19.471 Parlamentarische Initiative Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

Fristverlängerung Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 17. Januar 2020

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates unterbreitet Ihnen ihren Bericht über den Entwurf des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Fristverlängerung). Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

21. Januar 2020

Im Namen der Kommission Der Präsident: Beat Rieder

2020-0225

1639

BBl 2020

Bericht 1

Ausgangslage und Entstehungsgeschichte dieses Entwurfs

Noch bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts, d.h. bis etwa 1981, wurden zehntausende Kinder und Jugendliche von Behörden auf Bauernhöfe als billige Arbeitskräfte ver-"dingt", in streng geführte Heime oder in geschlossene Einrichtungen, z. T. auch ohne Gerichtsentscheid in Strafanstalten fremdplatziert. Diese Kinder und Jugendlichen haben oft unsägliches Leid und Unrecht erlitten; sie waren z. T.

massivster körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt, wurden misshandelt, ausgebeutet und sehr oft auch sexuell missbraucht und litten extrem unter der Trennung von ihren Eltern und Geschwistern. Auch sind junge Frauen unter grossen psychischen Druck gesetzt und gezwungen worden, einer Abtreibung, einer Sterilisation oder einer Adoption eines oder mehrerer ihrer Kinder zuzustimmen. Kinder und Jugendliche waren in Heimen oder auch in Kliniken Medikamenten-versuchen mit unerprobten Substanzen oder Zwangsmedikationen ausgesetzt.

Die offizielle Schweiz hat erst vor Kurzem, d.h. ungefähr ab 2010 bzw. 2013 mit zwei Gedenkanlässen in Hindelbank und Bern, wirklich mit der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte begonnen; dann ging es aber schnell: Bereits am 1. April 2017 wurde das vom Parlament beschlossene Bundesgesetz vom 30. September 20161 über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) in Kraft gesetzt.

Eine der wichtigsten Massnahmen zur Aufarbeitung sind die sogenannten Solidaritätsbeiträge, die auf Gesuch der Opfer im Falle einer Gutheissung ausbezahlt werden und die als staatliche Geste der Anerkennung des erlittenen Unrechts gedacht sind.

Die Betroffenen hatten Gelegenheit, während einer Frist von 12 Monaten nach Inkrafttreten des AFZFG entsprechende Gesuche einzureichen. Rund 9 000 Personen machten davon Gebrauch; die Frist lief am 31. März 2018 ab. Zahlreiche Betroffene reichten allerdings auch nach diesem Zeitpunkt Gesuche ein; sie gelten aber als verspätet, weshalb ­ mit Ausnahme von gewissen Einzelfällen ­ grundsätzlich nicht mehr auf sie eingetreten werden kann.

Am 14. Dezember 2018 hatte Nationalrat Beat Jans eine (im Rat bisher noch nicht behandelte) Motion (18.4295) eingereicht, in welcher er eine Verlängerung2 der Frist für Gesuche um Gewährung von Solidaritätsbeiträgen bis zum 31. Dezember 2022
forderte. Der Bundesrat lehnte diesen Vorstoss indessen ab, da eine Verlängerung der Frist den ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers zuwiderlaufe (rasche Feststellung der Gesamtzahl der Gesuche, damit der Solidaritätsbeitrag umgehend betragsmässig festgelegt und ausbezahlt werden kann 3). In der Zwischenzeit hat der Bundesrat aber seine ablehnende Haltung aber relativiert, indem er gegen Ende 2019 1 2 3

SR 211.223.13 Eine «Fristverlängerung», d.h. die Verlängerung einer Frist, die bereits abgelaufen ist, ist streng genommen eigentlich gar nicht mehr möglich.

Siehe auch die Frage von Nationalrätin Sandra Sollberger vom 13. März 2019 (19.5192) und die Antwort des Bundesrates vom 18. März 2019.

1640

BBl 2020

verlauten liess4, dass er die Ansicht der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) teile, wonach der Prozess der Wiedergutmachung und Aufarbeitung mit der Auszahlung der Solidaritätsbeiträge noch nicht abgeschlossen sei. Er erachte deshalb die Bestrebungen der Eidgenössischen Räte, unter anderem auch die Frist zur Einreichung von Gesuchen um Solidaritätsbeiträge aufzuheben oder neu zu eröffnen, als sehr wichtig und stellte in Aussicht, dass er allfällige entsprechende Beschlüsse des Parlaments rasch umsetzen werde.

Am 21. Juni 2019 reichte Ständerat Raphaël Comte eine parlamentarische Initiative (19.471) ein, wonach die im AFZFG enthaltene Frist zur Einreichung von Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag verlängert werden soll.

Die RK-SR behandelte am 28. Oktober 2019 diese parlamentarische Initiative und beschloss einstimmig, ihr Folge zu geben. Die RK-NR stimmte der Initiative am 14. November 2019 ebenfalls zu. An ihrer Sitzung vom 21. November 2019 beschloss die RK-SR im Rahmen der Beratung des Schlussberichtes der UEK formell die Ausarbeitung eines Berichtsentwurfes sowie Dringlichkeit der Vorlage im Sinne von Artikel 85 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes (ParlG)5. Am 17. Januar 2020 nahm die RK-SR den Erlassentwurf mit 12 zu 0 Stimmen bei 1 Enthaltung an und unterbreitete ihn mit dem vorliegenden Bericht dem Ständerat. Gleichzeitig stellte sie den Erlassentwurf und den Bericht dem Bundesrat zur Stellungnahme zu.

1.1

Das AFZFG und seine Entstehung

Die Entstehung des AFZFG steht in engem Zusammenhang mit der Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen» (Wiedergutmachungsinitiative). Die im Dezember 2014 eingereichte Volksinitiative forderte die Schaffung eines mit 500 Millionen Franken dotierten Fonds für Wiedergutmachungszahlungen sowie eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981.

Im Januar 2015 entschied der Bundesrat, der Volksinitiative einen indirekten Gegenentwurf gegenüberzustellen. Im Dezember desselben Jahres unterbreitete er den eidgenössischen Räten seine Botschaft und den Entwurf (15.082)6. Mit dem neuen Gesetz sollten die Rahmenbedingungen geschaffen werden, um eine umfassende gesellschaftliche und individuelle Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zu ermöglichen.

Der Nationalrat stimmte als Erstrat den Vorschlägen des Bundesrates weitestgehend zu und nahm die Vorlage am 27. April 2016 mit 155 zu 25 Stimmen bei 2 Enthaltungen in der Gesamtabstimmung an7. Der Ständerat folgte dem Nationalrat in allen Punkten und nahm die Vorlage am 15. September 2016 mit 36 zu 1 Stimme in der 4 5 6 7

Vgl. Medienmitteilung des Bundesrates zur Kenntnisnahme des Expertenberichtes der UEK unter: www.bj.admin.ch/bj/de/home/aktuell/news/2019/ref_2019-11-270.html.

SR 171.10 BBl 2016 101 (Botschaft) und BBl 2016 147 (Entwurf) AB NR 26.4.16 und AB NR 27.4.16

1641

BBl 2020

Gesamtabstimmung an8. Das Gesetz trat am 1. April 2017 in Kraft und enthielt im Wesentlichen folgende Punkte: ­

Das den Opfern zugefügte Leid und die damit verbundenen belastenden Auswirkungen auf ihr ganzes Leben werden anerkannt (Art. 3). Mit der Anerkennung des Unrechts und der Bitte um Entschuldigung für das den Opfern angetane Unrecht und Leid ist eine Rehabilitierung aller Opfer verbunden, so wie dies bereits bei den administrativ versorgten Personen gemacht wurde9.

­

Als Zeichen der Wiedergutmachung und der Solidarität sind Leistungen im Umfang von 300 Millionen Franken vorgesehen. Die Beiträge betragen höchstens 25 000 Franken pro Opfer (Art. 7 Abs. 1). Diese Leistungen sind ein Zeichen der Anerkennung des Unrechts und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. Für die Einreichung der Gesuche um Gewährung der Solidaritätsbeiträge gilt eine Frist von 12 Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes (Art. 5 Abs. 1).

­

Die Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden sorgen für die Aufbewahrung der Akten zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und den Fremdplatzierungen vor 1981 (Art. 10). Betroffene erhalten das Recht auf einen einfachen und kostenlosen Zugang zu den sie betreffenden Akten (Art. 11).

­

Die Kantone betreiben Anlaufstellen, die den Opfern und anderen Betroffenen Beratung, Betreuung und Hilfe bieten (Art. 14).

­

Der Bundesrat sorgt für die wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Die Erkenntnisse aus diesen Arbeiten sind der Öffentlichkeit, etwa durch Medienproduktionen, Ausstellungen und Vorträgen, zu vermitteln (Art. 15)10.

1.2

Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag und Verfahren

Artikel 5 Absatz 1 AFZFG sieht vor, dass Gesuche um Gewährung eines Solidaritätsbeitrages spätestens 12 Monate nach diesem Zeitpunkt bei der zuständigen Behörde (Bundesamt für Justiz) eingereicht werden müssen, d.h. bis spätestens am 31. März 2018. Gleichzeitig hält das Gesetz fest (Art. 5 Abs.1, zweiter Satz), dass 8 9

10

AB SR 15.9.16 Das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen (SR 211.223.12) ging auf eine parlamentarische Initiative von Ständerat Paul Rechsteiner zurück (11.431). Es sah die Anerkennung des Unrechts, die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse, die Aufbewahrung der Akten zur administrativen Versorgung sowie ein Akteneinsichtsrecht für Betroffene vor. Finanzielle Ansprüche wurden ausgeschlossen. Das Gesetz wurde mit Inkrafttreten des AFZFG aufgehoben (Art. 21 Abs. 1 AFZFG).

Siehe hierzu die Webseite der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) und insbesondere den Schlussbericht der Kommission vom 2. September 2019: www.uek-administrative-versorgungen.ch. Die UEK wurde mit dem Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen (siehe Fussnote 5) ins Leben gerufen.

1642

BBl 2020

auf Gesuche, die nach Ablauf dieser Frist eingereicht werden, nicht eingetreten wird.

Der Hauptgrund für die Ansetzung der verhältnismässig kurzen Frist von nur einem Jahr11 war, dass sehr rasch mit der Auszahlung erster Solidaritätsbeiträge insbesondere an schwer kranke oder sehr alte Opfer begonnen werden sollte. Deshalb musste vorher rasch (dank der kurzen Frist) Klarheit über die Anzahl eingereichter Gesuche geschaffen werden, um die exakte Höhe des Solidaritätsbeitrages berechnen zu können. Dies entsprach nicht zuletzt auch dem Wunsch vieler Opfer und einzelner Opferorganisationen.

Für die Bearbeitung der Gesuche wurde beim Bundesamt für Justiz als zuständige Behörde ab Anfang 2017 eine Organisationseinheit geschaffen, die bei der Beurteilung der Gesuche von einer beratenden Kommission unterstützt wird12. Gleichzeitig begannen die Kantone die notwendigen Vorkehren zu treffen, damit gesuchstellende Personen rechtzeitig Beratung und Unterstützung beim Ausfüllen und Einreichen der Gesuche und bei der Beschaffung ihrer Akten von den kantonalen Anlaufstellen und verschiedenen kantonalen Archiven erhalten konnten. Bereits während der laufenden Frist hatte das Bundesamt für Justiz begonnen, die bereits eingegangenen Gesuche nach der sogenannten Prioritätenordnung13 zu prüfen.

Kurz vor Ende der Einreichungsfrist wurde klar, dass der Schwellenwert von 12 000 Gesuchen aller Wahrscheinlichkeit nicht erreicht und damit der vom Parlament gleichzeitig mit dem AFZFG beschlossene Zahlungsrahmen von 300 Millionen Franken nicht ausgeschöpft werden würde. Damit stand auch fest, dass das spezielle Berechnungsverfahren von Artikel 7 AFZFG nicht mehr zur Anwendung kommen und der Solidaritätsbeitrag einheitlich 25 000 Franken pro Opfer betragen würde.

Um die Bearbeitung und Auszahlung der Gesuche noch schneller als vom Gesetz vorgesehen abschliessen zu können, hatte das Bundesamt für Justiz im Herbst 2018 verschiedene Massnahmen getroffen, die praktisch eine Verdoppelung der Bearbeitungskapazitäten auf rund 500 Gesuche pro Monat zur Folge hatten. Bereits im Dezember konnte deshalb die Behandlung der innert Einreichungsfrist eingelangten Gesuche praktisch abgeschlossen werden.

In der Zwischenzeit gelangten beim BJ zahlreiche weitere verspätet eingereichte Gesuche ein. In einigen wenigen Fällen konnte die Frist
nach der Ausnahmeregel von Artikel 24 des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes14 wiederhergestellt werden. Im Übrigen wurde die Behandlung aller anderen verspätet eingereichten Gesuche vorläufig zurückgestellt.

11

Faktisch waren es allerdings etwas mehr als die erwähnten 12 Monate, denn das Bundesamt für Justiz hatte sich bereits im Dezember 2016 ­ also etwa vier Monate bevor dem offiziellen Beginn der Einreichungsfrist ­ bereit erklärt, erste Gesuche entgegen zu nehmen.

12 Vgl. Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 18 Absatz 2 AFZFG. Die vom EJPD am 15. Februar 2017 eingesetzte Kommission besteht aus 9 Personen, wobei auch 3 Opfer vertreten sind.

Ihre Hauptaufgabe ist die Behandlung von Vorgehens- und Grundsatzfragen sowie von Gesuchen, bei denen sich namentlich heikle (Abgrenzungs-)Fragen stellen. Einzelheiten unter: www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/fszm/zustaendigkeit.html.

13 Gem. Artikel 4 der Verordnung zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFV); SR 211.223.131.

14 VwVG, SR 172.021

1643

BBl 2020

Die wichtigsten Gründe, welche diejenigen Personen geltend machten, die ihr Gesuch zu spät eingereicht hatten, sind die folgenden: ­

Einige gesuchstellende Personen befanden sich v.a. in den Monaten und Wochen vor und nach dem Ende der Einreichungsfrist Ende März 2018 aufgrund schwerwiegender Krankheiten in intensiver medizinischer Behandlung, meist mit mehrfachen Spitalaufenthalten in der fraglichen Zeit;

­

Viele Personen gaben an, nicht von der laufenden Einreichungsfrist für Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag gewusst zu haben, weil sie etwa ihren Wohnsitz im Ausland haben, aber auch, weil sie etwa aufgrund ihres hohen Alters oder aufgrund sehr zurückgezogener Lebensweise nichts (v.a. in den Medien) mitbekommen haben;

­

Viele Personen machten geltend, sie hätten geglaubt, dass der Solidaritätsbeitrag nur von den «Heim- oder Verdingkindern» beansprucht werden könne, nicht aber auch von Personen, die den in Artikel 2 Buchstabe d AFZFG beschriebenen anderen «Opferkategorien» wie etwa den administrativ Versorgten, den «Zwangsadoptierten» oder den Zwangssterilisierten angehören.

Effektiv war in den Medien oder bei der mündlichen Weitergabe der Information unter Opfern oft nur von Heim- oder Verdingkindern die Rede;

­

Eine weitere wichtige Gruppe betrifft Personen, die sich innerhalb der zwölfmonatigen Einreichungsfrist nicht dazu durchringen konnten, ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag einzureichen. Es ist bekannt, dass dieser innere Prozess meist ein extrem schwieriger ist und nicht linear verläuft und sich nicht durch äussere Umstände (z.B. durch eine Fristansetzung für einen Solidaritätsbeitrag) wesentlich beeinflussen oder gar beschleunigen lässt;

­

Schliesslich gibt es auch Personen, die den Behörden aufgrund gemachter äusserst schlechter Erfahrungen derart misstrauisch und ablehnend gegenüberstehen, dass sie nicht glauben konnten, dass die Behörden ihre Zusagen jemals halten und die Solidaritätsbeiträge tatsächlich auszahlen würden.

Bis Ende Dezember 2019 sind beim Bundesamt für Justiz weitere gut 280 verspätet eingereichte Gesuche eingegangen, mit stark steigender Tendenz v.a. im letzten Quartal 2019. Dies dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass es sich unter den Betroffenen herumgesprochen hat, dass auf Stufe Bund Bestrebungen im Gange sind, eine «Fristverlängerung15» zu erwirken. Möglicherweise hatten auch die Arbeiten der UEK bzw. die Veröffentlichung deren Ergebnisse am 2. September 2019 einen Einfluss.

15

Pa Iv Comte 19.471 sowie die Empfehlung der UEK betreffend eine ersatzlose Streichung der Einreichungsfrist.

1644

BBl 2020

2

Verzicht auf das Vernehmlassungsverfahren

Der Vorentwurf zum AFZFG war zwischen dem 24. Juni 2015 und dem 30. September 2015 in der Vernehmlassung16. Insgesamt gingen fast 90 Stellungnahmen ein. Im Grundsatz waren die eingegangenen Stellungnahmen positiv bis sehr positiv.

Unbestritten blieb, dass den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 Unrecht angetan wurde und dass dadurch grosses Leid entstanden ist. Die überwiegende Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer wollten die Rehabilitierung und moralische Wiedergutmachung der Opfer mit finanziellen Leistungen verbinden. Vorbehalte zu den finanziellen Leistungen gab es nur wenige17.

Gemäss Artikel 112 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG) ist der Vorentwurf samt erläuterndem Bericht nach den Bestimmungen des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 200518 in ein Vernehmlassungsverfahren zu geben. Auf dieses kann jedoch verzichtet werden, wenn keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind, weil die Positionen der interessierten Kreise bekannt sind, insbesondere weil über den Gegenstand des Vorhabens bereits eine Vernehmlassung durchgeführt worden ist19.

Neben dem Bund, der v.a. in finanzieller und administrativer Hinsicht die Hauptlast der Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 zu tragen hat, sind auch die Kantone in gewisser Weise von der Vorlage betroffen. Deren Archive haben nämlich die noch vorhandenen Akten zu sichern und Betroffenen einen einfachen und kostenlosen Zugang zu den sie betreffenden Akten zu gewähren. Ausserdem unterstützen sie die Betroffenen bei Bedarf bei der Aktensuche, bei der Einsichtnahme in ihre Akten und beim Ausfüllen von Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag (Art. 10 ff AFZFG). Ähnliche Aufgaben, vor allem bei der Beratung und Unterstützung von Opfern und Betroffenen sowie bei der Aktensuche und beim Ausfüllen und Einreichen von Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag, haben die kantonalen Anlaufstellen (Art. 14 AFZFG). Alle diese Aufgaben sind grundsätzlich als Daueraufgaben ausgestaltet, doch ist klar, dass durch die engen Terminvorgaben für die Bearbeitung der bereits erwähnten rund 9000 Gesuche auch die Kantone faktisch gezwungen waren, ab 2017 rasch die notwendigen erheblichen Kapazitäten aufzubauen, um ihre Aufgaben innert
nützlicher Frist bewältigen zu können.

Im Kern ändert auch eine Streichung der Frist mit dem daraus resultierenden voraussichtlichen Zusatzaufwand für die Kantone nichts Prinzipielles an diesen Daueraufgaben. Schon heute sind die kantonalen Archive und Anlaufstellen z.B. verpflichtet, auch bei «verspäteten» Gesuchen die notwendige Unterstützung zu leisten, wenn dies verlangt wird. Neu wäre aber, dass die Archive und Anlaufstellen länger als ursprünglich vorgesehen diese Dienstleistungen erbringen müssen. Dass es für die Kantone mit höheren Kosten verbunden sein wird, wenn über die rund 9'000 bishe16 17 18 19

Die Vernehmlassungsergebnisse können online abgerufen werden: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2015 > EJPD.

Kanton AR, SVP, FDP, SGV sowie Centre Patronal.

VlG, SR 172.061 Art. 3a Abs. 1 Bst. b VlG

1645

BBl 2020

rigen Gesuche hinaus zahlreiche weitere eingereicht werden sollen, ist klar. Die höheren Kosten wären den Kantonen aber auch entstanden, wenn sich alle Opfer innert der ursprünglichen Frist gemeldet hätten, denn das Gesetz hat die Unterstützung weder betrags- noch zahlenmässig limitiert.

Im Ergebnis ändert also die Vorlage ­ ausser bei der Frist ­ materiell nichts Wesentliches gegenüber dem Entwurf des AFZFG, so wie er seinerzeit in die Vernehmlassung gegeben worden ist. Weder die Anspruchsvoraussetzungen für einen Solidaritätsbeitrag noch das Gesuchsverfahren werden geändert. Die Positionen ­ insbesondere der Kantone ­ dürften daher grundsätzlich bereits bekannt sein.

Schliesslich sind bisher ­ soweit dies überblickt werden kann ­ von keiner Seite der üblichen Vernehmlassungsteilnehmer Reaktionen bekannt geworden, die sich negativ hinsichtlich einer «Fristverlängerung» geäussert hätten, insbesondere auch von Seiten der Kantone nicht, die die Entwicklungen in diesem Bereich ohnehin aufmerksam verfolgen. Es erscheint daher als wenig wahrscheinlich, dass sich im Rahmen einer allfälligen erneuten Vernehmlassung noch Teilnehmer mit neuen Erkenntnissen oder neuen Argumenten melden würden. Es kommt hinzu, dass sowohl die RK-SR als auch die Schwesterkommission des Nationalrats sowie der Bundesrat dem Anliegen eine grosse zeitliche Dringlichkeit zuerkennen, denn viele Opfer sind bereits alt oder schwer krank. Vor diesem Hintergrund erscheint der ausnahmsweise Verzicht auf ein Vernehmlassungsverfahren als zulässig.

3

Grundzüge der Vorlage

Zahlreiche Opfer und scheinbar auch zahlreiche Angehörige von einzelnen Opfergruppen, die nicht den Verding- und Heimkindern angehören, fühlten sich offenbar aus den in Ziffer 1.3 in fine genannten Gründen nicht in der Lage bzw. gar nicht angesprochen, sich innerhalb der erwähnten, relativ kurzen Zeitspanne der angesetzten Frist zu melden und ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag einzureichen.

Grundsätzlich setzt eine jegliche staatliche Fristansetzung die allermeisten Opfer, die sich aufgrund ihrer negativen Erfahrungen ohnehin mit staatlichen Anordnungen schwertun, unter starken Druck. Diese Erfahrungen machten nicht zuletzt auch die kantonalen Anlaufstellen, die Archive und auch das Bundesamt für Justiz. Vor diesem Hintergrund trägt nur die ersatzlose Streichung der bestehenden Frist im Gesetz den genannten Umständen und den Bedürfnissen der Opfer wirklich Rechnung. Denn nur eine solche Lösung bietet Gewähr, dass sie den Opfern die notwendige Freiheit und vor allem genügend Zeit lässt zu entscheiden, ob und gegebenenfalls wann sie ein Gesuch einreichen wollen.

Die Vorlage zielt darauf ab, dass möglichst alle der noch lebenden Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen eine individuelle Anerkennung ihrer Opfereigenschaft und dafür in Form eines staatlichen Zeichens der Wiedergutmachung einen Solidaritätsbeitrag erhalten können. Aus den bereits erwähnten Gründen wurde die Höhe des Solidaritätsbeitrages auf einheitlich 25 000 Franken festgesetzt. Es ist deshalb kaum denkbar, dass dieser Betrag im Falle einer ersatzlos gestrichenen Frist bei den auf dieser Grundlage neu eingereichten

1646

BBl 2020

Gesuchen nun herabgesetzt würde. Solche Absichten sind ­ soweit bekannt ­ bisher auch nie geäussert worden.

Eine rechtsungleiche Behandlung neuer gesuchstellender Personen mit den Opfern aus der ersten «Gesuchsrunde», die bei Gutheissung ihres Gesuchs ausnahmslos den Betrag von 25 000 Franken erhalten haben, wäre denn auch in der Öffentlichkeit schwierig zu vermitteln, weil so der Eindruck entstehen würde, dass der Staat auf Kosten der Betroffenen sparen wolle. Zudem steht nach der Bearbeitung der bisher eingegangenen rund 9000 Gesuche bereits fest, dass gut 80 Millionen Franken dieses Zahlungsrahmens nicht beansprucht worden sind20. Mit diesem «verbleibenden» Betrag liessen sich weitere über 3000 bewilligte Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag auszahlen. Aus diesen Gründen sieht die Vorlage vor, die Höhe des Solidaritätsbeitrages nicht mehr als Maximalbetrag, sondern als fester Betrag in der Höhe von 25 000 Franken auszugestalten, auf den bei Erfüllung der gesetzlichen Kriterien ein Rechtsanspruch besteht. Aus diesem Grund ist es auch nicht notwendig, den bestehenden Bundesbeschluss mit dem Zahlungsrahmen zu erweitern, sondern er kann ­ da er ohnehin bis Ende 2021 befristet ist ­ ohne Weiteres auslaufen. Deshalb bzw. stattdessen sind die für die Finanzierung der Solidaritätsbeiträge notwendigen Mittel nicht bereits ab Inkrafttreten der Gesetzesänderung, sondern erst ab 2022 im ordentlichen Voranschlag des Bundes einzustellen.

Schwierig vorherzusagen ist gegenwärtig, wie viele Gesuche in Zukunft tatsächlich noch eingereicht werden, weil dies zur Hauptsache von den Entschlüssen derjenigen Opfer abhängt, die sich noch nicht gemeldet haben. Der Bundesrat ist in seiner seinerzeitigen Schätzung von 12 000 bis 15 000 Gesuchen ausgegangen; diese ist durch die bisherigen Forschungsresultate soweit bekannt nicht widerlegt worden.

4

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Art. 5 Abs. 1 In dieser Bestimmung war bisher die Frist («12 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes») zur Einreichung der Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag enthalten. Neu ist vorgesehen, die Frist ersatzlos aufzuheben. In diesem Sinn stellt also dieser Artikel die Kernbestimmung der Vorlage dar. Ergänzend dazu kann auch der bisherige 2. Satz von Absatz 1 gestrichen werden, wonach auf Gesuche, die nach Ablauf dieser Frist eingereicht werden, nicht eingetreten wird.

Art. 6 Abs. 4 aufgehoben Diese Bestimmung wird nach einer Aufhebung der Frist hinfällig.

20

etwas, was sehr viele Opfer aktuell stark verbittert, weil sie sich erneut von Staat «betrogen» und «verraten» fühlen.

1647

BBl 2020

Art. 7 Diese Bestimmung enthält neu nur noch ein wesentliches Element: Der Solidaritätsbeitrag soll zukünftig einheitlich exakt 25 000 Franken betragen und er ist nicht mehr als Maximalbetrag ausgestaltet. Es ist aus Gründen der rechtsgleichen Behandlung aller Opfern kaum denkbar, dass die rund 9 000 Personen aus der «ersten Gesuchsrunde» den vollen Betrag erhalten, während die Opfer, die später, d.h. nach der Gesetzesänderung, ein Gesuch stellen, weniger erhalten. Dies gilt umso mehr, als es sich beim Solidaritätsbeitrag nicht um eine Entschädigung, sondern um ein staatliches Zeichen, eine Geste der Wiedergutmachung handelt. Das ist auch der Grund, weshalb es das bisher vor allem in den Absätzen 2 und 3 von Artikel 7 AFZFG geregelte Berechnungs- bzw. Festlegungsverfahren für den Solidaritätsbeitrag nicht mehr braucht.

Art. 19 Bst. b.

Siehe dazu die Erläuterungen zu Artikel 7 oben.

Art. 21b Diese Übergangsbestimmung will sicherstellen, dass unter dem bisherigen AFZFG verspätet eingereichte Gesuche unter dem revidierten AFZFG regulär behandelt werden können. Damit das Bundesamt für Justiz dies tun kann, ist in Artikel 21b vorgesehen, dass diese Gesuche als im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung eingereicht gelten. Dies erlaubt eine Prüfung der Gesuche, ohne auf das Problem der «Verspätung» näher eingehen zu müssen. Das versetzt das Bundesamt für Justiz auch in die Lage, bereits vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung mit der Vorbereitung der Entscheide21 beginnen zu können. Sobald die Änderung dann in Kraft tritt, werden die betreffenden Personen ihre Entscheide als erste erhalten können.

Gleiches gilt auch für Gesuche, die im fraglichen Zeitraum vom Bundesamt für Justiz bereits einen Nichteintretensentscheid erhalten haben, weil die Voraussetzungen für eine Wiederherstellung der Frist gemäss Artikel 24 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968 nicht erfüllt waren.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage bewirkt, dass weitere Personen in Zukunft ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag stellen können und bei Gutheissung als Opfer anerkannt werden. Diesen Opfern wird ein Solidaritätsbeitrag von einheitlich 25 000 Franken ausbezahlt. Da es sich hierbei um einen Rechtsanspruch handelt und nicht exakt vorausberechnet werden kann, wieviele Personen ein solches Gesuch stellen und wann sie dies tun, wird der Bund die notwendigen Kredite jeweils gestützt auf die Durchschnittswerte 21

Nach der in Artikel 4 AFZFV vorgesehenen Prioritätenordnung, d.h. in der Regel in der Reihenfolge des Gesuchseingangs, soweit nicht Gründe für eine prioritäre Behandlung gegeben sind.

1648

BBl 2020

der Vorjahre in den Voranschlag der betreffenden Kalenderjahre einstellen müssen.

Zur Sicherstellung einer raschen, korrekten Bearbeitung der Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag sind zudem gewisse Folgekosten namentlich beim Personal- und Sachaufwand einzurechnen. Aufgrund der Erfahrungswerte aus der bisherigen Gesuchsbearbeitung und einer Bearbeitungskapazität von 1000­2000 Gesuchen pro Jahr benötigt die zuständige Behörde Unterstützung deutsch- und französischsprachiger Mitarbeiter in den Bereichen: Koordination und Controlling, Recht (v.a. bei Einsprache- und Beschwerdeverfahren, Abweisungen von Gesuchen und Nichteintretensentscheiden, die einlässlich begründet sein müssen), übrige Sachbearbeitung, Sekretariat, Logistik/IT im Umfang von etwa sechs Vollzeitstellen. An Sach- und übrigem Aufwand fällt im Wesentlichen nur der Aufwand für die notwendigen Büroräumlichkeiten und die Büromatik ins Gewicht sowie für die Tätigkeit der beratenden Kommission.

5.2

Auswirkungen auf die Kantone

Die Auswirkungen auf die Kantone sind im Wesentlichen in Ziffer 2 dargestellt. Die Kantone haben insbesondere die nötigen zusätzlichen Ressourcen für die zu erwartenden Unterstützungsleistungen beim Ausfüllen und Einreichen von weiteren Gesuchen um einen Solidaritätsbeitrag (v.a. kt. Anlaufstellen) sowie im Zusammenhang mit der Aktensuche und -einsicht zugunsten der Opfer und Betroffenen (v.a. kt.

Archive) bereitzustellen. Der Ressourcenbedarf variiert dabei relativ stark von Kanton zu Kanton. Während v.a. in kleineren Kantonen wahrscheinlich nur noch mit ganz wenigen Dutzend Gesuchen zu rechnen ist, könnten es in bevölkerungsstarken Kantonen durchaus noch einige Hundert sein (so stammten etwa aus der «ersten Gesuchsrunde» 1924 Gesuche aus dem Kanton Bern oder 1244 aus dem Kanton Zürich).

5.3

Andere Auswirkungen

Diese Vorlage hat keine anderen wesentlichen finanziellen oder wirtschaftlichen Auswirkungen.

6

Rechtliche Grundlagen

6.1

Verfassungsmässigkeit

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erfolgten in der Regel in Anwendung von kantonalem Fürsorgerecht oder von bundesrechtlichen Bestimmungen im Bereich des Kindesschutz- oder Vormundschaftsrechts. Das zu revidierende AFZFG steht somit in engem Zusammenhang mit dem Zivilrecht. Die Gesetz-

1649

BBl 2020

gebung auf diesem Gebiet ist Sache des Bundes [Art. 122 Abs. 1 der Bundesverfassung22 (BV)].

6.2

Erlassform

Nach Artikel 164 Absatz 1 BV sind alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen. Die in der Vorlage behandelten Fragen der Frist für die Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag sind rechtsetzender Natur und infolgedessen auf Gesetzesstufe zu erlassen.

6.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Änderung von Artikel 5 Absatz 1 des AFZFG, also die Kernbestimmung der Vorlage zur Streichung der Frist, wird dazu führen, dass nach dem Auslaufen des bis 2021 geltenden Zahlungsrahmens die Finanzierung über das ordentliche Budget des Bundes erfolgen wird. Der für jedes gutgeheissene Gesuch auszurichtende Solidaritätsbeitrag beträgt 25 000 Franken; es ist entsprechend damit zu rechnen, dass der für die Ausgabenbremse massgebende Schwellenwert von 2 Millionen Franken für wiederkehrende Subventionsausgaben gemäss Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV überschritten wird. Entsprechend ist die Bestimmung von Artikel 5 Absatz 1 E-AFZFG der Ausgabenbremse zu unterstellen.

22

SR 101

1650