Jährliche Beurteilung der Bedrohungslage Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit vom 29. April 2020

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 2015 informieren wir Sie über unsere Beurteilung der Bedrohungslage.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

29. April 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Beurteilung der Bedrohungslage 1 Ausgangslage Gemäss Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe d des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. September 20151 (NDG) beurteilt der Bundesrat jährlich die Bedrohungslage der Schweiz und informiert die eidgenössischen Räte und die Öffentlichkeit. Die Beurteilung bezieht sich auf die im NDG genannten Bedrohungen sowie auf sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland. Die Beurteilung der Bedrohungslage ist auch Teil der Lageanalyse im Bericht des Bundesrates vom 24. August 20162 über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 2016). Da die sicherheitspolitischen Berichte die Grundlage der Schweizer Sicherheitspolitik bilden, gilt es im Folgenden hauptsächlich die wichtigsten Aussagen des SIPOL B 2016 zu überprüfen, zu bestätigen oder allenfalls anzupassen.

Für eine umfassendere Lagedarstellung aus nachrichtendienstlicher Perspektive sei auf den jährlichen Lagebericht des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) «Sicherheit Schweiz»3 verwiesen. Die Frage, ob und inwieweit bei der Sicherheitspolitik und ihren Instrumenten wegen Lageveränderungen Anpassungsbedarf besteht, ist weiterhin im Rahmen der regelmässigen Berichte über die Sicherheitspolitik der Schweiz zu prüfen.

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Übersicht

Wie das gesamte internationale Umfeld zeigt sich auch das sicherheitspolitische Umfeld facettenreich und im Wandel. Antizipation und Früherkennung sind unabdingbar, um relevante Entwicklungen zu identifizieren und bei der sicherheitspolitischen Entscheidfindung berücksichtigen zu können. Weltweite Machtverschiebungen gehen mit Fragmentierung einher, Nationalismus und konfrontative Machtpolitik akzentuieren sich. Technologische Neuerungen werden in den nächsten Jahren auch in der Sicherheitspolitik zu den stärksten Treibern des Wandels gehören. Ökologische und gesellschaftliche Veränderungen werden die Sicherheitspolitik ebenfalls beeinflussen. Die Globalisierung war der prägendste internationale Trend der vergangenen Jahrzehnte. Die Zunahme der globalen Vernetzung hat auch die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen weltweit markant beeinflusst. Die Globalisierung bleibt relevant, auch wenn sie sich teils verlangsamt und differenzierter manifestieren wird als in der Vergangenheit. Die Ausbreitung des Coronavirus zeigt die Verletzlichkeit einer eng vernetzten Welt. Die längerfristigen Konsequenzen der Pandemie sind noch kaum abzuschätzen.

Die im SIPOL B 2016 analysierten, für die Schweiz relevanten Bedrohungen stehen immer noch im sicherheitspolitischen Brennpunkt. Es sind dies die erhöhte Terror1 2 3

SR 121 BBl 2016 7763 Der Lagebericht ist im Internet abrufbar unter: www.vbs.admin.ch > Über uns > Organisation > Verwaltungseinheiten > Nachrichtendienst > Dokumente.

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bedrohung durch dschihadistische Akteure, namentlich den «Islamischen Staat», der intensive und aggressive Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel durch mehrere Staaten, der deutliche Anstieg von Cyberangriffen auf Schweizer Interessen im Inund Ausland sowie wachsende regionale Spannungen mit globalen Konsequenzen.

Zudem erlebt Machtpolitik seit einiger Zeit eine Renaissance, während multilaterale Institutionen und Lösungsansätze geringer geschätzt werden. Um machtpolitische Ziele zu erreichen, wählen Staaten vermehrt ein hybrides Vorgehen. Sie setzen politische, wirtschaftliche, militärische, nachrichtendienstliche und informationelle Mittel wenn immer möglich verdeckt und kombiniert ein. Beeinflussungsoperationen spielen dabei eine immer wichtigere Rolle.

Was die sicherheitspolitisch bedeutsamen Vorgänge im Ausland angeht, setzen sich die grundlegenden Trends (vgl. Ziff. 4) zwar fort; der bislang beobachtete Trend hin zu einer multipolaren Weltordnung ist indessen zu relativieren. Sicherheitspolitisch relevant ist eine Vielzahl von Akteuren, darunter auch nichtstaatliche, sodass eine fragmentierte sicherheitspolitische Lage resultiert. Aber es mehren sich auch die Hinweise, dass das internationale System mehr und mehr vom strategischen Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten (USA) und China geprägt werden könnte ­ bis hin zur Errichtung exklusiver strategischer Einflusszonen. Die USA richten sich strategisch auf die Herausforderung durch China aus und gewichten ihre Sicherheitspolitik neu. Dies führt unter anderem zur Überprüfung bestehender Prioritäten und Allianzen und fordert traditionelle Partner wie die europäischen Staaten heraus. Andere Akteure im strategischen Wettbewerb wie Russland, aber auch die Türkei versuchen ihrerseits ihre Position zu verbessern. Sie profitieren teilweise von der Neuausrichtung der USA und sind bereit, zur Durchsetzung ihrer Interessen die alte sicherheitspolitische Ordnung herauszufordern.

Das System der europäischen Sicherheit ist im Umbruch. Nach wie vor hängt die europäische Sicherheit massgeblich vom transatlantischen Verbund und von der Kooperation mit Russland und weiteren Staaten des strategischen Umfelds ab. Trotz einer allianzkritischen Grundhaltung des amerikanischen Präsidenten funktioniert die transatlantische Kooperation im Rahmen der Nato
weiter, weil die USA Russland weiterhin als strategische Herausforderung sehen und gegenwärtig immer noch bereit sind, sich mit substanziellen Mitteln in Europa zu engagieren. Die europäischen Staaten leisten ihren Beitrag, nicht nur im Bereich konventioneller Verteidigung, sondern zum Beispiel auch bei der Terrorismusbekämpfung. Die sicherheitspolitischen Konsequenzen des Brexits und somit die künftige sicherheitspolitische Rolle der Europäischen Union (EU) sind noch nicht erkennbar.

Die Beziehungen europäischer Staaten und der EU zu Russland weisen nicht nur konfrontative, sondern auch kooperative Züge auf. Im strategischen Gesamtkontext betrachtet ist das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz bei allem Wandel also auch von stabilisierenden Faktoren beeinflusst. Aber die Sicherheitslage wird sich weiter verschärfen: Neben den Spannungen mit Russland ist hierbei namentlich auf die Frontstellung zwischen den USA und dem Iran sowie zwischen Russland und der Türkei bezüglich Syrien hinzuweisen. Hier besteht jeweils ein militärisches Eskalationsrisiko. Auf dem afrikanischen Kontinent sind Staaten wie Libyen oder Algerien im Umbruch. Eine Krisenzone, die wegen der Präsenz dschihadistischer Gruppierungen sicherheitspolitisch bedeutsam ist, reicht vom Sahel bis ans Horn 4297

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von Afrika. Angesichts dieser Herausforderungen kann sich die Diskussion um die Rollen-, Aufgaben- und Lastenverteilung für die europäische Sicherheit nur akzentuieren.

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Die Bedrohungen im Einzelnen

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Terrorismus

Die Terrorbedrohung in der Schweiz bleibt erhöht. Sie wird auch heute noch hauptsächlich durch dschihadistische Akteure geprägt. Der «Islamische Staat» hat sich erfolgreich als Untergrundbewegung reorganisiert und wird versuchen, selber als Urheber von Anschlagsplänen gegen westliche Ziele aufzutreten. Erneute, von ihm organisierte oder gesteuerte Anschläge in Europa sind wahrscheinlich, wobei er zum Beispiel auch chemische oder biologische Mittel einsetzen könnte.

Als Ziel stehen Staaten im Vordergrund, die sich militärisch an der Bekämpfung des «Islamischen Staats» beteiligen. Deren Interessen können bei Anschlägen auf Schweizer Territorium zum Ziel werden; auch israelische bzw. jüdische Interessen können hierzulande betroffen werden. Aber auch die Schweiz selber gehört aus Sicht der Dschihadisten zu den legitimen Zielen von Terroranschlägen. Für die Schweiz sind Anschläge mit geringem logistischem Aufwand auf sogenannt weiche Ziele wie Menschenansammlungen, ausgeführt von einzelnen Personen oder Kleingruppen, derzeit die wahrscheinlichste Terrorbedrohung.

Europaweit bleibt der Umgang mit aus der Haft entlassenen Dschihadisten und Dschihadistinnen oder im Gefängnis radikalisierten Personen eine Herausforderung.

In einzelnen Fällen ist auch in der Schweiz mit Rückkehrern und Rückkehrerinnen aus dem Dschihad zu rechnen, unter anderem von Personen, die derzeit in Syrien oder im Irak festsitzen und die bei einer Rückkehr die innere Sicherheit der Schweiz bedrohen könnten. Die Strategie und die Zielsetzung des Bundesrates vom 8. März 2019 zum Umgang mit terroristisch motivierten Reisenden bleiben gültig.

Der ethno-nationalistische Terrorismus und Gewaltextremismus bleibt für die Bedrohungslage von Bedeutung. Namentlich zu nennen ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit ihrem fortbestehenden Gewaltpotenzial. Obwohl sich die Lage für die PKK in den Kurdengebieten negativ entwickelt, hält sie vorderhand an ihren politischen Zielen in Europa und damit auch an ihrer in Europa gewaltfreien Strategie fest. Nebst ihren Propagandaaktivitäten sammelt die PKK weiterhin Geld, rekrutiert neue Mitglieder und führt Ausbildungslager durch.

Ein internationales Phänomen von wachsender Bedeutung sind Anschläge von extremistisch motivierten oder psychisch angeschlagenen Personen, deren Gewaltanwendung als terroristisch kategorisiert werden muss. Dazu zählen etwa die Anschläge von Christchurch (Neuseeland) oder von Halle und Hanau (Deutschland).

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3.2

Verbotener Nachrichtendienst

Mit der Rückkehr der Machtpolitik gewinnt der verbotene Nachrichtendienst an Gewicht. In der Schweiz sind die Angriffsziele mannigfaltig; sie werden von den strategischen Interessen der Akteure bestimmt. Zur Spionage werden traditionelle Methoden und Cybermittel eingesetzt ­ häufig auch kombiniert.

Die durch Spionage gewonnenen Zugänge können zudem zu Manipulationen oder gar zur Sabotage genutzt werden. Es gibt keinen Hinweis, wonach die Akteure international beim Einsatz ihrer nachrichtendienstlichen Instrumente künftig grössere Zurückhaltung üben werden. Dieser Einsatz schliesst das Ausspionieren und die Druckausübung auf oppositionelle Personen und Gruppen, zum Teil aber auch die Ermordung missliebiger Personen ein.

Verbotener Nachrichtendienst verletzt die Souveränität der Schweiz und richtet direkt oder indirekt Schaden an. Auch Aktivitäten gegen missliebige Personen und Gruppen im Ausland können die Schweiz jederzeit indirekt oder direkt betreffen.

3.3

NBC-Proliferation4

Weiterhin versuchen ausländische Akteure häufig, in der Schweiz Material zugunsten von Massenvernichtungswaffenprogrammen oder zur Herstellung von Trägersystemen zu beschaffen. Pakistan, Nordkorea und der Iran sind hier zu nennen. Aber auch Beschaffungsbegehren syrischer Akteure sind vor dem Hintergrund des einsetzenden Wiederaufbaus der syrischen Infrastruktur im Auge zu behalten.

Der sicherheitspolitische Umbruch hat auch Konsequenzen für das Thema «Proliferation». Die Grossmächte entwickeln neue Waffensysteme wie Hyperschallwaffen, die direkt destabilisierend auf das strategische Gleichgewicht einwirken können. Das System strategischer Rüstungskontrolle zeigt Zerfallserscheinungen. So ist nach dem Ende des Intermediate Range Nuclear Forces Treaty 2019 auch fraglich, ob der Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen (New START) fortgeführt wird. Ohne Verlängerung läuft er im Februar 2021 aus. Auch ohne diese Verträge ist aber nicht mit einem unkontrollierten nuklearen Rüstungswettlauf zwischen den USA und Russland zu rechnen. Die Arsenale werden sich qualitativ verändern, aber nicht massiv wachsen.

Vor dem Hintergrund des strategischen Wettbewerbs zwischen den USA und China zeichnet sich die Bildung zweier zunehmend durch Exportkontrollmassnahmen und Sanktionen abgegrenzter Räume ab. In diesen Räumen könnten verschiedene Normen für die Entwicklung und Anwendung von Technologien mit strategischem Potenzial gelten. Zu diesen Technologien gehört zum Beispiel künstliche Intelligenz. Vor diesem Hintergrund könnte es der Schweiz schwerfallen, mit beiden Ländern gleichwertige wirtschaftliche Beziehungen zu unterhalten. Im Extremfall könnte es bedeuten, dass sie sich künftig auf die Kooperation mit einem der beiden 4

Weiterverbreitung nuklearer, biologischer oder chemischer Waffen, einschliesslich ihrer Trägersysteme, sowie aller zur Herstellung dieser Waffen notwendigen zivil und militärisch verwendbaren Güter und Technologien

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Länder und dessen Partnern beschränken müsste, was die Möglichkeit, von den Megatrends «Digitalisierung» und «Globalisierung» zu profitieren, reduzieren würde.

3.4

Angriffe auf kritische Infrastrukturen

Cyberoperationen gegen kritische Infrastrukturen können schwere Schäden anrichten. Mehrere Bundesstellen und Privatfirmen wurden in den vergangenen Jahren Opfer ausländischer staatlicher Cyberangriffe. Diese dienten dem politischen oder wirtschaftlichen Nachrichtendienst. Kritische Infrastrukturen waren jedoch im letzten Jahr hauptsächlich von kriminellen, finanziell motivierten Angriffen betroffen. Die Opfer erlitten zum Teil hohen Schaden.

Auch in Zukunft ist mit einer Zunahme von staatlichen und kriminellen Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen zu rechnen. Dabei ist festzustellen, dass nicht nur die eigentlichen Ziele ins Visier genommen werden, sondern auch Zulieferer und Geschäftspartner angegriffen werden oder deren Schädigung in Kauf genommen wird. Kollateralschäden entsprechender Angriffe konnten auch schon in der Schweiz beobachtet werden. Im Rahmen strategischer Konflikte können deshalb auch Ziele in der Schweiz oder Schweizer Interessen getroffen und in Mitleidenschaft gezogen werden.

3.5

Gewalttätiger Extremismus

Das Gewaltpotenzial des Rechts- und Linksextremismus in der Schweiz besteht weiter; beide Szenen sind international vernetzt. Beiden Szenen gelingt derzeit der Brückenschlag zu sozialen Bewegungen wie den «gilets jaunes» oder den Klimaaktivisten und -aktivistinnen und damit deren Instrumentalisierung trotz einzelnen Bemühungen aber nicht.

Die rechtsextreme Szene verhält sich weiter konspirativ und übt in der Schweiz mit dem Einsatz von Gewalt Zurückhaltung. In der Szene sind allerdings grössere Mengen funktionstüchtiger Waffen vorhanden, auch werden Kampfsportarten trainiert.

Das grösste Risiko für einen rechtsextrem motivierten Anschlag geht in der Schweiz analog zu diversen Anschlägen 2019 weltweit von allein handelnden Personen mit rechtsextremer Gesinnung, aber ohne Kontakt zu etablierten gewalttätig-extremistischen Gruppierungen aus. Die Anschläge von Christchurch, Halle oder Hanau sind zudem beispielhaft für extremistische Täter, die mit ihrer massiven Gewaltanwendung letztlich terroristische Gewalttaten verüben. Bisher existieren nur schwache Hinweise auf eine solche Entwicklung in der Schweiz.

Der Linksextremismus fokussiert seine Kräfte und versucht, direkt Wirkung zu erzielen. Derzeit ist die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der Kurden und Kurdinnen eines der Hauptthemen, wobei sich die gewalttätigen Linksextremen aus Rücksicht auf die gewaltfreie Strategie der PKK in Europa mit Gewalt während Demonstrationen zurückhalten, nicht jedoch bei eigenen, spontanen Aktionen. Intensivere Formen der Gewaltausübung wie Brandstiftung dürften kleineren Personen4300

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gruppen zuzuschreiben sein. Eine breitere Beteiligung an Gewalttaten und hohe Aggressivität bleiben anlässlich von Demonstrationen erkennbar. Bei Angriffen auf Sicherheitskräfte werden Schäden an Leib und Leben in Kauf genommen, in bestimmten Fällen gar bezweckt. Die Frontstellung gegen rechts führt auch zu Angriffen auf politische Repräsentanten und Repräsentantinnen.

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Sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland

Die fünf für die Sicherheitspolitik der Schweiz bedeutsamen globalen Trends (1. Übergang zu einer multipolaren Weltordnung; 2. Ausbreitung von Wohlstand und Technologie; 3. Anstieg von Migration; 4. anhaltende Krisen, Umbrüche und Instabilität; 5. Weiterentwicklung des Konfliktbildes) aus dem SIPOL B 2016 bleiben im Wesentlichen aktuell, werden aber durch den Schwenk der USA nach Asien («Pivot to Asia») und die Renaissance der Machtpolitik (USA, Russland, China, Türkei) zusehends überlagert.

Die USA sind nach wie vor die Weltmacht mit dem grössten Einfluss. Sie profitieren dabei von einem Netzwerk aus Verbündeten und ihrer zwar abnehmenden, aber immer noch beachtlichen «soft power», so wie die Verbündeten ihrerseits von den USA und ihren Fähigkeiten profitieren. Mit nationalen Alleingängen beeinträchtigen sie aber ihre eigene Führungsrolle und die liberale Weltordnung. Gleichzeitig werden diverse autoritäre politische Systeme durch oppositionelle Kräfte herausgefordert.

Die USA drängen ihre europäischen Verbündeten, kollektiv wie individuell mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit gegenüber den Herausforderungen aus dem Osten (Russland) und Süden (Afrika, Naher und Mittler Osten) zu übernehmen. Ihr Versuch, die eigene Stärke vornehmlich durch die Nutzung der eigenen Wirtschaftsund Sanktionierungsmacht zu wahren, wird die diesbezüglichen Entwicklungen aber prägen.

Der Kern der russischen Führung ist personell und betreffend seine Weltanschauung sehr stabil. Massnahmen wie zum Beispiel die Verfassungsänderung und die personelle Verjüngung in zentralen Funktionen des Kremls und der Regierung dienen der Machtsicherung der gegenwärtigen Führung um Präsident Putin. Diese sucht Russland aktiv in einer multipolaren Weltordnung auf Augenhöhe mit den USA zu positionieren. Aus der Perspektive Russlands bleibt die Ukraine der mit Abstand wichtigste strategische Raum. Mit dem Gaspipelinesystem Nord Stream 2 baut Russland seine Machtposition in Osteuropa aus. Russland hat sich zudem auch im Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeer als strategischer Konkurrent der Nato wieder etabliert und sichert seine Ansprüche auch mit militärischen Mitteln. Trotz machtpolitischer Rivalitäten bleibt aber z. B. die Zusammenarbeit im Bereich Terrorbekämpfung zwischen Russland und westlichen Staaten, inkl. den USA,
bestehen.

Die Türkei sieht den «kurdischen Terrorismus» weiterhin als ihr Hauptproblem. In Nordsyrien bemüht sie sich um die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge. Die Suche nach Erdgas in der Wirtschaftszone Zyperns wird die Türkei fortsetzen, weswegen 4301

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die Spannungen mit der EU wachsen. Auf Kritik aus Europa wird die Türkei weiterhin mit der Drohung reagieren, Millionen syrischer Flüchtlinge den Weg nach Europa zu ermöglichen.

Das Sanktionsregime der USA schädigt die iranische Wirtschaft schwer. Doch das iranische Regime hat eine hohe Überlebensfähigkeit und sein Einfluss in der Region bleibt hoch. Der Iran wird weiterhin versuchen, mit Gegendruck auf die Sanktionen der USA zu reagieren, so insbesondere mit einer Fortsetzung des graduellen Ausbaus seiner nuklearen Aktivitäten im Widerspruch zum Joint Comprehensive Plan of Action. Auch wenn sich die USA und der Iran bisher bemüht zeigen, eine massive Eskalation zu vermeiden, besteht das Risiko einer grösseren militärischen Konfrontation fort.

Was Afrika südlich der Sahara angeht, so ist die Sicherheitslage insbesondere im Sahel instabil. Hier sind dschihadistische Gruppierungen in mehreren Staaten aktiver geworden. Dies führte Frankreich zu einem lang dauernden Engagement von hoher Intensität (Operation Barkhane), für das Frankreich breitere internationale Unterstützung sucht. Am Horn von Afrika tritt der von Äthiopien angestossene Friedensprozess mit Eritrea auf der Stelle. Mehrere Staaten sind politisch destabilisiert. Diese instabilen Bedingungen werden durch ein starkes Bevölkerungswachstum, mangelnde Sicherheit, schlechte Regierungsführung und die massiven Konsequenzen aus dem Klimawandel zusätzlich verschlechtert. Dies bremst die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung in vielen Staaten Afrikas und führt unter anderem zu grosser intra-afrikanischer Migration, die sich teilweise auch Richtung Europa und die Schweiz bewegt. Generell ist zu beobachten, dass China, Russland, aber auch Indien oder die Türkei, ihre Präsenz in Afrika auch aus strategischen Gründen ausdehnen.

Nicht nur die USA sehen China als Hauptrivalen ­ auch China versteht sich zunehmend als Gegenpol zu den USA. China treibt unter Führung der Kommunistischen Partei die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien voran, die es ihm auch erlauben, Wirtschaft und Gesellschaft in einem noch nie dagewesenen Mass zu kontrollieren.

Hinsichtlich der nuklearen Ambitionen Nordkoreas bestätigt sich die skeptische Haltung bezüglich einer Abrüstungslösung. Nordkorea dürfte nicht wie gefordert auf Nuklearwaffen und geeignete Trägersysteme verzichten. Mit weniger Gegenleistung dürfte es aber von den USA keine Sanktionserleichterungen erhalten.

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Auswirkungen auf die Schweiz

Die Schweiz ist von den Veränderungen in ihrem sicherheitspolitischen Umfeld direkt betroffen. Neben den Spannungen zwischen westlichen Staaten und Russland ist insbesondere das militärische Eskalationspotenzial der Konfrontation zwischen den USA und dem Iran unverkennbar. Die Asymmetrie dieses Konflikts erhöht auch die Terrorbedrohung in Europa. Grundsätzlich bleibt fraglich, ob tatsächlich einer der grossen Akteure bereit ist, einen militärischen Grosskonflikt mit einem der anderen grossen Akteure zumindest in Kauf zu nehmen. Aber die ständigen Versuche, die eigenen Interessen kompromisslos durchzusetzen und dabei die eigenen 4302

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Fähigkeiten möglichst aggressiv zu präsentieren, bergen Eskalationsrisiken. Sie führen zudem in Form von Stellvertreterkonflikten zur indirekten Konfrontation, wodurch teilweise Eskalationsrisiken verstärkt werden.

Aus Sicht der Schweizer Sicherheitspolitik ist strategisch bedeutsam, dass die USA, Europa beziehungsweise die EU und ihre Mitgliedstaaten sowie auch Japan sicherheitspolitisch einflussreich bleiben werden. Sie werden jedoch vermutlich relativ an Einfluss verlieren. Gleichzeitig häufen sich in verschiedenen Bereichen sicherheitspolitische Differenzen zwischen westlichen Staaten. Zudem weist Europa bzw. die EU als sicherheitspolitischer Akteur weiterhin Schwächen auf. Dagegen werden innerhalb der Nato die Verteidigungsanstrengungen substanziell erhöht. Zudem wurde die eigene Anfälligkeit für Beeinflussungsoperationen erkannt. Trotzdem werden manche staatliche wie nichtstaatliche Akteure weiter versuchen, Zweifel an demokratischen Willensbildungsprozessen zu säen, um demokratische politische Systeme gerade auch im Bereich der Sicherheitspolitik zu lähmen. Für die Sicherheit der Schweiz bedeutende Rüstungsprojekte sowie diesbezügliche Abstimmungen können dabei auch im Fokus stehen.

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