19.083 Botschaft zur Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» vom 13. Dezember 2019

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

13. Dezember 2019

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2019-2830

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Übersicht Die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» fordert ein bedingungsloses Verbot von Tierversuchen und Forschung am Menschen in der Schweiz. Weiter soll auch der Handel mit Produkten, die unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurden, verboten werden. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab, da die Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen ausreichend sind, um Mensch und Tier zu schützen. Ein solches Verbot hätte zudem massive negative Konsequenzen für die Gesundheit der Bevölkerung, die Forschung und die Wirtschaft unseres Landes. Ausserdem ist die Initiative unvereinbar mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz.

Inhalt der Volksinitiative Die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» wurde am 18. März 2019 mit 123 640 Unterschriften eingereicht. Sie bezweckt ein Verbot von Tierversuchen und von Forschung am Menschen. Zudem will sie ein Einfuhr- und Handelsverbot einführen für sämtliche Produkte, die unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurden und nach Inkraftsetzung des Verbotes auf den Markt gebracht werden. Schliesslich verlangt sie, dass tierversuchsfreie Ersatzansätze mindestens dieselbe staatliche Unterstützung erhalten wie vormals die Tierversuche.

Vorzüge und Mängel Der Bundesrat teilt das Anliegen der Initiantinnen und Initianten, Tierleid zu mindern. Das Ziel, vollständig auf Tierversuche und Forschung am Menschen zu verzichten, kann er zum heutigen Zeitpunkt hingegen nicht unterstützen.

Die Initiative verlangt einen vollständigen Paradigmenwechsel in der Forschung: Während der Gesetzgeber und der Bundesrat stets einen Spielraum für sorgfältige Güterabwägungen zwischen dem Tierschutz oder den Persönlichkeitsrechten zum einen und den Interessen von Wissenschaft und Forschung zum anderen vorgesehen haben, schliesst die Initiative nahezu jede solche Nutzen-Risiko-Abwägung aus.

Gegenwärtig sind jedoch die Grundlagenforschung und die Prüfung von pharmazeutischen und chemischen Produkten noch auf Tierversuche sowie auf den Einbezug von Menschen angewiesen. Ein Verbot von Tierversuchen und von Forschung am Menschen hätte signifikante negative Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, da die Bevölkerung
nicht mehr in den Genuss der neusten medizinischen Erkenntnisse käme. Negative Auswirkungen ergäben sich auch für Forschung und Wirtschaft.

Die Initiative würde unseren internationalen Verpflichtungen zuwiderlaufen und neue Handelshemmnisse schaffen. Ihre Umsetzung wäre mit einem unverhältnismässigen Aufwand verbunden und daher sehr problematisch. Es müssten neue komplizierte und kostspielige Kontrollsysteme erarbeitet und eingeführt werden.

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Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» hat den folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 80 Abs. 2 Bst. b, 3 und 4 2

Er [der Bund] regelt insbesondere: b.

Aufgehoben

Tierversuche und Menschenversuche sind verboten. Tierversuche gelten als Tierquälerei bis hin zum Verbrechen. Dies und alles Nachfolgende gelten sinngemäss für Tier- und Menschenversuche: 3

a.

Erstanwendung ist nur zulässig, wenn sie im umfassenden und überwiegenden Interesse der Betroffenen (Tiere wie Menschen) liegt; die Erstanwendung muss zudem erfolgversprechend sein und kontrolliert und vorsichtig vollzogen werden.

b.

Nach Inkrafttreten des Tierversuchsverbotes sind Handel, Einfuhr und Ausfuhr von Produkten aller Branchen und Arten verboten, wenn für sie weiterhin Tierversuche direkt oder indirekt durchgeführt werden; bisherige Produkte bleiben vom Verbot ausgenommen, wenn für sie keinerlei Tierversuche mehr direkt oder indirekt durchgeführt werden.

c.

Die Sicherheit für Mensch, Tier und Umwelt muss jederzeit gewährleistet sein; falls dazu bei Neuentwicklungen respektive Neueinfuhren keine amtlich anerkannten tierversuchsfreien Verfahren existieren, gilt ein Zulassungsverbot für das Inverkehrbringen respektive ein Verbot der Ausbringung und Freisetzung in der Umwelt.

d.

Es muss gewährleistet sein, dass tierversuchsfreie Ersatzansätze mindestens dieselbe staatliche Unterstützung erhalten wie vormals die Tierversuche.

Für den Vollzug der Vorschriften sind die Kantone zuständig, soweit das Gesetz ihn nicht dem Bund vorbehält.

4

1

SR 101

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Art. 118b Abs. 2 Bst. c und 3 Für die Forschung in Biologie und Medizin mit Personen beachtet er [der Bund] folgende Grundsätze: 2

c.

Aufgehoben

Forschungsvorhaben müssen den Anforderungen von Artikel 80 Absatz 3 Buchstabe a genügen.

3

Art. 197 Ziff. 122 12. Übergangsbestimmung zu Art. 80 Abs. 2 Bst. b, 3 und 4 sowie Art. 118b Abs. 2 Bst. c und 3 (Tierversuchsverbot und Menschenversuchsverbot) Bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen erlässt der Bundesrat innerhalb von zwei Jahren nach Annahme von Artikel 80 Absätze 2 Buchstabe b, 3 und 4 sowie Artikel 118b Absätze 2 Buchstabe c und 3 durch Volk und Stände die erforderlichen Ausführungsbestimmungen.

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» wurde am 19. September 20173 von der Bundeskanzlei vorgeprüft und am 18. März 2019 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 9. April 20194 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 123 640 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.

Die Initiative hat die Form eines ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20025 (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 18. März 2020 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 18. September 2021 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen. Sie kann die Behandlungsfrist um ein Jahr verlängern, wenn die Voraussetzungen gemäss Artikel 105 ParlG erfüllt sind.

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Die endgültige Ziffer dieser Übergangsbestimmung wird nach der Volksabstimmung von der Bundeskanzlei festgelegt.

BBl 2017 6149 BBl 2019 2997 SR 171.10

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1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 BV: a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie. Das Ziel, künftig sämtliche Tierversuche sowie die Forschung am Menschen zu verbieten, betrifft in der Konsequenz auch ein Handels- und Importverbot sämtlicher Produkte («aller Arten und Branchen»), die unter Einsatz dieser Forschung neu auf den Markt kommen.

c.

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

Angestossen wurde die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» von der Interessengemeinschaft Tierversuchsverbot-Initiative. Die Lancierung erfolgte vor dem Hintergrund, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Tier und der Umgang mit Tieren, auch in der Forschung, in den Medien und in politischen Vorstössen regelmässig thematisiert werden.

3

Ziele und Inhalt der Initiative

3.1

Ziele der Initiative

Das Ziel der Initiantinnen und Initianten geht klar aus dem Wortlaut und der Argumentation hervor: «Tier- und Menschenversuche» sollen in der Schweiz vollumfänglich verboten werden, und «Verletzungen sollen möglichst hart bestraft werden können»6. Nach Ansicht des Initiativkomitees würde ein solches Verbot die Wissenschaft zwingen, neue tierversuchsfreie Prozesse zu entwickeln. Die Initiantinnen und Initianten stellen die Übertragbarkeit der Ergebnisse von Tierversuchen auf den Menschen in Frage und sind der Ansicht, dass alternative Forschungsmethoden zuverlässiger sind. Es sollen alternative Methoden entwickelt werden. Um dies zu erreichen, sollen diese Forschungsmethoden mindestens dieselbe staatliche Unterstützung erhalten wie vormals die Tierversuche. Die Initiantinnen und Initianten wollen auch den Handel mit Produkten aller Branchen und Arten und deren Einfuhr verbieten, wenn für sie weiterhin Tierversuche direkt oder indirekt durchgeführt 6

Die Erläuterungen finden sich auf der Webseite des Initiativkomitees unter www.tierversuchsverbot.ch > Initiative > Initiativtext > Erläuterungen zum Initiativtext (Version 2 vom 2. Mai 2019; Stand 17. Juli 2019).

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werden. Produkte, bei denen ein Bestandteil unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurde, wären vom Verbot ebenfalls betroffen. Das Verbot würde jedoch nur für Produkte gelten, die nach dem Inkrafttreten des Tierversuchsverbots in Verkehr gebracht würden.

3.2

Auslegung und Erläuterung des Initiativtextes

Verhältnis zwischen den Artikeln 80 und 118b BV Die Initiantinnen und Initianten fordern, dass Artikel 80 BV unter dem Titel «Tierschutz» sowohl Vorschriften zum Schutz von Tieren, als auch zum Schutz von Menschen enthalte. Dies führt zu verschiedenen Abgrenzungsfragen und Unklarheiten. Mit Artikel 118b BV besteht ein expliziter Artikel zur Forschung am Menschen.

Teilaspekte der Forschung am Menschen unter dem Titel «Tierschutz» zu regeln, hat eine unübliche Gleichstellung von Mensch und Tier zur Folge und widerspricht der Systematik der Verfassung. Es wäre zudem nicht nachvollziehbar, weshalb in Artikel 80 BV von «Menschenversuchen», in Artikel 118b BV hingegen von «Forschung am Menschen» gesprochen und dabei grundsätzlich das Gleiche verstanden, aber anders benannt wird.

Die Initiantinnen und Initianten fordern die Streichung von Artikel 118b Absatz 2 Buchstabe c BV und damit von zentralen Prinzipien für die Humanforschung: Ein Forschungsvorhaben mit urteilsunfähigen Personen darf nur durchgeführt werden, wenn einerseits gleichwertige Erkenntnisse nicht mit urteilsfähigen Personen gewonnen werden können, und wenn andererseits ­ in Fällen, in denen das Forschungsvorhaben keinen unmittelbaren Nutzen für die urteilsunfähigen Personen erwarten lässt ­ die Risiken und Belastungen nur minimal sind. Indem diese Prinzipien gestrichen werden, würde fortan für sämtliche Personen ­ urteilsfähig oder nicht ­ die gleiche Regel gelten: Nur dann, wenn vieles darauf hindeutet, dass die betroffene Patientin oder der betroffene Patient vom Einsatz einer neuen Substanz unmittelbar und mit einer hohen Wahrscheinlichkeit profitieren wird, dürfte eine Erstanwendung ins Auge gefasst werden.

Allerdings bleibt unklar, weshalb in Artikel 118b BV lediglich die Forschung mit urteilsunfähigen Personen gestrichen werden soll. In der Konsequenz hiesse das, dass die anderen Bestimmungen für die Forschung mit urteilsfähigen Personen (wie die aufgeklärte Einwilligung oder die vorgängige Prüfung durch eine Ethikkommission) weiterhin gelten, was im Hinblick auf das geforderte absolute Verbot der «Menschenversuche» in Artikel 80 BV zu einer Rechtsunsicherheit führt. Es erscheint nur dann sinnvoll, diese Bestimmungen beizubehalten, wenn davon ausgegangen wird, dass ein gewisser Teil der Forschung am Menschen weiterhin erlaubt ist
(vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen zum Verbot von «Menschenversuchen» sowie zur Erstanwendung und deren möglicher Abgrenzung vom Forschungsbegriff).

Mit Artikel 118b Absatz 3 BV wird auf die auch für die Forschung am Menschen geltenden Anforderungen verwiesen, die neu in Artikel 80 Absatz 3 Buchstabe a BV aufgeführt werden sollen. Dieser Verweis ist insofern verwirrend, als im neuen Artikel 80 Absatz 3 BV einleitend gesagt wird, dass «Tier- und Menschenversuche» 546

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verboten sind und alle nachfolgenden Anforderungen «sinngemäss für Tier- und Menschenversuche» gelten sollen, d.h. die Buchstaben a-d dieser neuen Bestimmung.

Verbot von «Menschenversuchen» Die Initiantinnen und Initianten fordern die Einführung eines Verbots von «Tierund Menschenversuchen» (Art. 80 Abs. 3 BV). Je nach Auslegung des nicht definierten Begriffs «Menschenversuche» kann dieser als Synonym von «Forschung am Menschen» verstanden werden. Damit wäre jegliche Forschung am Menschen verboten ­ dies nicht nur in der Medizin und Biologie, sondern beispielsweise auch in der Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaft. Es wäre nicht länger zulässig, ein Forschungsvorhaben mit erwachsenen, urteilsfähigen Personen durchzuführen, die sich aus wissenschaftlichem Interesse oder aus solidarischen oder altruistischen Überlegungen daran beteiligen möchten. Grundlagenforschung, insbesondere zur Anatomie, Physiologie und Genetik des menschlichen Körpers, sowie nicht auf Krankheiten bezogene Forschung zu Eingriffen und Einwirkungen auf den menschlichen Körper, die nicht mit einem konkreten Nutzen für die Gesundheit der betreffenden Person durchgeführt werden, wäre nicht länger erlaubt. Dieses weitgehende Verbot stellt demnach einen erheblichen Eingriff sowohl in die verfassungsrechtlich garantierte Forschungsfreiheit (Art. 20 BV) als auch in die Persönlichkeitsrechte dar.

Schliesslich bleibt offen, welche Konsequenzen die «sinngemässe Anwendung» der neuen Bestimmung von Artikel 80 Absatz 3 BV, die sich in erster Linie auf Tiere beziehungsweise Tierversuche bezieht, für den Menschen beziehungsweise die Humanforschung in der Praxis hat. So wird beispielsweise erklärt, dass Tierversuche als Tierquälerei bis hin zum Verbrechen gelten soll. Wenn «dies sinngemäss auch für Menschenversuche gelten soll», stellt sich die Frage, ob die Humanforschung gleichermassen einem Verbrechen gleichkommen sollte. Vergleichbare Auslegungsschwierigkeiten ergeben sich auch im Hinblick auf das Handels- und Importverbot (vgl. unten).

Erstanwendung Das Initiativkomitee lässt eine Ausnahme des absoluten Forschungsverbots zu: Nach Artikel 80 Absatz 3 Buchstabe a BV wäre eine «Erstanwendung [...] zulässig, wenn sie im umfassenden und überwiegenden Interesse der Betroffenen (Tiere wie Menschen) liegt; die Erstanwendung muss zudem
erfolgversprechend sein und kontrolliert und vorsichtig vollzogen werden».

Nur wenn vieles darauf hindeutet, dass die betroffene Patientin oder der betroffene Patient (bzw. ein Tier) vom Einsatz einer neuen Substanz unmittelbar profitieren wird, dürfte gemäss den Initiantinnen und Initianten eine Erstanwendung ins Auge gefasst werden. Es ist jedoch unklar, inwiefern diese Erstanwendung ­ zu der keine Legaldefinition existiert ­ vom Forschungsbegriff umfasst wird. Insofern ist fraglich, ob damit die «Forschung mit direktem Nutzen» gemeint ist, oder eher ein Heilversuch. Artikel 3 Buchstabe a des Humanforschungsgesetzes vom 30. September 20117 (HFG) definiert Forschung als methodengeleitete Suche nach verallge7

SR 810.30

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meinerbaren Erkenntnissen; Artikel 3 Buchstabe d HFG geht bei einem Forschungsprojekt mit erwartetem direktem Nutzen davon aus, dass dessen Ergebnisse eine Verbesserung der Gesundheit der teilnehmenden Personen erwarten lassen. Allerdings steht auch bei einem solchen Forschungsprojekt der Erkenntnisgewinn im Fokus. Demzufolge entspricht die hier erwähnte Erstanwendung unter Umständen eher einem vom HFG nicht erfassten Heilversuch denn der Forschung: Heilversuche werden in der Regel allein oder zumindest hauptsächlich mit dem Ziel durchgeführt, den Gesundheitszustand der Patientin oder des Patienten zu verbessern und nicht, um verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen.8 Unabhängig von der Begrifflichkeit würden durch diese Regelung jedes Risiko und jede Belastung, mögen sie auch noch so gering sein, im Verhältnis zu einem für die betreffende Person nicht vorhandenen ­ potentiellen ­ direkten Nutzen als unverhältnismässig erachtet. Sogenannt fremdnützige Forschungsvorhaben wären daher künftig nicht mehr zulässig.

Eingriffe am lebenden Tier Die Initiative beantragt die Aufhebung von Artikel 80 Absatz 2 Buchstabe b BV, wonach der Bund Tierversuche und Eingriffe am lebenden Tier zu regeln hat. Bei der Einführung eines absoluten Verbots jeglicher Tierversuche wäre die Streichung der Tierversuche in dieser Bestimmung die logische Konsequenz. Hingegen führt die Streichung der Eingriffe am lebenden Tier zu einer beträchtlichen Rechtsunsicherheit. Ein gewisser Teil der Eingriffe könnte zwar unter Artikel 80 Absatz 2 Buchstabe a BV (Tierhaltung und Tierpflege) subsumiert werden. Es bestünde durch diese Streichung aber die Gefahr einer nicht ausreichenden Verfassungsgrundlage für die heutige Regelung der Eingriffe am lebenden Tier auf Gesetzesstufe.

Sanktionen Tierversuche sollen gemäss Vorschlag des Initiativkomitees als Tierquälerei bis hin zum Verbrechen gelten (Art. 80 Abs. 3 BV Einleitung). Das Tierschutzgesetz vom 16. Dezember 20059 (TSchG) belegt in Artikel 26 Absatz 1 Buchstabe d unter dem Titel «Tierquälerei» schon heute mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, wer einem Tier bei der Durchführung von Versuchen Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügt oder es in Angst versetzt, soweit dies nicht für den verfolgten Zweck unvermeidlich ist. Es ordnet diese Taten also der Vergehenskategorie
zu, hält aber auch fest, dass nicht per se jeder Tierversuch eine strafbare Tierquälerei darstellt, sondern nur dann, wenn die Belastung des Tieres für den verfolgten Zweck vermeidbar wäre. Aufgrund der Initiative wird der Strafrahmen deutlich vergrössert: Einerseits ist jeder Tierversuch automatisch eine Tierquälerei, andererseits soll diese je nach Schwere der Tat mit einer Geldbusse oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei oder von mehr als drei Jahren (bei Beurteilung als Verbrechen) bestraft werden können.

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Botschaft vom 21. Okt. 2009 zum Bundesgesetz über die Forschung am Menschen; BBl 2009 8045 8093.

SR 455

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Handels- und Importverbot Das Initiativkomitee fordert mit Artikel 80 Absatz 3 Buchstabe b BV ein umfassendes Handels-, Import- und Exportverbot für «sämtliche Produkte aller Branchen und Arten», die an Tieren getestet werden. Betroffen von diesem Verbot wäre eine Vielzahl von Produkten: Erfasst werden nicht nur Heilmittel, das heisst Arzneimittel und Medizinprodukte, sondern auch Pflanzenschutzmittel, Chemikalien, Biozidprodukte oder Nahrungsergänzungsmittel, die mittels Tierversuchen erforscht wurden.

Das Handelsverbot bezieht sich auch auf Produkte, von denen lediglich Teilkomponenten am Tier getestet wurden (gemäss Initiativkomitee sog. indirekter Tierversuch). Erfasst wären somit beispielsweise die in der Herzchirurgie eingesetzten, mit Arzneimitteln beschichteten Stents. Die Initianten und Initiantinnen äussern sich nicht zur Frage, wie dieses Verbot kontrolliert und umgesetzt werden kann. Wird beispielsweise ein Gebrauchsgegenstand importiert, müsste geprüft werden, ob ein dafür verwendeter Farbstoff an einem Tier getestet wurde, was in der Praxis kaum zu bewerkstelligen sein dürfte.

Obschon sich das Initiativkomitee auf ein Verbot von Tier- und «Menschenversuchen» beruft, werden letztere in Bezug auf ein Handelsverbot nicht explizit genannt.

Die Bestimmungen von Artikel 80 Absatz 3 BV sollen jedoch gemäss Einleitung nicht nur auf Tier-, sondern auch auf «Menschenversuche» sinngemäss zur Anwendung gelangen. Es wäre demnach unklar, ob Produkte, die ausschliesslich unter Einbezug von Personen erforscht werden, weiterhin eingeführt werden dürfen. Wäre dies der Fall, wären erheblich mehr Produkte vom Handels- und Importverbot betroffen.

Förderung der tierversuchsfreien Forschung Mit Artikel 80 Absatz 3 Buchstabe d BV will das Initiativkomitee gewährleisten, dass tierversuchsfreie Forschungsansätze, welche den Ersatz von Tierversuchen zum Ziel haben, mindestens dieselbe staatliche Unterstützung erhalten wie vormals die Tierversuche. Artikel 22 Absatz 2 TSchG verpflichtet den Bund, 3R-Forschung (3R-Prinzip: Reduce, Refine, Replace, also Vermindern, Verbessern, Vermeiden von Tierversuchen) zu fördern. So beteiligt sich der Bund unter anderem an den Kosten des 3R-Kompetenzzentrums (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und
Veterinärwesen (BLV) insgesamt 1.3 Millionen Franken). Weitere Mittel werden vom Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz (Interpharma; 500 000 Franken) und den Hochschulen in Form materieller Unterstützung (Personal und Infrastruktur in der Höhe von 1 Millionen Franken) für das 3R-Kompetenzzentrum zur Verfügung gestellt. Diese Beiträge müssten bei einer Annahme der Initiative erheblich erhöht werden. Zum heutigen Zeitpunkt lässt sich jedoch nicht sagen, wie gross das Volumen der Forschung ohne Anwendung von Tierversuchen sein wird. Zudem äussert sich das Initiativkomitee nicht zu den heutigen Beiträgen für die Humanforschung, die nicht mit Tierversuchen verbunden ist.

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Neuentwicklungen ohne tierversuchsfreie Verfahren Da die Sicherheit für Mensch, Tier und Umwelt gemäss Initiativkomitee jederzeit gewährleistet sein muss, soll gemäss Artikel 80 Absatz 3 Buchstabe c BV ein Zulassungsverbot für das Inverkehrbringen respektive ein Verbot der Ausbringung und Freisetzung in der Umwelt gelten, falls dazu bei Neuentwicklungen respektive Neueinfuhren keine anerkannten tierversuchsfreien Verfahren existieren.

Der Umstand, dass eine Neuentwicklung ohne Tierversuche erfolgte, darf gemäss Initiativkomitee nicht dazu führen, dass deren Inverkehrbringung ohne Weiteres erfolgt. Vielmehr soll sie durch andere tierversuchsfreie Verfahren ausreichend getestet werden, so dass keine Gefahr für Mensch, Tier und Umwelt besteht. Daher sollen in solchen Fällen Moratorien gelten, bis die Sicherheit der Neuentwicklung ausreichend belegt werden kann. Hier ergeben sich zahlreiche Unsicherheiten bezüglich Vollzug und Bewilligungsverfahren.

Zeitliche Umsetzung Mit Artikel 197 Ziffer 12 BV soll einer Verzögerung der Umsetzung der Initiative entgegengewirkt werden. Die Gesetzgebung zur Umsetzung des Verfassungsartikels soll spätestens zwei Jahre nach dessen Annahme in Kraft treten. Andernfalls hätte der Bundesrat die Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg zu erlassen.

4

Politische und rechtliche Hintergründe der Initiative

4.1

Verbesserung des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier

Der Schutz des Menschen wurde auf Verfassungsebene durch Artikel 118b über die Forschung am Menschen verbessert, der am 7. März 2010 vom Volk mit 77,2 Prozent und von allen Ständen angenommen wurde. Die Präzisierung dieses Schutzes auf Gesetzesebene erfolgte mit dem neuen HFG, gegen das kein Referendum ergriffen wurde. Am 30. September 2011 wurde das Gesetz vom Nationalrat mit 189 zu 7 Stimmen und vom Ständerat einstimmig verabschiedet.

Zudem stimmten das Schweizer Volk und die Stände bereits zweimal über Volksinitiativen zu Tierschutzthemen ab. Die Volksinitiative «für die Abschaffung der Vivisektion» wurde am 1. Dezember 1985 von 70,5 Prozent der Bevölkerung und allen Kantonen und die Volksinitiative «zur Abschaffung der Tierversuche» am 7. März 1993 vom Volk mit 72,2 Prozent und ebenfalls allen Ständen abgelehnt.

1991 wurden die Bestimmungen über die Bewilligungspflicht von Tierversuchen sowie die Förderung und Unterstützung der Entwicklung von Methoden, die auf dem 3R-Prinzip beruhen, im TSchG verankert und 2008 im Rahmen dessen Revision verschärft. Die Rahmenbedingungen für die Tierversuche sind somit sehr streng. Die schweizerische Gesetzgebung ist in diesem Bereich weltweit eine der strengsten.

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4.2

Stellungnahme der wissenschaftlichen Kreise und der Tierschutzorganisationen

Die Arbeiten und Stellungnahmen der wissenschaftlichen und medizinischen Kreise, insbesondere jene des Schweizerischen Nationalfonds (SNF)10, von swissuni-versities und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)11 illustrieren, dass heute für den Erwerb von Grundlagenwissen und die Entwicklung neuer Medizinprodukte und -verfahren Tierversuche nach wie vor notwendig sind. Swissuniversities schreibt beispielsweise in ihrer Stellungnahme vom 18. März 201912: «Tierversuche werden nicht als eigenes Projekt durchgeführt, sondern sind Teil eines Forschungsprotokolls. Aus ethischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gründen werden nach Möglichkeit In-silico- [Computermodelle] und In-vitro-Modelle verwendet. Unter anderem in der Onkologie, der Neurorehabilitation und der Immunologie, ist der Einsatz von Tiermodellen weiterhin notwendig.» Der Schweizer Tierschutz (STS) vertritt die Meinung, dass «keine Initiative [...], die internationale Bestimmungen ignoriert und die Schweiz wirtschaftlich und geografisch abschottet unterstützt werden kann. In der Konsequenz würden die Initiativziele dazu führen, dass sich die Schweiz komplett aus dem internationalen Raum zurückziehen müsste ­ mit nicht absehbaren Folgen für Wirtschaft und Bildung.»13 Die Fondation Animalfree Research erklärt in einem Interview14, dass das Ziel eines vollständigen Verzichts auf Tierforschung schrittweise erreicht werden müsse. Sie unterstützt die Initiative ebenfalls nicht.

4.3

Parlamentarische Vorstösse

Mehrere Vorstösse thematisierten die Tierforschung und die Möglichkeiten, sie zu beschränken oder zu verbieten. Im Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur NR (12.3660) vom 17. August 2012 «Zukunft der Stiftung Forschung 3R und Alternativmethoden für Tierversuche»15 wurden mehrere Handlungsfelder zur Förderung der 3R festgelegt.

Die Mehrheit der parlamentarischen Interventionen betrafen alternative Methoden (3R) bei der Durchführung von Tierversuchen. Erwähnt werden können beispielsweise die Interpellation Chevalley (17.4085) «Unterstützt der Nationalfonds die 3R-Forschung wirklich?», die Interpellation Munz (17.3142) «Tierfreie Methoden zur Sicherheitsüberprüfung von Pflanzenschutzmitteln», die Interpellation Munz (17.3545) «Handlungsbedarf bei Tierversuchen. Förderung des 3R-Prinzips durch 10 11 12 13 14 15

Abrufbar unter www.snf.ch > Der SNF > Positionen > Tierversuche.

Abrufbar unter www.samw.ch > Aktuelles > Aktuelles aus der Kommission für Tierversuchsethik vom 27. Mai 2019.

Abrufbar unter www.swissuniversities.ch > Publikationen > Stellungnahmen > Stellungnahme von swissuniversities zur Initiative für ein Tier- und Menschenversuchsverbot.

Abrufbar unter www.tierschutz.com/themen/index.html > Tierversuche > Tierversuchsverbots-Initiative (Stellungnahme).

Tages-Anzeiger vom 27. Juni 2019 «Verbot von Tierversuchen entzweit die Tierschützer».

Abrufbar unter www.parlament.ch > 12.3660 > Bericht in Erfüllung des Postulats.

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den Schweizerischen Nationalfonds» und die Motion Graf (17.3240) «Für einen innovativen Forschungsstandort Schweiz. Bessere Förderung von Ersatzmethoden für Tierversuche». Andere verlangten vom Bundesrat Auskunft über die steigende Anzahl der im Rahmen von Versuchen eingesetzten Tiere, zum Beispiel die Interpellation Aebischer (16.4075) «Massnahmen gegen die massiv steigende Anzahl an Tierversuchen und eingesetzten Tieren» und die Interpellation Graf (16.3839) «Steigende Tierversuchszahlen an den Hochschulen. Wo bleibt die Güterabwägung?».

Weitere forderten ein Verbot gewisser Tierversuche oder stellten dem Bundesrat Fragen zu diesem Thema, wie beispielsweise die Motion Graf (15.4241) «Verbot von belastenden Tierversuchen an Primaten», die Motion Graf (15.4240) «Verbot von Tierversuchen für Kosmetika, Reinigungs- und Haushaltsmittel» sowie die Interpellation Quadranti (13.3060) «Tierversuche für kosmetische Inhaltsstoffe».

Der Bundesrat hat sich gegen solche Verbote ausgesprochen und erklärte unter anderem, dass aufgrund des neuen Lebensmittelgesetzes vom 20. Juni 2014 16 (LMG) der Handel mit Kosmetika, die insgesamt oder von denen Bestandteile an Tieren getestet wurden, nicht mehr erlaubt ist. Das Parlament folgte dem Bundesrat.

Schliesslich hat der Nationalrat am 25. September 2019 die parlamentarische Initiative Graf (18.491) «Verbot von schwerbelastenden Tierversuchen. Ergänzung des Tierschutzgesetzes» mit 114 zu 60 Stimmen bei vier Enthaltungen abgelehnt.

4.4

Entwicklung der Zahl der Tierversuche

In der Schweiz ging die Zahl der Tierversuche von knapp zwei Millionen im Jahr 1983 auf 586 643 im Jahr 2018 zurück; die Belastung der Tiere konnte ebenfalls reduziert werden. Seit 2009 ist die Zahl der Tierversuche um 16,9 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der in der Grundlagenforschung und für Krankheitsmodelle eingesetzten genetisch veränderten Tiere ist hingegen im Zunehmen begriffen. Dies erklärt, warum die Zahl der Tierversuche nicht stärker abnimmt und seit Ende der 1990er-Jahre weitgehend unverändert geblieben ist.

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SR 817.0

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Statistik der Tierversuche 1983­2018

4.5

Abbildung

Rechtlicher Rahmen in den von der Initiative betroffenen Bereichen

Die folgenden Kapitel geben eine kurze Übersicht zur aktuellen Regelung der von der Initiative betroffenen Bereiche auf Stufe Verfassung, Gesetz und Verordnung.

4.5.1

Tierversuche/Tierschutz

Massgeblich für den Tierschutz ist Artikel 80 Absatz 2 Buchstabe b BV, wonach der Bund Tierversuche und Eingriffe am lebenden Tier zu regeln hat. Er tut dies mit dem TSchG, welches bezweckt, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen (Art. 1 TSchG).

Die Würde des Tieres wird missachtet, wenn eine Belastung des Tieres nicht durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden kann (Art. 3 Bst. a TSchG). Daher sind Tierversuche, die dem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen, sein Allgemeinbefinden erheblich beeinträchtigen oder seine Würde in anderer Weise missachten können, auf das unerlässliche Mass zu beschränken (Art. 17 TSchG).

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Wer heute einen Tierversuch durchführen möchte, muss belegen, dass das Versuchsziel einem spezifischen öffentlichen Zweck dient, beispielsweise der Erhaltung oder dem Schutz des Lebens und der Gesundheit von Mensch und Tier. Sie oder er muss ausserdem aufzeigen, dass das Versuchsziel mit Verfahren ohne Tierversuche nicht erreicht werden kann (Subsidiaritätsprinzip; Art. 137 Abs. 1 und 2 Tierschutzverordnung vom 23. April 200817 [TSchV]). Die für die Bewilligung der Tierversuche zuständige kantonale Behörde prüft sämtliche Gesuche und beachtet dabei deren wissenschaftlichen Wert sowie die Alternativlosigkeit.

Zu erwähnen ist auch Artikel 120 Absatz 2 BV, wonach der Bund Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen erlässt und dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung trägt. Die Abwägung bei den Tierversuchen hat daher unter dem Aspekt der Würde zu erfolgen, wozu nicht nur pathozentrische Belastungskriterien (Leiden, Schmerzen, Angst) gehören, sondern auch biozentrische (z.B. tiefgreifender Eingriff in die Fähigkeiten).

Das geltende Recht enthält damit schon heute strenge Anforderungen, um Tierversuche merklich zu reduzieren und in Bezug auf gewisse Forschungsvorhaben ganz zu verbieten.

4.5.2

Humanforschung

Die massgebliche Bestimmung für die Forschung am Menschen ist Artikel 118b BV. Der Bund hat Vorschriften zu erlassen, soweit der Schutz von Würde und Persönlichkeit es erfordert. Dabei hat er die Forschungsfreiheit zu wahren und der Bedeutung der Forschung für Gesundheit und Gesellschaft Rechnung zu tragen.

Entsprechend wird in Artikel 4 HFG festgehalten, dass Interesse, Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen Menschen Vorrang haben gegenüber den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft. So gilt auch im Bereich der Humanforschung das Subsidiaritätsprinzip: Ein Forschungsprojekt mit Personen darf nur durchgeführt werden, wenn gleichwertige Erkenntnisse anders nicht gewonnen werden können (Art. 11 HFG).

In Artikel 118b Absatz 2 BV sind die Grundprinzipien festgelegt, die bei der Forschung am Menschen in Medizin und Biologie zu beachten sind, unter anderem das Erfordernis einer aufgeklärten Einwilligung (sog. informed consent) sowie ein angemessenes Risiko-Nutzen-Verhältnis.

Gleichermassen enthält das Übereinkommen vom 4. April 199718 über Menschenrechte und Biomedizin (Biomedizin-Konvention), das in der Schweiz am 1. November 2008 in Kraft getreten ist, verschiedene Anforderungen, die den Menschen in der Forschung schützen sollen. So statuiert es in Artikel 16 unter anderem das Subsidiaritätsprinzip, die aufgeklärte Einwilligung und die vorgängige unabhängige Prüfung der Forschungsprojekte, wie sie in der Schweiz durch die kantonalen Ethikkommis-

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SR 455.1 SR 0.810.2

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sionen erfolgt. Das Zusatzprotokoll vom 25. Januar 200519 zur biomedizinischen Forschung am Menschen konkretisiert und ergänzt die in der Biomedizin-Konvention enthaltenen Grundsätze für den Bereich der biomedizinischen Forschung. Es erfasst das gesamte Spektrum von Forschungsaktivitäten im Bereich der Biomedizin, die mit Interventionen an Personen verbunden sind. Die Schweiz hat das Zusatzprotokoll bis heute noch nicht unterzeichnet; gleichwohl fand es als internationaler Standard bei der Erarbeitung des HFG Beachtung.

4.5.3

Heilmittelbereich

Artikel 118 Absatz 2 BV verpflichtet den Bund unter dem Titel «Schutz der Gesundheit» unter anderem dazu, Vorschriften zu erlassen über den Umgang mit Heilmitteln, welche die Gesundheit gefährden können (Bst. a), sowie über die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren (Bst. b). Basierend auf diese Bestimmung wurde das Heilmittelgesetz vom 15. Dezember 200020 (HMG) erlassen, das zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier gewährleisten soll, dass nur qualitativ hochstehende, sichere und wirksame Heilmittel in Verkehr gebracht werden und eine sichere und geordnete Versorgung angeboten wird (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Bst. c HMG).

Bei einem absoluten Verbot von Tierversuchen dürften beispielsweise nur mehr jene Arzneimittel in der Schweiz neu zugelassen werden, die es erlauben, die erforderlichen pharmakologischen und toxikologischen Aussagen für eine Anwendung am Menschen ohne Tierversuche zu machen. Es ist fraglich, ob man sich dafür auf klinische Daten aus im Ausland durchgeführten Forschungsprojekten stützen könnte.

In der Konsequenz wäre das international harmonisierte Zulassungssystem für Arzneimittel nicht mehr haltbar und zahlreiche Arzneimittel würden in der Schweiz nicht mehr zur Verfügung stehen.

4.5.4

Chemikalienbereich

Anforderungen für die Sicherheitsprüfung von Chemikalien werden seit rund 40 Jahren im Rahmen des Testrichtlinien-Programms der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD TGP) auf internationaler Ebene ausgearbeitet. OECD-Testrichtlinien sind ein zentraler Pfeiler zur weltweiten, gegenseitigen Anerkennung von Prüfdaten durch Behörden verschiedener Länder (Mutual Acceptance of Data, MAD). Als OECD-Mitglied anerkennt die Schweiz sämtliche nach OECD-Testrichtlinien unter Einhaltung der Qualitätsstandards (OECD Good Laboratory Practice, GLP) durchgeführten Prüfungen in Vertragsländern des MAD, darunter auch sämtliche im europäischen Kontext durchgeführten

19 20

Abrufbar in englischer und französischer Sprache unter www.coe.int/de > Mehr > Vertragsbüro > Gesamtverzeichnis > Nr. 195.

SR 812.21

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Tests.21 Durch diesen Mechanismus können Mehrfachprüfungen weltweit vermieden werden.

Wurden früher Prüfungen zur Bewertung der toxischen Eigenschaften von Chemikalien vorwiegend an Labortieren (in vivo) durchgeführt, werden diese heute mehr und mehr durch international validierte Alternativmethoden ersetzt. Dies geht aus dem letzten Bericht der Europäischen Chemikalienagentur klar hervor22. Wo derzeit noch keine alternativen Methoden verfügbar sind, setzt das OECD TGP im Sinne von 3R auf Verringerung und Verbesserung bestehender Tierversuche für toxikologische Endpunkte. Als OECD-Mitglied kann die Schweiz eigene, alternative Technologien und innovatives Knowhow ins OECD TGP einbringen und zu international verbindlichen Standards ausarbeiten (aktuell bspw. für die Prüfung der hautsensibilisierenden Eigenschaften).

Bei einer Annahme der Initiative wäre die Schweiz gezwungen, von diesen internationalen OECD Standards im Bereich der Chemikalienregulierung abzuweichen. Ein solcher Alleingang würde sich negativ auf das Schutzniveau auswirken (z. B. durch einen zwingenden Verzicht auf Prüfanforderungen, für die keine alternativen Testmethoden zur Verfügung stehen).

5

Würdigung der Initiative

5.1

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

Eine Annahme der Initiative hätte ein Verbot von «Tier- und Menschenversuchen» zur Folge. Es dürften folglich keine Tiere mehr in Tierversuchen eingesetzt, und neue Substanzen dürften an Personen nur noch im Rahmen von Erstanwendungen getestet werden. Die Auswirkungen eines Verbots auf laufende Forschungsvorhaben müssten geklärt und voraussichtlich auch langjährige Projekte, die kurz vor ihrem Abschluss stehen, abgebrochen werden.

Eine Annahme hätte Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, die Forschung und die Wirtschaft. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: Auswirkungen auf die Gesundheit: ­

Die Versorgung mit Arzneimitteln, Impfstoffen und Medizinprodukten wäre stark eingeschränkt, da sämtliche Produkte, die an Tieren getestet wurden, künftig weder hergestellt noch eingeführt werden dürften.

­

Die Schweizer Bevölkerung hätte keinen Zugang mehr zu den neusten Erkenntnissen in so wichtigen Bereichen wie beispielsweise der Behandlung von Krebs oder von neurodegenerativen Krankheiten, aber auch zu Medi-

21

22

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Vgl. Verordnung Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dez. 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH für Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals); ABl. L 396 vom 30.12.2006 S. 1, zuletzt geändert durch die Verordnung n° 2019/1691 der Kommission vom 9.10.2019, ABl. L 259 S. 9.

Nur in englischer Sprache abrufbar unter www.echa.europa.eu > search > The use of alternatives to testing on animals for the REACH Regulation (Stand 20. Sept. 2019).

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zinprodukten wie beispielsweise Pacemakern oder medikamentabgebenden Produkten in der Herzchirurgie.

Auswirkungen auf die schweizerische Wirtschaft und insbesondere die Schweiz als Forschungs- und Industriestandort: ­

Das Verbot der Einfuhr von Produkten «aller Branchen und Arten», die an Tieren getestet wurden, würde nicht nur Heilmittel betreffen, sondern auch Chemikalien (z. B. Pflanzenschutzmittel) und Gebrauchsgegenstände, bei denen ein Bestandteil unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurde. So könnten beispielsweise chemische Produkte oder Ausgangsstoffe für die chemische Industrie, die im Ausland nach OECD Standards geprüft wurden, bis auf weiteres nicht mehr importiert werden. Dies könnte zu Konflikten führen mit der Handelspolitik der Schweiz und ihren Verpflichtungen gegenüber der WTO, der EU und den Ländern, mit denen sie Freihandelsabkommen abgeschlossen hat.

­

Spätestens zwei Jahre nach Annahme der Initiative dürften in der Schweiz nur noch (neue) Produkte auf den Markt gelangen, die tierversuchsfrei entwickelt wurden. Der Handel müsste gewährleisten können, dass die importierten Produkte den schweizerischen Vorschriften entsprechen. Dies würde den Forschungs- und Industriestandort stark unter Druck setzen. Mögliche neue Produktionen wären voraussichtlich deutlich teurer und hätten aufgrund des hohen Preises ausserhalb der Schweiz kaum Absatzmöglichkeiten.

­

Der amtliche Vollzug müsste überprüfen können, unter welchen Bedingungen für den Import in die Schweiz bestimmte Produkte hergestellt wurden und ob sie den hiesigen Vorschriften entsprechen. Dies würde sich angesichts der grossen Menge der von der Initiative betroffenen Produkte als äusserst schwierig bis unmöglich erweisen. Der Aufbau eines entsprechenden Kontrollapparats wäre sehr aufwändig und ressourcenintensiv. All diese Massnahmen würden letztlich zu höheren Preisen für die importierten Produkte führen.

Schliesslich könnten die kurze Umsetzungsfrist und unklare Formulierungen des Initiativtextes eine Rechtsunsicherheit zur Folge haben: ­

Gemäss Übergangsbestimmung in Artikel 197 Ziffer 12 BV müsste der Bundesrat bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen innerhalb von zwei Jahren nach Annahme der Initiative die erforderlichen Ausführungsbestimmungen erlassen. Diese Frist ist angesichts der Breite der Regelung äusserst knapp bemessen. Zudem müsste der Bundesrat damit grundlegende Weichenstellungen vornehmen, die nur provisorischen Charakter hätten. Die Regelung auf Verordnungsstufe könnte eine Phase der Rechtsunsicherheit zur Folge haben, welche die betroffenen Forschungskreise sowie die Wirtschaft stark belasten würde.

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5.2

Vorzüge und Mängel der Initiative

Der Bundesrat teilt das Anliegen des Initiativkomitees, das Tierleid zu verringern und den Menschen in der Forschung zu schützen. Das Ziel, vollständig auf Forschung an Mensch und Tier zu verzichten, kann hingegen nicht unterstützt werden, weil es zu radikal ist. Mit ihrer Forderung nach einem kompletten Verbot von «Tierund Menschenversuchen» in der Schweiz sowie der Einfuhr von Produkten, die gesamthaft oder deren Bestandteile unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurden, verunmöglicht die Initiative die von Bundesrat und Parlament stets befürwortete Güterabwägung zwischen dem erwarteten Nutzen und den Risiken. Gegenwärtig sind jedoch die Grundlagenforschung und die Prüfung von pharmazeutischen und chemischen Produkten zum Wohl von Mensch und Tier noch auf den Einbezug von Menschen sowie auf Tierversuche angewiesen.

Eine Annahme der Initiative hätte zwar den Vorteil, dass in der Forschung das Tierleid beendet und die Risiken und Belastungen für die Menschen verringert würden. Hingegen wären mit einer Annahme erhebliche negative Auswirkungen auf Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft verbunden: ­

Das Gesundheitswesen und der Zugang zur Gesundheitsversorgung wären in gravierender Weise betroffen, da die Versorgung mit Medikamenten nicht mehr gewährleistet wäre und die Schweizer Bevölkerung aufgrund des generellen Einfuhrverbots nicht mehr von den wissenschaftlichen Fortschritten im Ausland profitieren könnte. Nicht auszuschliessen wäre die Entwicklung einer Zweitklassenmedizin, da sich einige Personen die neusten Medikamente oder Behandlungen im Ausland leisten können, wogegen anderen dies nicht möglich ist.

­

Der Arbeitsmarkt und die Rolle der Schweiz als weltweit renommierter Forschungsplatz würden geschwächt. Es wäre mit einer Verlagerung von Forschungsprojekten oder gar Forschungsinstituten und -unternehmen ins Ausland zu rechnen. Die Attraktivität des Forschungsplatzes wäre gefährdet. Die Schweizer Hochschulen wären angesichts der grossen Einschränkungen, die mit einer Annahme der Initiative einhergingen, weniger attraktiv.

­

Weiter wäre das Einfuhr- und Handelsverbot unvereinbar mit den internationalen Abkommen der Schweiz, was zu Handelsstreitigkeiten führen könnte und sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft auswirken würde.

­

Zudem müsste ein kompliziertes und kostspieliges Kontrollsystem eingeführt werden, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Preise der betreffenden Produkte.

­

Die Schweiz wäre mit diesem Vorgehen isoliert, und ein Imageschaden zweifellos beträchtlich.

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5.3

Verhältnis zum internationalen Recht

5.3.1

Kompatibilität mit dem WTO-Recht

Die Initiative sieht ein Einfuhr- und Ausfuhrverbot für Produkte vor, für die direkt oder indirekt Tierversuche durchgeführt oder Forschung am Menschen betrieben wurde (Entwurf von Art. 80 Abs. 3 Bst. b BV). Ein solches Verbot verstösst gegen Artikel XI Absatz 1 des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens vom 30. Oktober 194723 (GATT), wonach bei der Einfuhr andere Verbote oder Beschränkungen als Zölle, Steuern oder andere Abgaben untersagt sind. Gemäss dem in Artikel I des GATT verankerten Prinzip der Meistbegünstigung darf zudem ein WTO-Mitglied Produkte eines Mitgliedstaates nicht günstiger behandeln als gleichartige Produkte eines anderen.

Mit dem vorgesehenen Verbot verlangt das Initiativkomitee eine systematische Differenzierung von Produkten aufgrund deren Entstehungsgeschichte, also aufgrund der Produktionsmethode. Diese hat jedoch keine Auswirkungen auf die materiellen Eigenschaften der Produkte. Nach bestehender WTO-Rechtsprechung sind solche Vorgaben an die Prozesse oder Produktionsmethoden (non product-related Production and Process Methods, npr-PPM) im Regelfall kein gültiges Unterscheidungskriterium zur Prüfung der Gleichartigkeit von Produkten und der darauf basierenden Prüfung allfälliger Diskriminierungen oder Handelsbeschränkungen.

Im Einzelfall könnten jedoch Verstösse gegen das Verbot mengenmässiger Beschränkungen und Differenzierungen zulasten importierter Produkte anknüpfend an die npr-PPM-Kriterien gestützt auf die Ausnahmeklauseln zum Schutz der Gesundheit von Personen und Tieren (Art. XX Bst. b GATT) oder zum Schutz der öffentlichen Moral (Art. XX Bst. a GATT) gerechtfertigt sein. Die von der Rechtsprechung festgelegten Anforderungen an diese Ausnahmen sind jedoch hoch. Bei den Ausnahmen zum Schutz der Gesundheit muss die Notwendigkeit der Massnahme nachgewiesen werden. In diesem Fall vermag der extraterritoriale Charakter der Massnahme ­ die den Schutz der Gesundheit von Personen oder Tieren ausserhalb der Schweiz zum Ziel hat ­ eine Diskriminierung vermutlich nicht zu rechtfertigen.

Eine solche Massnahme wäre zudem nicht vereinbar mit den von der Schweiz abgeschlossenen Freihandelsabkommen, insbesondere denjenigen, die für das Verbot mengenmässiger Beschränkungen ähnliche Vorschriften wie das WTO-Recht vorsehen.

Weiter will die Initiative das Inverkehrbringen sowie
die Ausbringung und Freisetzung in der Umwelt von Einfuhren verbieten, für die keine anerkannten tierversuchsfreien Verfahren existieren (Entwurf von Art. 80 Abs. 3 Bst. c BV). Da es sich bei dieser Regelung um eine technische Vorschrift im Sinne des WTO-Übereinkommens über technische Handelshemmnisse handelt (also «ein Dokument, das Merkmale eines Produkts oder die entsprechenden Verfahren und Produktionsmethoden einschliesslich der anwendbaren Verwaltungsbestimmungen festlegt, deren Einhaltung zwingend vorgeschrieben ist»), müssten die Bestimmungen dieses Übereinkommens eingehalten werden, insbesondere die Verpflichtung zur Nichtdis23

SR 0.632.21

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kriminierung, der Umstand, dass die Massnahme nicht beschränkender sein darf als nötig, und die Anwendung von einschlägigen internationalen Normen. Dabei ist zu beachten, dass in diesem Fall die einschlägigen internationalen Normen (z. B. für die Forschung am Menschen die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes vom Juni 196424 zu ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen und die Biomedizin-Konvention) kein Verbot, sondern eine Bewilligung unter bestimmten Voraussetzungen vorsieht. Wenn die vorgeschlagene Regelung zur Folge hat, dass die Produkte gewisser Mitglieder ungünstiger behandelt werden als gleichartige Produkte anderer Mitglieder oder gleichartige inländische Produkte, würde sie auch gegen die Verpflichtungen zur Nichtdiskriminierung gemäss GATT verstossen (Art. I und III Abs. 4 GATT).

Angesichts der Exportinteressen anderer Staaten und der Vielzahl der von einem Handels- bzw. Importverbot betroffenen Produkte ist die Wahrscheinlichkeit von Handelsstreitigkeiten im Falle einer Annahme der Initiative hoch. Wegen der Implikationen der Initiative für das WTO-Recht kann nicht ausgeschlossen werden, dass verschiedene Staaten die Schweiz einklagen würden. Wenn die Schweiz einen solchen Fall verlieren würde, müsste sie die Umsetzungsmassnahmen rückgängig machen. Wenn die Schweiz den Entscheid der Vergabestellen missachten würde, hätten die Kläger zudem die Möglichkeit, Retorsionsmassnahmen zu ergreifen.

Aus den geschilderten Gründen ist die Initiative unvereinbar mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz. Zudem ist es höchst fraglich, ob die mit der Umsetzung der Initiative einhergehende Überprüfung von Geschehnissen, die sich im Ausland abspielen, mit vernünftigem Aufwand überhaupt umsetzbar wäre.

5.3.2

Europarechtliche Verpflichtungen der Schweiz

Von einem umfassenden Import- bzw. Handelsverbot sind verschiedene Abkommen zwischen der Schweiz und der EU tangiert, darunter das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen 25 (MRA), das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen26, und das Abkommen vom 22. Juli 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft27 (Freihandelsabkommen; FHA 72).

Bei einer Annahme der Initiative wäre die Fortführung einzelner Produktesektoren im MRA in Frage gestellt. Die veränderte Rechtsgrundlage könnte dazu führen, dass die Vereinbarkeit der technischen Vorschriften in der Schweiz mit jenen der EU in gewissen Sektoren nicht länger gegeben ist. Dies könnte zur umfassenden oder teilweisen Aussetzung gewisser Produktesektoren führen, insbesondere bei den Chemikalien und den Medizinprodukten. Ein Aussetzen des Produktesektors würde 24 25 26 27

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Abrufbar in englischer Sprache unter www.wma.net > Policy > Year (To) 2013 > Search.

SR 0.946.526.81 SR 0.916.026.81 SR 0.632.401

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den Handel zwischen der Schweiz und der EU auch für jene Medizinprodukte erschweren, die nachweislich ohne Tierversuche entwickelt wurden ­ zum Nachteil der Schweizer Wirtschaftsakteure und der Verfügbarkeit dieser Produkte auf dem heimischen Markt.

Einfuhrverbote sind grundsätzlich mit dem FHA 72 nicht vereinbar. Das gilt ähnlich wie im WTO-Recht (vgl. Ziff. 5.3.1) auch für Einfuhrverbote von Waren, welche nicht gemäss Schweizer Vorschriften (d.h. unter Verzicht auf Tierversuche) entwickelt oder hergestellt worden sind. Solche Massnahmen liessen sich gemäss Artikel 20 des FHA 72 nur ausnahmsweise mit dem Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier oder beispielsweise der öffentlichen Sittlichkeit rechtfertigen, wenn sie weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Handelsbeschränkung darstellen. Dementsprechend müssten die Massnahmen zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier oder öffentlichen Sittlichkeit nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich sein. Ein allgemeines Einfuhrverbot für Waren, die nicht unter Verzicht auf Tierversuche entwickelt oder hergestellt worden sind, würde gegen das FHA 72 verstossen. Auch wenn Artikel 27 der BiomedizinKonvention es den Vertragsparteien grundsätzlich ermöglicht, im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin einen über das Übereinkommen hinausgehenden Schutz zu gewähren, wäre ein so weitgehendes Forschungsverbot (u.a.

Ausschluss der Möglichkeit, dass urteilsfähige, mündige Personen über die Teilnahme an einem fremdnützigen Forschungsprojekt entscheiden) kaum noch konventionskonform.

5.3.3

Völkerrechtlich verankerte Grundrechte und menschenrechtliche Aspekte

Im für die Schweiz verbindlichen Übereinkommen vom 13. Dezember 200628 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen anerkennen die Vertragsstaaten mit Artikel 32 die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und ihrer Förderung zur Unterstützung einzelstaatlicher Anstrengungen zur Umsetzung des Übereinkommens. Die Vertragsstaaten treffen dafür geeignete und wirksame Massnahmen, sowohl zwischenstaatlich als auch, soweit angebracht, in Partnerschaft mit internationalen und regionalen Organisationen und der Zivilgesellschaft. Insbesondere soll nach Absatz 1 Buchstabe c die Forschungszusammenarbeit und der Zugang zu wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen erleichtert werden.

Ein mit der vorliegenden Initiative resultierendes (absolutes) Forschungsverbot würde zudem in jedem Fall mit der Garantie von Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte29 (UNO-Pakt I) kollidieren, der die Vertragsstaaten und deren Gesetzgeber auf der Gewährleistungsebene dazu anhält, aktiv den wissenschaftlichen Fortschritt zu fördern, und dafür besorgt zu sein, dass wissenschaftlicher Fortschritt dem Wohl der gesamten Bevölkerung zugutekommt.

28 29

SR 0.109 SR 0.103.1

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6

Schlussfolgerungen

Die obigen Ausführungen legen folgende Schlussfolgerungen nahe: ­

Die geltenden Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen sind ausreichend, um Mensch und Tier in der Forschung zu schützen.

­

Eine Annahme der Initiative hätte schwerwiegende Konsequenzen für das Gesundheitswesen, insbesondere für die Arzneimittel- und Impfstoffversorgung. Die Bevölkerung könnte nicht mehr von den neusten medizinischen Erkenntnissen profitieren.

­

Die Annahme der Initiative hätte negative Auswirkungen auf die Forschung und Wirtschaft. Sie hätte eine Schwächung des Forschungsplatzes Schweiz zur Folge und würde zu Arbeitsplatzverlusten führen.

­

Das Handels- und Einfuhrverbot für Produkte oder Heilmittel, die unter Anwendung von Tierversuchen entwickelt wurden, stünde im Widerspruch sowohl zur nationalen als auch internationalen Handelspolitik und den Verpflichtungen der Schweiz gegenüber der WTO, der EU und den Ländern, mit denen sie ein Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Die Vorteile, die die Schweiz aus den abgeschlossenen internationalen Abkommen zieht, wären gefährdet, und es wäre mit Handelsstreitigkeiten und einem Anstieg der Preise der eingeführten Produkte zu rechnen, weil mit komplizierten Kontrollen sichergestellt werden müsste, dass diese den von der Initiative festgelegten Normen entsprechen. Zudem wäre das international harmonisierte System zur Registrierung von Arzneimitteln nicht mehr praktizierbar, was die Schweiz isolieren würde.

­

Die Initiative wäre nur schwer umsetzbar, und es wäre eine aufwändige und kostspielige Kontrolle der Produktionsweise eingeführter Produkte erforderlich.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Schweiz bei einer Annahme dieser Initiative bedeutende negative Konsequenzen für Gesundheit, Forschung, Gesundheitssystem, Wirtschaft und Gesellschaft zu gewärtigen hätte.

Der Bundesrat beantragt daher den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot ­ Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt» Volk und Ständen ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

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