20.061 Botschaft zur Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» vom 19. August 2020

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

19. August 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2020-0871

6821

Übersicht Die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» möchte die Unabhängigkeit der Bundesrichterinnen und Bundesrichter von den politischen Parteien fördern, insbesondere in Bezug auf ihre Nominierung, Wahl und Wiederwahl. Die fachliche und persönliche Qualifikation der Richterinnen und Richter soll im Vordergrund stehen, und nicht deren Mitgliedschaft in einer Partei. Die Initiative schlägt daher für die Bundesrichterinnen und Bundesrichter eine Bestimmung mittels Losverfahren vor sowie eine grundsätzlich unbefristete Amtsdauer.

Der Bundesrat lehnt die Initiative ab, da das Losverfahren dem Schweizer System fremd ist. Auf Bundes- und Kantonsebene wählt das Parlament oder das Volk die Richterinnen und Richter. Die Einführung eines Losverfahrens würde die demokratische Legitimation des Bundesgerichts schwächen.

Inhalt der Initiative Die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» wurde am 26. August 2019 mit 130 100 gültigen Unterschriften eingereicht.

Die Initiative verlangt, dass der Bund die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts mittels Losentscheid bestimmt. Wer zum Losverfahren zugelassen wird, soll eine unabhängige Fachkommission entscheiden. Der Bundesrat würde die Mitglieder dieser Kommission für eine einmalige Amtsdauer von zwölf Jahren wählen. Die Fachkommission soll nur Personen zum Losentscheid zulassen, die fachlich und persönlich für das Amt geeignet sind. Das Verfahren wäre so auszugestalten, dass die Amtssprachen am Bundesgericht angemessen vertreten sind. Die Amtsdauer der Bundesrichterinnen und Bundesrichter würde fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters enden, d.h. mit 69 für Frauen bzw. 70 Jahren für Männer.

Die Möglichkeit der Wiederwahl fiele weg. Dafür sieht die Initiative in Artikel 145 Absatz 2 BV vor, dass eine Richterin oder einen Richter auf Antrag des Bundesrates abberufen werden kann, wenn die Person ihre Amtspflicht verletzt hat oder amtsunfähig wurde.

Vorzüge und Mängel der Initiative Der Bundesrat hat grundsätzlich Verständnis für einige der Ziele und Anliegen der Initiantinnen und Initianten. Auch dem Bundesrat ist die Unabhängigkeit des Bundesgerichts und der einzelnen Richterinnen und Richter ein wichtiges
Anliegen. Der Bundesrat anerkennt zudem ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen einer unabhängigen Amtsführung und dem zurzeit praktizierten System, wonach Richterinnen und Richter faktisch Mitglied einer politischen Partei sein und Mandatssteuern bezahlen müssen. Weiter hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass für Richterinnen und Richter einzelne ihrer Urteile Konsequenzen im Wiederwahlverfahren haben könnten. Problematisch ist dabei der Druck, den Parteien und Parlamentsmitglieder auf die richterliche Unabhängigkeit ausüben können, wenn sie Richterin-

6822

nen und Richtern mit der Nichtwiederwahl drohen. Eine einmalige Amtsdauer wäre deshalb grundsätzlich geeignet, die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern zu stärken. Das Losverfahren könnte zudem die Chancen von Parteilosen erhöhen, Bundesrichterin oder Bundesrichter zu werden.

Trotzdem ist der Bundesrat der Ansicht, dass die vorgeschlagenen Massnahmen der Initiative, insbesondere das Losverfahren, nicht geeignet sind, die Probleme zu beheben, welche die Initiantinnen und Initianten bemängeln; sie schaffen stattdessen neue. Das Losverfahren bestimmt nicht die besten Kandidatinnen und Kandidaten aus der Auswahl der Fachkommission zu Richterinnen oder Richtern, sondern die vom Los begünstigten. Es schwächt die Stellung des Parlaments und der politischen Parteien sowie die demokratische Legitimation der Justiz und damit allenfalls auch die Akzeptanz des Bundesgerichts und seiner Urteile in der Bevölkerung. Das Losverfahren widerspricht schliesslich der Tradition, nach der in Bund und Kantonen das Volk oder das Parlament die Richterinnen und Richter wählt und damit demokratisch legitimiert. Ungewöhnlich ist zudem, dass die Vereinigte Bundesversammlung die Bundesrichterinnen und Bundesrichter zwar nicht mehr wählen, jedoch in einem neuartigen Verfahren abberufen kann.

Zu einigen zentralen Punkten äussert sich der Initiativtext nicht: So finden sich keine Angaben zur Grösse und Zusammensetzung der Fachkommission, zur Ausgestaltung des Losverfahrens und zum Begriff der persönlichen Eignung, welche der Initiativtext nebst der fachlichen Eignung von den Kandidierenden für die Zulassung zum Losverfahren verlangt. Je nach gesetzgeberischer Umsetzung würde zudem die Vereinigte Bundesversammlung weiterhin die Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesstrafgerichts und des Bundespatentgerichts wählen.

Völlig offen ist auch, ob und wie sich eine ausgewogene Zusammensetzung des Gerichts gewährleisten lässt, namentlich hinsichtlich Geschlecht, regionaler Herkunft sowie politischer Grundhaltung.

Antrag des Bundesrates Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten mit dieser Botschaft, die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» Volk und Ständen ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen.

6823

BBl 2020

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» hat den folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 145

Amtsdauer

Die Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sowie die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler werden auf die Dauer von vier Jahren gewählt. Die Amtsdauer der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts endet fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters.

1

Die Vereinigte Bundesversammlung kann auf Antrag des Bundesrates mit einer Mehrheit der Stimmenden eine Richterin oder einen Richter des Bundesgerichts abberufen, wenn diese oder dieser: 2

a.

Amtspflichten schwer verletzt hat; oder

b.

die Fähigkeit, das Amt auszuüben, auf Dauer verloren hat.

Art. 168 Abs. 1 Die Bundesversammlung wählt die Mitglieder des Bundesrates, die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler sowie den General.

1

Art. 188a

Bestimmung der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts

Die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts werden im Losverfahren bestimmt. Das Losverfahren ist so auszugestalten, dass die Amtssprachen im Bundesgericht angemessen vertreten sind.

1

Die Zulassung zum Losverfahren richtet sich ausschliesslich nach objektiven Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung für das Amt als Richterin oder Richter des Bundesgerichts.

2

Über die Zulassung zum Losverfahren entscheidet eine Fachkommission. Die Mitglieder der Fachkommission werden vom Bundesrat für eine einmalige Amtsdauer von zwölf Jahren gewählt. Sie sind in ihrer Tätigkeit von Behörden und politischen Organisationen unabhängig.

3

1

SR 101

6824

BBl 2020

Art. 197 Ziff. 122 12. Übergangsbestimmung zu den Art. 145 (Amtsdauer), 168 Abs. 1 und 188a (Bestimmung der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts) Ordentliche Richterinnen und Richter des Bundesgerichts, die bei Inkrafttreten der Artikel 145, 168 Absatz 1 und 188a im Amt sind, können noch bis zum Ende des Jahres, in dem sie das 68. Altersjahr vollenden, im Amt bleiben.

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» wurde am 1. Mai 2018 von der Bundeskanzlei vorgeprüft3 und am 26. August 2019 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 17. September 2019 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 130 100 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.4 Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20025 hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 26. August 2020 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 des Parlamentsgesetzes bis zum 26. Februar 2022 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen. Sie kann die Behandlungsfrist um ein Jahr verlängern, wenn die Voraussetzungen gemäss Artikel 105 des Parlamentsgesetzes erfüllt sind. Gestützt auf Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 5 der Verordnung über den Fristenstillstand bei eidgenössischen Volksbegehren vom 20. März 20206 verlängern sich die entsprechenden Fristen um 72 Tage.

1.3

Gültigkeit

Die Justiz-Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 BV:

2 3 4 5 6

a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Die Verfassungsergänzungen in den Artikeln 145 und 168 Absatz 1 sowie der neue Artikel 188a und die neue Übergangsbestimmung dienen alle demselben Initiativziel: das Wahlverfahren der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts zu ändern und diese neu mittels Los zu bestimmen. Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht somit ein sachlicher Zu-

Die endgültige Ziffer dieser Übergangsbestimmung wird nach der Volksabstimmung von der Bundeskanzlei festgelegt.

BBl 2018 2669 BBl 2019 6271 SR 171.10 AS 2020 847

6825

BBl 2020

sammenhang. Die Initiative erfüllt daher die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c.

Das vorgesehene Losverfahren sowie die Änderung des Wahlverfahrens der Bundesrichterinnen und Bundesrichter insgesamt verstösst gegen keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

Die Änderung des Wahlverfahrens der Bundesrichterinnen und Bundesrichter, welche die Justiz-Initiative fordert, namentlich die Einführung eines Losverfahrens, führt zu keinen faktisch unlösbaren Problemen. Die Justiz-Initiative erfüllt damit neben den Gültigkeitsvoraussetzungen nach Artikel 139 Absatz 3 BV auch die Gültigkeitsvoraussetzung der faktischen Durchführbarkeit.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

Die Ausgangslage bezüglich der Wahl der Bundesrichterinnen und -richter ist sowohl unter nationalen, kantonalen als auch internationalen Gesichtspunkten zu erläutern. Insbesondere werden im Folgenden die aktuelle Rechtslage in der Schweiz, die bisherigen Diskussionen in Parlament und Bundesrat und die Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) zu berücksichtigen sein.

2.1

Ausgangslage auf Bundesebene

Nach geltendem Recht wählt die Vereinigte Bundesversammlung die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts für sechs Jahre (Art. 168 Abs. 1 i.V.m. Art. 145 BV). Die Wahl wird von einer Parlamentskommission, der Gerichtskommission, vorbereitet. Eine Wiederwahl ist mehrmals möglich. Das geltende Recht sieht kein spezifisches Abberufungsverfahren für Bundesrichterinnen und Bundesrichter vor.

Es besteht nur eine gesetzliche Möglichkeit, eine Bundesrichterin oder einen Bundesrichter während der Amtsdauer an der Ausübung des Amts zu hindern: Bei Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung, die sich auf die amtliche Tätigkeit oder Stellung bezieht, kann die Vereinigte Bundesversammlung eine Einstellung im Amt beschliessen (Art. 14 Abs. 5 Verantwortlichkeitsgesetz vom 14. März 1958 7).8 Grundsätzlich ist gemäss Bundesverfassung jede stimmberechtigte Person als Bundesrichterin oder Bundesrichter wählbar (Art. 143 BV). Da aber die politischen Parteien die Kandidatinnen und Kandidaten vorschlagen und das Parlament freiwillig die Proporzansprüche der Parteien berücksichtigt, ist die Mitgliedschaft in einer politischen Partei in der Praxis regelmässig gegeben.

Es ist zudem üblich, aber nicht gesetzlich vorgesehen, dass die gewählten Richterinnen und Richter eine finanzielle Abgeltung an ihre Partei zahlen (Mandats- oder

7 8

SR 170.32 Hansjörg Seiler, Art. 8 Amtsdauer, in: Seiler/von Werdt/Güngerich/Oberholzer (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz (BGG), 2. Aufl., Bern 2015, S. 41 ff., S. 43 N 7 f.

6826

BBl 2020

Parteisteuer); diese Praxis dient der Parteienfinanzierung, die in der Schweiz nicht staatlich organisiert ist.

Die Bundesrichterinnen und Bundesrichter sind laut Bundesverfassung in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit unabhängig und nur dem Recht verpflichtet (Art. 191c BV).

Ein Losverfahren für Richterinnen- und Richterwahlen kennt die Schweiz weder auf nationaler noch auf kantonaler Ebene. Die wenigen, gesetzlich vorgesehenen Fälle einer Losziehung erfüllen einen anderen Zweck. Die Losziehung kommt dann zum Einsatz, wenn alle anderen Massnahmen versagt haben, wie das folgende Beispiel von Artikel 37 Absatz 3 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 20059 zur Frage des Ausstandes zeigt: Verlangt eine Verfahrenspartei den Ausstand von so vielen Gerichtspersonen, dass keine gültige Verhandlung stattfinden kann, so bestimmt die Präsidentin beziehungsweise der Präsident des Bundesgerichts einen ausserordentlichen Spruchkörper mittels Los und zwar aus einem gesetzlich umschriebenen Kreis bereits gewählter Präsidentinnen und Präsidenten der kantonalen Obergerichte.

2.2

Thematisch verwandte Geschäfte auf Bundesebene

Der Bundesrat beziehungsweise die Bundesversammlung diskutierte das Thema der Wahlkriterien für Richterinnen und Richter sowie den Stellenwert der Parteizugehörigkeit für eine Wahl bei folgenden Geschäften:

9 10 11 12

­

In der Botschaft zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes vom 15. Juni 201810 setzte sich der Bundesrat unter anderem mit der Frage der richterlichen Unabhängigkeit auseinander und anerkannte, «dass Druckversuche von Seiten der politischen Kräfte nicht ganz ausgeschlossen werden können»11.

Auch im Hinblick auf die Mandatssteuer auf Richtergehälter stellten sich gewisse Fragen zur richterlichen Unabhängigkeit bzw. deren Wahrnehmung in der Bevölkerung. Der Bundesrat verzichtete jedoch darauf, vorzuschlagen, die Mandatssteuer und das Wiederwahlverfahren abzuschaffen, da dies im Moment politisch nicht mehrheitsfähig sei.

­

Die parlamentarische Initiative (pa.Iv.) von alt Ständerat Comte «Für eine angemessene Vertretung der Geschlechter in den Bundesbehörden» vom 29. September 201712 verlangte eine angemessene Vertretung der Geschlechter bei Wahlen durch die Bundesversammlung. In ihren Kommissionsberichten beantragten die Staatspolitischen Kommissionen des Nationalrates und des Ständerates, der pa.Iv. keine Folge zu geben. In den Erwägungen verweisen sie auf zwei Aspekte: Zum einen sei die Einhaltung des Parteienproporzes das wichtigste Kriterium bei der Richterwahl für eidSR 173.110 BBl 2018 4605; NR hat am 13. März 2019 die Vorlage angenommen, SR ist am 17. Dezember 2019 nicht auf die Vorlage eingetreten.

BBl 2018 4626 f.

17.484 pa.Iv. Comte. Für eine angemessene Vertretung der Geschlechter in den Bundesbehörden.

6827

BBl 2020

genössische Gerichte13; zum andern sei es die Aufgabe der Parteien, Frauenkandidaturen aufzubauen14. Diese Äusserungen verdeutlichen den Stellenwert, welche das Parlament den politischen Parteien bei Richterwahlen zugesteht. Der Ständerat gab der pa.Iv. am 14. März 2018 Folge, wogegen der Nationalrat diese am 4. März 2019 ablehnte.

­

Im Rahmen der Beratung des Bundesgesetzes über das Bundesstrafgericht befasste sich die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates eingehend mit der Frage der Aufsicht über die Gerichte und der Wahl der Richterinnen und Richter. Im Zusatzbericht vom 16. November 200115 schlug die Rechtskommission des Ständerates die Schaffung einer Justizkommission vor. In der Folge erarbeitete die Rechtskommission einen separaten Gesetzesentwurf (Bundesgesetz über die Justizkommission JKG, Entwurf16). Demnach wäre die Justizkommission ergänzend zur Bundesversammlung tätig gewesen und hätte als Brücke zwischen dem Parlament und den Gerichten gewirkt. Gemäss Artikel 1 des Entwurfs zum JKG wäre die Justizkommission als Hilfsorgan der Vereinigten Bundesversammlung konzipiert gewesen, indem sie der Bundesversammlung bei der Vorbereitung der Richterwahlen für das Bundesgericht, das Bundesstrafgericht und das Militärkassationsgericht sowie bei der Ausübung der Oberaufsicht über das Bundesstrafgericht unterstützend zur Verfügung gestanden wäre. Die Wahlkompetenz der Vereinigten Bundesversammlung wäre gewahrt geblieben, ebenso die Oberaufsicht. Die Justizkommission sollte gewährleisten, dass nur Personen für eine Richterwahl in Frage kommen, welche den fachlichen und persönlichen Anforderungen des Richteramtes bestmöglich genügen. Der Ständerat lehnte am 19. März 2002 die Einsetzung einer Justizkommission ab.

Das Parlament hat demnach mit den Zielen der Justiz-Initiative verwandte Geschäfte bereits zu einem früheren Zeitpunkt diskutiert. Die Vorlagen erwiesen sich jeweils als politisch nicht mehrheitsfähig.

2.3

Kantonale Regelungen

Die Kantone kennen keine Richterwahlen mittels Losentscheid. Vielmehr wählt in 15 Kantonen das Volk und in 9 Kantonen das Parlament die erstinstanzlichen Gerichte. In den Kantonen Waadt und Wallis wählt dagegen das Kantonsgericht die Richterinnen und Richter der ersten Instanzen.

Die Mitglieder der zweitinstanzlichen Gerichte werden in 8 Kantonen vom Volk und in 17 Kantonen vom Parlament gewählt. Im Kanton Schwyz werden der Präsident

13 14 15

16

Bericht der Staatspolitischen Kommission des NR vom 22. Februar 2019 zur pa.Iv. 17.484.

Bericht der Staatspolitischen Kommission des SR vom 18. Januar 2018 zur pa.Iv. 17.484.

Totalrevision der Bundesrechtspflege, Zusatzbericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates zum Entwurf für ein Bundesgesetz über die Justizkommission (JKG); www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2002/1181.pdf.

Entwurf JKG: www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2002/1199.pdf.

6828

BBl 2020

oder die Präsidentin vom Parlament (Kantonsrat) und die übrigen Richterinnen und Richter von den Stimmberechtigten gewählt.

In sämtlichen Kantonen berücksichtigen die Wahlorgane den Parteienproporz, selbst wenn keine gesetzlich verankerte Pflicht dazu besteht17. Ebenfalls üblich ist, dass die gewählten Richterinnen und Richter eine Mandatssteuer an die unterstützende Partei entrichten. Es verbietet kein Kanton die Mandatssteuer.

Was die Amtsdauer betrifft, so werden nur im Kanton Freiburg die Mitglieder der richterlichen Gewalt auf unbestimmte Zeit (bis Vollendung des 65. Altersjahrs) gewählt.18 Ein Wiederwahlverfahren ist daher unnötig. Dafür ermöglicht der Kanton Freiburg eine Abberufung. Bei allen anderen Kantonen, ausser dem Kanton Tessin, liegt die Amtsdauer der Richterinnen und Richter zwischen 4 und 6 Jahren: bei 4 Jahren in 15 Kantonen, bei 5 Jahren in 2 Kantonen und bei 6 Jahren in 7 Kantonen.

Das Tessiner Kantonsparlament wählt seine Richterinnen und Richter dagegen auf zehn Jahre. Ausser dem Kanton Freiburg sehen alle Kantone eine Wiederwahl vor.

Das Wahlorgan bleibt dabei dasselbe wie bei der Erstwahl.

Während bei Richterwahlen der Losentscheid in allen Kantonen gänzlich unbekannt ist, kennen mehrere Kantone das Konzept einer vorgeschalteten Fachkommission.

So setzen die Westschweizer Kantone Freiburg, Genf, Jura sowie Wallis Magistraturräte für die Wahlvorbereitung und die -empfehlung ein. Im Kanton Tessin prüft ein unabhängiges Expertengremium die Kandidierenden und gibt eine Wahlempfehlung ab. In den übrigen Fällen von Wahlen durch das Parlament obliegt die Vorbereitung der Wahl ­ wie auf Bundesebene ­ einer Parlamentskommission. Nachfolgend kantonale Beispiele von vorgelagerten Magistraturräten:

17

18

19 20 21

­

Der Kanton Freiburg kennt einen Justizrat. Diese unabhängige Aufsichtsbehörde über die Justiz19 besteht aus neun Mitgliedern (zwei Abgeordnete, zwei externe Fachleute, drei Justizvertreterinnen und -vertreter; zwei nicht näher spezifizierte Mitglieder), die der Grosse Rat für die Dauer von fünf Jahren wählt. Der Justizrat begutachtet die Bewerbungen für die Ämter der richterlichen Gewalt und der Staatsanwaltschaft zuhanden des Grossen Rates und stützt sich dabei auf die Ausbildung, die berufliche Erfahrung und die persönlichen Qualitäten der Kandidatinnen und Kandidaten.20

­

Im Kanton Genf beurteilt der Aufsichtsrat der Gerichte (Conseil supérieur de la magistrature) vor jeder Wahl die Kompetenzen der Kandidierenden und bezieht dazu Stellung. Mit Hilfe dieser Stellungnahme wählen die kantonalen Stimmberechtigten anschliessend die erst- und zweitinstanzlichen Richterinnen und Richter.21 Dem Aufsichtsrat der Gerichte obliegt die Aufsicht über die Magistratspersonen der richterlichen Gewalt. Er setzt sich aus Vgl. hierzu auch Giuliano Racioppi, Die moderne «Paulette»; Mandatssteuern von Richterinnen und Richtern, in: «Justice ­ Justiz ­ Giustizia» 2017/3; inkl. weitere Literaturverweise.

Art. 121 Abs. 2 Verfassung des Kantons Freiburg (SR 131.219); siehe Pascal Mahon / Roxanne Schaller, Le système de réélection des juges: évidence démocratique ou épée de Damoclès?, Justice ­ Justiz ­ Giustizia 2013/1, Rz. 18.

Art. 125 Verfassung des Kantons Freiburg (SR 131.219).

Art. 126b und 128 Verfassung des Kantons Freiburg (SR 131.219).

Art. 127 Verfassung der Republik und des Kantons Genf (SR 131.234).

6829

BBl 2020

sieben bis neun Mitgliedern zusammen.22 Nur eine Minderheit der Mitglieder des Aufsichtsrats darf aus der richterlichen Gewalt stammen 23.

­

Im Kanton Jura bereitet der Justizaufsichtsrat die Wahl der Justizbehörden vor und unterbreitet dem Parlament Wahlvorschläge. Der Justizaufsichtsrat berücksichtigt dabei die Ausbildung, die berufliche Erfahrung und die persönlichen Qualitäten der Kandidatinnen und Kandidaten.24 Das Parlament wählt anschliessend die erst- und zweitinstanzlichen Richterinnen und Richter. Der Justizaufsichtsrat setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der politischen Organe, der Justiz und des Anwaltsverbandes.

­

Der Kanton Wallis verabschiedete ein Gesetz, das einen Magistraturrat (Conseil de la magistrature) vorsieht. Unter anderem ist der Magistraturrat zusammen mit der Gerichtskommission zuständig für die Wahlempfehlungen zuhanden des Grossen Rates betreffend die kantonalen Richterinnen und Richter und die Staatsanwälte. Der Magistraturrat setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen (Vertreterinnen und Vertreter des Walliser Anwaltsverbands, des Justizbereichs, des Parlaments sowie 2 Mitglieder mit speziellen Kenntnissen25).

­

Im Kanton Tessin wählt der Grosse Rat die kantonalen Richterinnen und Richter. Eine unabhängige Expertenkommission, bestehend aus fünf Mitgliedern, gibt dazu einen Wahlvorschlag ab, nachdem sie die Kandidierenden geprüft hat. Die Mitglieder des Staatsrats, des Grossen Rats, der kantonalen richterlichen Gewalt, des Richterrats und die kantonalen Bediensteten dürfen der Kommission nicht angehören.26

Ebenso beachten Kantone persönliche und fachliche Anforderungen für die kantonalen Richterstellen. Die kantonalen Rechtsgrundlagen fallen jedoch unterschiedlich streng aus: So müssen z. B. vollamtliche Richterinnen und Richter in den Kantonen Glarus, Neuenburg, Nidwalden, Thurgau nebst Wohnsitz im Kanton bloss über die Stimmberechtigung verfügen. Die Mehrheit der Kantone sieht dagegen weitere Kriterien vor, wie eine juristische Ausbildung, das Anwaltspatent, einen einwandfreien Leumund sowie die Zweisprachigkeit.27

22 23 24 25 26 27

Zur Zusammensetzung vgl. Art. 17 Loi sur l'organisation judiciaire, E 2 05 Recueil systématique genevois.

Art. 125 und 126 Verfassung der Republik und des Kantons Genf (SR 131.234).

Art. 8, 8a et 8b de la loi d'organisation judiciaire du 23 février 2000; 181.1 Recueil systématique jurassien.

Zur Zusammensetzung vgl. Art. 5 und 6 Loi sur le Conseil de la magistrature vom 13.09.2019 (noch nicht in Kraft).

Art. 5 Legge sull'organizzazione giudiziaria (raccolta delle leggi del Cantone Ticino 177.100).

Eine kurze Übersicht findet sich in Georg Grundstäudl, Die Richtermacher: Anforderungen, Akteure und Modelle der Richterauswahl, in «Justice ­ Justiz ­ Giustizia» 2019/2, Rz. 17.

6830

BBl 2020

2.4

Ausgangslage auf internationaler Ebene

2.4.1

Rechtslage in anderen Ländern

Was die Amtsdauer betrifft, so werden von den 47 Mitgliedern des Europarates in 44 Ländern die Richterinnen und Richter bis zum Pensionsalter gewählt oder sind nicht absetzbar28. Nur Andorra, Liechtenstein und die Schweiz wählen die Richterinnen und Richter des jeweiligen obersten Gerichts für eine befristete vierjährige beziehungsweise sechsjährige Amtsdauer.

Wahlorgan der Richterinnen und Richter ist in der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates und in den USA die Exekutive, allenfalls mit der Zustimmung der Legislative. In den USA beispielsweise wählt der Präsident oder die Präsidentin die Bundesrichterinnen und Bundesrichter mit der Zustimmung der Mehrheit des Senates. In Deutschland werden die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt.29 In Frankreich wird der Conseil constitutionnel (Verfassungsgericht) zu einem Drittel von der Staatspräsidentin oder dem Staatspräsidenten, der Präsidentin oder dem Präsidenten der Nationalversammlung und der Präsidentin oder dem Präsidenten des Senats ernannt.30 In Österreich bestimmt die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung bzw. des Nationalrates und des Bundesrates die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs.31 Mit wenigen Ausnahmen findet in der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates eine Vorauswahl durch ein ­ vorwiegend ­ unabhängiges Fachgremium statt. Teilweise setzt sich das Gremium, welches die Vorauswahl trifft, auch politisch zusammen. In Deutschland z. B. trifft ein Richterwahlausschuss die Selektion für die Wahl der Bundesrichterinnen und -richter.32 In den USA finden die Anhörung und die Nominierung der Kandidatinnen und Kandidaten als Bundesrichterin oder Bundesrichter durch das «Senate Judiciary Committee», einem vorwiegend politischen Gremium, statt.

Was die Mandatssteuer betrifft, so ist sie gemäss Racioppi «europaweit und wohl weltweit einzigartig»33. Eine derartige Verbindung zwischen Richterinnen und Richtern und einer politischen Partei dürfte in den meisten europäischen Ländern das Konzept der richterlichen Unabhängigkeit verletzen. Diese Schweizer Eigenart hängt damit zusammen, dass sich die politischen Parteien in der Schweiz nicht durch staatliche Mittel finanzieren, wogegen andere Länder für ihre Parteien öffentliche Zuschüsse leisten, wie z. B. Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich. 34

28 29 30 31 32

33 34

Edition 2018 du rapport de la Commission européenne pour l'efficacité de la justice (CEPEJ), «Systèmes judiciaires européens, Efficacité et qualité de la justice», S. 119.

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, §5.

Constitution du 4 octobre 1958, art. 56.

Art. 134 Bundes-Verfassungsgesetz vom 19. Dezember 1945.

Die Übersicht basiert grösstenteils auf der Edition 2018 du rapport de la Commission européenne pour l'efficacité de la justice (CEPEJ), «Systèmes judiciaires européens, Efficacité et qualité de la justice».

Giuliano Racioppi, Die moderne «Paulette»: Mandatssteuern von Richterinnen und Richtern, publiziert in «Justice ­ Justiz ­ Giustizia», 2017/3, S. 4.

Botschaft zur Transparenzinitiative; Kapitel 2.1.2, BBl 2018 5623, hier 5632f.

6831

BBl 2020

2.4.2

Empfehlungen der GRECO

Die Staatengruppe des Europarates gegen Korruption (Groupe d'Etats contre la Corruption, GRECO) unterstützt und fördert mit wechselseitigen Länderexamen die Korruptionsbekämpfung durch die Mitgliedstaaten. Die GRECO wurde 1999 vom Europarat gegründet. Mit Ratifizierung des Strafrechtsübereinkommens vom 27. Januar 199935 über Korruption wurde die Schweiz im Jahr 2006 zugleich auch Mitglied der GRECO.

Die GRECO führt in allen 50 Mitgliedländern Evaluationen zu Bereichen der Korruptionsbekämpfung und -prävention, einschliesslich der Integrität der Institutionen, durch. Der daraus resultierende Evaluationsbericht enthält Empfehlungen, deren Umsetzung in Konformitätsberichten überprüft wird.

In ihrer vierten Länderprüfung nahm die GRECO die Korruptionsbekämpfung und -prävention in Parlamenten, Gerichten und Staatsanwaltschaften in den Mitgliedländern unter die Lupe. Im Evaluationsbericht zur Schweiz von 2016 richtete die GRECO zwölf Empfehlungen an die Schweiz.36 Von Interesse sind in diesem Zusammenhang die Empfehlungen zur Korruptionsbekämpfung und -prävention bei Gerichten (insbesondere die Empfehlungen vi und vii). Die Empfehlung vi enthält Massnahmen, um die Qualität und Objektivität der Rekrutierung der Richterinnen und Richter an den eidgenössischen Gerichten zu steigern und stärker zu gewichten.

Die GRECO empfiehlt sodann in Empfehlung vii: (i) die Praxis aufzugeben, wonach Richter der eidgenössischen Gerichte einen fixen oder prozentualen Anteil ihres Gehalts den politischen Parteien abgeben; (ii) dafür zu sorgen, dass die Bundesversammlung die Nichtwiederwahl von Richterinnen und Richtern der eidgenössischen Gerichte nicht mit den von diesen gefällten Entscheiden begründet; (iii) die Änderung oder Aufhebung des Wiederwahlverfahrens für diese Richterinnen und Richter durch die Bundesversammlung zu prüfen.

Der erste Konformitätsbericht37 zur Schweiz, den die GRECO am 13. Juni 2019 veröffentlichte, kam zum Schluss, dass in Sachen Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern noch Handlungsbedarf bestehe. Zwar anerkannte die GRECO, dass sowohl der Bundesrat wie auch das Parlament die Frage des Wahlsystems im Lichte der Empfehlung sorgfältig geprüft haben. Die Gefahr, dass Richterinnen und Richter aus politischen Gründen abgewählt werden können, sei jedoch nach wie vor vorhanden und die Beibehaltung
der Mandatssteuer an die politischen Parteien verstosse weiterhin gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.

Die Schweiz muss die GRECO voraussichtlich bis im Herbst 2020 über den Stand der Umsetzung der offenen Empfehlungen informieren. Gestützt darauf wird die GRECO 2021 einen zweiten Konformitätsbericht zur Schweiz verabschieden.

35 36 37

SR 0.311.55 Vierte Evaluationsrunde, Evaluationsbericht Schweiz, am 2. Dezember 2016 von der GRECO verabschiedet.

Vierte Evaluationsrunde, Konformitätsbericht Schweiz, am 22. März 2019 von der GRECO verabschiedet.

6832

BBl 2020

3

Ziele und Inhalt der Initiative

3.1

Ziele der Initiative

Die Initiantinnen und Initianten wollen mit ihrem Vorschlag erreichen, dass in Zukunft die Bundesrichterinnen und Bundesrichter von politischen Parteien unabhängig sind, sei es in Bezug auf ihre Nominierung, sei es in Bezug auf eine allfällige Wiederwahl. Die fachliche und persönliche Qualifikation soll im Vordergrund stehen und nicht die Parteimitgliedschaft. Bundesrichterinnen und Bundesrichter sollen ihre Entscheide fällen können, ohne dabei Interessenkonflikten und politischer Beeinflussung ausgesetzt zu sein. Die Initiantinnen und Initianten möchten die Akzeptanz des Bundesgerichts in der Bevölkerung erhöhen und damit letztlich das demokratische System stärken.

3.2

Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

Die Justiz-Initiative schlägt vier Hauptelemente vor, mit denen sie die angestrebten Ziele erreichen möchte: (i) In Zukunft sollen die Bundesrichterinnen und Bundesrichter mittels Losentscheid bestimmt werden. (ii) Eine vom Bundesrat gewählte Fachkommission würde entscheiden, wer zum Losverfahren zugelassen wird.

(iii) Die Richterinnen und Richter würden für eine einmalige Amtsdauer bestimmt, welche fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters endet. (iv) Die Bundesversammlung könnte die Bundesrichterinnen und Bundesrichter jedoch auf Antrag des Bundesrates abberufen, wenn sie amtsunfähig sind oder in schwerwiegender Weise ihre Amtspflichten verletzt haben.

3.3

Auslegung und Erläuterung des Initiativtextes

Die Justiz-Initiative sieht vor, in der Bundesverfassung die Artikel 145 (Amtsdauer) und 168 Absatz 1 (Wahl durch Bundesversammlung) zu ändern, einen neuen Artikel 188a (Bestimmung der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts) sowie eine Übergangsbestimmung (Art. 197 Ziff. 12) einzufügen.

Art. 145 Abs. 1 Heute beträgt die Amtsdauer für Bundesrichterinnen und Bundesrichter sechs Jahre (Art. 145 zweiter Satz BV). Richterinnen und Richter scheiden am Ende des Jahres aus ihrem Amt aus, in dem sie das 68. Altersjahr vollenden (Art. 9 Abs. 2 Bundesgerichtsgesetz). Gemäss Initiativtext endet die Amtsdauer der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters (Art. 145 Abs. 1 zweiter Satz), und damit zurzeit nach Vollendung des 69. Altersjahrs für Frauen und des 70. Altersjahrs für Männer. Das ordentliche Rentenalter bestimmt sich dabei nach dem Bundesgesetz vom 20. Dezember 194638 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung und liegt zurzeit bei 65 Altersjahren für die 38

SR 831.10

6833

BBl 2020

Männer und bei einem Jahr weniger für die Frauen (vgl. Art. 21 Abs. 1 Bst. a und b AHVG). Der erste Satz von Artikel 145 BV, der die Amtsdauer der Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sowie der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers auf vier Jahre festlegt, bleibt bestehen. Die von der Initiative vorgeschlagene Änderung des zweiten Satzes würde eine Anpassung von Artikel 9 Bundesgerichtsgesetz nach sich ziehen.

Die Änderung der Amtsdauer im Sinne der Initiative sowie die Neueinführung von Artikel 188a könnten sich auf das Verständnis von Artikel 143 BV auswirken.

Gemäss diesem sind in den Nationalrat, in den Bundesrat und in das Bundesgericht alle Stimmberechtigten wählbar, also jede volljährige, mündige Person mit Schweizer Bürgerrecht (Art. 136 Abs. 1 BV). Zusätzliche Wählbarkeitskriterien schloss die Verfassung bis anhin aus.39 Artikel 143 BV wäre als Folge des neuen Artikels 188a Absatz 2 nicht mehr abschliessend, sondern dahingehend zu verstehen, dass sich Bundesrichterinnen und Bundesrichter zusätzlich fachlich und persönlich für das Amt eignen und als Frauen jünger als 69 bzw. als Männer jünger als 70 Jahre alt sein müssen.

Art. 145 Abs. 2 Der neue Absatz 2 führt, als Konsequenz der unbefristeten Amtsdauer und des Wegfalls der Wiederwahl, ein Amtsenthebungsverfahren ein. Die Vereinigte Bundesversammlung kann auf Antrag des Bundesrates mit einer Mehrheit der Stimmenden eine Richterin oder einen Richter des Bundesgerichts abberufen, wenn diese oder dieser entweder Amtspflichten schwer verletzt (Bst. a) oder die Fähigkeit, das Amt auszuüben, auf Dauer verloren hat (Bst. b).

Ähnliche Abberufungsregeln kennt der Bund für die Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundespatentgerichts und des Bundesstrafgerichts.

So kann die Vereinigte Bundesversammlung einzelne Richterinnen und Richter gemäss Artikel 10 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200540, Artikel 14 des Patentgerichtsgesetzes vom 20. März 200941 oder Artikel 49 des Strafbehördenorganisationsgesetzes vom 19. März 201042 vor Ablauf der Amtsdauer des Amtes entheben, wenn er oder sie vorsätzlich oder grobfahrlässig Amtspflichten schwer verletzt oder die Fähigkeit zur Amtsausübung auf Dauer verloren hat. Die genannten Bestimmungen sowie die zugehörigen Materialien und die entsprechende Literatur
helfen, die Frage zu beantworten, was als schwere Amtspflichtverletzung oder Verlust der Amtsfähigkeit im Sinne der Buchstaben a und b gilt.

Die konkreten Amtspflichten hängen demnach von der jeweiligen Aufgabe der Richterin oder des Richters ab ­ Rechtsprechung, Tätigkeit in der Justizverwaltung und Aufsichtsfunktion ­ und lassen sich wie folgt klassifizieren: Aufgabenerfüllungspflicht (insbesondere unabhängige und unparteiische Entscheidfindung), Geheimhaltungs- und Treuepflicht sowie die Beschränkung der Nebenbeschäftigungen 39 40 41 42

Siehe Lukas Schaub, Art. 143 Wählbarkeit, in: Waldmann / Belser / Epiney (Hrsg.), Bundesverfassung [Basler Kommentar], Basel 2015, S. 2247 ff., S. 2249 N 6 m.w.H.

SR 173.32 SR 173.41 SR 173.71

6834

BBl 2020

und das Verbot, Geschenke anzunehmen.43 Für eine Amtsenthebung muss die Richterin oder der Richter in schwerwiegender Weise gegen diese Pflichten verstossen.

Ein dauerhafter Verlust der Amtsfähigkeit liegt sicherlich vor, wenn die Richterin oder der Richter entmündigt wurde44. Ebenfalls zu einem Verlust der Amtsfähigkeit könnte eine schwere Krankheit oder das Begehen eines schweren Delikts ausserhalb des Amtes führen. Eine vergleichbare Regel findet sich auch in Artikel 140a Absatz 3 des Parlamentsgesetzes betreffend die Amtsunfähigkeit von Mitgliedern des Bundesrates sowie der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers. Danach ist von einer Amtsunfähigkeit auszugehen, wenn die betreffende Person wegen schwerwiegender gesundheitlicher Probleme oder Einwirkungen, die sie daran hindern, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, offenkundig nicht mehr in der Lage ist, ihr Amt auszuüben (Bst. a), dieser Zustand voraussichtliche lange Zeit andauern wird (Bst. b) und die betreffende Person nicht innert angemessener Frist eine rechtsgültige Rücktrittserklärung abgegeben hat (Bst. c).

Anders als bei den Richterinnen und Richtern der übrigen eidgenössischen Gerichte dürfte die Vereinigte Bundesversammlung eine Bundesrichterin oder einen Bundesrichter aber nur auf Antrag des Bundesrates abberufen.

Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates sind beim Bundesgericht nicht anfechtbar, soweit der Gesetzgeber keine Ausnahme vorsieht (Art. 189 Abs. 4 BV).

Bei der gesetzgeberischen Umsetzung der Justiz-Initiative wäre daher einerseits zu bedenken, dass das Parlament keine richterliche Behörde ist im Sinne von Artikel 29a BV und von Artikel 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)45. Andererseits sollte eine Umsetzung des Abberufungsverfahrens die Grund- und Verfahrensrechte der betroffenen Richterinnen und Richter wahren (z. B. das rechtliche Gehör, Treu und Glauben oder das Beschwerderecht nach Art. 13 EMRK)46. Eine ähnliche Problematik besteht unter der aktuellen Rechtslage, wenn die Vereinigte Bundesversammlung eine Richterin oder einen Richter eines erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichts abberuft. Die Situation ist dabei aus Sicht der Betroffenen insofern etwas weniger gravierend, als die Abberufung dabei für eine kürzere Zeit erfolgt, nämlich nur für die verbleibende Amtsdauer bis zur
Wiederwahl. Ein rechtlicher Anspruch auf Wiederwahl besteht nicht.

Art. 168 Abs. 1 Diese Bestimmung regelt, dass die Bundesversammlung die Mitglieder des Bundesrates, die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler sowie den General wählt, neu aber nicht mehr die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts.

43

44 45 46

Vgl. Konrad Sahlfeld, Art. 14 Amtsenthebung, in: Calame / Hess-Blumer / Stieger (Hrsg.), Patentgerichtsgesetz, Basel 2013, S. 182 ff., S. 183 N 6; ausführlich: Gutachten des Bundesamtes für Justiz vom 23. Oktober 2007 über die Amtspflichten der Richterinnen und Richter der erstinstanzlichen Bundesgerichte, VPB 2008.24, S. 306 ff.

Vgl. Konrad Sahlfeld, a.a.O., Art. 14 N 8 f.

SR 0.101 Vgl. auch Kapitel 4.3. der vorliegenden Botschaft.

6835

BBl 2020

Art. 188a Abs. 1 Hierbei handelt es sich um das Kernstück der Initiative. Absatz 1 legt fest, dass die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts im Losverfahren zu bestimmen sind, und beauftragt den Bund, das Losverfahren detailliert auszugestalten. Das Losverfahren hat dabei eine angemessene Vertretung der Amtssprachen im Bundesgericht zu gewährleisten. Amtssprachen des Bundes sind laut Artikel 70 Absatz 1 BV Deutsch, Französisch und Italienisch sowie im Verkehr mit Personen der rätoromanischen Sprache auch Rätoromanisch (vgl. zur Verfahrenssprache am Bundesgericht auch Art. 54 Bundesgerichtsgesetz). Wie das Verfahren die angemessene Vertretung der Amtssprachen gewährleisten kann, lässt der Initiativtext offen. Denkbar wäre es, dass nach Sprache getrennte Losverfahren stattfinden, wobei beispielsweise der Bundesrat Sprachquoten vorgibt.

Art. 188a Abs. 2 Der zweite Absatz nennt die Kriterien zur Zulassung zum Losverfahren. Massgebend sind objektive Kriterien: Entscheidend sind alleine die fachliche und die persönliche Eignung für das Amt als Richterin oder Richter des Bundesgerichts. Wie die kantonalen Rechtsgrundlagen aufzeigen, ist unter fachlicher Eignung z. B. eine abgeschlossene juristische Ausbildung, namentlich ein abgeschlossenes Jurastudium an einer schweizerischen Universität, das Anwaltspatent und mehrjährige Berufserfahrung zu verstehen. Unter die persönliche Eignung fällt z. B. ein einwandfreier Leumund oder die Zweisprachigkeit.

Art. 188a Abs. 3 Eine Fachkommission entscheidet über die Zulassung von Kandidatinnen und Kandidaten zum Losverfahren. Da das Losverfahren die angemessene Vertretung der Amtssprachen im Bundesgericht gewährleisten muss, hat die Fachkommission das Kriterium der Sprache bei der Zulassung zum Losentscheid zwingend zu beachten.

Weitere Kriterien, wie das Geschlecht, die Kantonszugehörigkeit oder den Parteienproporz nennt der Initiativtext nicht.

Der Bundesrat wählt die Mitglieder der Fachkommission für eine einmalige Amtsdauer von zwölf Jahren. Der Initiativtext lässt offen, wie sich die Fachkommission zusammensetzt, also wie viele Mitglieder sie hätte und nach welchen Kriterien der Bundesrat diese auswählen würde, und welche Befugnisse der Kommission zustünden. Gemäss Initiativtext sind deren Mitglieder «in ihrer Tätigkeit von Behörden und politischen
Organisationen unabhängig». Dies entspricht dem gängigen bundesrechtlichen Verständnis, wonach eine derartige Kommission oder Behörde bei Erfüllung ihrer Aufgaben fachlich unabhängig zu sein hat (vgl. z. B. Art. 96 Geldspielgesetz vom 29. September 201747 zur Eidgenössischen Spielbankenkommission). Eine Kommission ­ wie die vorliegend vorgesehene Fachkommission ­ und ihre Mitglieder müssen ihre Tätigkeit demnach weisungsfrei wahrnehmen können. Das Initiativkomitee führt zur Unabhängigkeit aus, dass sich die Fachkommission aus erfahrenen und unabhängigen Juristinnen und Juristen aus Lehre 47

SR 935.51

6836

BBl 2020

(Professorinnen und Professoren), Gerichtsbarkeit (Richterinnen und Richter) und Praxis (Anwältinnen und Anwälte) zusammensetzen könnte.

Art. 197 Ziff. 12 Die Übergangsbestimmung legt fest, dass die sich im Amt befindenden Richterinnen und Richter des Bundesgerichts noch bis zum Ende des Jahres, in dem sie das 68. Altersjahr vollenden, im Amt bleiben können. Klärungsbedarf besteht allenfalls, worin die unterschiedlich lange Amtsdauer für die altrechtlich gewählten Richterinnen und Richter (68. Altersjahr) im Verhältnis zu ihren Amtskolleginnen und -kollegen gründet, die das Los bestimmt (69. bzw. 70. Altersjahr). Es ist davon auszugehen, dass die Initiantinnen und Initianten den amtierenden Bundesrichterinnen und Bundesrichtern dieselbe Möglichkeit einräumen wollten, die sie heute haben, d.h., bis zum vollendeten 68. Altersjahr im Amt bleiben zu können.

4

Würdigung der Initiative

4.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Der Bundesrat hat Verständnis für einzelne Anliegen und Ziele der Initiative. Die Bundesrichterinnen und Bundesrichter bewegen sich in einem gewissen Spannungsverhältnis. Zum einen müssen sie ihr Amt «unparteilich» und «ohne Voreingenommenheit im Hinblick auf politische Interessen oder Beziehungen»48 ausüben. Zum anderen besteht aufgrund der in der Regel nötigen Parteimitgliedschaft und des Wiederwahlverfahrens nach sechs Jahren eine abstrakte Gefahr für Richterinnen und Richter des Bundesgerichts, dass ihre Partei sie infolge nicht (partei-) genehmer Urteile im Wiederwahlverfahren nicht mehr unterstützt respektive die Vereinigte Bundesversammlung sie nicht wiederwählt. In der Praxis kam es zwar noch zu keiner Nichtwiederwahl. Problematisch ist aber der Druck, den Parteien und Parlamentsmitglieder mit Androhung der Nichtwiederwahl auf die richterliche Unabhängigkeit ausüben können.

So kritisierte beispielsweise eine Partei in einem Fall betreffend die Amtshilfe an die USA (UBS-Verfahren) einen Bundesrichter ihrer Parteizugehörigkeit, da er nicht auf Parteilinie entschieden habe49. Auch der Kruzifix-Entscheid des Bundesgerichts führte zu Diskussionen über die Unabhängigkeit der Bundesrichterinnen und Bundesrichter. Im Jahr 1990 mussten drei Bundesrichter im Rahmen ihrer Wiederwahl erhebliche Stimmeneinbussen hinnehmen. Sie hatten an einem Entscheid mitgewirkt, wonach Kruzifixe in öffentlichen Schulen die konfessionelle Neutralität des Staates verletzen.50 48

49 50

Gepflogenheiten der Richter und Richterinnen am Bundegericht, Plenum vom 12. November 2018 und 13. Juni 2019, Kap. II Ziff. 1 und 2; www.bger.ch/files/live/ sites/bger/files/pdf/Publikationen/GB/BGer/de/Version_Internet_2019.pdf.

Niccolò Raselli, Justiz-Initiative, Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR), 2019, S. 273.

Für eine Übersicht zu den problematischen Fällen vgl. Giovanni Biaggini, BV Kommentar, 2. Auflage Zürich 2017, N 13 zu Art. 188 BV.

6837

BBl 2020

Solche und ähnliche Fälle boten seit jeher Anlass für Kritik am bestehenden Wahlund Wiederwahlsystem der Richterinnen und Richter. Die Justiz-Initiative will dieses Spannungsverhältnis auflösen, indem sie Richterinnen und Richter durch das Los bestimmen lassen will und das Wiederwahlverfahren abschafft.

Nach Auffassung des Bundesrates sind einzelne Anliegen der Initiative daher nachvollziehbar, die vorgeschlagenen Massnahmen tragen jedoch nicht dazu bei, die angestrebten Ziele zu erreichen. Namentlich die Bundesrichterwahl mittels Losverfahren führt zu einer Entscheidung nach Zufallsprinzip, statt die bestgeeignete Person zu berufen, und stellt im Schweizer System letztlich einen Fremdköper dar.

Sowohl der Bund als auch die Kantone kennen keine derartigen Richterwahlen. So wählt die Bundesversammlung die Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichts, des Patentgerichts und des Bundesstrafgerichts respektive die Kantonsparlamente oder die kantonale Stimmbevölkerung die Richterinnen und Richter der kantonalen Gerichte. Kandidierende sind oft als Richterin oder Richter tätig oder tätig gewesen und mussten sich daher bereits vor der Wahl ans Bundesgericht in parteipolitisch geprägten Verfahren durchsetzen. Insofern würde das vorgeschlagene Losverfahren nicht zwingend zu unabhängigeren Richterinnen und Richtern führen.

Wie alle Richterinnen und Richter wären auch parteilose Amtsträgerinnen und Amtsträger vielen anderen Einflüssen ausgesetzt, wie ihrem familiären, sozialen, beruflichen, religiösen oder persönlichen Hintergrund, welche die Rechtsfindung ebenfalls beeinflussen können. Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei stellt dabei nur ein Element von vielen dar. «Richterinnen und Richter sind Menschen und deshalb soziale Wesen51»; sie können sich nicht in ihren Elfenbeinturm zurückziehen. Auch das Bundesgericht hält fest, dass «[...] Einflüsse, wie etwas gesellschaftliche Sitten, Gewohnheiten, Werturteile, die öffentliche Meinung oder bestimmte politische Ereignisse auf die Unabhängigkeit des richterlichen Urteils einwirken und die innere Freiheit des Richters beeinträchtigen [können]. [...] Kein Richter wird jemals frei von solchen Einflüssen sein [...]. Dies wäre nicht einmal wünschenswert, denn vom Richter werden mit Recht Lebensnähe, Erfahrung und menschliches Verständnis
erwartet»52. Das aktuelle Wahlsystem beziehungsweise das in der Regel berücksichtigte Kriterium der Parteimitgliedschaft gewährleistet bei Beachtung des Parteienproporzes zumindest eine gewisse Repräsentanz der unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Grundhaltungen am Bundesgericht und macht diese auch ein Stück weit transparent.

4.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

4.2.1

Umsetzung auf Gesetzesstufe

Bei einer Annahme der Justiz-Initiative verpflichtete das neue Verfassungsrecht den Bund, die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Namentlich müsste der Gesetzgeber das Losverfahren zur Bundesrichterwahl konkretisieren, was Regeln zur Fachkommission und zur Ausgestaltung des Losverfahrens bedingt. Die 51 52

Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, S. 65 f.

BGE 105 Ia 157, E6a S. 162 f.

6838

BBl 2020

Initiantinnen und Initianten äussern sich entsprechend: «Grundsätzlich wird die konkrete Ausgestaltung des Losverfahrens Sache des Parlaments, des Bundesrates und des Bundesgerichts auf der Grundlage des neuen Verfassungsartikels sein 53».

Der Gesetzgeber müsste sowohl die Zusammensetzung als auch die Befugnisse der Fachkommission definieren. So wäre zu regeln, nach welchen Kriterien der Bundesrat die Kommissionsmitglieder für ihre einmalige, zwölfjährige Amtsdauer wählt.

Die Mitglieder müssen gemäss Initiativtext «in ihrer Tätigkeit von Behörden und politischen Organisationen unabhängig» sein. Was Behörden und politische Organisationen sind, ist gesetzgeberisch zu klären (vgl. Kap. 3.3, Bemerkungen zu Art. 188a Abs. 3 BV). Die konkrete Umsetzung des Losverfahrens obliegt der Bundesversammlung und dem Bundesrat. Einzige Vorgabe für die Zulassung zum Losverfahren ist die fachliche und persönliche Eignung für das Bundesrichteramt.

Was dies konkret bedeutet, ist gesetzgeberisch zu bestimmen. Das Initiativkomitee führt dazu aus, es werde insbesondere eine umfassende juristische Ausbildung und mehrjährige Berufserfahrung sowie einen einwandfreien Leumund und Vertrauenswürdigkeit brauchen, damit eine Person überhaupt am Losverfahren teilnehmen kann.54 Einer gesetzgeberischen Antwort bedürfte auch die Frage des Rechtsschutzes gegenüber Nichtzulassungsentscheiden zum Losverfahren inklusive allfällige Auswirkungen auf das nachfolgende Losverfahren. Lässt die Fachkommission eine Kandidatin oder einen Kandidaten nicht zum Losverfahren zu, sieht der Initiativtext nämlich weder explizit ein Rechtsmittel für Betroffene vor, noch schliesst er ein solches kategorisch aus. Die verfassungs- und konventionsmässigen Rechte der Betroffenen sprechen eher für die Einführung einer Rechtsschutzmöglichkeit.

Die Ausgestaltung des Losverfahrens enthält als Vorgabe nur die Pflicht zur Berücksichtigung der Amtssprachen. Wie der Gesetzgeber gewährleisten soll, dass Amtssprachen im Bundesgericht angemessen vertreten sind, lässt die Initiative offen.

Fraglich ist, ob und wie es andere wichtige Kriterien wie das Geschlecht, die Kantonszugehörigkeit oder den Parteienproporz zu berücksichtigen gilt.

Ebenso wenig bestimmt die Justiz-Initiative, wie viele Kandidatinnen und Kandidaten pro vakanter Bundesrichterstelle für die
Losziehung aufzustellen wären. Ist z. B.

ein sozusagen «stilles Losverfahren» möglich, indem nur eine Kandidatin oder ein Kandidat aufgestellt wird?55 Damit könnte die Fachkommission die Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter stark beeinflussen und die Wirkung des Losverfahrens faktisch sogar aushebeln. Eine möglichst grosse Anzahl Kandidierender verringert dagegen die Chancen deutlich, dass im Losverfahren die bestqualifizierte Person bestimmt wird. Diese und weitere Fragen des Selektionsprozesses müsste der Bund auf Gesetzes- und auf Verordnungsstufe konkretisieren, damit die Kompetenzen der Fachkommission klar definiert sind und die Fachkommission nicht zu viel Macht erhält.

53

54

55

Internetseite der Initiantinnen und Initianten der Justiz-Initiative, Fragen und Antworten, Frage 13: www.justiz-initiative.ch/initiative/fragen-und-antworten.html. Stand: 11. Februar 2020.

Internetseite der Initiantinnen und Initianten der Justiz-Initiative, Fragen und Antworten, Frage 9: www.justiz-initiative.ch/initiative/fragen-und-antworten.html. Stand: 11. Februar 2020.

Andreas Glaser, Die Justiz-Initiative: Besetzung des Bundesgerichts im Losverfahren?

Aktuelle Juristische Praxis (AJP), 2018(10): 1251­1260.

6839

BBl 2020

Die Umsetzung der neu vorgesehenen Möglichkeit des Parlaments, Bundesrichterinnen und -richter auf Antrag des Bundesrates hin abberufen zu können, sollte zudem gewährleisten, dass das Abberufungsverfahren die Grund- und Verfahrensrechte (z. B. rechtliches Gehör, Anspruch auf ein unabhängiges Gericht, Treu und Glauben etc.) der betroffenen Richterinnen und Richter sowie die internationalen Verpflichtungen der Schweiz wahrt (siehe dazu Kap. 4.3).

Die Umsetzung der Initiative auf Gesetzesstufe betrifft in erster Linie das Bundesgerichtsgesetz und Bestimmungen des Parlamentsgesetzes: Im Bundesgerichtsgesetz müssten z. B. die Artikel 5 und 9 angepasst werden. Gemäss Ersterem wählt die Vereinigte Bundesversammlung die Bundesrichterinnen und Bundesrichter. Dieser Artikel wäre dahingehend anzupassen, dass die Richterinnen und Richter im Losverfahren bestimmt werden (Abs. 1) und dass dabei wählbar ist, wer (i) in eidgenössischen Angelegenheiten stimmberechtigt, (ii) fachlich und persönlich für das Amt geeignet ist und (iii) von der Fachkommission zum Losverfahren zugelassen wurde (Abs. 2). Artikel 9 Absatz 1 Bundesgerichtsgesetz zur Amtsdauer wäre insofern zu ändern, als diese fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters endet. Der bisherige Absatz 2 zum Ende der Amtsdauer wäre nicht mehr nötig und wäre daher aufzuheben (vgl. auch die vorgesehene Übergangsbestimmung der Initiative in Art. 197 Ziff. 12 BV). Im ParlG wären z. B. Artikel 40a zur Gerichtskommission und die Artikel 135 ff. zu den Wahlen der eidgenössischen Gerichte durch die Bundesversammlung zu revidieren.

4.2.2

Mögliche Auswirkungen der Initiative auf die finanziellen Mittel der politischen Parteien

Es ist davon auszugehen, dass die sogenannte Mandats- oder Parteisteuer für die Bundesrichterinnen und -richter bei einer Annahme der Initiative wegfallen würde.

Bis anhin zahlen Richterinnen und Richter auf Bundesebene und in den Kantonen einen fixen oder prozentualen Anteil ihres Gehalts an ihre politische Partei. Dieser Betrag variiert von Partei zu Partei. Eine im Rahmen der Studie von Giuliano Racioppi durchgeführte Umfrage bei den eidgenössischen politischen Parteien und bei den Richterinnen und Richtern der eidgenössischen Gerichte ergab die folgenden Resultate56: Die Höhe der Mandatssteuer der Bundesrichterinnen und Bundesrichter beträgt zwischen 3000 und 26 000 Franken pro Person und Jahr. Grüne, SP und GLP verlangen die höchsten Beträge, die FDP die niedrigsten. Die meisten Richterinnen und Richter erachten die Zahlung der Mandatssteuer als verbindlich, auch wenn sie keine explizite schriftliche Vereinbarung abgeschlossen haben. Dies bedeutet, dass die Mandatssteuer für einen Teil der politischen Parteien eine wichtige Einnahmequelle darstellt. Der Druck, diese Beiträge faktisch leisten zu müssen, würde bei einer Annahme der Initiative für die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts wegfallen. Es stünde den Bundesrichterinnen und Bundesrichtern jedoch nach wie vor frei, freiwillig Beiträge an ihre Partei zu überweisen; es sei denn, der Gesetzgeber würde eine Mandatssteuer und ähnliche Leistungen an die Parteien untersagen.

56

Giuliano Racioppi, Die moderne «Paulette»: Mandatssteuern von Richterinnen und Richtern, publiziert in «Justice ­ Justiz ­ Giustizia», 2017/3, S. 21 ff.

6840

BBl 2020

4.2.3

Kostenfolgen für den Bund

Bei einer Annahme der Initiative würden vermutlich zusätzliche Kosten für die in Artikel 188a Absatz 3 BV vorgesehene Fachkommission anfallen. Diese setzten sich zusammen aus den Kosten für ein ständiges Sekretariat und der Entschädigung für die Mitglieder der Kommission. Es ist davon auszugehen, dass auf Bundesebene zwei Kommissionen mit ähnlichen Aufgaben bestehen würden. Die bestehende Gerichtskommission setzt sich ausschliesslich aus Parlamentarierinnen und Parlamentariern zusammen und entspricht somit nicht der Vorstellung einer Fachkommission. Die Kosten der Fachkommission hingen von der Anzahl Sitzungen, der Anzahl Mitglieder und der Befugnisse der Kommission ab. Es ist im Vergleich zur bestehenden Gerichtskommission mit einem grösseren Aufwand für die Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten zu rechnen, da diese nicht mehr von den Parteien empfohlen würden. Zudem ist das Wahlorgan für die Fachkommission der Bundesrat und für die Gerichtskommission die Vereinigte Bundesversammlung.

4.3

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Justiz-Initiative tangiert insofern internationale Verpflichtungen in Form der EMRK oder des UNO-Pakts II, als sie die Bundesversammlung ermächtigt, auf Antrag des Bundesrates hin, eine Richterin oder einen Richter am Bundesgericht abzuberufen. Gemäss Artikel 6 Absatz 1 EMRK57 (ähnlich Art. 14 Ziff. 1 UNO-Pakt II58) hat jede Person ­ also auch Richterinnen und Richter ­ Anspruch darauf, «dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen [...] von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.» Als Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche gelten dabei auch die Verfahren über die Absetzung von Richterinnen und Richtern.59 In seinem Urteil Volkov gegen die Ukraine bezeichnet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die parlamentarische Plenardebatte als nicht geeignet, um Sachverhalts-, Beweis- und Rechtsfragen zu klären.60 Die Vereinigte Bundesversammlung als Abberufungsorgan (wie in Art. 145 Abs. 2 BV der Initiative vorgesehen) ist mithin kein Gericht. Zusätzlich gilt es bei einer Umsetzung zur berücksichtigen, dass Artikel 13 EMRK (vgl. auch Art. 2 Ziff. 3 UNO-Pakt II) jeder Person ­ und damit auch Bundesrichterinnen und Bundesrichtern ­ ein Recht auf eine wirksame Beschwerde garantiert, wenn ihre von der EMRK anerkannten Rechte und Freiheiten verletzt wurden. Diese Rechte gelten im Übrigen ebenso für die Richte-

57 58 59 60

SR 0.101 SR 0.103.2 Urteil des EGMR Baka gegen Ungarn (Grosse Kammer) vom 23. Juni 2016, § 100 ff., insb. § 105 (http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-164530).

Urteil des EGMR Volkov gegen Ukraine vom 9. Januar 2013 § 122; (https://hudoc.

echr.coe.int/eng?i=001-115959); vgl. dazu Nicolas Pellaton, Le droit disciplinaire des magistrats du siège, Basel 2016, Rz. 799 ff.

6841

BBl 2020

rinnen und Richter der erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichte, für welche das aktuelle Recht bereits eine Abberufungsmöglichkeit vorsieht. 61 Eine bundesgesetzliche Umsetzung müsste darum eine innerstaatliche Rechtsschutzmöglichkeit vorsehen, mit der eine betroffene Richterin oder ein betroffener Richter des Bundesgerichts den Abberufungsentscheid der Bundesversammlung im Sinne der EMRK überprüfen lassen könnte. Eine derartige Lösung wäre ein Fremdkörper in der Schweizer Rechtsordnung, könnte sich jedoch immerhin auf Artikel 189 Absatz 4 BV stützen. Dieser Absatz sieht im Hinblick auf die Problematik mit Artikel 6 und Artikel 13 EMRK vor, dass der Gesetzgeber bestimmt, wann Akte der Bundesversammlung ausnahmsweise anfechtbar sind.62

4.4

Vorzüge und Mängel der Initiative

4.4.1

Vorzüge

Die Initiative hat eine Diskussion über die Thematik der richterlichen Unabhängigkeit von den politischen Parteien angestossen. Die Möglichkeit politischer Einflussnahme und der Anschein einer Abhängigkeit der Bundesrichterinnen und Bundesrichter von den Parteien und anderen politischen Akteuren würden wegfallen oder zumindest stark reduziert:

61 62

­

Die Initiative führt eine Amtsdauer bis zur Vollendung des 69. bzw. des 70. Altersjahres ein und schafft zugleich das Wiederwahlverfahren ab. Der Wunsch, wiedergewählt zu werden, kann theoretisch die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern gefährden. Die Drohung, eine Richterin oder einen Richter nicht mehr zu wählen, sollten er oder sie nicht parteikonform entscheiden, wäre nicht mehr wirkungsvoll. Die negativen Auswirkungen des Wiederwahlverfahrens auf die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts fielen damit dahin.

­

Ähnliches könnte bezüglich der Mandatssteuer geltend gemacht werden.

Diese kann den Eindruck erwecken, dass Richterinnen und Richter ihr Amt «kaufen». Schlagen nicht mehr die Parteien die Bundesrichterinnen und Bundesrichter zur Wahl vor und besteht kein Wiederwahlverfahren, so entfällt für Bundesrichterinnen und Bundesrichter der Druck, eine Mandatssteuer an die Parteien zu entrichten. Dieser Umstand könnte die Wahrnehmung des Bundesgerichts als unabhängige Instanz zusätzlich stärken.

­

Das Losverfahren verunmöglicht eine Einflussnahme des Wahlgremiums auf die Bundesrichterwahlen. Die Parteizugehörigkeit und Vernetzungsfähigkeit würden bei der Ernennung zum Bundesrichter oder zur Bundesrichterin keine Rolle mehr spielen, da allein das Los entscheidet. Insofern hätten neu auch parteilose Juristinnen und Juristen eine reelle Chance auf einen BunVgl. das Gutachten von Regina Kiener, Verfahren der Amtsenthebung von Richterinnen und Richtern an erstinstanzlichen Gerichten des Bundes, Bern 2007, S. 11.

Goran Seferovic, Art. 189 Zuständigkeit des Bundesgerichts, in: Waldmann / Belser / Epiney (Hrsg.), Bundesverfassung [Basler Kommentar], Basel 2015, S. 2247 ff., S. 2249 N 61 ff.

6842

BBl 2020

desrichterposten. Ein transparentes Wahlverfahren (inklusive Zulassung zur Loswahl), bei welchem eine öffentliche Ausschreibung mit objektiven Kriterien stattfindet, garantiert ­ zumindest in der Theorie ­ gleiche Chancen für alle, welche die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllen.

Eine Abberufungsmöglichkeit für Bundesrichterinnen und Bundesrichter fehlt nach geltendem Recht, selbst wenn ein Mitglied des Bundesgerichts nicht mehr amtsfähig ist. Die Einführung eines Amtsenthebungsverfahrens ist im Vergleich zu einer Nicht-Wiederwahl zielgerichteter, um eine Richterin oder einen Richter abzusetzen, die oder der eine schwere Amtspflichtverletzung begangen hat.

4.4.2

Mängel

Auch wenn der Initiativtext für die Zulassung zum Losverfahren die Kriterien der fachlichen und persönlichen Eignung vorsieht, werden durch das Losverfahren nicht zwangsläufig die besten Kandidatinnen und Kandidaten aus der Auswahl der Fachkommission zu Richterinnen oder Richtern bestimmt, sondern die vom Los begünstigten. Dies könnte sich negativ auf die Qualität der Rechtsprechung auswirken.

Das Losverfahren widerspricht der Tradition der Schweizer Rechtsordnung, nach der in Bund und Kantonen das jeweilige Parlament oder das Volk die Richterinnen und Richter wählen. Dasselbe gilt auch für die vorgesehene Fachkommission. Zwar kennen etliche Kantone ähnliche Kommissionen, die der Wahl vorgeschaltet sind.

Dort gleicht aber die nachfolgende Wahl der Richterinnen und Richter durch das Parlament oder das Volk das demokratische Defizit der politisch unabhängigen Fachkommission aus. Das Losverfahren kann dies nicht. Das Losverfahren und die dazugehörigen Zulassungsentscheide der Fachkommission verkürzen die Rechte der Vereinigten Bundesversammlung und schwächen damit auch die demokratische Legitimation des Bundesgerichts.

Wählt die Vereinigte Bundesversammlung die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts, so erfolgt die Wahl öffentlich und durch eine Vielzahl gewählter Volksvertreterinnen und Volksvertreter, darunter auch die Mitglieder der Gerichtskommission. Insofern gewährleistet das aktuelle System einen Informationsaustausch zwischen Gerichtskommission, Parlament und der Öffentlichkeit vor der Wahl. Die Initiative lässt dagegen offen, wie sich die parteipolitisch unabhängige Fachkommission zusammensetzt und das Verfahren exakt ausgestaltet sein wird. Ob die Zulassungsentscheide einer aus Spezialistinnen und Spezialisten zusammengesetzten Fachkommission transparenter und fairer erfolgen als im aktuellen System, ist zumindest fraglich. Das Initiativkomitee will mit diesem Verfahren unter anderem die Chancen parteiloser Kandidatinnen und Kandidaten erhöhen. Bund und Kantone besetzen jedoch Richterstellen an anderen Gerichten weiterhin unter Berücksichtigung der Parteizugehörigkeit, und für Bundesrichterinnen und Bundesrichter ist Berufserfahrung an einem anderen Gericht ein zentraler Vorteil. Dies relativiert die Wirkung der Initiative bezüglich der Wahlchancen parteiloser Kandidierender.
Die Initiative ignoriert zudem, dass alle, auch parteilose Richterinnen und Richter zahlreichen Einflüssen ausgesetzt sind und persönliche (gesellschafts-) politische Ansichten haben. Das heutige Wahlsystem mit dem freiwilligen Parteienproporz 6843

BBl 2020

trägt zu einer ausgewogenen Vertretung der verschiedenen politischen Grundhaltungen auch in den Richtergremien bei und macht diese ein Stück weit transparent.

Gemäss Justiz-Initiative ist das Losverfahren zur Besetzung der Richterposten so auszugestalten, dass die Amtssprachen angemessen vertreten sind. Ob und wie das Losverfahren darüber hinaus eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter, eine regionale Verteilung sowie eine Vielfalt gesellschaftspolitischer Grundhaltungen gewährleisten und anstreben soll, lässt der Initiativtext dagegen offen. Berücksichtigt die Ausgestaltung des Losverfahrens alleine die Amtssprache, so wäre dies in Bezug auf andere Kriterien problematisch und der Akzeptanz des Gerichts und seiner Rechtsprechung in der Bevölkerung wenig förderlich. Entsprechend obliegt es dem Gesetzgeber, derartige Aspekte in der vorangehenden Zulassung zum Losverfahren angemessen zu berücksichtigen und die Problematik damit soweit möglich zu entschärfen.

Die Annahme der Justiz-Initiative könnte zudem zu gewissen Doppelspurigkeiten bei der Besetzung von eidgenössischen Richterposten mit entsprechenden Kosten führen. Der Wortlaut des Initiativtextes bezieht sich nur auf die Richterinnen und Richter des Bundesgerichts. Die Bundesversammlung würde weiterhin die Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesstrafgerichts und des Bundespatentgerichts wählen, womit die Gerichtskommission weiter Bestand hätte.

Zusätzlich müsste der Bund jedoch neu die unabhängige Fachkommission finanzieren, welche die Zulassungsentscheide zur Bundesrichterwahl fällt. Und dies, obwohl es sich bei Kandidierenden für die verschiedenen Gerichte teilweise um dieselben Personen handeln dürfte.

Es wäre ungewöhnlich, dass die Vereinigte Bundesversammlung die Richterinnen und Richter nicht mehr ernennen, aber abberufen können soll ­ also nicht das gleiche Bundesorgan sowohl für die Wahl wie auch die Abberufung zuständig wäre (fehlende Parallelität). Die jederzeitige Abberufbarkeit der Bundesrichterinnen und Bundesrichter auf Antrag des Bundesrates durch das Parlament ­ ein politisches Organ ­ kann zudem ihrerseits die Unabhängigkeit des Bundesgerichts mindern. Das Antragsrecht des Bundesrates, der das Abberufungsverfahren überhaupt erst einleiten kann, ist dabei zweischneidig: Einerseits könnte es den
Schutz der Richterinnen und Richter vor willkürlichen Abberufungsverfahren erhöhen, weil damit neben der Legislative auch die Exekutive in das Abberufungsverfahren einbezogen wird. So müsste der Bundesrat die Voraussetzungen für eine Abberufung also ebenfalls als erfüllt erachten. Andererseits könnte dieses Antragsrecht die Unabhängigkeit der einzelnen Richterinnen und Richter des Bundesgerichts insofern schmälern, als sie bezüglich der Abberufung aus staatsorganisationsrechtlicher Sicht neben der Bundesversammlung auch vom Bundesrat abhängig wären.

4.4.3

Stellungnahme des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hat sich ebenfalls mit der Initiative befasst und schliesst sich der Stellungnahme des Bundesrates an, dessen Bedenken es weitgehend teilt. Es lehnt dementsprechend die Initiative ab.

6844

BBl 2020

5

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat hat zwar Verständnis für einzelne Anliegen und Ziele der Initiative, ist jedoch der Ansicht, dass die vorgeschlagenen Massnahmen der Initiative nicht zielführend sind: Das Losverfahren ist für Richterwahlen wenig geeignet und ein Fremdkörper in der schweizerischen Rechtsordnung. Es basiert auf dem Zufallsprinzip: Es werden zudem nicht zwangsläufig die bestgeeigneten Personen unter den zum Losverfahren zugelassenen Kandidierenden Bundesrichterin oder Bundesrichter, sondern die vom Los begünstigten. Es würde zudem die demokratische Legitimation des Bundesgerichts schmälern.

Die Berücksichtigung der Parteimitgliedschaft und des Parteienproporzes gewährleistet, dass das Gericht aus gesellschaftspolitischer Sicht repräsentativ zusammengesetzt bleibt. Richterinnen und Richter sollen ihre Erfahrungen, kulturellen Prägungen, Gewohnheiten und Ansichten einbringen. Die parteipolitische Zugehörigkeit ist dabei nur ein Element unter vielen.

Der Bundesrat lehnt daher die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» ab und beantragt den eidgenössischen Räten, die Initiative Volk und Ständen ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Volksinitiative abzulehnen.

6845

BBl 2020

6846