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Schweizerisches Bundesblatt.

46. Jahrgang. L

Nr. 14.

4. April 1894.

Jahresabonnement (portofrei in der ganzen Schweiz): 5 Franken.

Einrückungsgebühr per Zeile oder deren Baum 15 Rp. -- Inserate franko an die Expedition.

Drude und Expedition der Buchdruckerei Karl Stämpfli & Oie. in Bern.

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Bericht des

schweizerischen Bundesgerichtes an die Bundesversammlung Über seine Geschäftsführung im Jahre 1893.

(Vom 12. März 1894.) .

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Wir haben die Ehre, Ihnen nach Vorschrift des Art. 47 des neuen Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege über unsere Geschäftsführung im Jahre 1893 in ihren verschiedenen Richtungen Bericht zu erstatten.

A. Allgemeines.

Nachdem im Dezember 1892 das Bundesgericht auf Grundlage des Organisationsgesetzes vom 27. Brachmonat 1874 für die mit dem 1. Januar 1893 beginnende Amtsperiode neu bestellt worden war, hat dasselbe im Laufe des Berichtsjahres eine wesentliche Umgestaltung erfahren. Die Bundesversammlung hat am 22. März vorigen Jahres den ihr vorgelegten Entwurf einer neuen Organisation der Bundesrechtspflege zum Gesetz erhoben und der Bundesrat, da innert der gesetzlichen Frist die Volksabstimmung über dieses Bundesgesetz nicht verlangt worden war, gestützt auf Art. 228 desselben, am 23. Brachmonat 1893 beschlossen, es trete dasselbe mit dem 1. Oktober 1893 in Kraft. Mit diesem Zeitpunkte endigte daher, gemäß Art. 230 des neuen Organisationsgesetzes, die AmtsBundesblatt. 46. Jahrg. Bd. I.

67

1002 datier des bisherigen Bundesgerichtes und mußte zur Wahl des neuen Bundesgerichtes, dessen Mitgliederzahl von 9 auf 14 vermehrt worden ist, geschritten werden (Art. 228 ibidem). Diese Wahl hat am 27. Brachmonat vorigen Jahres stattgefunden. Infolge derselben sind sämtliche Mitglieder des frühern Bundesgerichtes in das neue Bundesgericht übergetreten und die neuen Stellen besetzt worden durch die Herren Dr. Ernil Rott von Erlach, Kantons Bern, bisheriger deutscher Bundesgerichtsschreiber, Kantonsrichter A. Bezzola von Zernetz, Kantons Graubünden, A. Cornaz, Staatsrat von Neuenbürg, Advokat Dr. J. Winkler von Luzern und Obergerichtspräsident Dr. Attenhofer von Sursee, Kantons Luzern.

Gemäß Art. 229 des neuen Organisationsgesetzes und infolge einer am 27. Juni vorigen Jahres vom Bundesrate an den unterzeichneten Präsidenten gerichteten Einladung hatte das neue Bundesgericht in der zwischen seiner Ernennung und dem Inkrafttreten dieses Gesetzes liegenden Zeit zusammen zu treten, um die ihm zustehenden Wahlen vorzunehmen und die von ihm zu erlassenden Reglements zu entwerfen. Zu diesem Zwecke fanden 3 Sitzungen, am 10. Juli, 7. September und 30. September vorigen Jahres, statt.

In der ersten Sitzung wurde eine Kommission zur Vorbereitung der zu erlassenden Reglements niedergesetzt und die Ausschreibung der sämtlichen Stellen der Bundesgerichtskanzlei beschlossen, in der zweiten Sitzung wurde der von der eingesetzten Kommission vorgelegte Entwurf e i n e s R e g l e m e n t s f ü r d a s B u n d e s g e r i c h t durchberaten und angenommen und erfolgte die Bestellung deifa ei den A b t e i l u n g e n (Art. 16 ff. des neuen Orgauisationsgesetzes). Das R e g l e m e n t für das B u n d e s g e r i c h t hatte wesentlich die Verteilung der Geschäfte zwischen den beiden Abteilungen zu regeln. Dasselbe ist abgedruckt in der Amtlichen Sammlung der eidgenössischen Gesetze n. F. Bd. XIII, S. 683 f., und wir können uns daher an dieser Stelle begnügen, hierauf zu verweisen. Die I. A b t e i l u n g des Bundesgerichts wurde bestellt aus dem Bundesgerichtspräsidenten und den Bundesrichtern Weber, Soldan, Soldati, Attenhufer, Winkler und Rott; die II. A b t e i l u n g aus dem Vizepräsideuten Broye und den Bundesrichtern Morel.

Stamm, Bläsi, Clausen, Cornaz und Bezzola. In dei- Sitzung vom 30. September
vorigen Jahres wurden die dem Gerichte zustehenden W a h l e n der K a n z l e i b e a m t e n , Kanzlisten und Weibel (Art. 6 und 7 Organisationsgesetz) vorgenommen. Dieselben fielen, mit Ausnahme der durch Beförderung erledigten Stelle des deutschen Bundesgerichtsschreibers, auf die bisherigen Inhaber der Stellen.

Für den zum Bundesrichter gewählten Herrn Dr. Rott wurde zum d e u t s c h e n G e r i c h t s s c h r e i b e r gewählt: Herr Dr. H. H o n e g g e r , Advokat, von Zürich. Die neu kreierte S e k r e t ä r s t e l l e

1003 wurde dem Herrn Kantonsgerichtsschreiber Dr. R. G a n z o n i in Chur übertragen. Im fernem wurde die Zahl der Kanzlisten um einen vermehrt (s. Bundesbl. 1893, IV, 377).

Die K a m m e r n für die B u n d e s s t r a f r e c h t s p f l e g e (Art. 18 Organisationsgesetz) wurden in der ersten ordentlichen Plenarsitzung des Bundesgerichtes bestellt. In der gleichen Sitzung i'anden auch die Bestätignngswahlen der beiden U n t e r s u c h u n g s r i c h t e r (Art. 10 Organisationsgesetz) statt. Wir verweisen in beiden Richtungen auf Bundesbl. 1893, IV, 444. Gleichzeitig wurde das vorgelegte K a n z l e i r e g l e m e n t , welches namentlich den Geschäftskreis der Gerichtsschreiber und Sekretäre zu ordnen hatte (Art. 8 Organisationsgesetz), genehmigt und ferner beschlossen, ein K r e i s s e h r e i b e n au die k a n t o n a l e n O b e r g e r i c h t e zur Anwendung des neuen Organisationsgesetzes zu erlassen. Dasselbe ist abgedruckt im Bundesbl. 1893, IV, 437 f.

Dagegen wurde von einer Publikation des Kanzleireglementes abgesehen, da dasselbe wesentlich nur die Geschäftsführung der Bundesgerichtskanzlei, die Pflichten der Kanzleibeamten und Angestellten des Bundesgerichtes regelt.

Wir können an diesem Orte konstatieren, daß der Übergang vom alten zum neuen Bundesgericht und die Übertragung der Geschäfte auf die beiden Abteilungen (Art. 231 Organisationsgesetz) sich glatt und geräuschlos vollzogen hat und der Fortgang der Geschäfte in keiner Weise gestört worden ist.

Dabei bemerken wir auch gerne, daß die S t a d t L a u s a n n e die infolge der Vermehrung der Zahl der Bundesrichter und Kanzleibeamten nötig gewordenen Einrichtungen im Bundesgerichtsgebäude (Art. 14 Organisationsgesetz) prompt und zur vollen Zufriedenheit des Gerichtes getroffen hat.

Das f r ü h e r e B u n d e s g e r i c h t hat bis zum 1. Oktober v. J.

69 Sitzungen gehalten. In denselben sind, wie in den Vorjahren, in der Regel sowohl Civilsachen als staatsrechtliche Streitigkeiten behaüdelt worden, sofern nicht die Civilsachen wegen ihres Umfanges die ganze Sitzung in Anspruch nahmen oder dieselben infolge E,ückzugs oder Vergleichs dahingefallen waren und daher nur staatsrechtliche Streitigkeiten zur Beurteilung verblieben.

Mit dem 1. Oktober des Berichtsjahres teilte sich das Bundesgericht gemäß Art. 16 und 21
des neuen Organisationsgesetzes in z w e i A b t e i l u n g e n mit selbständigem Geschäftskreis. Außerdem hatte das G e s a m t b und esg er i c h t zur Erledigung der in Art. 23 Organisationsgesetz bezeichneten und der ihm durch das Reglement vom 7. September 1893 zugewiesenen Geschäfte zu P l e n a r s i t z u n g e n zusammenzutreten.

1004 Bis Ende des Berichtsjahres haben -- außer den oben erwähnten, vor dem Inkrafttreten des Gesetzes abgehaltenen drei Sitzungen -- 4 P l e n a r s i t z u n g e n stattgefunden. In denselben wurde besonders über Auslieferungsbegehren entschieden. Überdies wurden aber eine Reihe von Angelegenheiten, namentlich solche, welche die innere Organisation des Gerichts betrafen, auf dem C i r k u l a t i o n s w e g e erledigt.

Die beiden A b t e i l u n g e n haben im letzten Quartal des Berichtsjahres je 22, zusammen also 44 Sitzungen gehalten. Die I. Abteilung hatte, gemäß der getroffenen Geschäftsverteilung, in diesen Sitzungen nur Civilsachen zu erledigen, während in den Sitzungen der II. Abteilung hauptsächlich staatsrechtliche Streitigkeiten, indes auch eine Reihe von Civilstreitigkeiten ihre Beurteilung fanden.

Das K a s s a t i o n s g e r i c h t hielt im Berichtsjahre 2 Sitzungen, eine vor und eine nach dem Inkrafttreten des neuen Organisationsgesetzes. Die darin behandelten Geschäfte werden unten unter dem Titel ,,Strafrechtspflege" angegeben werden.

Die K r i m i n a l k a m m e r und die A n k l a g e k a m m e r hatten im Geschäftsjahr keine Geschäfte zu behandeln.

Das durch das neue Organisationsgesetz neu geschaffene B u nd e s S t r a f g e r i c h t (Art. 18, Ziff. 3, und Art. 125 ff. Oganisationsgesetz) hat im Berichtsjahr ebenfalls keine Geschäfte erledigt, sondern lediglich eine Sitzung gehalten, um das Verfahren in einer gemäß Art. 125 Abs. 3 vom Bundesrate bei ihm anhängig gemachten Übertretung des eidgenössischen Zollgesetzes festzustellen.

B. Specieller Teil.

I. Civilrechtspflege.

Die Civilsachen. welche im Berichtsjahre beim Bundesgerichte in Behandlung waren und im Laufe desselben erledigt worden sind, zeigt folgende Tabelle:

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1. Erst- und letztinstanzlich zu beurteilende Civilsachen .

2. Rekurse gegen Entscheide eidgenössischer Schatzungskommissionen 3. Rekurse gegen Entscheide des Massaverwalters in Zwangsliquidationen von Eisenhahnen 4. Berufungen gegen Urteile kantonaler Gerichte .

5. Beschwerden in Amortisationssachen 6. Kassationsbegehren gegen Urteile kantonaler Gerichte

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22

D)

Ad i. Diese 75 Prozesse zerfallen in: 6 Prozesse gegen den Bund als Beklagten ; l Prozeß zwischen Kantonen; 33 Prozesse zwischen Kantonen einerseits und Privaten oder Korporationen anderseits; 1 Heimatlosenstreitigkeit; 3 Bürgerrechtsstreitigkeiten zwischen Gemeinden verschiedener Kantone; 2 Prozesse zwischen Eisenbahngesellschaften aus Art. 33 Abs. 4 des Bundesgesetzes über Bau und Betrieb der Eisenbahnen vom 23. Christmonat 1872; l Prozeß zwischen Eisenbahngesellschaften aus Art. 30 des nämlichen Gesetzes; 21 Prozesse betreffend Einsprache gegen Verpfändungen von Eisenbahnen;

1006 1 Prozeß gegen Emissionsbanken auf Bezahlung des Gegenwertes von teilweise durch Brand zerstörten Banknoten; 4 Prozesse, in denen das Bundesgericht als vereinbarter Gerichtsstand angerufen wurde.

Dazu kommen: 2 Revisionsgesuche gegen zwei vom Bundesgericht in Civilstreitigkeiten zwischen einem Kanton und einem Privaten erlassenen Civilurteile.

Über die Art der E r l e d i g u n g dieser Civilsachen, soweit die Erledigung im Berichtsjahre stattgefunden hat, giebt folgende Tabelle Aufschluß:

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1. Prozesse von Privaten gegen den Bund als Beklagten . . . . -- 2. Prozesse zwischen Kantonen einerseits und Privaten oder Korporationen andrerseits .

2 3. Bürgerrechtsstreitigkeiten zwischen Gemeinden verschiedener Kan1 tone 4. Einsprachen gegen Verpfändung von Eisenbahnen 2l1) 5. Prozesse gegen Emissionsbanken auf Bezahlung des Gegenwertes durch Brand beschädigter Banknoten . . -- 6. Prozesse zwischen Eisenbahn-Gesellschaften aus Art. 30 B.-Gesetz betreffend Bau und Be: trieb der Eisenbahnen -- 7. Prozesse, in denen das Bundesgericht als vereinbarter Gerichtsstand angerufen wurde . . -- 8. Revisionsgesuche .

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J ) Diese Einsprachen wurden gegenstandslos, weil über die Beklagte, die Brienzer ßothhornbahn, die Zwangsliquidation verhängt wurde.

1008 Von den 4 erledigten Prozessen gegen den B u n d betrafen die zwei wegen Inkompetenz des Bundesgerichts zurückgewiesenen die schon im letzten Jahresberichte erwähnten, von der Nordostbahn und der Gotthardbahn anhängig gemachten Steuerstreitigkeiten, in welchen die Bundesversammlung im Dezember 1892 das Bundesgericht unzuständig erklärt hatte. Durch Vergleich fand ihre Erledigung die ebenfalls im letzten Jahresberichte berührte Klage eines Nachbars der Thuner Allmend wegen Beeinträchtigung seiner Liegenschaft durch Schießübungen.

Durch Urteil wurde erledigt und, gestützt auf Art. 65 O.-R., teilweise gutgeheißen die Schadenersatzforderung eines U. Blaser, welcher auf öffentlicher Straße durch den Schlag eines der Eidgenossenschaft gehörigen Remontepferdes körperlich verletzt worden war. Das Urteil wird in der amtlichen Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheidungen, Bd. XIX Nr. 150 abgedruckt werden.

Von den 17 erledigten Prozessen zwischen Kantonen einerseits und Privaten oder Korporationen anderseits besehlugen 3 Schadensersatzforderuügcn wegen Aufhebung von Privilegien (Steuerfreiheit, Wirtschaftsrechte), i Anteil eines Landjägers an Laidergebühren, 2 Fabrikhaftpflicht, 2 Werkverträge, \ Rückforderung von Steuern wegen Nichtschuld, l Schadensersatzforderung aus schädigenden Amtshandlungen, 2 Schadensersatzfbrderungen aus andern unerlaubten Handlungen, l Kirchenbaulast, l Fischereirecht, l Eigentum an einem See, l Forderung aus Amtsbürgschaft und l Wuhrlast.

Die urteile sind, soweit sie ein allgemeines Interesse bieten, in der amtlichen Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheidungen abgedruckt.

Durch das neue Organisationsgesetz hat die Zuständigkeit des Bundesgerichtes als e r s t e u n d l e t z t e c i v i l r i c h t e r l i c h e I n s t a n z insofern eine Erweiterung erfahren, als nun gemäß Art. 52 Organisationsgesetz auch solche Streitigkeiten, in welchen das Rechtsmittel der Berufung an das Bundesgericht zulässig wäre, durch Vereinbarung der Parteien direkt beim Bundesgericht anhängig gemacht werden können. Zufolge dieser neuen Gesetzesbestimmung ist e i n e Klage dii-ekt beim Bundesgericht erhoben worden.

Unter die b e i d e n A b t e i l u n g e n haben sich diese Prozesse verteilt wie folgt: Am 1. Oktober 1893. waren anhängig 27.

Davon gingen über an die I. Abteilung 5 22

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Vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1893 gemacht 6.

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1009 Davon gelangten zur Beurteilung an die I. Abteilung . . 3 ,, ,, II.

,, . . 3 Von den 24 ins Jahr 1894 ^übertragenen Prozessen blieben anhängig bei der I. Abteilung 7

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Von diesen 24 unerledigt gebliebenen Prozessen sind je l in den Jahren 1888 und 1889 und je 2 in den Jahren 1891 und 1892, alle übrigen im Jahre 1893 anhängig gemacht worden. In dem ersten -- aus dem Jahre 1888 -- wurde vom Beklagten, nach durchgeführtem Beweisverfahren, welches infolge großer Säumigkeit eines Experten ungewöhnlich lange Zeit in Anspruch genommen hatte, die Reform erklärt. Der im Jahre 1889 anhängig gemachte Prozeß -- eine Streitigkeit zwischen Eisenbahnen aus Art. 33 Abs. 3 Bundesgesetz betreffend Bau und Betrieb der Eisenbahnen vom 23. Dezember 1872 -- war im Einverständnisse beider Parteien längere Zeit sistiert. Von den 2 aus dem Jahre 1891 übertragenen Prozessen ist der eine anfangs 1894 erledigt worden, während in dem andern, dem bekannten Streite zwischen der tessinischen Kantonalbank und dem Kanton Tessin, einerseits vorerst, nach weitläufigem, lange Zeit in Anspruch nehmendem Schriftenwechsel, die Kompetenzfrage entschieden werden mußte, und anderseits von den Parteien ein sehr umfangreiches Beweismaterial angerufen worden ist, so daß hei Berücksichtigung der übrigen beim Bundesgerichte anhängigen Geschäfte die Erledigung dieses Prozesses bisher ganz unmöglich war -- und /.war abgesehen davon, daß gemäß Art. 231 des neuen Organisationsgesetzes auch in diesem Prozesse eia anderer Instruktionsrichter bestellt werden mußte. Derselbe hat uun, nachdem er alle ihm zu Gebote stehende Zeit auf das Studium dieses Prozesses verwendet hat, die Abnahme der angetragenen Beweise, wozu auch eine Begutachtung durch Sachverständige gehört, angeordnet.

Ad 2. Die R e k u r s e gegen E n t s c h e i d e e i d g e n ö s s i s c h e r S c h a t z u n g s k o m m i s s i o n e n beschlugen auch im Berichtsjahre ausschließlich Expropriationsstreitigkeiten, welche nach dem Reglement zur Zuständigkeit des G e s a m t b u n d e s g e r i c h t e s gehören. Von den in das Jahr 1894 übergetragenen Fällen sind 13 im Jahre 1892, alle andern im Jahre 1893, und zwar zum weitaus größten Teil im letzten Drittel desselben anhäagig gemacht worden. Die erstem 13 haben indes schon im Januar d. ·/. ihre Erledigung gefunden. Die -- gegenüber dem Vorjahre -- geringere Zahl der im Berichtsjahre beim Bundesgericht anhängig gewesenen

1010 Expropriationsstreitigkeiten rührt daher, daß aus dem Jahre 1892 nur 89 solcher Streitigkeiten ins Jahr 1893 übertragen worden waren, während der Übertrag aus dem Jahre 1891 ins Jahr 1892 sich auf 158 belaufen hatte. Im Berichtsjahre selbst sind dagegen gegenüber dem Vorjahr 28 Expropriationsstreitigkeiten mehr eingegangen. Zudem sind in früheren Jahren sämtliche Rekurse, auch wenn sie die gleiche Streitigkeit beschlugen, mit besondero Ordnungsnummern versehen worden, während im Berichtsjahre jede Expropriationsstreitigkeit, in welcher beide Parteien rekurrierten, nur e i n e Ordnungsnummer erhielt. Nach dem frühern Verfahren würden die im Jahre 1893 eingegangenen Expropriationsstreitigkeiten sich um 24 vermehren, also 170 betragen.

Die Art der E r l e d i g u n g der im Berichtsjahre abgewandelten 144 Expropriationsstreitigkeiten zeigt folgende Tabelle: Rückzug der Beschwerde 20 Vergleich 4 Annahme des Antrags der Instruktionskommission . . . 111 Urteil 9 144

Ad 3. Diese Geschäfte geben zu keinen besondern Bemerkungen Veranlassung. In dem, und zwar bei der I. Abteilung anhängig gebliebenen Prozesse ist ein Beweisverfahren erforderlich, ·welches bisher nicht durchgeführt werden konnte.

Ad 4. Die B e r u f u n g e n g e g e n k a n t o n a l e U r t e i l e , gemäß Art. 56 S. Bundesgesetz betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege, betrafen, soweit sie sich überhaupt auf eidgenössisch geregelte Privatrechtsmaterien bezogen : 15 Ehescheidungen, 23 Forderungen aus Eisenbahnhaftpflicht, 26 Forderungen aus Fabrikhaftpflicht, 25 Forderungen aus unerlaubten Handlungen (Art. 50 ff. O.-R.), 3 Forderungen aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art, 70 ff.

O.-RO,

5 Eigentumsstreitigkeiten, 3 Faustpfandrecht, l Retentionsrecht, 12 Kauf, 1 Tausch, 2 Miete, 3 Pacht,

1011 8 Darleihen, 4 Dienstmiete, l Werkvertrag, 5 Mandat, 5 Kommission, 3 Geschäftsführung ohne Auftrag, 1 Bürgschaft, 2 Spiel (Differenzgeschäft) 1 ), 7 Gesellschaft, l Aktiengesellschaftsrecht, 1 Wechselrecht, 2 Firmenrecht, 4 unbenannte Verträge (3 Konkurrenzverbote, l Garantievertrag), l Lebensversicherung, l Seeversicherung, 7 Unfallversicherung, 5 Markenschutz, l Schutz der Erfindungen (Patentrecht), 3 Urheberrecht an Werken der Litteratur und Kunst, 5 Anfechtungsklagen.

C5 Die übrigen Berufungen bezogen sich entweder auf Privatrechtsstreitigkeiten, welche nicht nach eidgenössischem Rechte zu entscheiden waren (17), oder überhaupt nicht auf eigentliche Civilrechtsstreitigkeiten, sondern auf Entscheide im Schuldbetreibungsverfahren (Konkurseröffnung und Verweigerung des Rechtsvorschlages in der Wechselbetreibung), gegen welche bekanntlich das Rechtsmittel der Berufung nicht statthaft ist (4). Davon wurden 2 Berufungen gegen Rechtsöffnungsentscheide von den Rekurrenten vor dem bundesgerichtlichen Entscheide zurückgezogen.

Die Art der E r l e d i g u n g dieser Berufungen, soweit sie am Schluß des Berichtsjahres nicht pendent geblieben sind, ergiebt sich aus folgender Tabelle:

') Die Einrede des Spiels (Differenzgeschäft) wurde noch in 7 anderen Fällen geltend gemacht, jedoch als unbegründet erklärt.

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1013 Die pendent gebliebenen Berufungen rühren alle aus den beiden letzten Monaten des Berichtsjahres her.

Die U n z u l ä s a i g k e i t der Berufung folgte in 6 Fällen daraus, daß dieselbe überhaupt nicht gegen Urteile in e i g e n t l i c h e n C i v i l s t r e i t i g k e i t e n , sondern gegen l Konkurserkenntnis und 1 Verweigerung des Rechtsvorschlages in der Wechselbetreibung, oder nicht gegen H a u p t u r t e i l e , sondern gegen Vor- oder Beweisurteile (3), oder endlich nicht gegen ein le t z t instanzliches Haupturtei] (1) gerichtet war. In 16 Fällen war die Rechtsstreitigkeit nach k a n t o n a l e m Rechte und in l Falle nach a u s l ä n d i s c h e m Rechte zu entscheiden. In 9 Fällen mangelte der gesetzliche Streitwert.

In 20 Fällen erwies sieh die Bestellung eines Referenten nicht als notwendig (vergi, jetzt Art. 71 Abs. l und 2 O.-G.)Von den 33 Fällen, in welchen das Bundesgericht das kantonalgerichtliche Urteil a b g e ä n d e r t hat, beschlugen 9 Prozesse Materien aus dem eidgenössischen Obligationenrecht, 4 Ehescheidungen, 4 Prozesse aus den Fabrikhaftpflichtgesetzen, 10 aus dem Eisenbahnhaftpflichtgesetze, l Markenschutz, l Urheberrecht, l Versicherungsrecht, l Firmenrecht, l Vergleich, respektive Bestellung eines Faustpfandes, und l eine Anfechtungsklage. Ein Prozeß, in welchem das Bundesgericht das kantonalgerichtliche Urteil, gestützt auf Art. 64 Organisationsgesetz, aufgehoben und Verbesserung desselben angeordnet hatte, fand nachher durch Rückzug der Berufung seine Erledigung. A k t e n v e r v o l l s t ä n d i g u n g e n wurden auch im Berichtsjahre nicht nötig.

Das neue Organisationsgesetz hat bekanntlich die Kompetenz des Bundesgeriehtes als Berufungsinstanz in Civilsachen dadurch erweitert, daß der Streitwert, durch dessen Vorhandensein das Rechtsmittel bedingt ist, auf Fr. 2000 herabgesetzt wurde. Gestützt hierauf sind in der Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1893 2 Berufungen gegen kantonalgerichtliche Urteile ergriffen worden.

Davon mußte indes l Berufung wegen mangelnden Streitwertes unzulässig erklärt werden, so daß also die Berufungen sich wegen dieser Kompetenzerweiterung in der genannten Zeit nur um e i n e vermehrt haben.

Das s c h r i f t l i c h e Verfahren, das in vermögensrechtlichen Streitigkeiten unter Fr. 4000 zur Anwendung kommt, fand in 3 Fällen statt.

Unter die b e i d e n A b t e i l u n g e n des Bundesgerichtes vert e i l t e n sich die B e r u f u n g e n folgendermaßen:

1014 I. Abteilung. II. Abteilung.

Am 1. Oktober 1893 waren pendent 39 Davon fielen zu der I. Abteilung ,, II.

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Demnach ins Jahr 1894 übergetragen.

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Was die materielle Erledigung dieses Teils unserer Geschäfte betrifft, so verweisen wir auf die amtliche Sammlung unserer Entscheidungen (Bd. XIX), in welcher auch im Berichtsjahre sämtliche Civilurteile, welche nicht ganz ohne allgemeines Interesse sind, aufgenommen wurden. Hervorheben wollen wir lediglich das Urteil vom 9. September 1893 in Sachen Volksbank Luzern contra Stirnimann (A. S. Bd. XIX, S. 548), in welchem ausgesprochen worden ist, d a ß f ü r d i e V e r p f ä n d u n g g r u n d v e r s i c h e r t e r F o r d e r u n g e n das k a n t o n a l e Recht maßgebend sei.

Ad 5 und 6. Die beiden Entscheide werden in der amtlichen Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheidungen abgedruckt werden. Es ist darin ausgesprochen einerseits, daß das Rechtsmittel der Beschwerde in A m o r t i s a t i o n s s a c h e n nur Entscheide betreffend Kraftloserklärung a b h a n d e n g e k o m m e n e r Wechsel u. s. w., nicht auch gegen Nichtigerklärung solcher Urkunden wegen ci v i l r e c h t l i c h e r M ä n g e l derselben statthaft sei, und anderseits, daß das Rechtsmittel der K a s s a t i o n (Art. b9 Organisationsgesetz) nicht gfgen Entscheide kantonaler Kassationsgerichte, durch welche nicht über die Hauptsache entschieden worden, sondern nur gegen kantonale H a u p t u r t e i l e stattfinde, wie im französischen Texte des Gesetzes auch ausdrucklich gesagt ist.

Beide Geschäfte gehörten zur Zuständigkeit der I. Abteilung.

1015

II. Strafrechtspflege.

a. Kassationsgericht.

Zu den 2 aus dem Vorjahre übergetragenen, von den Bestraften ergriffenen Kassationsbeschwerden gegen Urteile kantonaler Gerichte, betreffend l Übertretung des Alkoholgesetzes und l Übertretung des Zollgesetzes, kamen im Berichtsjahre : 1 Kassationsbeschwerde einer kantonalen Regierung wegen Übertretung des Alkoholgesetzes, 2 Kassationsbesehwerden betreffend Übertretung des Zollgesetzes, von denen die eine von der Bundesverwaltung, die andere von den Bestraften ergriffen worden war.

Diese 5 Geschäfte fanden sämtlich im Berichtsjahre ihre Erledigung.

Von den letzteren beiden Kassationsbegehren, welche übrigens die gleiche Sache betrafen, wurde dasjenige der Bundesverwaltung gutgeheißen, dasjenige der Bestraften abgewiesen.

Die übrigen Kassationsbegehren wurden abgewiesen.

b. Bundesstrafgericht.

Bei demselben ging, wie bereits oben bemerkt, eine Klage der Bundesverwaltung gegen einen Ausländer wegen Zolldefraudation ein, welche jedoch im Berichtsjahre nicht erledigt werden konnte.

c. Die Kriminalkammer und dio Anklagekammer hatten im Berichtsjahre nicht in Thätigkeit zu treten.

III. Staatsrechtspflege.

Die s t a a t s r e c h t l i c h e n S t r e i t i g k e i t e n , welche im Berichtsjahre hierorts anhängig waren, bestanden in :

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1. Kompetenzkonflikte zwischen Bundes- und kantonalen Behörden 2. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen 3. Auslieferungen 4. Beschwerden von Privaten und Korporationen: a. wegen Verletzung der Bundesverfassung , von Bundesgesetzen und Kantonsverfassungen .

b. wegen Verletzung von Konkordaten . . . .

c. wecen VerletzungO von O Staatsverträgen . . . .

5. Streitigkeiten aus dem Bundesgesetze betreffend Rechnungswesen der Eisenbahngesellschaften Total

Diese Streitigkeiten fallen laut Reglement in den Geschäftskreis der II. Abteilung, mit Ausnahme der A u s l i e f e r u n g e n , welche zur Zuständigkeit des G e s a m t b u n d e s g e r i c h t e s gehören.

Ad i. Der aus dem Jahre 1891 übergetragene, im vorjährigen Geschäftsberichte näher bezeichnete Kompetenzkonflikt wurde seitens der tessinischen Regierung zurückgezogen. Der im Berichtsjahre vom Bundesrate anhängig gemachte Kompetenzkonflikt betraf die Kosten eines vom Bundesrate den bernischen Strafgerichten zur Beurteilung überwiesenen, nach eidgenössischem Rechte zu beurteilenden Straffalles, in welchem der Angeklagte freigesprochen und demselben Kostenersatz aus der Bundeskasse zugesprochen worden

1017 war. Der Entscheid des Bundesgerichtes ist abgedruckt in der ·amtlichen Sammlung Bd. XIX, S. 80 ff., worauf wir verweisen.

Es ist dort ausgeführt, daß es sich nicht um einen Kompetenzkonflikt, sondern um eine Beschwerde wegen Verletzung eines Bundesgesetzes handle. In der Folge hat denn auch der Bundesrat in zwei gleichen Fällen den Weg des staatsrechtlichen Rekurses ergriffen. Für die Zukunft ist nun Art. 156 Organisationsgesetz maßgebend.

Ad 2. Diese staatsrechtlichen Streitigkeiten entstanden zwischen den Kantonen Baselland und Baselstadt, St. Gallen und Aargau, Schaffhausen und Zürich. Im erstem Falle handelt es sich um das Recht zur Erhebung der Erbschaftssteuer, im zweiten um die Übertragung einer Vormundschaft. Der letzte im Berichtsjahr erledigte Fall, in welchem es sich indes nur um Erlaß einer provisorischen Verfügung handelte, betraf eine Grenzstreitigkeit.

Ad 3. Die Auslieferungen wurden verlangt: 4 von Deutschland, l von Italien und l von Frankreich. Davon wurden 5 bewilligt, welche die in den betreffenden Staatsverträgen vorgesehenen Verbrechen der Unterschlagung, der Bigamie, des Diebstahls und des Betrugs betrafen. Verweigert wurde die von Deutschland wegen Anstiftung zu Meineid in einem Prozesse wegen Majestätsbeleidigung verlangte Auslieferung, weil nicht ein von dem politischen Verbrechen der Majestätsbeleidigung unabhängiges, selbständiges, gemeines Verbrechen vorliege. Unser Urteil ist abgedruckt a. a. 0., S. 122 ff.

Auch die übrigen Entscheide betreffend Auslieferung haben, soweit sich ihr Interesse über die Beteiligten hinaus erstreckt, in die amtliche Sammlung Aufnahme gefunden. Hervorgehoben muß übrigens hier noch folgender Anstand mit Italien werden. Das Bundesgericht hatte im Jahre 1892 (s. A. S. d. bg. Entsch. Bd. XVIII, S. 195) der italienischen Regierung die Auslieferung eines Cesare Guerrini zugestanden, gestützt auf einen Verhaftsbefehl, worin dem Guerrini zur Last gelegt wurde, daß er in der Nacht vom 18./19. Januar 1892 die Legung von Sprengbomben zum Z w e c k der Bes c h ä d i g u n g b e s t i m m t e r G e b ä u d e veranlaßt habe. D e r italienische Untersuchungsrichter hatte diese Handlung als Versuch von Brandstiftung qualifiziert (Art. 301 des italienischen Strafgesetzbuches). Nach erfolgter Auslieferung wurde aber Guerrini nicht wegen dieses
Verbrechens, sondera wegen D r o h u n g mittelst Explosivstoffen und anonymen Briefen nach Art. 154 des italienischen Strafgesetzbuches bestraft. Dieser Art, 154 enthält aber keinen Verbrechensbegriff, für welchen nach dem schweizerischitalienischen Staatsvertrag die Auslieferung verlangt werden kann.

Ouerrini bestritt deshalb, daß er von den italienischen Gerichten.

Bundesblatt. 46. Jahrg. Bd. I.

68

1018 bestraft werden könne; allein das italienische Justizministerium machte geltend, der die Auslieferung begehrende Staat habe nur die Verpflichtung, den Ausgelieferten nicht wegen anderer Strafh a n d l u n g e n zu verfolgen, sei aber an den im Haftbefehl enthaltenen Verbrechensbegriff nicht gebunden. Guerrini wandte sich deshalb an den schweizerischen Bundesrat und dieser ersuchte das Bundesgericht um Mitteilung seiner Ansicht. Das Bundesgericht äußerte sich hierüber folgendermaßen : ,,In der Doktrin ist die Frage, ob die Auffassung des italienischen Ministeriums zutreffe, oder ob nicht für die Beurteilung durch den requirierenden Staat der im Auslieferungsbegehren enthaltene Deliktsbegriff bindend sein solle, kontrovers; die meisten Autoren in diesem Fache haben sich jedoch für die letztere Theorie ausgesprochen. Maßgebend ist einfach der Inhalt des betreffenden Staatsvertrages, und in dieser Hinsicht läßt der Art. 3 des schweizerisch-italienischen Auslieferungsvertragcs gar keinen Zweifel bestehen ; derselbe redet nicht von ,,andern Handlungen", welche nicht Gegenstand der Verfolgung sein dürfen, sondern er schreibt vor, daß die Verfolgung und Verurteilung nur wegen derjenigen ,,Gesetzesübertretung"' statthaft sei, wegen welcher die Auslieferung verlangt wurde. ,,Nun ist aber ebenso zweifellos, daß der Art. 154 des italienischen Strafgesetzbuches eine andere Gesetzesübertretung, d. h. einen andern Deliktsthatbestand enthält als der im Haftbefehl genannte Art. 301 ibid. ; der erstere ist denn auch in diesem Gesetz unter den Vergehen gegen die Freiheit aufgeführt, während der letztere zur Gruppe der Delikte gegen die öffentliche Sicherheit gehört. Die Ansicht des Bundesgerichtes geht also dahin, daß die italienischen Gerichte angesichts des schweizerisch-italienischen Auslieferungsvertrages nicht berechtigt waren, den Cesare Guerrini wegen des in Art. 154 des italienischen Strafgesetzbuches bezeichneten Vergehens der Drohung zu verurteilen."1 Ad 4 a. Von den Beschwerden der Privaten oder Korporationen machten 28 die Verletzung von Bestimmungen der kantonalen Verfassung, 153 die Verletzung der Bundesverfassung geltend, und zwar: 96 Beschwerden stutzten sich auf Art. 4 Bundesverfassung (Rechtsverweigerung), l Beschwerde auf Art. 31, 8 Beschwerden ,, ,, 45, 21 .

,, ,, ,, 46 (Doppelbesteuerung), l Beschwerde ,, ,, 49 Abs. 6, 1

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1019 17 Beschwerden auf Art. 58 und 59 Abs. l und 2, 4 ,, ,, fl 59 Abs. 3 (Scbuldverhaft), l Beschwerde ,, ,, 60, 1 ,, ,, ,, 2 der Übergangsbestimmungen zu der Bundesverfassung.

Auf Verletzung von B u n d e s g e s e t z e n bezogen sich 38 Beschwerden, und zwar: 5 des Bundesgesetzes über Civilstand und Ehe, 11 ,, ,, ,, die Handlungsfähigkeit, 5 ., ,, ., Verzicht auf das schweizerische Bürgerrecht, 8 ,, ,, ,, die civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen, 2 ,, ,, ,, Markenschutz, l v, ,, ., das Versicherungswesen, 4 ,,, ,, ,, Schuldbetreibung und Konkurs, l ., ,, ,, das Münzwesen, l ,, ,, ,, Organisation der Bundesrechtspflege.

Ferner l Revisionsbegehren gegen einen bundesgerichtlichen Entscheid.

Ad 4 b. Diese Beschwerde betraf das nunmehr außer Kraft getretene Erbrechtskonkordat.

Ad 4 c. Von diesen Beschwerden bezogen sich: 8 auf den Gerichtsstandsvertrag mit Frankreich, 1 ,, ,, Niederlassungsvertrag mit Deutschland, 2 ,, ,, Vertrag mit Italien betreffend Schute des geistigen Eigentums.

Ad 5. Von diesen beiden Klagen des Bundesrates wurde die eine zurückgezogen, die andere abgewiesen.

Über die Art der E r l e d i g u n g der staatsrechtlichen Streitigkeiten -- mit Ausnahme der bereits oben behandelten Kornpetenzkonflikte zwischen Bund und Kantonen und zwischen Kantonen unter sich, der Auslieferungen und der Streitigkeiten aus dem Bundesgesetze über das Rechnungswesen der Eisenbahnen --soweit dieselbe im Berichtsjahre erfolgt ist, sowie über die H e r k u n f t dieser Streitigkeiten giebt folgende Tabelle Aufschluß:

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Nichleintreten wegen Verspätung, Unverständlichkeit etc.

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Anerkennung.

Rü'ckweisung an die kantonalen Oberbehörden.

Begründet erklärt.

Abgewiesen.

Pendent geblieben.

Total.

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1021

Von den e r l e d i g t e n Geschäften fanden 136*) ihre Beurteilung vor dem I.Oktober 1893 durch das f r ü h e r e Bundesgericht, 62 n a c h dem genannten Tag durch die II. A b t e i l u n g des n e u e n Bundesgerichtes. Die ins Jahr 189£ übergetragenen Geschäfte sind sämtlich im B e r i c h t s j a h r e anhängig gemacht worden.

Von den 22 ganz oder teilweise b e g r ü n d e t erklärten Beschwerden waren 9 gegen Entscheide von Administrativbehörden, 13 gegen Entscheide von Gerichtsbehörden gerichtet und betrafen: l Reehtsverweigerung 5 Doppelbesteuerung l Niederlassung Bundesverfassung; 2 Gerichtsstand 2 Schuldvevhaft 2 Bestimmungen von Kantonsverfassungen; l den Staatsvertrag mit Frankreich Ober Gerichtsstand ; l das Münzgesetz ; 1 das Markenschutzgesetz; 2 das Bundesgesetz über civilrechtliche Verhältnisse der Niedergelassenen ; l das Bundesgesetz über Handlungsfähigkeit; 3 das Bundesgesetz über Verzicht auf das schweizerische Bürgerrecht.

Bekanntlich hat das neue Organisationsgesetz auch diesem Teile unseres Geschäftskreises eine E r w e i t e r u n g gebracht, indem dasselbe die Beschwerden wegen Verletzung der N i e d e r l a s s u n g s f r e i h e i t und der G l a u b e n s - und G e w i s s e n s f r e i h e i t dem Bundesgerichte übertragen hat. Beschwerden betreffend das letztere verfassungsmäßige Freiheitsrecht sind im Berichtsjahre nicht eingegangen, wohl aber Beschwerden wegen Verletzung der Niederlassungsfreiheit durch Verweigerung oder Entzug der Niederlassung.

Über die materielle Erledigung der staatsrechtlichen Streitigkeiten giebt die amtliche Sammlung unserer Entscheidungen Aufschluß. Hervorheben wollen wir lediglich den Entscheid vom 7. Juli 1893 in Sachen der Eheleute G o u r i e f f (Amtl. Samml.

XIX, 480 ff.), wo ausgesprochen ist, daß vorbehaltlieh abweichender Bestimmungen von Staatsverträgen die Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend die civilrechtlichen Verhältnisse der Nieder*) Von 28 ans dem Vorjahre übergetragenen und 155 bis 1. Oktober 1893 eingegangenen, zusammen also 183, staatsrechtlichen Streitigkeiten.

Nach dem 1. Oktober gingen noch 62 staatsrechtliche Geschäfte ein, worunter 3 Auslieferungsbegehren.

1022 gelassenen und Aufenthalter betreffend V o r m u n d s c h a f t , Art. 10 ff., auch Anwendung auf die in der Schweiz wohnenden Ausländer finden.

Daß die Beschwerden von M i l i t ä r p f l i c h t e r s a t z p f l i c h t i g e n , welche weder den Mililärpflichtersatz bezahlten, noch an dessen Stelle Arbeit für den Staat leisteten und deshalb von den kantonalen Behörden zu F r e i h e i t s s t r a f e verurteilt worden waren, vom Bundesgericht, gestützt auf Art. 59 Abs. 3 der Bundesverfassung, g u t g e h e i ß e n worden sind, haben wir schon im letzten Jahresberichte angeführt. In gleicher Weise haben wir die Umwandlung von Bußen, welche wegen Nichtbezahlung von S t e u e r n verhängt worden waren, in Gefängnis ale unzulässig erklärt (Amtl.

Samml. XIX, 44 und 471).

IV. Freiwillige Gerichtsbarkeit.

Unter diese Rubrik fallen übungsgemäß Beschwerden über das Verfahren der eidgenössischen Schatzungskommissionen, sowie Begehren betreffend Zwangsliquidationen von Eisenbahnen. Alle diese Geschäfte fallen laut Reglement in den Geschäftskreis des Gesamtbundesgerichtes.

Im Berichtsjahre sind eingegangen : l Beschwerde über eine Schatzungskommission, welche als unbegründet abgewiesen worden ist, und 3 Liquidationsbegehren gegen Eisenbahngesellschaften.

Die letzteren betrafen die Eisenbahngesellschaften Romont-Bulle, Monte Generoso-Bahn und Brienz Rothhorn-Bahn. Über die zuletzt genannten 2 Eisenbahnunternehmungen wurde die Zwangsliquidation verhängt, welche jedoch in beiden Fällen noch nicht gänzlich durchgeführt ist. Doch hat die Versteigerung der Monte Generoso-Bahn schon anfangs Oktober 1893 stattgefunden. Nach Beendigung derselben wird gemäß gesetzlicher Vorschrift (Art. 47 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1874) der Bundesversammlung ein einläßlicher Bericht erstattet, werden.

Der Eisenbahngesellschaft Bulle-Romont wurde gemäß Art. 17 des eitierten Gesetzes Frist angesetzt, um die rückständigen Obligationenzinse zu bezahlen. Diese Frist ging im Berichtsjahre nicht zu Ende; es hat aber im laufenden Jahre die Befriedigung der betreffenden Gläubiger stattgefunden, so daß die Liquidation dieser Eisenbahnunternehmung n i c h t stattfindet.

1023

Y. Rekapitulation und mittlere Dauer der Streitsachen.

Aus der vorstehenden Darstellung ergiebt sich, daß beim Bundesgerichte im Berichtsjahre anhängig waren: 75 Civilsachen, welche das Bundesgericht als einzige Instanz zu erledigen hatte, gegen 69 des Vorjahres, 235 Expropriationsstreitigkeiten, gegen 276 des Vorjahres, 207 Berufungen gegen kantonalgerichtliche Urteile, gegen 146 des Vorjahres, 3 Rekurse gegen Entscheide des Liquidators von Eisenbahnen, l Beschwerde in Amortisationssachen, l Kassationsbegehren in Civilsachen, 244 staatsrechtliche Streitigkeiten, gegen 252 des Vorjahres, 6 Strafrechtsfälle, gleich wie im Vorjahre, 4 Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, gegen 10 .des Vorjahres.

Summa 776, also 17 mehr als im Vorjahre.

Davon wurden erledigt : 51 erst- und letztinstanzlich zu beurteilende Civilsachen, gegen 20 des Vorjahres, 144 Expropriationen, gegen 187 des Vorjahres, · 2 Rekurse gegen Entscheide eines Eisenbahnliquidators, 192 Berufungen, gegen 124 des Vorjahres, l Beschwerde in Amortisationssachen, l Kassationsbegehren in Civilsachen, 5 Straffälle, gegen 4 des Vorjahres, 198 staatsrechtliche Streitigkeiten, gegen 224 des Vorjahres, l Geschäft der freiwilligen Gerichtsbarkeit, gegen 10 des Vorjahres.

Summa 595, somit 26 mehr als im Vorjahre, während 181 Geschäfte, also 9 weniger als im Vorjahre, pendent blieben.

Von den a n h ä n g i g gewesenen und bezw. e r l e d i g t e n Geschäften fallen 617 resp. 469 auf den d e u t s c h , 139 resp. 113 auf den f r a n z ö s i s c h und 20 resp. 13 auf den i t a l i e n i s c h sprechenden Teil der Schweiz.

Die durchschnittliche Dauer der erledigten Geschäfte betrug:

1024 Monate. Tage.

A. Der erst- und letztinstanzlich zu beurteilenden Civilstreitigkeiten und der Rekurse gegen Entscheide in Eisenbahnliquidationen : Vom Eingang bis zum Urteil 11 9 Von Ausfällung des Urteils bis zur Zustellung -- 22Va B. Expropriationen : Von der Posteinlage bis zum Urteil . . . .

9 5 Von der Erledigung bis zur Zustellung der Schlußnahme -- 12 Va C. Berufungen, Kassationen in Civilsachen und Beschwerden in Amortisationssachen : Vom Eingang bis zum Urteil l 28 Von der Ausfällung des Urteils bis zu dessen Zustellung -- 32 Va D. Straffälle, staatsrechtliche Streitigkeiten und Ge,f Schäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit: Vom Eingang resp. der Posteinlage bis zum Urteil 2 11 Von der Ausfällung des Urteils bis zu dessen Zustellung -- 331/» Die etwelche Verlängerung einzelner Durchschnittsdauern gegenüber dem Vorjahre erklärt sich aus der ganz erheblichen Vermehrung der eingegangenen (61) und der erledigten (68) Berufungen und dem teilweise sehr bedeutenden Umfang der betreffenden Akten.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

L a u s a n n e , den 12. März 1894.

Im Namen des Schweiz. Bundesgerichts, Der P r ä s i d e n t :

Hafner.

Der Gerichtsschreiber: Honegger.

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Bericht des schweizerischen Bundesgerichtes an die Bundesversammlung Über seine Geschäftsführung im Jahre 1893. (Vom 12. März 1894.)

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