20.483 Parlamentarische Initiative Nationalratsmitglieder, die wegen der COVID-19-Krise verhindert sind: Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 1. Dezember 2020

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Parlamentsgesetzes. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

1. Dezember 2020

Im Namen der Kommission Der Präsident: Andreas Glarner

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Übersicht Angesichts der anhaltend schwierigen Situation aufgrund der Corona-Pandemie wird eine dringliche und befristete Änderung des Parlamentsgesetzes vorgeschlagen, welche es von Covid-19 betroffenen Mitgliedern des Nationalrates ermöglichen soll, von zu Hause aus an den Abstimmungen des Rates teilzunehmen.

Da im schweizerischen Parlamentsrecht eine Teilnahmepflicht besteht und für eine Teilnahme an Abstimmungen ausserhalb des Ratssaals weder eine Verfassungs-, noch eine gesetzliche Grundlage besteht, soll diese Möglichkeit nur für eine kurz befristete Zeit, nämlich bis und mit Herbstsession 2021 vorgesehen werden. Ziel der Vorlage ist es, die Repräsentativität der Entscheide des Nationalrates zu gewährleisten, auch wenn mehrere Mitglieder aufgrund behördlicher Weisung im Zusammenhang mit Covid-19 nicht physisch an den Ratssitzungen teilnehmen können.

Aufgrund des Proporzwahlrechts ist die parteipolitische Repräsentativität im Nationalrat von grösserer Bedeutung als im Ständerat, so dass die vorgeschlagene Notlösung nur im Nationalrat gelten soll.

Die Teilnahmepflicht gilt weiterhin und die Grundsätze des schweizerischen Parlamentarismus verlangen die physische Anwesenheit der Ratsmitglieder. Fehlen eine beachtliche Zahl Ratsmitglieder wird wahrscheinlich die Frage nach einem Unterbruch bzw. einer Verschiebung der Session zu stellen sein. Um eine Verschiebung zu beschliessen, braucht es die Zustimmung beider Räte. Dies wird in den vorgeschlagenen Bestimmungen so festgehalten.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Von der parlamentarischen Initiative 20.475 zur Initiative 20.483

Im Oktober 2020 stieg die Anzahl der an Covid-19 erkrankten Personen in der Schweiz markant an. Dies bedeutet, dass sich nicht nur immer mehr Infizierte in Isolation befinden, sondern dass auch immer mehr Personen aufgrund von Kontakten mit infizierten Personen sich aufgrund einer behördlichen Weisung in Quarantäne begeben müssen. Es ist anzunehmen, dass auch vermehrt Mitglieder der Bundesversammlung von einer solchen Weisung betroffen sein könnten.

Vor diesem Hintergrund hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrates am 22. Oktober 2020 mit 12 zu 7 Stimmen die Ausarbeitung einer Kommissionsinitiative (20.475) beschlossen. Danach sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass Mitglieder der Bundesversammlung, welche aufgrund einer Quarantäne- oder Isolations-Anordnung nicht physisch an den Sitzungen ihres Rates teilnehmen können, ihre Stimme trotzdem abgeben können. Diese Regelung soll befristet gelten.

Die Staatspolitische Kommission des Ständerates hat diesem Vorhaben am 9. November 2020 mit 7 zu 6 Stimmen nicht zugestimmt.

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates hat sich am 20. November 2020 wieder mit dem Vorhaben befasst. Da die Debatten im Ständerat weniger von den Fraktionen geprägt sind, kann die SPK-N verstehen, dass die Mitglieder des Ständerates weniger Handlungsbedarf sehen. Um der Ständeratskommission entgegen zu kommen, schlug die SPK-N deshalb mit einer neuen parlamentarischen Initiative (20.483) vor, eine Regelung nur für den Nationalrat vorzusehen.

Da aufgrund fehlender Grundlagen in Verfassung und Gesetz zwingend eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden muss, braucht es auch für die Umsetzung dieses Vorhabens die Zustimmung der Ständeratskommission. Die Kommission hat diese Zustimmung am 30. November 2020 mit 8 zu 4 Stimmen erteilt.

1.2

Ausarbeitung einer Vorlage durch die SPK des Nationalrates

Am 1. Dezember 2020 lag der Kommission ein Entwurf für ein dringliches Bundesgesetz vor, mit welchem bis und mit Herbstsession 2021 wegen Covid-19 abwesenden Mitgliedern des Nationalrates die Möglichkeit gegeben werden soll, ihre Stimme ausserhalb des Ratssaals abzugeben. Die Kommission hat diesen Entwurf beraten und mit 18 zu 7 Stimmen zuhanden des Rates verabschiedet. Die Ratsbüros und der Bundesrat erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 4. Dezember 2020, damit die Vorlage von den Räten in der zweiten Sessionswoche behandelt und verabschiedet werden kann.

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Die Kommissionsminderheit lehnt die Vorlage ab. Sie ist der Ansicht, dass der Grundsatz der physischen Teilnahme an den Ratssitzungen nicht in einem unüberlegten Eilverfahren ausser Kraft gesetzt werden soll.

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Ausgangslage

2.1

Der Grundsatz der physischen Teilnahmepflicht der Ratsmitglieder

Gemäss Artikel 159 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) können die Räte nur gültig verhandeln, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder anwesend ist. So wird sichergestellt, dass die Beratungen und Beschlüsse der Räte demokratisch legitimiert sind.1 Damit dieses Quorum zustande kommt, müssen die Mitglieder der Bundesversammlung im Ratssaal physisch anwesend oder in dessen Nähe sein. Dieses Quorum muss nicht nur bei Abstimmungen, sondern auch bei allen Beratungen gegeben sein, auch wenn diese Regel flexibel angewendet wird. Die Pflicht zur Sitzungsteilnahme nach Artikel 10 des Parlamentsgesetzes (ParlG) steht in engem Zusammenhang mit dem Quorum gemäss Artikel 159 BV. Das Verbot der stellvertretenden Stimmabgabe, das in Artikel 56 Absatz 3 des Geschäftsreglementes des Nationalrates (GRN) ausdrücklich vorgesehen ist, ist eines der wichtigsten Instrumente für die Umsetzung dieser Teilnahmepflicht.

2.2

Individualistisches Repräsentationsverständnis und Unmittelbarkeitsprinzip

Aus dem individualistischen Repräsentationsverständnis und dem fehlenden Fraktionszwang im schweizerischen Parlamentarismus ergibt sich, dass ­ anders als dies zur Zeit in gewissen europäischen Parlamenten beobachtet werden kann ­ nicht ein Teil einer Fraktion stellvertretend für einen abwesenden Teil der Fraktion im Parlament agieren kann. Die Ratsmitglieder sind alle gleichberechtigt und haben das Recht, unabhängig von der Meinung ihrer Fraktion im Rat abzustimmen.

Gemäss dem Prinzip der Unmittelbarkeit ist es zudem unabdingbar, dass das Ratsmitglied physisch an der Ratsdebatte anwesend ist, da es ansonsten an seiner unverfälschten Meinungsbildung gehindert sein kann. Anders als dies in parlamentarischen Demokratien bisweilen der Fall ist, laufen im schweizerischen Parlament die Debatten nicht nach einem strikten Drehbuch ab, gemäss welchem auch die Abstimmungsresultate bereits vorgegeben sind. Zwar müssen die Anträge vorher eingereicht werden. Es ist jedoch immer möglich, dass ein Antrag zurückgezogen wird, was Auswirkungen auf die nachfolgenden Anträge hat. Es können zudem Ordnungsanträge gestellt werden, welche das Abstimmungsverfahren ändern. In solchen und auch anderen Fällen wird bisweilen unter den Ratsmitgliedern diskutiert, wie sie sich verhalten wollen. Ein abwesendes Ratsmitglied kann so wesentliche Elemente 1

v. Wyss, Kommentar zum ParlG, Art. 10, Ziff. 5; siehe auch St-Galler Kommentar, Art. 159 BV, Ziff. 2.

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der Meinungsbildung verpassen, welche im schweizerischen Parlament auch noch kurzfristig während der Ratsdebatte stattfinden kann. Daran ändert auch nichts, wenn das Ratsmitglied die Debatte elektronisch verfolgen würde und seinen Abstimmungsentscheid auch kurzfristig mitteilen könnte.

Wenn dennoch die Möglichkeit des Abstimmens ohne physische Präsenz geschaffen werden soll, dann ist sicher eine Lösung, wonach das Ratsmitglied seine Stimme ausserhalb des Ratssaals abgeben kann, einer Stellvertretung vorzuziehen. Voraussetzung für ein Abstimmen ohne physische Präsenz ist jedoch, dass das Ratsmitglied seinen Entscheid möglichst gleichzeitig mit den anderen Abstimmenden kundtun kann.

Obwohl die Stimmabgabe ohne physische Präsenz in mancherlei Hinsicht etwas weniger problematisch ist als die stellvertretende Stimmabgabe, wird dadurch eine Kategorie von Ratsmitgliedern geschaffen, die über weniger Rechte verfügen als ihre anwesenden Kolleginnen und Kollegen. Sie hätten z. B. nicht die Möglichkeit, den Rednerinnen und Rednern Fragen zu stellen oder Anträge und Vorstösse einzureichen.

2.3

Das Schutzkonzept der Bundesversammlung

Im Oktober 2020 stieg die Zahl der mit Covid-19 infizierten Personen markant an.

Aufgrund des in der Bundesversammlung geltenden Schutzkonzepts sollte es möglich sein, dass die Bundesversammlung auch bei weiter steigenden Fallzahlen in jedem Fall tagen kann. Mit dem Schutzkonzept können Ansteckungen während der Parlamentstätigkeit vermieden werden. Kernstück des Schutzkonzeptes sind die durch Plexiglasscheiben abgetrennten Sitzplätze in den Ratssälen und Sitzungszimmern. Dadurch kann verhindert werden, dass ein Ratsmitglied in Quarantäne muss, wenn sich sein Sitznachbar infiziert hat. Wenn die Ratsmitglieder nicht am Platzsind, dann müssen sie eine Maske tragen. Auch damit kann verhindert werden, dass sie aufgrund von Kontakten ausserhalb des Ratssaals in Quarantäne müssen. Somit sollte das in Artikel 159 Absatz 1 BV vorgesehen Quorum für die Verhandlungsfähigkeit gewährleistet sein.

Es ist aber zu befürchten, dass inskünftig mehrere Ratsmitglieder von einer behördlichen Weisung, sich in Isolation oder Quarantäne zu begeben, betroffen sein werden, da sich in ihrem Umfeld infizierte Personen befinden. Auch wenn die Verhandlungsfähigkeit kaum gefährdet sein wird, besteht doch die Gefahr, dass das Erreichen des absoluten Mehrs gemäss Artikel 159 Absatz 3 der Bundesverfassung oder insbesondere bei mehreren Abwesenheitsfällen innerhalb einer Fraktion die Repräsentativität der Entscheide in Frage gestellt werden könnte.

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Grundzüge der Vorlage

3.1

Eine befristete und beschränkte Ausnahme von der Teilnahmepflicht für Mitglieder des Nationalrates

Wie oben dargelegt ist eine nicht physische Teilnahme von Ratsmitgliedern an den Verhandlungen und Abstimmungen nur schwer mit den Prinzipien des schweizerischen Parlamentarismus vereinbar. Allerdings geht es auch darum, dass im Falle steigender Fallzahlen die Weiterführung eines repräsentativen Parlamentsbetriebs gewährleistet werden kann. Es soll deshalb eine zeitlich kurz befristete Lösung vorgesehen werden, wonach es von Covid-19 betroffenen Mitgliedern des Nationalrates in den kommenden Sessionen möglich sein soll, ihre Stimme ausserhalb des Ratssaals abzugeben. Dabei geht es nur um die Teilnahme an Abstimmungen. Eine Zuschaltung für die Abgabe von Voten ist nicht vorgesehen, ebenso wenig das elektronische Einreichen in Abwesenheit von Anträgen, parlamentarischen Initiativen, Vorstössen und Fragen für die Fragestunde. Das einzige Recht, welches die Ratsmitglieder somit aus Distanz wahrnehmen können, ist das Abstimmen, die übrigen parlamentarischen Rechte können nur im Ratssaal ausgeübt werden.

Ebenfalls nicht vorgesehen ist die Teilnahme an Wahlen. Das Wahlgeheimnis könnte bei einer Teilnahme an der Wahl in Abwesenheit nicht gewahrt werden.

Die Möglichkeit des Abstimmens in Abwesenheit soll nur im nach Proporzwahlsystem gewählten Nationalrat gegeben sein. Hier sind die Anforderungen an die parteipolitische Repräsentativität höher als im Ständerat. Kommt hinzu, dass im Ständerat die Diskussionskultur eine andere ist: Die Debatten sind offener, da sie nicht nach so strikten Regeln erfolgen wie die Nationalratsdebatten, so dass ein auf das Abstimmen beschränkte abwesendes Ratsmitglied noch stärker gegenüber den Anwesenden benachteiligt würde, als dies im Nationalrat der Fall ist. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich in dieser Ausnahmesituation die zeitlich und inhaltlich beschränkte unterschiedliche Behandlung der Mitglieder der beiden Räte.

Es wird vorgeschlagen, das Parlamentsgesetz mit einem neuen Artikel 10a zu ergänzen, welcher diese Möglichkeit nur für die Mitglieder des Nationalrates bis und mit Herbstsession 2021 vorsieht.

3.2

Voraussetzungen für eine Teilnahme an Abstimmungen ausserhalb des Nationalratssaals

Die Teilnahme an Abstimmungen, ohne physisch anwesend zu sein, soll nur Mitgliedern des Nationalrates erlaubt sein, die von Covid-19 betroffen sind. Dabei definieren die Ratsmitglieder nicht selber, ob sie von Covid-19 betroffen sind. «Von Covid19 betroffen» heisst, sich gemäss behördlichen Weisungen in Isolation oder Quarantäne begeben zu müssen. Eine Quarantäne entspricht behördlichen Weisungen, wenn sie gemäss den Grundsätzen des BAG erfolgt. Gemäss diesen Grundsätzen muss eine Person in Quarantäne, wenn ein «enger Kontakt» mit einer infizierten Person bestanden hat. Ein «enger Kontakt» hat dann bestanden, wenn sich die Person länger als 15 Minuten ohne Schutz (Hygienemaske oder physische Barriere wie Plexiglasscheibe) in einer Distanz von weniger als 1,5 Metern zu einer infizierten 9276

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Person aufgehalten hat. Betroffene Ratsmitglieder melden dem Ratssekretariat, wenn sie diese Bedingungen erfüllen und sich in Quarantäne zu begeben haben. Auf Verlangen müssen sie eine behördliche Bestätigung vorlegen.

Aus Transparenzgründen muss bekannt sein, wenn die Stimme eines Ratsmitglieds auf der Abstimmungstafel erscheint, ohne dass es im Nationalratssaal anwesend ist.

Möchte ein von Covid-19 betroffenes Ratsmitglied also ausserhalb des Ratssaals abstimmen, dann muss dies bekannt gegeben werden können. Wenn das Ratsmitglied seine Isolation oder Quarantäne für sich behalten möchte, dann gilt es als abwesend aufgrund von Krankheit und ihm steht die Möglichkeit der Teilnahme an der Abstimmung in Abwesenheit nicht offen.

Nationalratsmitgliedern, welche andere Erkrankungen aufweisen, verunfallt oder im Mutterschaftsurlaub sind, kann die Möglichkeit der nicht physischen Teilnahme an Abstimmungen nicht gewährt werden. Diese Ungleichbehandlung rechtfertigt sich mit dem Ausnahmecharakter der vorliegenden Regelung: Am Grundsatz der physischen Teilnahme soll festgehalten werden. Die Ausnahme ist nur im Zusammenhang mit der vorliegenden Pandemie gerechtfertigt. Es sollen denn auch nur Fälle im Zusammenhang mit dieser Pandemie erfasst werden. Von Covid-19 betroffene Ratsmitglieder sind aufgrund behördlicher Vorgaben an der Teilnahme an den Ratssitzungen verhindert. Bei Krankheit und Unfall hingegen handelt es sich um höhere Gewalt. Allenfalls bestehen mithilfe von Medikamenten doch gewisse Teilnahmemöglichkeiten. Noch einmal anders sind Abwesenheiten aufgrund von Mutterschaft zu beurteilen: Diese Ratsmitglieder haben einen gewissen Spielraum, doch an für sie wichtigen Abstimmungen teilzunehmen.

Die Stimmabgabe aller Abstimmenden wird mit einer elektronischen Abstimmungsanlage erfasst. Von Covid-19 betroffene Nationalratsmitglieder sollen die Möglichkeit erhalten, auf einer dafür eingerichteten Website an den Abstimmungen teilzunehmen, wenn sie sich vorher angemeldet haben. Die Ratsmitglieder erhalten für jede Abstimmung eine Link zugeschickt. Wird dieser geöffnet, dann kann die Stimme abgegeben werden, welche dann auf der Anzeigetafel des Abstimmungssystems im Rat erscheint.

Schliesslich ist die Frage zu stellen, ob es ab einer bestimmten Anzahl aufgrund von Covid-19 abwesender Ratsmitglieder noch
sinnvoll ist, wenn die Räte weiter tagen.

In diesem Fall könnte es angezeigt sein, die Session zu unterbrechen oder zu verschieben. Dabei kann es sich auch nur um die Unterbrechung für ein oder zwei Tage handeln oder die Verschiebung um eine Woche. Da die beiden Räte ihre Tätigkeiten aufeinander abstimmen müssen (z.B. im Hinblick auf die Vornahme der Schlussabstimmungen), braucht es für eine Verschiebung die Zustimmung beider Räte. Die entsprechenden Bestimmungen werden in einem neuen Artikel 10b festgehalten.

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Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

4.1

Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13. Dezember 2002 (Parlamentsgesetz ParlG)

Art. 10a

Teilnahme an Abstimmungen im Nationalrat in Abwesenheit wegen Covid-19

Artikel 10 des Parlamentsgesetzes hält die Pflicht zur Sitzungsteilnahme fest. Es wird nun in einem neuen Artikel 10a eine Ausnahmenbestimmung eingefügt, welche befristet ist. Der Grundsatz, dass die Stimmabgabe von Pult aus mit der elektronischen Abstimmungsanlage zu erfolgen hat, gilt weiterhin. Die Ausnahmebestimmung gilt nur für Abstimmungen im Nationalrat, nicht jedoch für Abstimmungen in den Kommissionen. Artikel 46 Absatz 1 des Parlamentsgesetzes kommt hier also nicht zur Anwendung. Ebenso wenig gilt die Regelung für Abstimmungen in der Vereinigten Bundesversammlung sowie bei Wahlen im Rat und in der Vereinigten Bundesversammlung. Bei der Vereinigten Bundesversammlung handelt es sich um ein eigenes Organ, dem die Mitglieder des Nationalrates und des Ständerates angehören. Es können nicht für die verschiedenen Angehörigen eines Organs unterschiedliche Regelungen gelten.

Abs. 1 In Absatz 1 soll festgehalten werden, für welchen Zeitraum die Ausnahmeregelung gilt und unter welchen Voraussetzungen. Es wird vorgeschlagen, die Ausnahme einer Stimmabgabe durch abwesende Mitglieder des Nationalrates bis Ende Herbstsession 2021 zu ermöglichen. Mit dieser kurzen Zeitspanne wird der Ausnahmecharakter der Bestimmung betont. Bis Ende der Herbstsession 2021 ist man immer noch innerhalb der Jahresfrist gemäss Artikel 165 BV.

Es ist vorgesehen, dass nur in Abwesenheit abstimmen kann, wer gemäss behördlichen Weisungen im Zusammenhang mit Covid 19 in Isolation oder Quarantäne ist.

Als «behördliche Weisung» gelten hier die Kriterien des BAG. Aktuell gilt: Eine Quarantäne kann behördlich nur dann angeordnet werden, wenn sich eine Person ohne Schutz (Hygienemaske oder Plexiglasvorrichtung) in weniger als 1,5 Meter Distanz zu einer infizierten Person aufgehalten hat. So muss z.B. nicht in Quarantäne gehen, wer sich in einem Sitzungszimmer aufhielt, in welchem die Abstände gewahrt wurden oder Hygienemasken getragen wurden oder Plexiglaseinrichtungen vorhanden waren, auch wenn sich dort gleichzeitig eine infizierte Person aufgehalten hat. Ebenso wenig hat sich eine Person in Quarantäne zu begeben, wenn ein Familienmitglied in Quarantäne ist.

Wer aufgrund sonstiger Krankheit, Unfall oder Mutterschaft entschuldigt ist, ist ohne physische Teilnahme nicht zur Abstimmung berechtigt. Dies gilt auch dann, wenn ein
Ratsmitglied sich freiwillig in Quarantäne begibt.

Abs. 2 Absatz 2 hält fest, dass die Mitglieder des Nationalrates, die aufgrund von Covid 19 an der Sitzung ihres Rates nicht teilnehmen können, das Ratssekretariat am Vortag entsprechend zu informieren haben, um ihre Stimmen ohne physische Präsenz

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abgeben zu können. So wird sichergestellt, dass das Ratssekretariat früh genug über die notwendigen Informationen verfügt. In seiner Meldung an das Ratssekretariat muss das betreffende Ratsmitglied die Dauer der Quarantäne oder Isolation angeben.

Abs. 3 In Absatz 3 wird das Verfahren zur Stimmabgabe in Abwesenheit festgehalten.

Nachdem die betroffenen Mitglieder des Nationalrates am Vortag der Sitzung dem Ratssekretariat ihre Abwesenheit aufgrund von Covid19 gemeldet haben, erfasst das Sekretariat die zur Abstimmung in Abwesenheit zugelassenen Ratsmitglieder im Abstimmungssystem. Sobald der Präsident das Abstimmungsverfahren im Rat eröffnet hat, erhalten die im System entsprechend erfassten Ratsmitglieder einen Link. Diesen können sie öffnen und ihre Stimme abgeben. Es wird hier davon ausgegangen, dass die Ratsmitglieder die Sorgfaltspflicht beachten und den Link nur eigenhändig öffnen und selber die Stimme abgeben werden. Eine entsprechende Kontrolle ist, wie bei elektronischen Systemen üblich, nicht möglich. Das Ergebnis auf der Anzeigetafel leuchtet auf, wenn alle Abstimmenden erfasst sind.

Zu Beginn jeder Ratssitzung wird bekannt gegeben, welche Ratsmitglieder in Abwesenheit an den Abstimmungen teilnehmen werden.

Eine Wiederholung der Abstimmung aus technischen Gründen soll ausgeschlossen werden. Aufgrund der Verletzlichkeit elektronischer Übermittlungssysteme kann es passieren, dass es einem Ratsmitglied nicht gelingt, sein Stimmverhalten zum erforderlichen Zeitpunkt zu übermitteln. Die Ratsverhandlungen werden auch fortgesetzt, wenn das System für alle in Abwesenheit Stimmenden ausfällt. Es kann nicht in Kauf genommen werden, dass dadurch die Ratsverhandlungen verzögert werden.

Auch würde es das Vertrauen in die Ratsarbeit nicht stärken, wenn dauernd Abstimmungen wiederholt werden müssen.

Art. 10b

Unterbruch oder Verschiebung der Session

Abs. 1 In Absatz 1 wird vorgesehen, dass ein Rat seine Session unterbrechen kann, wenn z.B. die Zahl Abwesender zu gross wird. Solange das verfassungsmässig vorgesehene Quorum erreicht ist, handelt es sich um eine politische Ermessenfrage, wann eine Sitzung unterbrochen werden soll. Dabei ist denkbar, dass nur ein Rat seine Session vielleicht um einen Tag oder zwei Tage unterbricht. Ein Rat kann für sich die Unterbrechung der Session im Rahmen der vorgesehenen Kalenderwochen beschliessen.

Abs. 2 Denkbar ist auch, dass die Session nach hinten verschoben wird, dass also die Session z.B. in der Kalenderwoche nach der ordentlichen Session oder noch später fortgesetzt wird. In diesem Fall braucht der Beschluss eines Rates, die Session zu verschieben, die Zustimmung des anderen Rates, ausser es handelt sich um die Sondersession eines Rates. Die Arbeit der beiden Räte muss aufeinander abgestimmt sein, damit z.B. Differenzbereinigungen und Schlussabstimmungen vorgenommen werden können. Somit macht eine Verschiebung nur Sinn, wenn dies beide Räte beschliessen. Haben beide Räte einer Verschiebung zugestimmt, liegt es an der 9279

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Koordinationskonferenz, den Zeitpunkt und die Dauer der verbleibenden Session festzulegen.

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Finanzielle Auswirkungen

Die Kosten für Entwicklung, Installation und Betrieb der technischen Vorkehrungen für das Abstimmen ausserhalb des Ratssaals werden auf 100 000 Franken geschätzt.

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Rechtliche Aspekte

6.1

Verfassungsmässigkeit

Die Teilnahme an Abstimmungen des Parlamentes bei Abwesenheit ist weder von der Verfassung noch vom Parlamentsgesetz vorgesehen. In Artikel 159 Absatz 1 BV ist von der «Anwesenheit» der Ratsmitglieder die Rede. Die Bestimmung könnte so ausgelegt werden, dass dies nur für die 101 bzw. 24 Ratsmitglieder notwendig ist, welche es braucht, damit das Kriterium der «Mehrheit» erfüllt ist. Allerdings ist eher nicht davon auszugehen, dass der Verfassungsgeber der Meinung war, dass 101 bzw. 24 Ratsmitglieder vor Ort sein müssen und die anderen sich elektronisch zuschalten können. Eine klare Verfassungsgrundlage für das hier vorgesehene Vorhaben liegt deshalb nicht vor. Die von den beiden Staatspolitischen Kommissionen am 22. Oktober 2020 durchgeführten Anhörungen haben gezeigt, dass in diesem Fall das dringliche Bundesgesetz ohne Verfassungsgrundlage wohl die geeignete Erlassform wäre.

6.2

Erlassform

Es wird hier deshalb vorgeschlagen, ein dringliches Bundesgesetz gemäss Artikel 165 Absatz 3 BV vorzusehen, wonach keine Verfassungsgrundlage notwendig ist. Das Gesetz wird bis am 1. Oktober 2021 befristet. Somit ist die Geltungsdauer kürzer als ein Jahr und das Gesetz ist dem obligatorischen Referendum nicht unterstellt (Art. 140 Abs. 1 Bst. c BV e contrario). Sollte die Koordinationskonferenz es nicht mehr als wünschenswert oder sinnvoll erachten, dass die Möglichkeit des Abstimmens in Abwesenheit weiterhin besteht, dann kann sie die vorzeitige Aufhebung des Gesetzes beschliessen.

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