18.458 Parlamentarische Initiative Differenzbereinigungsverfahren bei Motionen Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 9. November 2020

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Parlamentsgesetzes. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, den beiliegenden Erlassentwurf anzunehmen.

9. November 2020

Im Namen der Kommission Der Präsident: Andrea Caroni

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Ständerat Beat Rieder (VS) reichte am 28. September 2018 die parlamentarische Initiative 18.458 («Differenzbereinigungsverfahren bei Motionen») ein, welche verlangt, das Verfahren zur Bereinigung von Differenzen bei der Behandlung von Motionen zu ändern. Im Detail soll der Erstrat eine zusätzliche Beschlussoption erhalten, wenn der Zweitrat eine vom Erstrat in der ersten Beratung angenommene Motion abändert. Nach geltendem Recht hat der Erstrat in der zweiten Beratung lediglich die Möglichkeit, der Änderung zuzustimmen oder die Motion definitiv abzulehnen. Der Initiant schlägt vor, dem Erstrat zusätzlich die Möglichkeit zu geben, in der zweiten Beratung an seinem Beschluss festzuhalten, die Motion in ihrer ursprünglichen Fassung anzunehmen. In diesem Fall soll sich der Zweitrat in der zweiten Beratung entscheiden können, ob er dem Erstrat folgt oder die Motion definitiv ablehnt.

Die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) beschloss am 12. Februar 2019 einstimmig, dieser Initiative Folge zu geben. In ihren Augen ist das im geltenden Recht vorgesehene Differenzbereinigungsverfahren bei Motionen nicht zufriedenstellend. Ist der Erstrat mit einer Änderung des Zweitrates an einer von ihm angenommenen Motion nicht einverstanden, da er diese Änderung für unzweckmässig oder gar kontraproduktiv erachtet, so hat er lediglich die Möglichkeit, die von ihm zuvor angenommene Motion zu «beerdigen». Die SPK-S ist der Auffassung, dass es dem Erstrat möglich sein muss, am ursprünglichen Motionstext festzuhalten.

Ihrer Ansicht nach würde diese zusätzliche Etappe im Differenzbereinigungsverfahren keinen unverhältnismässigen zusätzlichen Arbeitsaufwand für das Parlament mit sich bringen. Ein Blick auf die Zahlen der 50. Legislatur zeigt, dass es nur bei rund 15 Prozent der angenommenen Motionen zu einem Differenzbereinigungsverfahren kommt. Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt der zweiten Beratung beide Räte die wesentlichen Punkte bereits diskutiert haben. Für die Kommission geht es darum, die letzte Revision des parlamentarischen Verfahrens zur Behandlung von Motionen zu korrigieren, bei der dieser Punkt nicht berücksichtigt wurde.

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) stimmte am 8. November 2019 mit 20 zu 4 Stimmen dem Beschluss der SPK-S zu und machte dieser somit den Weg zur Ausarbeitung
eines Entwurfs frei. Wie ihre Schwesterkommission erachtet es auch die SPK-N nicht für sinnvoll, die Optionen des Erstrates nach einer Änderung durch den Zweitrat auf «Änderung annehmen» oder «Motion beerdigen» zu begrenzen. Sie weist zudem darauf hin, dass der Zweitrat ­ wenn er an seiner geänderten Fassung festhalten will ­ immer noch die Möglichkeit hat, diese in Form einer Kommissionsmotion einzureichen.

In den Augen der Minderheit der SPK-N verlängert die vorgeschlagene Änderung das Verfahren unnötig, da es sehr unwahrscheinlich sei, dass der Zweitrat in der zweiten Beratung dem ursprünglichen Motionstext zustimmt, nachdem er diesen in der ersten Beratung ändern wollte.

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Die SPK-S nahm den Entwurf an ihrer Sitzung vom 9. November 2020 in der Gesamtabstimmung mit 12 zu 0 Stimmen bei 1 Enthalung an.

Gemäss Artikel 3a des Vernehmlassungsgesetzes (VlG, SR 172.061) kann auf ein Vernehmlassungsverfahren verzichtet werden, wenn «das Vorhaben vorwiegend die Organisation oder das Verfahren von Bundesbehörden [...] betrifft». Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben.

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Ausgangslage

2.1

Gesetzgebungsbedarf und Ziele

Das Differenzbereinigungsverfahren bei Motionen ist in Artikel 121 Absatz 4 ParlG geregelt. Nach geltendem Recht sieht dieses wie folgt aus: Eine vom Erstrat angenommene Motion geht in den Zweitrat. Dieser hat drei Möglichkeiten: die Motion definitiv anzunehmen, definitiv abzulehnen oder auf Antrag der Mehrheit der vorberatenden Kommission oder des Bundesrates abzuändern. Beschliesst der Zweitrat, die Motion abzuändern, geht diese zurück in den Erstrat. Dieser kann in der zweiten Beratung der Änderung zustimmen oder die Motion definitiv ablehnen.

Das geltende Verfahren zur Behandlung von Motionen wurde 2002 mit dem neuen Parlamentsgesetz (Parlamentarische Initiative ­ Parlamentsgesetz (PG) ­ Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates, BBl 2001 3467 3506 ff.) eingeführt. Im Rahmen der Ausarbeitung des neuen Gesetzes hatte die SPK-N beim damals geltenden Verfahren zur Behandlung von Motionen mehrere Probleme erkannt. So war es zwar möglich, eine Motion mit der Zustimmung der Urheberin bzw. des Urhebers in ein Postulat umzuwandeln, der Motionstext konnte jedoch nicht abgeändert werden. Die sehr häufig genutzte Umwandlung in ein Postulat (zwischen 1994 und 1997 wurden knapp 40 % der Motionen als Postulat an den Bundesrat überwiesen) stellte die Motionärinnen und Motionäre vor eine unbefriedigende Wahl: entweder die Umwandlung in ein Postulat, also ein weniger bindendes Instrument, zu akzeptieren und die Chancen auf eine diskussionslose Annahme im Rat zu wahren, oder an der Motion festzuhalten und die Abschreibung (ohne Erfüllung des Anliegens) nach zwei Jahren zu riskieren (Art. 119 Abs. 5 Bst. a ParlG).

Diese Rechtslage führte zu einer gewissen Entwertung der Motion (M. Graf, Kommentar ParlG ad Art. 118, Nr. 22). Ziel der mit dem Parlamentsgesetz eingeführten Neuregelung war es, die Wirksamkeit der Motion als Instrument zur Ingangsetzung eines Gesetzgebungsprozesses zu erhöhen (Bericht SPK-N, BBl 2001 3506). Zur Stärkung der Motion wurde insbesondere die bis dahin häufig genutzte Möglichkeit, eine Motion in ein Postulat umzuwandeln, nicht ins Parlamentsgesetz aufgenommen, sondern durch die Möglichkeit des Zweitrates, den Motionstext abzuändern, ersetzt (Bericht SPK-N, BBl 2001 3507; M. Graf, Kommentar ParlG ad Art. 118, Nr. 22).

Der Gedanke dahinter war, dass der Zweitrat ­ oder
vielmehr die Kommission des Zweitrates ­ einen feineren Filter als der Erstrat darstellt und Änderungen, Präzisierungen oder prägnantere Formulierungen des Motionstextes vorschlägt. Der Erstrat hat in der zweiten Beratung nur die Möglichkeit, die Motion definitiv abzulehnen oder die Änderungen des Zweitrates anzunehmen. Dieses verkürzte Differenzberei-

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nigungsverfahren wurde eingeführt, um die Räte nicht zu überlasten (M. Graf, Kommentar ParlG ad Art. 121, Nr. 12).

Die hier behandelte parlamentarische Initiative stellt die Möglichkeit des Zweitrates, den Motionstext abzuändern, nicht infrage. Mit der Neuregelung soll lediglich das Differenzbereinigungsverfahren in diesem speziellen Fall so geändert werden, dass der Erstrat in der zweiten Beratung auch am ursprünglichen Motionstext festhalten kann. Diese neue Möglichkeit verlängert das Differenzbereinigungsverfahren. Damit diese Verlängerung nicht übermässig ausfällt und zu einer Überlastung der Räte führt, ist vorgesehen, dass der Zweitrat in der zweiten Beratung nur zwischen der Annahme der ursprünglichen Fassung und der Ablehnung der Motion wählen kann und dieses Verfahren mit seinem Beschluss endet.

2.2

Statistiken

Die Statistiken zur 50. Legislatur (2015­19) zeigen, wie die Möglichkeiten des geltenden Rechts genutzt werden.

Von insgesamt 1517 eingereichten Motionen wurden 241 (16 %) von den Räten angenommen. 193 dieser 241 Motionen wurden vom Zweitrat in der ursprünglichen Fassung angenommen (13 %) und 36 wurden vom Erstrat in einer vom Zweitrat geänderten Fassung angenommen (2 %). Die restlichen 12 Motionen waren Fälle, in denen der Erstrat eine Motion definitiv annehmen kann, ohne sie dem anderen Rat zu überweisen (Art. 121 Abs. 5 ParlG). 1276 Motionen wurden von den Räten nicht angenommen. 717 dieser 1276 Motionen wurden abgelehnt, 3 davon vom Erstrat, nachdem der Zweitrat die Motion abgeändert hatte. 246 Motionen wurden nach zwei Jahren ohne Beratung im Rat abgeschrieben (Art. 119 Abs. 5 ParlG).

Angenommene und nicht angenommene Motionen

1517 Angenommene Motionen

Nicht angenommene Motionen

241

1276

Angenommen

241 Angenommen im Zweitrat

Angenommen nach Differenzbereinigung

Definitiv angenommen im Erstrat

193

36

12

Abgelehnt

Abgeschrieben (2 Jahre)

Abgeschrieben (Urheber/ in ausgeschieden)

Zurückgezogen

717

246

54

259

Abgelehnt Abgelehnt Abgelehnt im im Zweitrat nach Erstrat Differenzbereinigungsverfahren

503

211

Quelle: CUBE-Bericht über die 50. Legislatur

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Diese Zahlen zeigen, dass der Erstrat den Abänderungen des Zweitrates üblicherweise zustimmt (in 36 von 39 Fällen, in denen es ein Differenzbereinigungsverfahren gab). Die Fälle, in denen der Erstrat in der zweiten Beratung beschliesst, die Motion definitiv abzulehnen, sind die Ausnahme (3 von 39).

3

Präsentation des Entwurfs

Mit der von der Initiative vorgeschlagenen Änderung stellt sich das parlamentarische Verfahren zur Behandlung von Motionen wie folgt dar: Voretappe: Ein Ratsmitglied, eine Fraktion oder die Mehrheit einer Kommission reicht eine Motion ein (Art. 119 Abs. 1 ParlG). Der Bundesrat hat dann innert einer bestimmten Frist Stellung zu nehmen und die Annahme oder Ablehnung der Motion zu beantragen (Art. 121 Abs. 1 ParlG).

Erste Etappe: Der Rat, in dem die Motion eingereicht wurde (Erstrat), nimmt diese an oder lehnt sie ab. Nimmt er die Motion an, geht das Geschäft in die Kommission des Zweitrates, lehnt er sie ab, ist das Geschäft erledigt (Art. 121 Abs. 2 ParlG).

Zweite Etappe: Nimmt der Erstrat die Motion an, berät die Kommission des Zweitrates den Vorstoss und stellt ihrem Rat Antrag. Der Zweitrat kann die Motion annehmen, ablehnen oder abändern. Annahme oder Ablehnung sind definitiv. Bei einer Abänderung der Motion geht diese zurück an die Kommission des Erstrates (Art. 121 Abs. 3 ParlG).

Die neue Regelung hat keine Auswirkungen auf die Voretappe und die beiden ersten Etappen.

Dritte Etappe: Hat der Zweitrat die Motion abgeändert, berät die Kommission des Erstrates den Vorstoss und stellt ihrem Rat Antrag. Der Erstrat kann die Änderung des Zweitrates annehmen, die Motion ablehnen oder an deren ursprünglicher Fassung festhalten. Lehnt der Erstrat die Motion ab, ist diese Ablehnung definitiv.

Stimmt er der Änderung des Zweitrates zu, ist die Motion in ihrer abgeänderten Fassung definitiv angenommen. Hält der Erstrat am ursprünglichen Motionstext fest, geht das Geschäft wieder in die Kommission des Zweitrates (Art. 121 Abs. 4 ParlG in der vorgeschlagenen Neufassung).

Vierte Etappe: Hat der Erstrat am ursprünglichen Motionstext festgehalten, berät die Kommission des Zweitrates den Vorstoss erneut und stellt ihrem Rat Antrag. Der Zweitrat kann die Motion ablehnen ­ diese Ablehnung ist dann definitiv. Er kann die Motion aber auch in ihrer ursprünglichen und vom Erstrat gutgeheissenen Fassung annehmen. In diesem Fall ist die Motion in dieser Fassung definitiv angenommen (neuer Art. 121 Abs. 4bis ParlG).

Das Differenzbereinigungsverfahren endet in allen Fällen nach der vierten Etappe.

Die vorgeschlagene Lösung betrifft das Verfahren im Zweitrat und in der Differenzbereinigung. Sie hat keine Auswirkung
auf die Abschreibung eines Vorstosses, wenn er nach zwei Jahren im Erstrat noch nicht behandelt worden ist (Art. 119 Abs. 5 ParlG). Im Differenzbereinigungsverfahren gelten die ordentlichen Fristen.

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Die aussenordentliche Frist von Art. 28a des Geschäftsreglements des Nationalrates (GRN) ist in dieser Phase des Verfahrens nicht anwendbar.

4

Erläuterungen zu den Bestimmungen

4.1

Parlamentsgesetz

Artikel 121 Absatz 4 In diesem Absatz wird die Möglichkeit des Erstrates eingeführt, zu beschliessen, an der ursprünglichen Fassung des Vorstosses festzuhalten, wenn dem Rat eine Motion nach einer Änderung durch den Zweitrat zur zweiten Beratung vorliegt.

Die beiden im bestehenden Artikel 4 vorgesehenen Optionen, in der zweiten Beratung die Änderung des Zweitrates anzunehmen (Bst. a) bzw. die Motion definitiv abzulehnen (Bst. b), werden also um eine dritte Option (Bst. c) ergänzt. In formeller Hinsicht ist Absatz 4 in die drei Buchstaben a, b und c unterteilt, um die Lesbarkeit zu erhöhen. Die Buchstaben a und c entsprechen dem geltenden Recht.

Durch diese neue Option erhält das Differenzbereinigungsverfahren eine zusätzliche Etappe.

Artikel 121 Absatz 4bis (neu) Diese Bestimmung regelt die letzte Etappe des Differenzbereinigungsverfahrens für den Fall, dass der Zweitrat eine Motion abändert. Beschliesst der Erstrat in diesem Fall, am ursprünglichen Motionstext festzuhalten, wie es ihm der neue Absatz 4 von Artikel 121 ParlG ermöglicht, endet die Differenzbereinigung im Zweitrat. Dieser kann die Motion entweder in ihrer ursprünglichen Fassung annehmen oder sie ablehnen. Sein Beschluss ist in beiden Fällen definitiv und beendet das parlamentarische Verfahren.

5

Auswirkungen

5.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die vorgeschlagenen Änderungen verursachen dem Bund keine zusätzlichen Kosten.

Der zusätzliche administrative Aufwand ist sehr begrenzt, sodass die Auswirkungen auf das Personal der Parlamentsdienste als unerheblich erachtet werden können.

6

Rechtsgrundlagen

Die vorgeschlagenen Änderungen des ParlG stützen sich auf Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe g der Bundesverfassung, wonach die grundlegenden Bestimmungen über die Organisation und das Verfahren der Bundesbehörden in einem Bundesgesetz erlassen werden müssen.

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