20.016 Botschaft zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (Änderung von Art. 140 der Bundesverfassung) vom 15. Januar 2020

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf des Bundesbeschlusses über das obligatorische Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (Änderung von Art. 140 der Bundesverfassung).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2016

M 15.3557

Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter (N 25.9.15, Caroni; S 29.2.16)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. Januar 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2019-3264

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Übersicht Völkerrechtliche Verträge, die aufgrund ihres Inhalts Verfassungsrang haben oder deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert, sollen dem obligatorischen Referendum unterstehen. Dieses Referendumsrecht ist nach verbreiteter Meinung heute schon Teil des ungeschriebenen Verfassungsrechts, soll aber ausdrücklich in der Bundesverfassung verankert werden.

Ausgangslage Das Parlament hat mit Annahme der Motion 15.3557 den Bundesrat beauftragt, den Entwurf einer Verfassungsänderung zur Einführung des obligatorischen Referendums für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter zu unterbreiten. Zwar ist nach verbreiteter Auffassung dieses Referendumsrecht heute schon Teil des ungeschriebenen Verfassungsrechts. Die ausdrückliche Verankerung in der Verfassung kann aber die praktische Handhabung dieses Referendumsrechts verbessern, die demokratische Legitimation des Völkerrechts weiter stärken und mehr Rechtssicherheit schaffen.

Inhalt der Vorlage Nach geltendem Verfassungsrecht untersteht der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum. Für den Abschluss solcher Verträge ist die Zustimmung von Volk und Ständen erforderlich.

Zusätzlich soll in der Bundesverfassung ausdrücklich auch das obligatorische Staatsvertragsreferendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter verankert werden. Die Vorlage schafft nicht ein neues Referendumsrecht, sondern überführt im Wesentlichen ins geschriebene Verfassungsrecht, was heute bereits als Teil des ungeschriebenen Verfassungsrechts anerkannt ist.

Völkerrechtliche Verträge unterstehen zunächst dann dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum, wenn sie «Bestimmungen von Verfassungsrang» enthalten.

Gemeint sind namentlich Bestimmungen, welche in den Bestand der Grundrechte eingreifen, zu einer Verschiebung von Bundes- und Kantonskompetenzen führen oder die Grundzüge der Organisation oder des Verfahrens der Bundesbehörden verändern. Ferner werden Volk und Ständen Verträge auch dann obligatorisch zur Abstimmung unterbreitet, wenn «deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert».

In der Vergangenheit wurde nur in drei Fällen auf ein ungeschriebenes obligatorisches Staatsvertragsreferendum abgestellt. Das obligatorische Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter wird auch künftig aller Voraussicht nach nur sehr selten zur Anwendung kommen.

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

Der Bundesrat hatte im Jahr 2010 dem Parlament beantragt, auf dem Weg des direkten Gegenentwurfs zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» 1 das obligatorische Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter in der Bundesverfassung (BV)2 zu verankern. Das Parlament ist indessen auf den Gegenentwurf nicht eingetreten.

In Erfüllung des Postulats 13.38053 hat der Bundesrat im Juni 2015 erneut Bericht erstattet über das obligatorische Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter.4 Unmittelbar danach wurde die Motion 15.35575 eingereicht.

Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion. Durch Überweisung der Motion am 29. Februar 20166 erteilte die Bundesversammlung dem Bundesrat den Auftrag, den Entwurf einer Verfassungsänderung zur Einführung des obligatorischen Referendums für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter zu unterbreiten.

Zur Begründung seines Vorstosses führte der Motionär aus, das heute in Artikel 140 BV verankerte obligatorische Referendum weise eine Lücke auf: Während Verfassungsänderungen dem obligatorischen Referendum unterstünden und durch Volk und Stände legitimiert seien, gelte das für völkerrechtliche Verträge mit materiell verfassungsmässigem Charakter nicht. Zwar sei bereits heute ein in der Verfassung nicht ausdrücklich genanntes obligatorisches Referendum beim Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen mit Verfassungsrang anerkannt. Doch würde die Kodifikation dieses Volksrechts Klarheit und Rechtssicherheit schaffen.

1

2 3 4 5 6

Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6984 ff.; zu dieser Kurzbezeichnung und den Kurzbezeichnungen in den folgenden Fussnoten vgl. das Literaturverzeichnis und das Verzeichnis mehrfach zitierter Materialien am Ende dieser Botschaft.

SR 101 Po. 13.3805 FDP-Liberale Fraktion «Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht».

Bericht BR zum Po. 13.3805, S. 10 ff.

Mo. 15.3557 Caroni «Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter».

Der Nationalrat hat die Motion am 25. Sept. 2015 diskussionslos angenommen (AB 2015 N 1873). Am 22. Jan. 2016 hat auch die Staatspolitische Kommission des Ständerats (SPK-S) einstimmig die Annahme der Motion beantragt. Der Ständerat hat die Motion am 29. Febr. 2016 mit 36 gegen 9 Stimmen angenommen (AB 2016 S 15).

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1.2

Obligatorisches Staatsvertragsreferendum

1.2.1

Regelung vor der Totalrevision der Bundesverfassung

Ein Referendum beim Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen wurde erstmals 1921 in der Bundesverfassung verankert. 7 Der damalige Artikel 89 Absatz 3 der Bundesverfassung von 1874 (aBV)8 unterwarf alle «Staatsverträge mit dem Auslande, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind», dem fakultativen Referendum.

Im Jahr 1977 wurde das Staatsvertragsreferendum grundlegend revidiert. Das fakultative Referendum wurde ausgedehnt auf völkerrechtliche Verträge, die den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder die eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen. In Artikel 89 Absatz 5 aBV neu eingeführt wurde zudem ein obligatorisches Staatsvertragsreferendum für den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften oder zu Organisationen der kollektiven Sicherheit (vgl. heute: Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV). Bereits damals wurde erwogen, auch völkerrechtliche Verträge mit verfassungsähnlichem Inhalt dem obligatorischen Referendum zu unterstellen; Bundesrat und Parlament verfolgten diesen Weg aber nicht weiter. Der Bundesrat lehnte die Kodifikation vor allem deshalb ab, weil ihm die damals diskutierten oder in der Vernehmlassung geforderten Kriterien ­ Eingriffe in die Souveränität, Abtretung von Hoheitsrechten, Eingriffe in Freiheitsrechte, verfassungsändernde Verträge ­ zu ungenau waren.9 Umgesetzt wurde schliesslich die Lösung, die nur für zwei konkrete Fälle ­ eben den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften und zu Organisationen der kollektiven Sicherheit ­ ein obligatorisches Referendum vorsah. Diese zwei Konstellationen wurden damals als die «am weitest reichenden und am schwersten wiegenden aussenpolitischen Entscheide» qualifiziert.10 Bis heute hat es zum obligatorischen Staatsvertragsreferendum gemäss Artikel 89 Absatz 5 aBV (Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV) nur einen Anwendungsfall gegeben: 1986 wurde der Beitritt zur UNO dem obligatorischen Referendum unterstellt, weil es sich um einen Beitritt zu einer Organisation für kollektive Sicherheit handelte;11 der Beitritt wurde abgelehnt. Im Jahr 2002 erfolgte der Beitritt zur UNO über die ­ als Teilrevision der Bundesverfassung gemäss Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe a BV dem obligatorischen Referendum unterstehende ­ Annahme von Artikel 197 Ziffer 1 BV.

7

8 9 10 11

Vgl. mit einer umfassenden Darstellung der Vorgeschichte und der damaligen Regelung des Staatsvertragsreferendums die Botschaft Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, Ziff. 2. Vgl. dazu und zum Folgenden auch die Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», Ziff. 2.1.

www.bj.admin.ch > Staat & Bürger > Abgeschlossene Rechtsetzungsprojekte > Reform der Bundesverfassung.

Botschaft Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, S. 1157 f.; ferner Zellweger, S. 284.

Botschaft Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, S. 1155.

Botschaft des Bundesrates vom 21. Dez. 1981 über den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen, BBl 1982 I 497, hier 583.

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1.2.2

Totalrevision der Bundesverfassung und Reform der Volksrechte

Im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung wurde das Staatsvertragsreferendum erneut kritisch überprüft. Für das obligatorische Staatsvertragsreferendum wurde kein Reformbedarf angenommen; es wurde unverändert in die neue Bundesverfassung überführt. Auch die im Jahr 2003 angenommene Reform der Volksrechte12 liess das obligatorische Staatsvertragsreferendum unberührt. Danach wurden zwar bisweilen Korrekturen am obligatorischen Staatsvertragsreferendum angeregt.

Mehrere zu diesem Zweck eingereichte parlamentarische Initiativen sind indessen abgelehnt worden.13

1.2.3

Ungeschriebenes Verfassungsrecht: obligatorisches Staatsvertragsreferendum sui generis

Nach der Praxis der Bundesbehörden und einem Teil der Lehre 14 besteht die Möglichkeit, einen völkerrechtlichen Vertrag auch dann Volk und Ständen zu unterbreiten, wenn er aufgrund seiner Bedeutung auf der Stufe der Bundesverfassung steht.

Ein solches nicht ausdrücklich im Verfassungstext verankertes Referendumsrecht ist nach verbreiteter Auffassung Teil des ungeschriebenen Verfassungsrechts. Dieses Referendumsrecht wird häufig mit den Begriffen «ungeschriebenes obligatorisches Staatsvertragsreferendum» oder «Referendum sui generis» (lat.: «eigener Art») bezeichnet. Der Zusatz sui generis ist zugleich Ausdruck der Schwierigkeiten, dieses Referendumsrecht und den damit verknüpften (materiellen) Verfassungsbegriff hinreichend fassbar zu machen.

Ein erstes Mal wurde beim Beitritt der Schweiz zum Völkerbund im Jahr 1920 auf ein ungeschriebenes obligatorisches Staatsvertragsreferendum abgestellt ­ also kurz bevor das (fakultative) Staatsvertragsreferendum überhaupt Eingang in die Verfassung fand. Zwar bedingte der Völkerbund nach Auffassung des Bundesrates keine Änderung der Bundesverfassung; namentlich greife er weder in die Organisation noch in die Befugnisse der Eidgenossenschaft ein. Diese rechtlichen Überlegungen 12

13

14

Im Jahr 1999 scheiterten bundesrätliche Vorschläge für eine Reform der Volksrechte in den Eintretensdebatten beider Kammern des Parlaments. Volk und Stände haben aber vier Jahre später einer Volksrechtereform zugestimmt. Seither unterstehen auch völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, die «wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert» (Art. 141 Abs. 1 Bst. d Ziff. 3 BV); vgl. dazu zusammenfassend die Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6968 f.

Vgl. dazu die Übersicht in der Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6971 f. mit Erörterungen zu den folgenden parlamentarischen Initiativen: 05.407 Zisyadis vom 18. März 2005 «Gats. Obligatorisches Referendum»; 05.426 Fraktion SVP vom 17. Juni 2005 «Mehr Demokratie in der Aussenpolitik. Ausweitung des Staatsvertragsreferendums»; 09.443 und 09.444 Reimann vom 18. Juni 2009 «Stärkung der Demokratie. Einführung eines ausserordentlichen fakultativen Referendums» und «Stärkung der Demokratie. Einführung eines Ratsreferendums». Vgl. auch die Mo. 14.3397 Quadri «Obligatorisches Referendum für alle Beiträge, die ins Ausland fliessen» (am 16. Juni 2016 abgelehnt).

Vgl. dazu die Übersicht bei Brunner, S. 61.

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seien aber nicht ausschlaggebend. Vielmehr handle es sich bei der Beitrittsfrage um eine Angelegenheit von höchster Bedeutung, und dementsprechend sei es eine politische Pflicht der Behörden, sich an die Instanz zum Entscheid zu wenden, von der sie ihre Befugnisse ableiten.15 Volk und Stände sprachen sich im Mai 1920 für den Beitritt zum Völkerbund aus.

Weitere Elemente des obligatorischen Referendums sui generis haben sich beim Abschluss des Freihandelsabkommens (FHA) mit der EWG von 197216 herausgebildet. Der Bundesrat erklärte damals, ein Staatsvertrag sei unabhängig von seiner Dauer und Kündbarkeit Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten, «wenn er tiefgreifende Änderungen der Staatsstruktur mit sich bringt oder einen grundsätzlichen Wandel in der schweizerischen Aussenpolitik zur Folge hat.»17 Diese beiden Voraussetzungen seien nicht erfüllt, und deshalb erweise sich ein obligatorisches Referendum rechtlich nicht als notwendig. Allerdings schaffe das Freihandelsabkommen für die Schweizer Wirtschaft eine neue Lage, insbesondere durch den freien Zugang zum europäischen Grossmarkt. Dieser Schritt sei «in seinem Gehalt derart bedeutsam und beschäftig[e] einen Teil der öffentlichen Meinung in so starkem Masse, dass ohne [obligatorisches Referendum] die Diskrepanz zu den sonst üblichen Mitwirkungsrechten des Volkes bei der Bildung des Landesrechts als zu gross erscheinen müsste.»18 Die Bundesversammlung hat in der Folge ihren Genehmigungsbeschluss dem obligatorischen Referendum unterstellt.19 Volk und Stände haben die Vorlage am 3. Dezember 1972 angenommen. Das obligatorische Referendum sui generis kam hier also ein zweites Mal zum Tragen.

Auch nach der Neugestaltung des Staatsvertragsreferendums im Jahr 1977 und der Verankerung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums in Artikel 89 Absatz 5 aBV bestand die Auffassung, es gebe daneben weiterhin auch ein obligatorisches Staatsvertragsreferendum sui generis.20 Ob ein völkerrechtlicher Vertrag Verfassungscharakter aufweise und aus diesem Grund dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum zu unterstellen sei, wurde seither in einem Fall bejaht (EWR) und in einem anderen Fall zwar diskutiert, im Ergebnis aber verneint (Bilaterale II): ­

15 16

17 18 19

20

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR): Der Bundesrat war der Meinung, der EWR bedeute keinen Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft im Sinne von Artikel 89 Absatz 5 aBV (Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV). Dennoch beantragte er den Räten, das EWR-Abkommen dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Er begründete dies mit dem materiell umfassenden Anwendungsbereich des Abkommens, der unmittelbaren AnBotschaft des Bundesrates vom 4. Aug. 1919 betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund, BBl 1919 IV 541, hier 629 ff.

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22. Juli 1972 (SR 0.632.401; in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Jan. 1973).

Botschaft FHA EWG, S. 735.

Botschaft FHA EWG, S. 736 f.

Art. 2 des Bundesbeschlusses vom 3. Okt. 1972 über die Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, BBl 1972 II 1034.

Vgl. z.B. Botschaft nBV, S. 364.

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wendbarkeit zahlreicher Vertragsbestimmungen, den mit dem Beitritt verbundenen Verfassungsanpassungen und der Unterwerfung der Schweiz unter die Zuständigkeit des EFTA-Gerichtshofs und der EFTA-Überwachungsbehörde. Letztlich entziehe sich allerdings der EWR den herkömmlichen Referendumskategorien der Verfassung. Der Bundesrat habe allerdings schon bei früheren Gelegenheiten die Auffassung vertreten, dass ein Staatsvertrag dann Volk und Ständen vorgelegt werden könne, wenn gewichtige sachliche oder politische Gründe dafür sprechen. Der EWR sei «zweifellos von überragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land», und daher kam nach Meinung des Bundesrats nur das obligatorische Referendum in Frage.21 Die Bundesversammlung schloss sich dieser Auffassung an und brachte damit das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis ein drittes Mal zur Anwendung.22 Das EWR-Abkommen wurde Volk und Ständen am 6. Dezember 1992 zur Abstimmung unterbreitet und von beiden verworfen.

­

Bilaterale II: Die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen (SAA und DAA) erfüllten nach Auffassung des Bundesrats die von Praxis und Lehre entwickelten Kriterien für die Anwendung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums sui generis nicht. Diese Abkommen würden keine «tiefgreifenden Änderungen unseres Staatswesens» herbeiführen und die verfassungsmässige Ordnung nicht berühren: «Die Assoziierungsabkommen schränken weder die Souveränität unseres Landes ein noch beeinträchtigen sie die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung: Die Umsetzung der Abkommen kann im Rahmen der bestehenden Kompetenzen von Bund und Kantonen erfolgen.»23 Die Bundesversammlung unterstellte in der Folge die Abkommen dem fakultativen Staatsvertragsreferendum;24 das Stimmvolk hat die Vorlage am 5. Juni 2005 angenommen.

In den Fällen des Beitritts zum Völkerbund und des Abschlusses des FHA mit der EWG hat der Bundesrat rechtliche Überlegungen als nicht ausschlaggebend bzw. die Unterstellung unter das obligatorische Referendum als rechtlich nicht notwendig bezeichnet. Die entsprechenden Vertragswerke wurden aber als Angelegenheiten von höchster Bedeutung eingestuft, für die eine Zustimmung von Volk und Ständen einzuholen sei. Diese Begründung macht deutlich, dass das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis auch Züge eines ausserordentlichen Referendums trägt.

Für das ausserordentliche Referendum ist kennzeichnend, dass die betreffende

21 22 23

24

Botschaft EWR, S. 542.

Ziff. III des Bundesbeschlusses vom 9. Okt. 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), BBl 1992 VI 56.

Botschaft vom 1. Okt. 2004 zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5965, hier 6290. Ein im Ständerat eingebrachter Antrag auf Unterstellung dieser Abkommen unter das obligatorische Referendum unterlag mit 31 zu 6 Stimmen, AB 2004 S 728 f.

Art. 4 Abs. 1 des Bundesbeschlusses vom 17. Dez. 2004 über die Genehmigung und die Umsetzung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung an Schengen und an Dublin, BBl 2004 7149.

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Vorlage zur Abstimmung unterbreitet wird, obwohl eine entsprechende Rechtspflicht fehlt.25

1.2.4

Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» und direkter Gegenentwurf

Die Urheber der im Jahr 2009 eingereichten Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» vertraten die Ansicht, die demokratische Mitwirkung beim Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen sei ungenügend. Deshalb solle Artikel 140 Absatz 1 BV wie folgt mit einem neuen Buchstaben d ergänzt und damit das obligatorische Staatsvertragsreferendum substanziell ausgebaut werden:26 Art. 140 Abs. 1 Bst. d 1

Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: d.

die völkerrechtlichen Verträge, die: 1. eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung in wichtigen Bereichen herbeiführen, 2. die Schweiz verpflichten, zukünftige rechtsetzende Bestimmungen in wichtigen Bereichen zu übernehmen, 3. Rechtsprechungszuständigkeiten in wichtigen Bereichen an ausländische oder internationale Institutionen übertragen, 4. neue einmalige Ausgaben von mehr als 1 Milliarde Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 100 Millionen Franken nach sich ziehen.

Der Bundesrat lehnte die Initiative ab, schlug aber vor, in der Verfassung ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungsrang festzuschreiben: Was landesrechtlich in der Verfassung zu regeln sei, unterstehe obligatorisch der Abstimmung und bedürfe der Zustimmung von Volk und Ständen. Werde der gleiche Inhalt in einen völkerrechtlichen Vertrag aufgenommen, so müsse ­ in Erfüllung des Leitmotivs des Parallelismus ­ dieser Vertrag dem gleichen Genehmigungsverfahren unterworfen sein wie eine Verfassungsänderung. Dementsprechend stellte der Bundesrat der Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» den folgenden direkten Gegenentwurf gegenüber:27

25 26 27

Schmid, S. 132.

Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6966 (vorgeschlagener Verfassungstext), 6972 f. (Argumentation des Initiativkomitees).

Vgl. Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6986 f.

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Art. 140 Abs. 1 Bst. b 1

Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: b.

völkerrechtliche Verträge, die: 1. den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften vorsehen; 2. Bestimmungen enthalten, die eine Änderung der Bundesverfassung erfordern oder einer solchen gleichkommen.

Der Bundesrat hielt fest, es sei zwar nicht einfach, jene Normen zu bestimmen, die verfassungswürdig seien. Eine staatsvertragliche Norm könne aber namentlich dann verfassungswürdig sein, wenn sie Grundrechte garantiere, in die föderale Staatsstruktur eingreife oder die Behördenorganisation regle.28 Das Parlament trat auf den Gegenentwurf nicht ein. Dabei wurde argumentiert, der Gegenentwurf sei zwar präziser als die Initiative «Staatsverträge vors Volk!»; jedoch sei auch der vom Bundesrat vorgeschlagene Formulierungsvorschlag nicht hinreichend klar. Insgesamt hat aber das Parlament den Gegenentwurf vor allem aus abstimmungstaktischen Gründen verworfen. Die Volksinitiative wurde am 17. Juni 2012 ohne Gegenentwurf zur Abstimmung unterbreitet. 75,3 Prozent der Stimmenden und alle Kantone lehnten die Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» ab. 29 Die Vernehmlassungsvorlage (vgl. unten Ziff. 2.1) und der mit dieser Botschaft unterbreitete Entwurf einer Verfassungsänderung (vgl. unten Ziff. 3) tragen dieser vom Parlament geäusserten Kritik Rechnung.

1.3

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 201630 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im Bundesbeschluss vom 14. Juni 201631 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt. Die Vorlage wird dem Parlament aufgrund der überwiesenen Motion 15.3557 unterbreitet.

1.4

Erledigung eines parlamentarischen Vorstosses

Mit der Vorlage erfüllt der Bundesrat die Motion 15.3557. Dieser parlamentarische Vorstoss kann damit abgeschrieben werden.

28 29 30 31

Vgl. Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6988.

Bundesratsbeschluss vom 24. Juli 2012 über das Ergebnis der Volksabstimmung vom 17. Juni 2012, BBl 2012 7685.

BBl 2016 1105 BBl 2016 5183

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2

Vernehmlassungsverfahren

2.1

Vernehmlassungsvorlage

Bei den Beratungen des bundesrätlichen Gegenentwurfs zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» richteten sich die inhaltlichen Bedenken des Parlaments gegen die generalklauselartige Umschreibung. Damit bleibe letztlich offen, wann eine Bestimmung Verfassungscharakter habe (vgl. oben Ziff. 1.2.4). Dieser Kritik an einer Generalklausellösung trug die Vernehmlassungsvorlage Rechnung; entsprechend wurde der «Verfassungscharakter» eines völkerrechtlichen Vertrags im Verfassungstext mit einem beispielhaften Katalog konkretisiert (Kataloglösung).

Der Vorentwurf für eine Änderung von Artikel 140 der Bundesverfassung (VE-BV) wurde am 15. August 2018 mit dem folgenden Wortlaut in die Vernehmlassung geschickt:32 Art. 140 Abs. 1 Einleitungssatz (Betrifft nur den französischen Text) und Bst. b bis 1

Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: bbis. völkerrechtliche Verträge, deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert oder die Bestimmungen von Verfassungsrang in einem der folgenden Bereiche enthalten: 1. Bestand der Grundrechte, Bürgerrechte oder politische Rechte; 2. Verhältnis von Bund und Kantonen oder Zuständigkeiten des Bundes; 3. Finanzordnung; 4. Organisation oder Zuständigkeiten der Bundesbehörden.

2.2

Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Eine deutliche Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden begrüsst den Vorentwurf: Von 39 Teilnehmern sprechen sich 29 für die Vorlage aus, 4 Teilnehmer äussern (teilweise gewichtige) Vorbehalte und 6 Teilnehmer lehnen die Vorlage ab.

Ein Grossteil der Kantone unterstützt den Vorentwurf. Dieser stösst grundsätzlich auch bei den politischen Parteien auf Unterstützung (FDP, CVP, BDP, glp); indessen beantragt eine Partei erhebliche Anpassungen (SVP), und eine Partei lehnt den Vorentwurf in dieser Form ab (SP). Von den teilnehmenden Verbänden, Interessenvereinigungen und Privatpersonen halten sich Befürworter und Gegner des Vorentwurfs die Waage.

Die Befürworter begrüssen die vorgeschlagene Konkretisierung des «Verfassungscharakters» von völkerrechtlichen Verträgen. Die Formulierung verschafft nach ihrer Ansicht mehr Rechtssicherheit und verbessert die praktische Handhabung des 32

Die Vernehmlassungsunterlagen, die eingegangenen Stellungnahmen und der Bericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung sind einsehbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2018 > EJPD.

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Referendumsrechts. Positiv vermerkt wird auch die weitere Stärkung der demokratischen Legitimation des Völkerrechts.33 Kritiker und Gegner der Vorlage bemängeln, dass der «Verfassungscharakter» nicht oder nur ungenügend konkretisiert werde und zu neuen Auslegungsfragen führe.

Bestritten wird ferner ein Handlungsdruck, der eine Verfassungsänderung rechtfertigen würde.

Einzelne Bemerkungen von Vernehmlassungsteilnehmern betreffen namentlich folgende Punkte: ­

Artikel 140 Absatz 1 BV und damit die Regelung über das obligatorische Staatsvertragsreferendum soll unverändert bleiben. Stattdessen sei Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV durch Streichung der Ziffern 1­3 so anzupassen, dass sämtliche völkerrechtlichen Verträge dem fakultativen Referendum unterstehen.

­

Der Vorentwurf sei so zu ergänzen, dass auch völkerrechtliche Instrumente mit Verfassungscharakter erfasst werden, die zwar zum Zeitpunkt der Unterzeichnung rechtlich nicht bindend sind (sog. Soft Law), später aber eine Bindungswirkung entfalten könnten.

­

Viele völkerrechtliche Verträge hätten einen «Grundrechtsbezug» und müssten neu dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Aufgrund des erforderlichen Doppelmehrs (Volk und Stände) würde der Abschluss solcher Verträge erschwert bzw. verunmöglicht.

2.3

Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Die Stellungnahmen in Bezug auf den Konkretisierungsgrad der Vernehmlassungsvorlage wurden zum Anlass genommen, den Normtext punktuell anzupassen. Allerdings werden Auslegungsfragen bleiben, die für die Verfassungsbestimmungen zu den politischen Rechten typisch und bekannt und letztlich in der Behördenpraxis zu klären sind. Der Konkretisierungsgrad des «Verfassungscharakters» eines völkerrechtlichen Vertrags kann nicht beliebig erhöht werden. Das liegt nicht zuletzt an den Unschärfen des materiellen Verfassungsbegriffs.34 Bis heute gehen nämlich die Auffassungen darüber, was «verfassungswürdig» ist bzw. «Verfassungscharakter» hat, zum Teil weit auseinander (vgl. unten Ziff. 3.1.3).

Zum bestrittenen Handlungsdruck, also zur angeblich fehlenden Notwendigkeit einer Verfassungsänderung, gibt es Folgendes zu bemerken: Ungeschriebenes Recht stellt zwar eine etablierte Rechtsquelle dar. Allerdings können solche Rechtsnormen, die nicht in förmlichen Erlasstexten (in der Verfassungsurkunde) verankert und ausformuliert sind, sondern von der gerichtlichen oder politischen Praxis entwickelt 33 34

Bereits die Revision 1977 (vgl. oben Ziff. 1.2.1) und insbesondere die Revision 2003 (vgl. oben Ziff. 1.2.2) haben die demokratische Legitimation des Völkerrechts gestärkt.

Vgl. Zellweger, S. 283 und 285 f. Bisweilen wird sogar vorgebracht, ein materieller Verfassungsbegriff bestehe gar nicht, so etwa Künzli, S. 52.

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wurden, nicht im gleichen Mass wie geschriebene Normen die Erwartungen nach Rechtssicherheit und Transparenz erfüllen. Existieren dazu ­ wie etwa im Fall der politischen Rechte auf Bundesebene ­ kaum gerichtliche Klärungen, bleiben Anwendungsbereich und Tragweite von ungeschriebenem Recht vergleichsweise undeutlich. Rechtssicherheit und Transparenz ist besser gedient, wenn das ungeschriebene obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis in der Bundesverfassung verankert wird.35 Zu den erwähnten Bemerkungen vertritt der Bundesrat die folgende Haltung: ­

Die Forderung, auf die Kodifikation des obligatorischen Staatsvertragsreferendums sui generis zu verzichten und stattdessen sämtliche völkerrechtlichen Verträge dem fakultativen Referendum zu unterstellen, verfolgt eine gänzlich andere Stossrichtung als die Vernehmlassungsvorlage bzw. die auftraggebende Motion 15.3557. Allein schon deshalb kann dies hier nicht weiterverfolgt werden.

­

Unter Soft Law wird eine Vielzahl von verschiedenen internationalen Instrumenten verstanden. Diesen Erscheinungsformen ist gemeinsam, dass sie rechtlich nicht verbindlich sind, d. h. keine völkerrechtlichen Pflichten begründen («soft»), aber eine bestimmte Verhaltensweise vorgeben («law»).36 Falls ein Soft-Law-Instrument später in einem formalisierten Verhandlungsprozess in einen völkerrechtlichen Vertrag überführt und damit rechtlich verbindlich werden soll, greifen die Regeln über die Zuständigkeit zur Vertragsgenehmigung und über das Staatsvertragsreferendum. 37 Die geforderte Ergänzung von Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV ist aus diesem Grund unnötig.

­

Der blosse «Grundrechtsbezug» eines völkerrechtlichen Vertrags reicht nicht aus, um ihn dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Dazu muss vielmehr der Bestand der Grundrechte betroffen sein.

3

Grundzüge der Vorlage

3.1

Die beantragte Neuregelung

3.1.1

Konkretisierung des «Verfassungscharakters»

Der vorgeschlagene Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV soll im Sinne der sogenannten Kataloglösung den Verfassungscharakter eines völkerrechtlichen Vertrags im Verfassungstext selber näher umschreiben (vgl. oben Ziff. 2.1). Ziel eines höheren Bestimmtheitsgrads ist die bessere Voraussehbarkeit, ob ein Vertrag dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum untersteht. Auch wird dem Anliegen 35 36

37

Vgl. so bereits Bericht BR zum Po. 13.3805, Ziff. 2.2.

Vgl. Bericht des Bundesrates vom 26. Juni 2019 (Konsultation und Mitwirkung des Parlaments im Bereich von Soft Law) in Erfüllung des Postulates 18.4104, S. 4 f., einsehbar unter: www.parlament.ch > 18.4104 > Bericht in Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses.

Vgl. die Art. 166 Abs. 2 und 184 Abs. 2 BV; ferner die Art. 140 Abs. 1 Bst. b und 141 Abs. 1 Bst. d BV sowie Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis E-BV.

1254

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Rechnung getragen, dass die Tragweite der Volksrechte möglichst klar dem Verfassungstext zu entnehmen ist. Ferner bedeutet eine solche Formulierung eine Annäherung an den Bestimmtheitsgrad der heute geltenden (kasuistischen) Regelung in Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV. Die vorgeschlagene Bestimmung lautet wie folgt: Art. 140 Abs. 1 Einleitungssatz (Betrifft nur den französischen Text) und Bst. b bis 1

Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: bbis. völkerrechtliche Verträge, die Bestimmungen von Verfassungsrang enthalten oder deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert; Bestimmungen von Verfassungsrang sind namentlich Bestimmungen über: 1. den Bestand der Grundrechte, die Bürgerrechte und die politischen Rechte, 2. das Verhältnis von Bund und Kantonen und die Zuständigkeiten des Bundes, 3. die Grundzüge der Organisation und des Verfahrens der Bundesbehörden;

Leitgedanke dieser Bestimmung ist, was bereits im Zuge der Neuordnung des Staatsvertragsreferendums im Jahr 1977 festgestellt wurde: Es ist weder möglich noch erwünscht, «jeden, auch den unwahrscheinlichsten Fall in der Verfassung zum Voraus zu regeln.»38 Denn auf Verfassungsebene sind Rechtsbegriffe mit teilweise erheblichem Konkretisierungsgrad verbreitet. Sie ermöglichen einzelfallgerechte Entscheidungen, Präzisierungen und Weiterentwicklungen der Behördenpraxis.

3.1.2

«Differenzierte Überführung» ins geschriebene Recht

In den Materialien zu den bisher dem ungeschriebenen obligatorischen Referendum sui generis unterstellten Vertragswerken wird der Anwendungsbereich dieses Volksrechts wie folgt umschrieben:39 Ein völkerrechtlicher Vertrag ist dann dem Referendum sui generis zu unterstellen, wenn er entweder tiefgreifend in die verfassungsrechtliche Ordnung eingreift, eine grundsätzliche Änderung der schweizerischen Aussenpolitik mit sich bringt oder sehr bedeutende sachliche oder politische Gründe dafür sprechen.

Diese drei Anwendungsfälle sollen indessen nicht unbesehen ins geschriebene Recht überführt werden: ­

38 39

Von einem (tiefgreifenden) Eingriff in die verfassungsrechtliche Ordnung ist stets dann auszugehen, wenn eine Bestimmung eines völkerrechtlichen Vertrags «Verfassungscharakter» hat (vgl. dazu sogleich Ziff. 3.1.3). In einem Botschaft Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, S. 1159.

Vgl. Brunner, S. 62 mit Hinweis auf die Botschaft EWR, S. 541 f. und die Botschaft FHA EG, S. 735 ff.

1255

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solchen Fall greift das obligatorische Staatsvertragsreferendum; dieser Anwendungsfall ist ins geschriebene Verfassungsrecht zu überführen.

­

Eine Änderung der schweizerischen Aussenpolitik, selbst wenn sie grundsätzlicher Natur ist, sollte für sich alleine noch nicht zur Anwendung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums führen. Erst wenn ein völkerrechtlicher Vertrag Bestimmungen enthält, die eine Änderung der Bundesverfassung erfordern (beispielsweise eine Ergänzung der in Art. 54 Abs. 2 BV verankerten Ziele der schweizerischen Aussenpolitik) oder einer solchen gleichkommen, fällt das obligatorische Staatsvertragsreferendum (nach Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis E-BV) in Betracht. Dieser Anwendungsfall soll demnach in differenzierter Weise ins Verfassungsrecht überführt werden.

­

Es ist vorstellbar, dass ein völkerrechtlicher Vertrag zwar keinen Verfassungscharakter hat, aber trotzdem vorgebracht wird, aufgrund seiner herausragenden politischen Bedeutung sei er im Rahmen einer obligatorischen Abstimmung Volk und Ständen zur Genehmigung zu unterbreiten (vgl. oben Ziff. 1.2.3). Dieser Anwendungsfall soll nicht ins geschriebene Recht überführt werden. Andernfalls würde das obligatorische Staatsvertragsreferendum auch Züge eines ausserordentlichen Referendums tragen (vgl. dazu bereits oben Ziff. 1.2.3). Ausserdem würde mit einem solchen Ermessenselement ein Ziel der Überführung ins geschriebene Verfassungsrecht, nämlich die bessere Voraussehbarkeit und Handhabbarkeit des obligatorischen Staatsvertragsreferendums, teilweise wieder unterlaufen.

3.1.3

Verfassung im formellen und im materiellen Sinn

Herkömmlich werden die Begriffe «Verfassung im formellen Sinn» und «Verfassung im materiellen Sinn» unterschieden.40 Zur Verfassung im formellen Sinn (auch: formelles Verfassungsrecht) gehören alle Rechtssätze, die im Verfahren der Verfassungsgebung erlassen worden sind; auf die Wesentlichkeit des Inhalts (Verfassungswürdigkeit) kommt es nicht an.

Demgegenüber stellt der Begriff der Verfassung im materiellen Sinn (auch: materielles Verfassungsrecht) auf den Inhalt der Verfassungsrechtssätze ab. Er umfasst alle Rechtssätze, die als Grundlage der rechtsstaatlichen und demokratischen Staatsordnung in die Verfassung gehören und damit «verfassungswürdig» sind oder eben «Verfassungscharakter» haben. Die Meinungen über den «richtigen» Inhalt der Verfassung gehen allerdings auseinander. Welche Normen in die Verfassung gehören und welche nicht, hängt wesentlich vom Verfassungsverständnis ab ­ das heisst von den Funktionen, die eine Verfassung erfüllen soll. Dementsprechend lässt sich die Verfassung im materiellen Sinn nicht mit gleicher Zuverlässigkeit einkreisen wie die Verfassung im formellen Sinn.

In der Bundesverfassung verankerte Bestimmungen (formelles Verfassungsrecht) sind in aller Regel auch von ihrem Gehalt her verfassungswürdig (materielles Verfassungsrecht). Eine Überschneidung ist allerdings nicht in jedem Fall zwingend.

40

Vgl. dazu und zum Folgenden Tschannen, § 3 N. 6­12.

1256

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Denn es gibt formelles Verfassungsrecht, das an sich nicht derart fundamental ist, um es auch in der Verfassungsurkunde zu verankern; ein Bundesgesetz oder sogar eine Verordnung wären in solchen Fällen ausreichend. Das ist darauf zurückzuführen, dass allein im verfassungsgebenden demokratischen Prozess entschieden wird, welche Normen in welcher Bestimmtheit in die Verfassungsurkunde aufgenommen werden sollen.41 Die Frage des Verfassungsverständnisses war bei der Totalrevision der Bundesverfassung elementar. Damals wurden die folgenden zentralen Regelungsbereiche der Bundesverfassung benannt:42 ­

Garantie der grundsätzlichen Rechtsstellung des Individuums: Die rechtsstaatliche Verfassung hat die Aufgabe, die Rechte und Freiheiten der im Staat lebenden Personen zu gewährleisten. Diese Aufgabe übernehmen die Grundrechte und die Garantien der politischen Rechte.

­

Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen: Die Bundesverfassung bezeichnet die Kompetenzen und Aufgaben des Bundes und bestimmt damit zugleich die Grenzen seiner Handlungsbefugnisse.

­

Festlegung der Staatsorganisation: Die Verfassung setzt die obersten Staatsorgane ein, regelt deren Zuständigkeiten und ­ in den Grundzügen ­ die Verfahren, in denen Recht erlassen und durchgesetzt wird.

Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV benennt diese Regelungsbereiche und knüpft sowohl an den materiellen als auch an den formellen Verfassungsbegriff an (vgl. für Näheres unten Ziff. 4).

3.1.4

Einordnung in die bestehende Systematik von Artikel 140 Absatz 1 BV

Das obligatorische Staatsvertragsreferendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter wird im neuen Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV eingeführt. Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV zum obligatorischen Referendum über den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften bleibt unverändert. Es sollen also weiterhin diese zwei weitreichenden und bedeutsamen Konstellationen ausdrücklich im Verfassungstext erwähnt bleiben, auch wenn ein entsprechender Beitritt für gewöhnlich auch die Kriterien nach Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV erfüllen dürfte.

Künftig würde also Artikel 140 Absatz 1 BV alle Fälle des obligatorischen Referendums mit erforderlichem Doppelmehr zusammenfassen und Artikel 140 Absatz 2 BV die Fälle des obligatorischen Referendums mit erforderlichem Volksmehr.

41 42

Vgl. Tschannen, § 3 N. 16.

Vgl. Botschaft nBV, S. 13 f.; ähnlich auch die Kategorisierung bei Häfelin/Haller/Keller/ Thurnherr, N. 21.

1257

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3.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Mit der unterbreiteten Vorlage ist, wenn überhaupt, mit einer höchstens geringfügigen Zunahme der Abstimmungsgegenstände zu rechnen. Ein transparentes, gut handhabbares Referendumssystem ist ein zentraler Pfeiler des demokratischen Rechtsstaats Schweiz. Die Aufgabe steht damit in einem vertretbaren Verhältnis zum (allfälligen) finanziellen Aufwand, der bei der Organisation und Durchführung einer (obligatorischen) Volksabstimmung anfällt.

3.3

Umsetzungsfragen

Ein Ausführungsgesetz zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter ist nicht notwendig. Auch «technische Anpassungen» im Gesetzesrecht wären insoweit entbehrlich, als namentlich weder Artikel 58 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 197643 über die politischen Rechte (BPR) noch Artikel 81 Absatz 1 Buchstabe c des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200244 (ParlG) zu ändern wären.

Die neue Verfassungsbestimmung würde mit der Annahme durch Volk und Stände in Kraft treten (Art. 195 BV). In einem laufenden Verfahren zur Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrags wäre der Zeitpunkt des Genehmigungsbeschlusses der Bundesversammlung massgebend. Ist in diesem Zeitpunkt auch Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV in Kraft, so wäre diese neue Bestimmung anwendbar für den Entscheid, ob der betreffende Vertrag dem obligatorischen Referendum untersteht.

4

Erläuterungen zu Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV

Einleitungssatz Mit dem Begriff der «Bestimmungen von Verfassungsrang» besteht in einer ersten Konstellation eine Anbindung an die Verfassung im materiellen Sinn: Ein von der Bundesversammlung genehmigter völkerrechtlicher Vertrag mit Bestimmungen, die im Falle innerstaatlicher Rechtsetzung aufgrund ihres Gehalts in die Bundesverfassung aufgenommen würden und somit «verfassungswürdig» sind, untersteht dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum. Dabei ist nicht entscheidend, ob die betreffenden Bestimmungen im völkerrechtlichen Vertrag direkt anwendbar (selfexecuting)45 sind oder nicht und ob sie rechtsetzenden Charakter haben.

Üblicherweise, aber nicht notwendigerweise, gibt es eine Überschneidung zwischen formellem und materiellem Verfassungsrecht (vgl. oben Ziff. 3.1.3). Volk und Ständen werden deshalb in einer zweiten Konstellation völkerrechtliche Verträge zur 43 44 45

SR 161.1 SR 171.10 Vgl. zu diesem Begriff den Bericht Völkerrecht/Landesrecht, Ziff. 5.3.

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Abstimmung unterbreitet, «deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert». Diese Wendung bringt die Anbindung an die Verfassung im formellen Sinn zum Ausdruck. So enthalten beispielsweise die schwergewichtig in den Artikeln 54­125 BV verankerten Bundeskompetenzen teilweise auch recht detaillierte inhaltliche Vorgaben für die Ausführung im Bundesgesetz (vgl. z. B. Art. 95 Abs. 3 Bst. a­d, Art. 121 Abs. 3­6 und Art. 121a BV). Falls der beabsichtigte Vertragsschluss mit solchen verfassungsrechtlichen Vorgaben im Konflikt steht, untersteht der Vertrag schon aus diesem Grund dem obligatorischen Referendum.

Der Einleitungssatz enthält mithin ein formelles Kriterium (die Vertragsumsetzung erfordert eine Verfassungsänderung) und ein materielles Kriterium (der Vertrag enthält Bestimmungen von Verfassungsrang). Dabei kann ein Vertrag entweder nur das formelle oder nur das materielle Kriterium oder aber gleichzeitig beide Kriterien erfüllen. In allen diesen Fällen löst der betreffende Vertrag das obligatorische Referendum aus.

Bereits der Gegenentwurf zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» fusste auf diesem Konzept: Laut dem damals vorgeschlagenen Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 2 BV sollten Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrags das obligatorische Referendum auslösen, die «eine Änderung der Bundesverfassung erfordern» (formelles Kriterium) oder «einer solchen gleichkommen» (materielles Kriterium). Auch Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV stellt auf dieses Konzept ab. Demnach unterstehen dem fakultativen Staatsvertragsreferendum diejenigen völkerrechtlichen Verträge, die «wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten» oder «deren Umsetzung den Erlass [bzw. die Änderung oder Aufhebung] von Bundesgesetzen erfordert.» Weiterhin möglich bleibt ein Vorgehen nach Artikel 141a Absatz 1 BV. Danach kann die Bundesversammlung die Verfassungsänderungen, die der Umsetzung eines (ohnehin) obligatorisch referendumspflichtigen völkerrechtlichen Vertrags dienen, in den gleichen Genehmigungsbeschluss aufnehmen («Gesamtpaket»). In den Anwendungsbereich von Artikel 141a Absatz 1 BV fallen freilich nur völkerrechtliche Verträge, die nach den allgemeinen Regeln dem obligatorischen Referendum unterstehen. Die zweite Konstellation stellt klar, dass ein völkerrechtlicher Vertrag auch
dann dem obligatorischen Referendum untersteht ­ und folglich Teil des «Gesamtpakets» sein kann ­, wenn er zwar selber keine Bestimmungen von Verfassungsrang enthält, aber seine Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert.

Ziff. 1­3 Die auf den Einleitungssatz folgende Aufzählung in den Ziffern 1­3 nennt drei typische Bereiche, in denen Regelungen grösstenteils auf Verfassungsstufe erfolgen (vgl. oben Ziff. 3.1.3). Mit diesem beispielhaften Katalog werden die «Bestimmungen von Verfassungsrang» direkt im Verfassungstext näher eingegrenzt. Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis E-BV funktioniert somit als Konkretisierungshilfe für die Verfassungspflichtigkeit gewisser Materien ­ vergleichbar mit Artikel 164 BV, der als Konkretisierungshilfe für die Gesetzespflichtigkeit funktioniert. Der Einleitungssatz macht deutlich, dass der Katalog nicht abschliessend ist. So kann beispielsweise ein völkerrechtlicher Vertrag Bestimmungen enthalten, die nach landesrechtlichen 1259

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Massstäben zu den Grundprinzipien der Finanzordnung zählen, 46 sodass er aus diesem Grund Verfassungsrang hat. Ferner kann ein völkerrechtlicher Vertrag Bestimmungen enthalten, die zwar nach herkömmlicher Betrachtung nicht zu den drei zentralen Regelungsbereichen der Bundesverfassung zählen (vgl. oben Ziff. 3.1.3), aber trotzdem Verfassungscharakter haben, weil sie derart grundlegend sind.

Das obligatorische Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter ist in das bestehende Referendumssystem einzubetten. Dadurch bleibt die Tragweite des fakultativen Staatsvertragsreferendums gemäss Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV grundsätzlich unverändert. Völkerrechtliche Verträge, die nach heutiger Praxis dem fakultativen Referendum unterstellt werden, bleiben (bei gleichartigem Inhalt) auch künftig in aller Regel bloss fakultativ referendumspflichtig.

Ziff. 1 Die Formulierung erfasst die Garantien der grundsätzlichen Rechtsstellung des Individuums und stellt weitgehend auf die bestehende Begrifflichkeit der Bundesverfassung ab: «Grundrechte» und «Bürgerrechte» sind Begriffe, die auch in der 1. und 2. Kapitelüberschrift des 2. Titels der Bundesverfassung aufgeführt sind. Sie decken inhaltlich den Grundrechtskatalog (Art. 7­36 BV) und die Verfassungsgrundlagen des Schweizer Bürgerrechts ab (Art. 37­40 BV). Obwohl der Begriff der «politischen Rechte» ebenfalls in der Kapitelüberschrift zu den Art. 37­40 BV enthalten ist, sind die allgemeinen Bestimmungen der politischen Rechte und die Bestimmungen über die Volksrechte (Initiative und Referendum) nicht gebündelt an einer Stelle, sondern an mehreren Stellen in der Bundesverfassung verankert (insb. in den Art. 34, 51, 136­142 sowie Art. 149 f. BV).

Im monistischen System der Schweiz wird das Völkerrecht mit seinem Inkrafttreten Teil des Landesrechts.47 Der «Bestand der Grundrechte» nach Ziffer 1 erfasst folglich sowohl Grundrechte der Bundesverfassung als auch solche, die ihre Grundlage (nur) in einem für die Schweiz gültigen völkerrechtlichen Vertrag haben.

Die Option der Anerkennung neuer ungeschriebener Grundrechte durch das Bundesgericht besteht auch nach der im Jahr 1999 erfolgten Totalrevision und dem damit verbundenen Bemühen, den Bestand der Grundrechte im Katalog der Artikel 7­36 BV abzubilden. Dementsprechend ist es im Anwendungsfall unerheblich, ob das betreffende Grundrecht im geschriebenen oder im ungeschriebenen Verfassungsrecht verankert ist.

46

47

In der Vernehmlassungsvorlage war die «Finanzordnung» noch im Verfassungstext selber ausdrücklich verankert (Art. 140 Abs. 1 Bst. bbis Ziff. 3 VE-BV). Im vorliegenden Entwurf wird darauf verzichtet. Zum einen, weil dieser Begriff den Verfassungscharakter eines völkerrechtlichen Vertrags kaum zusätzlich zu konkretisieren vermag. Zum anderen, weil verfassungsrechtliche Bestimmungen über die «Finanzordnung» auch Bundeskompetenzen enthalten, die bereits unter Artikel 140 Abs. 1 Buchstabe bbis Ziffer 2 E-BV fallen könnten (vgl. unten Ziff. 4).

Bericht Völkerrecht/Landesrecht, Ziff. 8.2.

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Völkerrechtliche Verträge, welche die Schweiz binden, weil sie in den dafür vorgesehenen landesrechtlichen Verfahren genehmigt wurden, können den heute im Landesrecht geltenden Grundrechtskatalog erweitern oder bestehende Grundrechte inhaltlich wesentlich weiterentwickeln. Solche Verträge betreffen im Sinne von Ziffer 1 den Bestand von Grundrechten. Ein völkerrechtlicher Vertrag kann auch dann den Bestand von Grundrechten betreffen, wenn er ­ in umgekehrter Richtung ­ den Grundrechtskatalog oder den persönlichen oder sachlichen Schutzbereich eines bestehenden Grundrechts generell reduziert.

Hat ein völkerrechtlicher Vertrag zwar einen Grundrechtsbezug, betrifft er aber nicht den Bestand von Grundrechten, soll das obligatorische Referendum nicht zum Tragen kommen. Gemeint sind vor allem zwei Vertragstypen: Erstens solche, die im Zuge ihrer Anwendung zu einem Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts führen können (vgl. auch Art. 164 Abs. 1 Bst. b BV: Einschränkungen von verfassungsmässigen Rechten sind gesetzespflichtig). Als Beispiel kann hier auf Verträge hingewiesen werden, welche die zwangsweise Übergabe einer gesuchten Person durch den ersuchten Staat regeln (Auslieferungsabkommen), oder auf Verträge über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden einzelner Staaten. Zweitens geht es um Verträge, die das Verfahren zur Geltendmachung grundrechtlicher Ansprüche regeln. So wie im Landesrecht solche Verfahren auf Gesetzesstufe geregelt sind, könnte etwa die Anpassung von Verfahrensbestimmungen in einem Menschenrechtsvertrag (weiterhin) dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden. Bei zwei völkerrechtlichen Verträgen mit Grundrechtsbezug aus der jüngeren Zeit wurde die Unterstellung unter das fakultative Staatsvertragsreferendum als hinreichend angesehen, und an einer solchen Beurteilung dürfte auch nach Einführung der neuen Bestimmung zum obligatorischen Staatsvertragsreferendum festgehalten werden:

48

49

­

Das von der Bundesversammlung am 18. März 2016 genehmigte Protokoll Nr. 15 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)48 führt zu Änderungen am Kontrollmechanismus (Organisation und Verfahren des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) und damit am Text der EMRK.

Es enthält rechtsetzende Bestimmungen, die wichtig sind, weil sie Zuständigkeiten festlegen, Rechte von Personen betreffen sowie institutionelle und verfahrensrechtliche Fragen des Gerichtshofs regeln. Innerstaatlich müssten derartige Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes erlassen werden (Art. 164 Abs. 1 Bst. g BV), und dementsprechend ist dieser völkerrechtliche Vertrag gestützt auf Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV dem fakultativen Referendum unterstellt worden.

­

Das dritte Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention49 ist prozeduraler Natur und enthält verschiedene Kontrollelemente: ein individuelles Mitteilungsverfahren, ein zwischenstaatliches Mitteilungsverfahren und ein Untersuchungsverfahren. Namentlich verleiht es Einzelpersonen das Recht, gegen Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 über die Änderung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BBl 2015 2359 (Vertragstext) und 2016 2125 (Bundesbeschluss).

Fakultativprotokoll vom 19. Dez. 2011 über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren; SR 0.107.3; in Kraft getreten für die Schweiz am 24. Juli 2017.

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die Schweiz beim Ausschuss für die Rechte des Kindes eine Mitteilung betreffend die Verletzung von Konventionsrechten einzureichen. Die Schweiz ist zwar nicht an die Auffassungen und Empfehlungen des Ausschusses gebunden, die Behörden haben jedoch verbindliche Mitwirkungspflichten. Das Fakultativprotokoll enthält somit wichtige rechtsetzende Bestimmungen und wurde aus diesem Grund dem fakultativen Referendum unterstellt.50 Anderes würde aber gelten für Zusatzprotokolle zur EMRK, welche den Katalog der EMRK-Garantien erweitern und den «Bestand der Grundrechte» der Bundesverfassung betreffen. Heute hat die Schweiz drei solche Zusatzprotokolle nicht ratifiziert, nämlich die Zusatzprotokolle 1, 4 und 12. Eine Übernahme dieser Zusatzprotokolle könnte, jedenfalls wenn ohne Vorbehalte realisiert, vom vorgeschlagenen Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis Ziffer 1 BV erfasst und somit dem obligatorischen Referendum unterstellt werden.51 Gemäss Ziffer 1 können auch «Bestimmungen über die Bürgerrechte» Verfassungsrang aufweisen. Die Verfassungsgrundlagen des Schweizer Bürgerrechts sind in den Art. 37­40 BV konzentriert. Dazu gehört beispielsweise der Grundsatz des dreifachen Bürgerrechts (Art. 37 Abs. 1 BV). Im Übrigen betreffen die Artikel 38­40 BV, obwohl sie nicht im 3. Titel der Bundesverfassung bei den Vorschriften über «Bund, Kantone und Gemeinden» eingeordnet sind, vor allem die bundesstaatliche Kompetenzverteilung im Bereich der Bürgerrechte (vgl. dazu auch die nachfolgende Kommentierung zu Ziff. 2). Aufgrund des Schweizer Bürgerrechts ergeben sich besondere verfassungsmässige Rechte und Pflichten. So stehen beispielsweise die politischen Rechte in Bundessachen nur Schweizerinnen und Schweizern zu (Art. 136 Abs. 1 BV).52 «Bestimmungen über die Bürgerrechte» dürften demnach nur höchst selten eine Bedeutung aufweisen, die sie auf die Stufe der Bundesverfassung hebt. In aller Regel haben sie bestenfalls Gesetzesrang ­ das obligatorische Referendum käme dementsprechend nicht zum Tragen.

Schliesslich erwähnt Ziffer 1 auch die «politischen Rechte». Dieser Begriff zielt auf die Gesamtheit der durch die Verfassung vermittelten Mitwirkungsbefugnisse der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, konkret namentlich auf das aktive und passive Wahlrecht, auf die Teilnahme an eidgenössischen Abstimmungen sowie auf das Recht,
Verfassungsinitiativen und Referenden in Bundesangelegenheiten zu ergreifen und zu unterzeichnen.53 Verfassungsrang haben Art und Umfang der politischen Rechte. Diese Vorgaben bedürfen allerdings einer näheren gesetzlichen Normierung; den entsprechenden Gesetzgebungsauftrag erteilt Artikel 39 Absatz 1 BV (vgl. auch 50

51

52

53

Botschaft des Bundesrates vom 11. Dez. 2015 zur Genehmigung des Fakultativprotokolls vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 betreffend ein Mitteilungsverfahren, BBl 2016 217, hier 243.

Beim Zusatzprotokoll 1: das Recht auf freie und geheime Wahlen; beim Zusatzprotokoll 4: Freizügigkeit im Sinne der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb eines Vertragsstaates; beim Zusatzprotokoll 12: allgemeines Diskriminierungsverbot, das umfassender verstanden wird als in Art. 8 Abs. 2 BV.

Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben ferner das Recht auf Niederlassungsfreiheit (Art. 24 BV) und dürfen nicht aus der Schweiz ausgewiesen oder gegen ihren Willen an eine ausländische Behörde ausgeliefert werden (Art. 25 Abs. 1 BV). Schweizer Männer sind verpflichtet, Militärdienst oder, sofern die gesetzlichen Bedingungen erfüllt sind, zivilen Ersatzdienst zu leisten (Art. 59 Abs. 1 BV).

Wyttenbach / Wyss, in: BS-BV-Kommentar, Art. 164 N. 24.

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Art. 164 Abs. 1 Bst. a BV, wonach die grundlegenden Bestimmungen über die Ausübung der politischen Rechte in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind).

Bestimmte Entscheidungen über die Ausübung der politischen Rechte werden freilich bereits auf Stufe Verfassung vorweggenommen (vgl. z. B. Art. 39 Abs. 2 und 3 BV). Letztlich bleibt die Abgrenzung mit Schwierigkeiten verbunden, ob einzelnen Bestimmungen über die (Ausübung der) politischen Rechte materiell Verfassungsoder Gesetzesrang zukommt.54 Immerhin kann hier Ähnliches festgestellt werden, wie im Bereich des Bürgerrechts: Bestimmungen über die politischen Rechte dürften nur selten Verfassungsrang aufweisen.

Ziff. 2 Zu den zentralen Verfassungsthemen gehört die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen. Ein völkerrechtlicher Vertrag ist auch dann dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, wenn er das «Verhältnis von Bund und Kantonen oder Zuständigkeiten des Bundes» betrifft. Gemeint sind damit zunächst Änderungen im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen, wie es im 1. Kapitel des 3. Titels BV geregelt ist. Bei den entsprechenden Bestimmungen (Art. 42­53 BV; vgl. auch Art. 3 BV) handelt es sich um eine Art «Allgemeiner Teil» über das Verhältnis von Bund und Kantonen (Maximen des schweizerischen Föderalismus). 55 Völkerrechtliche Verträge enthalten in aller Regel keine Bestimmungen in der Art solcher Maximen. Indessen sind in der Staatsvertragspraxis namentlich bereits folgende Konstellationen vorgekommen:

54 55 56 57

­

«Föderalismusklausel»: Beispielsweise enthält Artikel 35 des Übereinkommens vom 17. Oktober 200356 zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes spezifische Regeln für «Bundesstaatliche oder nicht einheitsstaatliche Verfassungssysteme». Der Bundesrat führte zu dieser Bestimmung aus:57 «Diese [...] Klausel stellt eine ausdrückliche Anerkennung der internen Kompetenzverteilung in föderativen Staaten dar. Wenn es, gestützt auf die interne Kompetenzverteilung, den Kantonen obliegt, Massnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens zu ergreifen, informiert der Bund die kantonalen Behörden über die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens und empfiehlt ihnen ihre Umsetzung. Die Klausel hat dagegen keinen Einfluss auf die Kompetenz des Bundes, das Übereinkommen zu ratifizieren, die sich aus Artikel 54 BV ergibt.» ­ Sofern also solche Verträge die bestehende Kompetenzverteilung unberührt lassen, wären sie vom neuen obligatorischen Staatsvertragsreferendum ausgenommen.

­

Errichtung zentraler Behördenstrukturen: Enthält ein völkerrechtlicher Vertrag eine solche Vorgabe, sind Konflikte mit der kantonalen Organisationsautonomie, wie sie von Artikel 47 Absatz 2 BV gewährleistet wird, grundsätzlich denkbar. Solche Konflikte können aber in der Regel durch geeignete Umsetzungsmassnahmen vermieden werden. Als Beispiel hierfür dient das Vgl. dazu Tschannen, in: SG-BV-Kommentar, Art. 164 N. 16.

Biaggini, Vorbemerkungen zu BV 42­53 N. 20.

SR 0.440.6; in Kraft getreten für die Schweiz am 16. Okt. 2008.

Botschaft des Bundesrates vom 21. Sept. 2007 zum Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes, BBl 2007 7251, hier 7274.

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Haager Übereinkommen vom 29. Mai 199358 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Adoption. Anlässlich des Beitritts der Schweiz stellte sich die Frage, wo und wie die vom Übereinkommen verlangte Zentralbehörde anzusiedeln wäre. Der Bundesrat hatte ­ auch aus föderalistischen Überlegungen ­ eine Aufteilung der Zentralstellenfunktion auf Bund und Kantone vorgeschlagen.59 Eine Veränderung der Kompetenzverteilung war damit nicht verbunden.

Das umfangreiche 2. Kapitel des 3. Titels der Bundesverfassung begründet in den Artikeln 54­125 zahlreiche Bundeskompetenzen, oft verbunden mit inhaltlichen Vorgaben an den Bundesgesetzgeber. Namentlich im nachfolgenden 3. Kapitel über die Finanzordnung (Art. 126­135 BV) sind weitere Bundeskompetenzen verankert.

Ein völkerrechtlicher Vertrag, der dem Bund direkt Befugnisse einräumt, die von Verfassungs wegen bisher den Kantonen zugestanden sind, oder der anderweitig den Handlungsspielraum der Kantone erheblich begrenzt, wäre gestützt auf Ziffer 2 dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Aus völkerrechtlicher Optik ist es aber in der Regel unerheblich, auf welcher Staatsebene die Vertragspflichten erfüllt werden. Völkerrechtliche Verträge sind in diesem Sinne meistens «föderalismusblind», weil sich die Vertragspflichten an die Eidgenossenschaft als Völkerrechtssubjekt richten. Allerdings gibt es durchaus auch Beispiele von Staatsverträgen, welche die föderale Aufgabenverteilung und die Zuweisung von Handlungsbefugnissen zum Thema haben. Das betrifft beispielsweise das Europäische Rahmenübereinkommen vom 21. Mai 198060 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften. Der Bundesrat war damals allerdings der Meinung, dass das Rahmenübereinkommen keine Kompetenzverschiebung bewirke. 61 Auch künftig dürfte es kaum vorkommen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag selber eine Bestimmung von Verfassungsrang enthält, welche die geltende Kompetenzverteilung ändern würde. Eher denkbar sind Verträge, welche die Schweiz in einem bestimmten Sachbereich zu einer Kompetenzverlagerung oder -verschiebung verpflichten. Erfordert seine Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung, so untersteht der Vertrag dem obligatorischen Referendum.

Ziff. 3 Ziffer 3 bildet den dritten zentralen Regelungsbereich der Bundesverfassung ab,
nämlich die Festlegung der Staatsorganisation. Die verwendeten Begriffe entstammen dem 5. Titel der BV («Bundesbehörden») und den Abschnittstiteln («Organisation» und «Verfahren») des 2. und 3. Kapitels (das 4. Kapitel über das «Bundesge58 59

60 61

SR 0.211.221.311; in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Jan. 2003.

Vgl. zu näheren Begründung die Botschaft des Bundesrates vom 19. Mai 1999 betreffend das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption sowie das Bundesgesetz zum Haager Adoptionsübereinkommen und über Massnahmen zum Schutz des Kindes bei internationalen Adoptionen, BBl 1999 5795, hier 5810 f.; ferner auch Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6989.

SR 0.131.1; in Kraft getreten für die Schweiz am 4. Juni 1982.

Botschaft des Bundesrates vom 20. Mai 1981 betreffend das Europäische Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften oder Behörden, BBl 1981 II 833, hier 837.

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richt und andere richterliche Behörden» enthält keine Abschnittstitel). Der Begriff «Bundesbehörden» umfasst die obersten Behörden des Bundes: die Bundesversammlung, den Bundesrat samt Bundesverwaltung sowie das Bundesgericht.

Der Wortlaut von Ziffer 3 ist angelehnt an denjenigen in Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe g BV. In beiden Bestimmungen umfasst der Begriff der Organisation auch die Zuweisung von Zuständigkeiten an die Bundesbehörden. Zum Verfahren der Bundesbehörden gehören beispielsweise der Geschäftsverkehr der Bundesversammlung und des Bundesrats sowie das Prozessrecht, soweit es sich vor einer Bundesbehörde abspielt.62 Bei systematischer Betrachtung der Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe bbis Ziffer 3 E-BV und Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe g BV wird Folgendes deutlich: Gewisse Entscheidungen über Organisation und Verfahren fallen auf der Stufe der Verfassung. Gemeint sind vor allem Bestimmungen, die wichtige Grundzüge der Behördenorganisation regeln.63 Verfassungsrechtlich offengelassene ­ aber immer noch im Sinne von Artikel 164 Absatz 1 zweiter Satz BV «grundlegende» ­ Fragen sind im Gesetz zu regeln.64 Oder umgekehrt: Um auf den Verfassungsrang von Bestimmungen über die Organisation und das Verfahren der Bundesbehörden zu schliessen, muss deren Bedeutung noch über das hinausgehen, was bereits gemessen an Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe g BV als «wichtig» oder «grundlegend» eingestuft wird.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

5.1.1

Anwendungsfälle

Bis heute hat es zum obligatorischen Staatsvertragsreferendum gemäss Artikel 89 Absatz 5 aBV bzw. Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV nur einen Anwendungsfall gegeben. Zum (ungeschriebenen) obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis gab es drei Anwendungsfälle (vgl. dazu oben Ziff. 1.2.1 und 1.2.3). Die hier unterbreitete Vorlage bezweckt eine «differenzierte Überführung» dieser Praxis ins geschriebene Recht (vgl. oben Ziff. 3.1.2). Das obligatorische Staatsvertragsreferendum wird also auch inskünftig aller Voraussicht nach nur in seltenen Ausnahmefällen zur Anwendung kommen (vgl. für entsprechende Beispiele das 4. Kap.).

Im Übrigen will der Bundesrat den zukünftigen Entwicklungen nicht vorgreifen und verzichtet deshalb auf Aussagen darüber, ob ein bestimmter völkerrechtlicher Vertrag, über den zurzeit Verhandlungen geführt werden oder der sich erst in der Phase von exploratorischen Gesprächen befindet, dereinst unter das neue obligatorische Referendum fallen würde.

62 63

64

Tschannen, in: SG-BV-Kommentar, Art. 164 N. 32.

Vgl. so die Stellungnahme des Bundesrates vom 2. Sept. 2015 zur Mo. 15.3557 Caroni «Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsmässigem Charakter».

Vgl. auch Tschannen, in: SG-BV-Kommentar, Art. 164 N. 16.

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5.1.2

Finanzielle Auswirkungen

Die Kosten einer Volksabstimmung werden zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden geteilt. Der Bund stellt den Kantonen die Abstimmungsvorlagen und -erläuterungen sowie die Stimmzettel zur Verfügung, während die Kantone die Abstimmung auf ihrem Gebiet durchführen und die erforderlichen Anordnungen erlassen (Art. 11 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 BPR).

Die Annahme der Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» hätte zu einer rund 30-prozentigen Zunahme der Abstimmungsgegenstände geführt und einen zusätzlichen Abstimmungstermin pro Jahr nötig gemacht. In Bezug auf den vom Parlament verworfenen Gegenentwurf zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» ging der Bundesrat davon aus, dass dieser nur zu einer geringfügigen Zunahme der Abstimmungsgegenstände geführt hätte und daher wahrscheinlich keine zusätzlichen Abstimmungstermine nötig geworden wären. Dementsprechend wurde davon ausgegangen, dass die Annahme des Gegenentwurfs nur zu «bescheidenen Zusatzausgaben» führen würde.65 Diese Einschätzungen zu den finanziellen Auswirkungen des Gegenentwurfs lassen sich grundsätzlich auf die hier unterbreitete Umsetzung der Motion 15.3557 übertragen. Ein allfälliger finanzieller Mehrbedarf kann im Rahmen der vorhandenen Ressourcen aufgefangen werden.

5.1.3

Personelle Auswirkungen

Die Überführung des ungeschriebenen obligatorischen Staasvertragsreferendums sui generis bzw. dessen spätere Handhabung kann mit den bestehenden Personalressourcen bewältigt werden.

5.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Die Vorlage hat voraussichtlich nur eine geringfügige Zunahme der Abstimmungsgegenstände zur Folge. Im betreffenden Umfang bewegen sich die Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden; sie haben den auf sie entfallenden Aufwand für die Durchführung der Abstimmung zu tragen (vgl. oben Ziff. 5.1.2).

5.3

Auswirkungen in weiteren Bereichen

In den Bereichen Volkswirtschaft, Gesellschaft und Umwelt sind offensichtlich keine Auswirkungen zu erwarten. Auch die urbanen Zentren, Agglomerationen und Berggebiete sind durch die Vorlage nicht direkt betroffen. Fragen nach den Auswirkungen der Vorlage in diesen Bereichen wurden daher nicht geprüft.

65

Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!», S. 6990 f. mit Hinweisen zu den Verwaltungskosten für die Vorbereitung, die Umsetzung und die Betreuung des Abstimmungstermins und zu den Ausgaben für die Erläuterungen und die Stimmzettel.

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Rechtliche Aspekte

6.1

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Das Landesrecht legt die für den Vertragsabschluss zuständige Behörde fest und regelt, welche völkerrechtlichen Verträge dem (fakultativen oder obligatorischen) Referendum unterstehen. Diese Vorlage betrifft nur das innerstaatliche Genehmigungsverfahren. Sie steht mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz in Einklang.

6.2

Erlassform

Nach Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe a BV unterliegen Änderungen der Bundesverfassung dem obligatorischen Referendum und werden Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet. Der Bundesrat unterbreitet der Bundesversammlung nach Artikel 163 Absatz 2 BV und Artikel 23 ParlG die für die Umsetzung der Motion 15.3557 notwendige Verfassungsänderung in der Form eines Bundesbeschlusses.

6.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

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Literaturverzeichnis Biaggini Giovanni, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2007 Brunner Babette, Das Staatsvertragsreferendum: Ein Volksrecht im Wandel, Diss. Zürich 2014 Ehrenzeller Bernhard / Schindler Benjamin / Schweizer Rainer J. / Vallender Klaus A. (Hrsg.), Die Schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Zürich / St. Gallen 2014 Häfelin Ulrich / Haller Walter / Keller Helen / Thurnherr Daniela, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 9. Aufl., Zürich 2016 Künzli Jörg, Demokratische Partizipationsrechte bei neuen Formen der Begründung und bei der Auflösung völkerrechtlicher Verpflichtungen, ZSR 2009 I, S. 47­75 Schmid Stefan G., Alte Unbekannte: Das Behördenreferendum und das ausserordentliche Referendum im kantonalen Staatsrecht, ZBl 2013, S. 127­158 Tschannen Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 4. Aufl., Bern 2016 Waldmann Bernhard / Belser Eva Maria / Epiney Astrid (Hrsg.), Bundesverfassung.

Basler Kommentar, Basel 2015 Zellweger Valentin, Die demokratische Legitimation staatsvertraglichen Rechts, in: Cottier/Achermann/Wüger/Zellweger (Hrsg.), Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht, Bern 2001, S. 251­416

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Verzeichnis mehrfach zitierter Materialien Bericht des Bundesrates vom 12. Juni 2015 (Klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht) in Erfüllung des Postulates 13.3805, einsehbar unter: www.parlament.ch > 13.3805 > Bericht in Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses; zit.: Bericht BR zum Po. 13.3805) Bericht des Bundesrates vom 19. Nov. 2014 in Erfüllung des Postulats Stöckli 13.4187 vom 12. Dez. 2013 (40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz: Erfahrungen und Perspektiven), BBl 2015 357 (zit.: Bericht EMRK) Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2010 2263 (zit.: Bericht Völkerrecht/Landesrecht) Botschaft des Bundesrates vom 1. Okt. 2010 zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)», BBl 2010 6963 (zit.: Botschaft zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!») Botschaft des Bundesrates vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1 (zit.: Botschaft nBV) Botschaft des Bundesrates vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 1 (zit.: Botschaft EWR) Botschaft des Bundesrates vom 23. Okt. 1974 über die Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, BBl 1974 II 1133 (zit.: Botschaft Neuordnung des Staatsvertragsreferendums) Botschaft des Bundesrates vom 16. Aug. 1972 über die Genehmigung der Abkommen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften, BBl 1972 II 653 (zit.: Botschaft FHA EWG) Zusatzbericht des Bundesrates vom 30. März 2011 zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2011 3613 (zit.: Zusatzbericht Völkerrecht/Landesrecht)

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