinter ist, dass die Bundesversammlung zuerst ihre Arbeiten zu einem direkten Gegentwurf oder indirekten Gegenvorschlag zu Ende bringen kann, bevor sie über die Volksinitiative Beschluss fasst und diese zur Volksabstimmung kommt. Volk und Stände wie auch die Ratsmitglieder sollen in Kenntnis des Ergebnisses der Arbeiten der Bundesversammlung entscheiden können. Nun gibt es ­ wie oben aufgezeigt ­ indirekte Gegenvorschläge, deren Erarbeitung viel Zeit in Anspruch nimmt und deren Differenzbereinigung nach Ablauf der Verlängerungsfrist noch nicht abgeschlossen ist. In diesen Fällen konnte die Bundesversammlung bisher auf die Bestimmung in Artikel 74 Absatz 2 BPR zurückgreifen, welche eine Verschiebung der Ansetzung der Volksabstimmung erlaubt.

Wie oben aufgezeigt, ist insbesondere die unbestimmte Formulierung dieser Bestimmung im BPR demokratiepolitisch äusserst problematisch. Sinnvoller als ein Hinausschieben der Volksabstimmung nach erfolgter Schlussabstimmung über die Volksinitiative in den Räten ist die erweiterte Möglichkeit der Ausdehnung der parlamentarischen Behandlungsfrist unter eng definierten Bedingungen. Es wird hier vorgeschlagen, dass die Bundesversammlung die Behandlungsfrist für eine Volksinitiative um höchstens ein zweites Jahr verlängern kann, wenn ein eng mit der Initiative zusammenhängender Erlassentwurf auf Gesetzesstufe noch in der Differenzbereinigung ist. Anders als in Artikel 74 Absatz 2 BPR ist nun hier definiert, dass es sich nur um Gesetzesentwürfe handeln kann, die bereits in der Differenzbereinigung sind, über die also beide Räte schon einmal Beschluss gefasst haben.

Anders als in der Bestimmung des BPR wird hier nicht die Ansetzung der Volksabstimmung hinausgezögert, sondern die parlamentarische Behandlungsfrist verlängert. Das hat den Vorteil, dass die Beschlussfassung über die Volksinitiative noch nicht stattfinden muss, bevor der indirekte Gegenvorschlag bereinigt ist. Entscheidungstheoretisch kann dies
für die Parlamentsmtiglieder von Bedeutung sein, wenn sie zum Beispiel ihren Entscheid über die Volksinitiative von den Ergebnissen der Beratungen zum Gegenvorschlag abhängig machen. Im Gegensatz zur bisher geltenden Bestimmung in Artikel 74 Absatz 2 BPR geht die hier vorgeschlagene Bestimmung im Parlamentsgesetz von der Logik aus, dass zuerst der indirekte Gegenvorschlag bereinigt werden soll, bevor über die Volksinitiative Beschluss gefasst wird. Das soll die Bundesversammlung nicht daran hindern, auch inskünftig über eine Volksinitiative bereits Beschluss zu fassen, wenn sie noch an einem indirekten Gegenvorschlag arbeitet. Allerdings hat sie dann keine Möglichkeit mehr, die Frist für die Ansetzung der Volksabstimmung zu verlängern. Auch die Möglichkeit eines bedingten Rückzugs durch die Initianten ist dann nicht gegeben. Haben beide Räte über die Volksinitiative übereinstimmend Beschluss gefasst, dann ist die Schlussabstimmung vorzunehmen und der Bundesrat hat gemäss Artikel 74 Absatz 1 BPR die Volksinitiative innert 10 Monaten der Volksabstimmung zu unterbreiten.

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Im Gegensatz zur ersten Verlängerungsfrist gemäss Artikel 105 Absatz 1 ParlG kann die zweite Verlängerungsfrist nur für Erlassentwürfe auf Gesetzesstufe in Anspruch genommen werden. Will die Bundesversammlung einen indirekten Gegenvorschlag auf untergeordneter Erlassstufe verabschieden, sollte die einjährige Verlängerung ausreichend sein.

Die hier vorgeschlagene neue Bestimmung im ParlG bietet auch keine Probleme mit der neuen Möglichkeit des bedingten Rückzugs von Volksinitaitiven. Durch die Schaffung einer zweiten Verlängerungsmöglichkeit der parlamentarischen Behandlungsfrist sollten auch umfangreichere Gegenvorschläge bereinigt werden können bis zur spätestmöglichen Schlussabstimmung über die Volksinitiative.

5

Auswirkungen

5.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die vorgeschlagenen Änderungen haben keine finanziellen und personellen Auswirkungen, es sei denn, dass durch den vermehrten Rückzug von Volksinitiativen der Aufwand für bestimmte Volksabstimmungen eingespart werden kann.

5.2

Vollzugstauglichkeit

Die Verfahrensabläufe sind im BPR präzis geregelt und alle Fristen so bemessen, dass sie eingehalten werden können. Für den Vollzug ist allein der Bund zuständig.

6

Rechtliche Grundlagen

6.1

Verfassungsmässigkeit

Die vorgeschlagenen Änderungen betreffen die Ausübung des in Artikel 136 Absatz 2 der Bundesverfassung vorgesehenen Initiativrechts. Der Bund regelt gemäss Artikel 39 Absatz 1 der Bundesverfassung die Ausübung der politischen Rechte.

6.2

Erlassform

Gemäss Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe a der Bundesverfassung sind die grundlegenden Bestimmungen über die Ausübung der politischen Rechte in Form des Bundesgesetzes zu erlassen.

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