zu 16.403 Parlamentarische Initiative Familiennachzug. Gleiche Regelung für Schutzbedürftige wie für vorläufig Aufgenommene Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 25. Oktober 2019 Stellungnahme des Bundesrates vom 29. Januar 2020

Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 25. Oktober 20191 betreffend die parlamentarische Initiative Müller 16.403 «Familiennachzug.

Gleiche Regelung für Schutzbedürftige wie für vorläufig Aufgenommene» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

29. Januar 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Die Schweiz war in den 1990-er Jahren mit einem grossen Zustrom an schutzsuchenden Personen konfrontiert, die vor den bewaffneten Konflikten im ehemaligen Jugoslawien flohen. Da die individuelle Prüfung von Gesuchen einer solch grossen Anzahl Schutzsuchender das Asylsystem überfordern kann, wurde im Rahmen der Totalrevision des Asylgesetzes von 19982 das System des vorübergehenden Schutzes geschaffen. Dieser Schutzbedürftigen-Status (S-Status) soll dazu dienen, in einer akuten Krisensituation rasch auf einen ausserordentlich grossen Zustrom von Personen in die Schweiz reagieren zu können, wenn die Kapazitäten des schweizerischen Asylsystems zur Bewältigung nicht mehr ausreichen. Das geltende Asylgesetz sieht vor, dass der Bundesrat entscheidet ob und nach welchen Kriterien Gruppen von Schutzbedürftigen der vorübergehende Schutz gewährt wird (Art. 66 des Asylgesetzes vom 26. Juni 19983 [AsylG]). Ein allfälliges Asylverfahren wird mit der Gewährung vorübergehenden Schutzes sistiert (Art. 69 Abs. 3 AsylG). Wird einer Person vorübergehender Schutz gewährt, so erhalten deren Ehegatten, eingetragene Partnerinnen und Partner sowie deren minderjährige Kinder gemäss geltendem Recht ebenfalls vorübergehenden Schutz, wenn die Familie durch eine schwere allgemeine Gefährdung getrennt wurde, sie sich in der Schweiz vereinigen will und keine besonderen Umstände dagegen sprechen (Art. 71 Abs. 1 Bst. b AsylG). Demgegenüber bestehen beim Familiennachzug bei vorläufig Aufgenommenen höhere Anforderungen in zeitlicher und sachlicher Hinsicht. Namentlich können nahe Familienangehörige erst drei Jahre nach der Anordnung der vorläufigen Aufnahme in diese eingeschlossen werden (Art. 85 Abs. 7 des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 20054 [AIG]).

Ständerat Philipp Müller hat am 2. März 2016 die parlamentarische Initiative 16.403 «Familiennachzug. Gleiche Regelung für Schutzbedürftige wie für vorläufig Aufgenommene» eingereicht. Ziel der parlamentarischen Initiative ist es, die Anwendung des Schutzbedürftigen-Status (S-Status) durch eine Angleichung der Regelungen zum Familiennachzug für schutzbedürftige Personen an die Regelungen zum Familiennachzug für vorläufig aufgenommene Personen zu erleichtern.

Die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) hat der parlamentarischen Initiative am 25. August
2016 Folge gegeben. Am 21. Oktober 2016 stimmte die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) dieser Initiative ebenfalls zu. Als erstberatende Kommission oblag es der SPK-S, eine Vorlage zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative auszuarbeiten.

Der Vorentwurf der SPK-S vom 21. Januar 2019 sieht vor, dass eine Wiedervereinigung der Familie von Schutzbedürftigen nur dann möglich sein soll, wenn seit der Gewährung des vorübergehenden Schutzes mindestens drei Jahre vergangen sind.

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vgl. BBl 1996 II 1, hier 78 ff. sowie AS 1999 2262 SR 142.31 SR 142.20

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Zudem sollen die nachzuziehenden Ehegatten bzw. minderjährigen Kinder mit der sich in der Schweiz aufhaltenden Person in einer bedarfsgerechten Wohnung zusammenwohnen, und die Familie soll nicht auf Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen angewiesen sein. Schliesslich sollen sich die Gesuchstellenden in einer Landessprache verständigen oder ihre Bereitschaft zum Spracherwerb glaubhaft machen können (Art. 71 Abs. 1a VE-AsylG). Am 24. Januar 2019 hat die SPK-S zu diesem Vorentwurf die Vernehmlassung eröffnet. Diese dauerte bis zum 1. Mai 2019.

Am 25. Oktober 2019 hat die SPK-S die Ergebnisse der Vernehmlassung5 zur Kenntnis genommen. Eine Mehrheit der Kommission erachtete es im Hinblick auf mögliche künftige Krisensituationen mit grossen Flüchtlingsströmen als angezeigt, den Status der Schutzbedürftigkeit so anzupassen, dass er für die Schweiz tatsächlich anwendbar wird. Eine Minderheit der Kommission beantragte hingegen, auf die Vorlage nicht einzutreten, da es unnötig sei, einen Status neu zu regeln, der noch nie angewendet wurde. Ausserdem sei zweifelhaft, ob die Bestimmung zum Familiennachzug den einzigen Grund darstelle, weshalb der S-Status nie zur Anwendung kam. Vor diesem Hintergrund hat die SPK-S den Entwurf für eine Änderung des Asylgesetzes ohne Anpassungen nach der Vernehmlassung zuhanden des Rates verabschiedet.

Der Bundesrat kam in seinem Bericht «Vorläufige Aufnahme und Schutzbedürftigkeit Analyse und Handlungsoptionen» von Oktober 2016 zum Schluss, dass gewissen Nachteilen der Schutzbedürftigenregelung durch rechtliche Anpassungen des Systems, wie sie von der SPK-S nun vorgeschlagen werden, begegnet werden kann.

Er hat aber auch festgehalten, dass die grundlegenden Probleme des S-Status durch punktuelle Änderungen nicht behoben werden. So muss das sistierte Asylverfahren beispielsweise nach Aufhebung des vorübergehenden Schutzes weitergeführt werden.

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Stellungnahme des Bundesrates

Obwohl die Gründe für die bislang ausbleibende Anwendung der Schutzbedürftigenregelung vielfältig sind und auch in Zukunft umfassend zu prüfen sein wird, ob diese in einer konkreten Krisensituation geeignet und notwendig ist, erachtet der Bundesrat die im Rahmen der parlamentarischen Initiative vorgeschlagenen Änderungen als eine sinnvolle Massnahme, um die Kohärenz im Bereich des Familiennachzugs zu erhöhen. Der Bundesrat ist zudem der Ansicht, dass die vorgeschlagenen Änderungen einer möglichen Signalwirkung der Schweiz als Zielland für den Fall, dass die Schutzbedürftigenregelung angewendet wird, entgegenwirken.

Es handelt sich beim Status einer schutzbedürftigen Person in erster Linie um einen rückkehrorientierten Status, und ein unmittelbarer Familiennachzug kann einer Rückkehr in den Heimat- oder Herkunftsstaat entgegenstehen.

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Zu den Ergebnissen der Vernehmlassung vgl. Bericht der SPK-S vom 25. Oktober 2019 betreffend die parlamentarische Initiative Müller 16.403 «Familiennachzug.

Gleiche Regelung für Schutzbedürftige wie für vorläufig Aufgenommene»; Ziff. 1.3.

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Obwohl dieses Schutzsystem seit der Totalrevision des Asylgesetzes im Jahre 1998 im Gesetz geregelt ist, hat der Bundesrat davon bis heute aus verschiedenen Gründen keinen Gebrauch gemacht. Wie er bereits in seiner Stellungnahme zur Motion 15.3801 der FDP-Fraktion «Nur noch vorläufiger Schutz für Asylsuchende aus Eritrea» ausgeführt hat, ist einer der Hauptgründe hierfür, dass die Schweiz erhöhte Gesuchszahlen bis anhin stets in den Regelstrukturen bewältigen konnte. Hinzu kommt, dass die Schutzgewährung als vorübergehendes Instrument konzipiert wurde, welches für eine relativ kurze Dauer einer schweren allgemeinen Gefährdung Anwendung finden soll. Die jüngsten Erfahrungen der Konflikte in Syrien oder Afghanistan zeigen jedoch, dass wegen der langen Dauer gewisser Konflikte ein Ende solcher Gefährdungen oftmals kaum absehbar ist. Der Bundesrat hat in der Stellungnahme zur Interpellation 15.3294 Moret «Asylgesetz. Gewährung vorübergehenden Schutzes speziell für Menschen aus Syrien?» zudem festgehalten, dass diese Regelung dafür geschaffen wurde, um in einer akuten Krisensituation rasch handeln zu können. Dennoch dürfen die langfristigen Folgen insbesondere bei länger andauernden Konflikten nicht ausser Acht gelassen werden. So werden bei der Gewährung des vorübergehenden Schutzes hängige Asylverfahren sistiert, und die betroffenen Personen haben fünf Jahre nach dem Sistierungsentscheid die Möglichkeit, eine Wiederaufnahme des Asylverfahrens zu beantragen. Da die aktuellen Konflikte weitaus mehr als fünf Jahre andauern, wäre dadurch mit einem beträchtlichen nachträglichen Mehraufwand im Asylverfahren zu rechnen.

Bei einer Anwendung des Status des vorübergehenden Schutzes stellt sich ferner die Frage, wie sie sich zu den Verpflichtungen der Schweiz gemäss der Dublin IIIVerordnung6 verhält. Der Bundesrat hat in seinem Bericht «Vorläufige Aufnahme und Schutzbedürftigkeit: Analyse und Handlungsoptionen» vom Oktober 2016 festgehalten, dass die Gewährung vorübergehenden Schutzes ein Zuständigkeitskriterium gemäss der Dublin III-Verordnung darstellen kann, da eine betroffene Person mit der Schutzgewährung einen Aufenthaltstitel in der Schweiz erhält. Ein allfälliges Asylgesuch wird bei Personen, die zur Gruppe der vom Bundesrat als schutzbedürftig erklärten Personen gehören, für mindestens fünf Jahre
sistiert, sofern der Bundesrat den vorübergehenden Schutz nicht vorgängig aufgehoben hat. Die Dublin III Verordnung schweigt sich über die Sistierung der Behandlung eines Asylgesuchs aus und beinhaltet auch keine Behandlungsfristen7 für das Asylgesuch; sie erwähnt jedoch «das Ziel einer zügigen Bearbeitung» der Asylanträge (Erwägungsgrund 5).

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Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31.

Solche sieht jedoch die für die Schweiz nicht relevante sog. Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [Neufassung], ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 60) vor: Gemäss Art. 31 Abs. 3 bzw. 5 muss das erstinstanzliche Asylverfahren innert 18 bzw. 21 Monaten abgeschlossen werden, was kürzer ist als die fünfjährige Suspendierung der Asylverfahren bei Gewährung des vorübergehenden Schutzes in der Schweiz.

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Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass dieses vereinfachte Verfahren auch in einem Widerspruch zu den neuen Herausforderungen stehen kann, insbesondere bei der Identifizierung von Personen, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit der Schweiz darstellen. Dies kann dem Ziel der Schutzbedürftigenregelung, in einer akuten Krisensituation rasch und unbürokratisch handeln zu können, entgegen­ stehen.

Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass der Aufschub des Familiennachzuges bei Schutzbedürftigen wie bei vorläufig aufgenommenen Personen ein gewisses Spannungsverhältnis zum Verbot diskriminierender Eingriffe in das Familienleben schaffen kann (Art. 8 i.V.m. Art. 14 der Konvention vom 4. November 19508 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [EMRK]). Die konkrete Umsetzung der Regelungen zum Familiennachzug muss daher im Einzelfall stets verfassungs- und völkerrechtskonform erfolgen. Zudem sind nach Artikel 10 des Übereinkommens vom 20. November 19899 über die Rechte des Kindes (KRK) «von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt zu bearbeiten». Entsprechend hat die Schweiz zu dieser Regelung aufgrund der nationalen Gesetzgebung zum Familiennachzug einen Vorbehalt angebracht.

Mit der vorgeschlagenen Regelung sollen Gesuche um Familiennachzug analog der Regelung bei der vorläufigen Aufnahme neu bei den kantonalen Migrationsbehörden zur Vorprüfung eingereicht werden. Im Rahmen der Vernehmlassung haben deshalb mehrere Kantone die Befürchtung geäussert, dass die vorgeschlagene Neuerung zu einem finanziellen und personellen Mehraufwand bei den Kantonen führen würde.

Der Bundesrat hat dafür Verständnis. Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass mit den höheren Anforderungen beim Familiennachzug die Kantone im Bereich Sozialhilfe entlastet werden können. Ferner ist es dem Bundesrat ein Anliegen, bei einer allfälligen Anwendung der Schutzbedürftigenregelung gemeinsam mit den Kantonen geeignete und praxistaugliche Lösungen für die konkrete Umsetzung in der Praxis zu finden.

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Anträge des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt Eintreten und Zustimmung zur Vorlage der SPK-S.

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SR 0.101 SR 0.107

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