zu 19.471 Parlamentarische Initiative Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Fristverlängerung Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates Stellungnahme des Bundesrates vom 12. Februar 2020

Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 17. Januar 20201 betreffend die parlamentarische Initiative 19.471 «Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Fristverlängerung» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

12. Februar 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

1

BBl 2020 1639

2020-0224

1653

BBl 2020

Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 21. Juni 2019 reichte Ständerat Raphaël Comte die parlamentarische Initiative 19.471 «Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Fristverlängerung» ein, wonach die im Bundesgesetz vom 30. September 20162 über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) enthaltene Frist zur Einreichung von Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag verlängert werden soll.

Am 28. Oktober 2019 entschieden die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (RK-SR) und am 14. November 2019 ihre Schwesterkommission (RK-NR), der Initiative Folge zu geben. An ihrer Sitzung vom 21. November 2019 beschloss die RK-SR im Rahmen der Beratung des Schlussberichtes der Unabhängigen Expertenkommission «Administrative Versorgungen» (UEK) formell die Ausarbeitung eines Berichtsentwurfes sowie Dringlichkeit der Vorlage im Sinne von Artikel 85 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20023 (ParlG). Am 17. Januar 2020 nahm die RK-SR den Erlassentwurf mit 12 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung an und unterbreitete ihn mit einem Bericht dem Ständerat. Gleichzeitig stellte sie den Erlassentwurf und den Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme zu.

2

Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Beurteilung des Entwurfs der Kommission

Der Bundesrat schenkt dem Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 grosse Beachtung. Er hat sich in den vergangenen Jahren sehr dafür engagiert, dass dieses dunkle Kapitel der jüngeren Sozialgeschichte der Schweiz rasch und umfassend ausgeleuchtet und aufgearbeitet wird. Das AFZFG wurde mit breiter Unterstützung aller massgeblichen politischen Kräfte rasch ausgearbeitet, vom Parlament beschlossen und auf den 1. April 2017 in Kraft gesetzt. Als staatliche Geste der Wiedergutmachung sieht das Gesetz einen Solidaritätsbeitrag vor, der pro Opfer insgesamt höchstens 25 000 Franken beträgt. Dieser Solidaritätsbeitrag kann durch das Bundesamt für Justiz (BJ) als zuständige Behörde auf Gesuch hin ausbezahlt werden, wenn die gesuchstellende Person glaubhaft machen kann, dass sie ein Opfer im Sinne des AFZFG ist. Beim BJ sind bis zum Ablauf der Einreichungsfrist Ende März 2018 insgesamt etwas über 9000 Gesuche eingereicht worden. Inzwischen sind die Gesuche bearbeitet und die Solidaritätsbeiträge ausbezahlt worden. Ganz wenige Ausnahmen bilden einzig Gesuche, die aufgrund von Einsprachen, Beschwerden oder laufender Abklärungen noch nicht abschliessend behandelt werden konnten.

2 3

SR 211.223.13 SR 171.10

1654

BBl 2020

Der Hauptgrund für die Ansetzung der relativ kurzen Einreichungsfrist von 12 Monaten war, dass sehr rasch mit der Auszahlung erster Solidaritätsbeiträge insbesondere an schwer kranke oder sehr alte Opfer begonnen werden sollte. Das Ansetzen einer kurzen Frist erlaubte, rasch Klarheit über das Total der eingegangenen Gesuche zu gewinnen, um anschliessend die exakte Höhe des Solidaritätsbeitrages berechnen und zügig auszahlen zu können. Dieses Vorgehen entsprach nicht zuletzt dem seinerzeit geäusserten Wunsch vieler Opfer und Opferorganisationen.

Trotzdem gingen auch nach Ablauf der Einreichungsfrist noch weitere Gesuche beim BJ ein. Noch in seiner Stellungnahme vom 20. Februar 2019 empfahl der Bundesrat gestützt auf die seinerzeit gemachten Überlegungen zu einer kurzen Frist die am 14. Dezember 2018 von Nationalrat Beat Jans eingereichte Motion 18.42954, in der dieser eine Fristverlängerung für Gesuche um Gewährung von Solidaritätsbeiträgen bis zum 31. Dezember 2022 forderte, zur Ablehnung.

Inzwischen ist aber die Anzahl der verspätet eingereichten Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag immer weiter angestiegen. Wichtige Gründe für diese verspätete Gesuchseinreichung durch die Opfer sind schwere Erkrankungen, eine sehr zurückgezogene Lebensweise, ungenügende Information, unrichtige Einschätzungen der Opfer über ihre bestehende Beitragsberechtigung, ein wegen sehr negativer Erfahrungen ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Behörden sowie nicht zuletzt auch die Angst der Opfer, durch das Beschaffen ihrer Akten und das Ausfüllen der Gesuchsformulare wieder intensiv an das Erlebte erinnert und dadurch retraumatisiert zu werden. Als in der zweiten Jahreshälfte 2019 die Zahl der verspätet eingereichten Gesuche die Schwelle von 250 Gesuchen überschritt, verstärkten sich die Zweifel an der bisherigen Haltung, und auch die im Herbst 2019 publizierten Forschungsergebnisse der UEK trugen zum weiteren Sinneswandel bei.

Die parlamentarische Initiative von Ständerat Comte gab schliesslich den Anstoss zur Vorbereitung der notwendigen rechtlichen Grundlagen, damit das Parlament über eine «Fristverlängerung» bzw. Streichung der Frist beschliessen kann. Eine solche Vorlage sollte sowohl die Bearbeitung der «verspäteten» als auch die Einreichung weiterer Gesuche von anderen Opfern ermöglichen. Zu diesem Zweck sieht der
Gesetzesentwurf der RK ­ in Übereinstimmung mit einer der Empfehlungen der UEK ­ nun vor, die in Artikel 5 Absatz 1 AFZFG festgelegte, kurze Einreichungsfrist von einem Jahr ersatzlos zu streichen.

Der Bundesrat unterstützt eine solche Regelung und bekräftigt damit, dass er es ernst meint mit der umfassenden Aufarbeitung und der Anerkennung des durch die Opfer erlittenen Unrechts und Leids. Möglichst alle der noch lebenden Opfer sollen eine individuelle Anerkennung ihrer Opfereigenschaft und einen Solidaritätsbeitrag erhalten können. Aufgrund des inzwischen verzeichneten Anstiegs der verspätet eingereichten Gesuche erachtet der Bundesrat die Streichung der bestehenden Einreichungsfrist als zielführendste Lösung. Zwar sind bisher erhebliche kommunikative Anstrengungen für eine Bekanntmachung der Möglichkeit zur Gesuchseinreichung gemacht worden (vgl. insb. Antwort des Bundesrates auf die Frage 18.5181 Golay), und es werden auch weitere notwendig sein. Zwischenzeitlich gemachte Erfahrungen deuten jedoch darauf hin, dass es nicht selten von Zufälligkeiten ab4

Die Motion wurde von den Räten noch nicht behandelt.

1655

BBl 2020

hängt, ob oder wann eine solche Information überhaupt z.B. zurückgezogen oder mittlerweile im Ausland lebende Opfer erreicht. Kommt hinzu, dass Opfer offenbar oft lange mit sich selber ringen, ob sie ­ bedingt durch das notwendige Ausfüllen und Einreichen des Gesuchs um einen Solidaritätsbeitrag an eine ihnen bisher unbekannte Behörde ­ die seinerzeitigen schlimmen Erlebnisse überhaupt noch einmal in schmerzhafte Erinnerung rufen möchten oder nicht. Aus diesem Grund erscheint dem Bundesrat die Streichung der Frist die sachgerechteste Lösung zu sein.

Mit der Aufhebung der Frist ist es aus Sicht des Bundesrates zwingend, dass der in Artikel 7 Absatz 1 AFZFG bisher als Maximalbetrag ausgestaltete einheitliche Solidaritätsbeitrag von 25 000 Franken für gutgeheissene Gesuche neu als Fixbetrag festgelegt wird. In der Tat erschiene es als rechtsungleich und unfair, wenn der Solidaritätsbeitrag für Opfer aus der «zweiten Gesuchsrunde» gekürzt würde. Der Gesetzgeber hat den Solidaritätsbeitrag von seiner Natur her bewusst nicht als eine Entschädigung, sondern als eine staatliche Geste, ein symbolisches Zeichen der Wiedergutmachung ausgestaltet. Eine Herabsetzung des Betrags würde diese Geste stark entwerten.

Mit der Ausgestaltung des Solidaritätsbeitrages neu als Fixbetrag verpflichtet sich der Bund, im Falle der Gutheissung eines Gesuches dem betreffenden Opfer den Betrag von 25 000 Franken auszurichten. Der in Artikel 9 AFZFG vorgesehene Zahlungsrahmen für die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge (das Parlament setzte diesen seinerzeit auf max. 300 Mio. Fr. fest) ist deshalb künftig nicht mehr das geeignete Finanzierungsinstrument. Vielmehr sind nach Auslaufen des Zahlungsrahmens per Ende 2021 die für die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge benötigten Mittel im Rahmen des Budgetprozesses einzustellen und zu bewilligen. Dementsprechend beantragt der Bundesrat dem Parlament, Artikel 9 Absatz 2 AFZFG aufzuheben und die Sachüberschrift entsprechend anzupassen.

Im Übrigen hat sich der Bundesrat bereits bei seiner Befassung mit dem Schlussbericht der UEK am 27. November 2019 dafür ausgesprochen, dass der Prozess der Wiedergutmachung und Aufarbeitung mit der Auszahlung der Solidaritätsbeiträge noch nicht abgeschlossen sei. Er erachtet deshalb Bestrebungen zugunsten einer weiterführenden Aufarbeitung,
die teilweise auch in den Empfehlungen der UEK ihren Niederschlag gefunden haben, als sehr wichtig, und er hat sich dafür ausgesprochen, allfällige entsprechende Beschlüsse des Parlaments zu unterstützen und rasch umzusetzen. Darüber hinaus ist der Bundesrat nach wie vor der Ansicht, dass der Schwerpunkt des Wiedergutmachungsprozesses nun auch auf eine Verstärkung der finanziellen Unterstützung von Selbsthilfeprojekten und auf die öffentliche Verbreitung der Forschungsergebnisse gelegt werden soll. Zu diesem Zweck hat das Parlament in der Wintersession 2019 bei der Beratung des Voranschlags auch die entsprechenden Kredite 2020­2023 um 1,85 Millionen Franken auf insgesamt 2 Millionen Franken aufgestockt. Im gleichen Sinn und Geist hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 27. November 2019 zur parlamentarischen Initiative 19.476 «Gewährleistung der Ergänzungsleistungen ehemaliger Verdingkinder und Administrativversorgter» den Vorschlag der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vollumfänglich unterstützt, Kürzungen der Ergänzungsleistungen eines Opfers, die im Falle einer Anrechnung des Solidaritätsbeitrags erfolgten, aufzuheben und den betreffenden Personen zurückzuerstatten.

1656

BBl 2020

2.2

Finanzielle Auswirkungen auf den Bund und die Kantone

Opfern, deren Gesuch bewilligt wird, soll nach dem Gesagten ein einheitlicher Solidaritätsbeitrag von 25 000 Franken ausbezahlt werden. Da nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit vorausgesagt werden kann, wie viele Personen ein Gesuch stellen und wann sie dies tun werden, wird der Bund die notwendigen Kredite nach dem zeitlichen Auslaufen des vom Parlament beschlossenen Zahlungsrahmens per Ende 2021 jeweils gestützt auf die Durchschnittswerte der Vorjahre in den Voranschlag der betreffenden Kalenderjahre einstellen müssen.

Das für den Vollzug des AFZFG zuständige BJ befasste sich bisher schwergewichtig mit der Bearbeitung der Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag sowie mit der Bearbeitung und dem Controlling der Selbsthilfeprojekte; es wird dies ­ im Falle des Inkrafttretens des vorliegenden Revisionsentwurfs ­ auch weiterhin tun müssen.

Nachdem die Forschungsresultate und Empfehlungen der UEK vorliegen und das vom Bundesrat in Auftrag gegebene, thematisch noch breiter aufgestellte Nationale Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» in absehbarer Zeit ebenfalls seine Forschungsresultate publizieren wird, wird es dem BJ obliegen, für die Verbreitung und Nutzung der Forschungsergebnisse zu sorgen (Art. 15, insb. Abs. 4 und 5 AFZFG).

Im Hinblick auf die Bearbeitung von Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag ist aufgrund der Erfahrungswerte aus der bisherigen Gesuchsbearbeitung mit folgendem Ressourcenbedarf zu rechnen: Unterstützung durch deutsch-, französisch- und italienischsprachige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bereichen Recht (Gesuchsbearbeitung inklusive persönliche Sachverhaltsabklärung bei den Gesuchstellenden, Führen von Einsprache- und Beschwerdeverfahren, juristische Abklärungen), Koordination und Controlling, Betreuung der beratenden Kommission und der Kontakte mit den kantonalen Archiven und Anlaufstellen, übrige Sachbearbeitung, Sekretariat, Fachbereichsleitung sowie anteilsmässig Logistik/IT-Unterstützung im Umfang von sechs Vollzeitstellen. Für die Vorabklärungen, die Gesuchsbearbeitung, die Begleitung sowie das Controlling der Selbsthilfeprojekte (die sich teilweise auf die Empfehlungen der UEK stützen), für die Verbreitung und Umsetzung der Forschungsresultate insbesondere der UEK und des NFP 76 sowie für den übrigen Vollzug des AFZFG ist circa mit drei weiteren
Vollzeitstellen zu rechnen (inkl.

Administration). Die notwendigen Arbeitsplätze (Büroräumlichkeiten sowie Büromatik) sind bereits vorhanden.

Die Kantone haben ­ neben der Sicherstellung des im 3. und 4. Abschnitts des AFZFG umschriebenen Grundangebotes ­ auch die notwendigen Ressourcen für die zusätzlich zu erwartenden Unterstützungsleistungen beim Ausfüllen und Einreichen von weiteren Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag (v. a. kantonale Anlaufstellen) sowie im Zusammenhang mit der Aktensuche und -einsicht zugunsten der Opfer und der Betroffenen (v. a. kantonale Archive) bereitzustellen. Der Ressourcenbedarf kann dabei von Kanton zu Kanton in Abhängigkeit der Bevölkerungsstärke relativ stark variieren. Während vor allem in kleineren Kantonen wahrscheinlich nur mit wenigen Dutzend neuer Gesuche zu rechnen ist, könnten es in bevölkerungsreichen Kantonen durchaus noch Hunderte sein.

1657

BBl 2020

2.3

Fazit

Der Bundesrat befürwortet den Gesetzesentwurf. Die Streichung der Einreichungsfrist ermöglicht es weiteren Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren, sich innert der geltenden Frist zu melden, ihr Gesuch um Anerkennung der Opfereigenschaft ohne Druck einzureichen. Dies unterstreicht den Willen der Behörden und der Bevölkerung, das erlittene Leid und Unrecht der Opfer anzuerkennen und zur Wiedergutmachung beizutragen.

3

Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat stellt folgenden Änderungsantrag zum AFZFG: Art. 9 Sachüberschrift und Abs. 2 Finanzierung 2

Aufgehoben

Im Übrigen beantragt er Zustimmung zum Entwurf der RK-SR.

1658