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Bericht der

nationalrätlichen Kommission über die Motionen Comtesse (Lohnzahlung) und Vogelsanger (Vereinsfreiheit) und über die Maifeierpetitionen 1890--93.

(Vom 1. November 1894.)

Tit.

Die Fragen, welche Ihre Kommission zu behandeln hatte, waren so zahlreich und von so verschiedener Art, daß vor allem eine Sichtung derselben vorgenommen und die Beschränkung auf das zunächst der Verwirklichung Fähige geübt werden mußte, sollte nicht den Gesetzgeber die Fülle des Stoffes an jeglichem Gewinn eines Resultates verhindern.

M e h r e r e p o l i t i s c h e F o r d e r u n g e n d e r eingereichten Petitionen, welche sich auf die Reform der Bundesverwaltung, die Wahl des Bundesrates durch das Volk, die Einheit des Civil- und Strafrechts, die Verstaatlichung der Eisenbahnen, die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel und ähnliche Neuerungen beziehen, denen einzelne Eingaben das Wort reden, glaubten wir den parlamentarischen und Fachkommissionen überlassen zu dürfen, die mit ihrer Prüfung schon beschäftigt sind. Es bestehen Kommissionen der Bundesversammlung, welche über die Verwaltungsreform Anträge stellen sollen, -- auch solche, welche Gelegenheit ha beo, über die Eisenbahnfrage zu beraten, und was die Rechtseinheit anbetrifft, sind Experten beauftragt worden, Vorarbeiten für einheitliche Gesetzbücher zu treffen. Von den unentgeltlichen Lehrmitteln aber würde am besten im Zusammenhange mit der Durchführung des Art. 27 der Bundesverfassung die Rede sein.

261 Auf diese Gruppe von Fragen also braucht unsere Berichterstattung sich nicht -auszudehnen.

Dagegen befinden sich unter den Motionen und Petitionen,i O 13 welche den Gegenstand unserer Prüfung bildeten, zwei weitere, die ebenfalls politischer Natur sind und welche wir nicht einfach von unserer Aufgabe abtrennen durften. Wir meinen die M o t i o n V o g e l s a n g e r mit der Einladung an den Bundesrat, zu untersuchen, ob nicht jede Beeinträchtigung der V e r e i n s f r e i h e i t , welche wirtschaftlich abhängigen Personen widerfährt, der Bestrafung unterliegen solle, und das in den Maifeierpetitionen ausgesprochene Verlangen nach A b s c h a f f u n g d e r p o l i t i s c h e n P o l i z e i d e s B u n d e s . Ihre Kommission ist nun nicht der Meinung, daß der Motion Vogelsanger in keiner Weise Folge gegeben werden könne, aber sie bezweifelt, daß die Vereinsfreiheit der wirtschaftlich Abhängigen gegen den vom Motionssteller bezeichneten Druck zweckmäßig durch ein besonderes Gesetz geschützt würde, und unterläßt es deshalb, die Ausarbeitung eines solchen zu empfehlen. Es würde dasselbe zu sehr den Charakter eines Gelegenheits- uud Klassengesetzes tragen. Der beste Anlaß, Garantien für die Vereinsfreiheit aufzustellen, wird der Erlaß eines eidgenössischen Strafrechtsgesetzes sein, und wenn wir darauf wohl noch längere Zeit zu warten haben, ist hier gleichwohl einzig von ihm -- es müßten denn die Kantone zuvor ihre Gesetzgebung nach dieser Seite hin ausbauen -- eine umfassende Würdigung aller Umstände und befriedigende Lösung zu erwarten, welche sich über die Parteipolitik erhebt und mit den Rechtsbegriffen im Einklang steht. In diesem Sinne wünschen wir, daß das Justizdepartement bei den genannten gesetzgeberischen Arbeiten die Anregung des Herrn Vogelsanger berücksichtigen möge. Hinsichtlich der politischen Polizei sodann sehließen wir uns dem Antrage des Bundesrates an, welcher deren Aufrechterhaltung bezweckt. Ohne die Verschiedenheit der Ansichten darzulegen, welche im Schöße der Kommission über die Zweckmäßigkeit der Einsetzung eines Generalanwalts und den Wert der ganzen Institution bestehen, begnügt sich der Berichterstatter, zu erklären, daß unter allen Kommissionsmitgliedern insofern Übereinstimmung besteht, als sie zur Abschaffung der politischen Polizei den Zeitpunkt nicht für
geeignet halten, da die anarchistische Propaganda der That wegen der Beziehungen zu den Nachbarstaaten auch die Schweiz zu erhöhter Wachsamkeit auffordert. Das Amt ist mit Takt geübt und bloße Lehrmeinungen sind nicht verfolgt worden.

Die übrigen Postulate beziehen sich ausnahmslos auf die Arbeiterfrage, und da wollen wir zuerst von denjenigen sprechen, die wir abzulehnen genötigt sind, um nachher zu denen überzugehen, Bundesblatt. 46. Jahrg. Bd. IV.

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262 welche wir, indem wir ihnen eine veränderte Form geben, für annehmbar und zum Teile selbst für wertvoll und dringlich hallen.

Die Postulate betreffend die B e k ä m p f u n g der A r b e i t s losigkeit und die Unterstützung des Unterrichts fUr den A r b e i t e r s t a n d eignen wir uns deshalb nicht an, weil es zu ihrer Verwirklichung unseres Antriebes nicht bedarf. Der Bundesrat ist beauftragt, zu prüfen, ob nicht die Mitwirkung des Bundes bei der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit in Anspruch zu nehmen sei, und die Berufsbildung des Arbeiterslandes wird durch die Anwendung des Gesetzes über gewerbliche Bildung gefördert. Das Postulat jedoch, d a s g e s e t z l i c h e n S c h u t z d e r g e w e r k s c h a f t l i c h e n O r g a n i s a t i o n verlangt, können wir nicht zu dem unsrigen machen, weil darunter, wie die bundesrätliche Botschaft vermutet, wahrscheinlich die Einführung von obligatorischen Berufsgenossenschaften verstanden wird, diese aber neulich, als die Frage der Gewerbegesetzgebung von den Katen behandelt wurde, nicht in die Kompetenz des Bundes gestellt worden ist. Zu entscheiden, ob die F a b r i k i n s p e k t o r a t e v e r m e h r t werden sollen, dürfte mehr als unsere Kommission der Bundesrat berufen sein. Eine Vermehrung des Personals der drei Inspektorale verdient vielleicht eher Beifall, als eine Vermehrung der Zahl der Inspektorate, weil so eine zu ungleiche Ausführung des Fabrikgesetzes vermieden werden k a n n , und jedenfalls billigen wir die Absicht der Behörde, welche dem Inspektor des dritten Kreises einen zweiten Adjunkten beigeben möchte. Ablehnen müssen wir hingegen ohne weiteres das Postulat eines Ver b o t e s der F a b r i k a r b e i t für v e r h e i r a t e t e F r a u e n . So human die Gesinnung ist, welcher es entsprang, so verhängnisvoll wäre die Wirkung des Verbotes. Denn anstatt das Familienleben zu veredeln, würde es nur die Ehelosigkeit einer größern Anzahl von Fabrikarbeitern zur Folge haben, die aus ihrem eigenen Verdienst einen Hausstand nicht erhalten wollen, und diese Ehelosigkeit müßte zu mancherlei Entartung führen. Daß die Forderung verfassungswidrig ist, brauchen wir angesichts der größern Bedenken, welche sich gegen sie erheben, nur im Vorbeigehen zu erwähnen.

Ungleich beachtenswerter erscheinen uns die Begehren, welche in
der M o t i o n C o m t e s s e mit Bezug auf die L o h n z a h l u n g und in den M a i f e i e r p e t i t i o n e n hinsichtlich einer V e r k ü r z u n d e s Maximalarbeitstages i n d e n F a b r i k e n enthalten sind. Wir bekennen uns allerdings zu der bundesrätlichen Auffassung, daß die K a n t o n e in ihren Gesetzgebungen für alle Gewerbe, welche ihrer noch ermangeln, Bestimmungen über die Arbeiterverhältnisse aufstellen können, wie das e i d g e n ö s s i s c h e

263 F a k r i k g e s e t z sie für die i h m u n t e r s t e l l t e n G e w e r b e a u f g e s t e l l t h a t , und wir meinen in diesem Sinne eine Erklärung abgeben zu sollen, damit der Gang der Arbeiterschutzgesetzgebung in den Kantonen ein ungehemmter bleibe. Aber dennoch wünschen wir nicht auf die Ausdehnung des Arbeiterschutzes durch den Bund, insoweit sie richtiger durch» diesen geschieht, zu verzichten Und da schreiben wir sowohl den Forderungen des Herrn Comtesse betreffend die Lohnzahlung, als auch derjenigen, daß die Arbeitszeit in den Fabriken eine weitere Einschränkung erfahre, eine relative Berechtigung zu.

Die fast unübersteiglichen Schwierigkeiten, welchen die Gesetzgebung bei ihrer A n w e n d u n g begegnen müßte, wenn in ihr die Forderungen der Motion Comtesse im ganzen Umfange verkörpert würden,unterlassenn w i r zu schildern, nachdem dies von Gewerben jedoch, die nicht zu den Fabriken zählen, läßt sich ohnGefahrhr a n w e n d e n w a s n s die Fabrikgesetzgebung gegen die Entrichtung d e r Löhne i n Waren u n d über d i e Lohnabzüge u n d durch Abgabe von Waren soll ausgeschlossen sein, über doch diejenige, die thalsächlich nur eine Ausbeutung des Arbeiters ist.

Wir meinen praktisch zu verfahren, wenn wir schlitzende Bestimmungen bezüglich der Lohnzahlung überall da treffen, wo mehr als zehn Arbeiter in einem gewerblichen Betriebe beschäftigt sind.

Dadurch entsteht eine Analogie zu einer Bundesratsbeschlussluß betreffend Vollziehung des Art. l des Fabrikgesetzes e n t h a l t e n e n Anordnung, welche ebenfalls für Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern Geltung h a t ; es bleibt auf diese Weise der Kleinbetrieb, der sich ihr mit Entschiedenheit widersetzen würde, von dur Änderung unberührt. Da übrigens, wo die kantonale Gesetzgebung, wie dies bei e i G e s e t z e s e U e Obwaldens vorn Jahre 1887 der Fall ist, schon für Gewerbe mit einer k l e A r b e i t e r z a h l / ^ a h l gleiche Bestimmungen kennt, sollen diese letztern fortdauern.

Ob die Frage der Lohnzahlung dann besser in einem Speeialgesetz oder durch einen Zusatz zum Abschnitt des Obligationenrechts über den Dienstvertrag ihre Erledigung finde, ist von geringen) Belange. Die Kompetenz kann, es ist richtig, nicht aus dem Art. 34 der Verfassung über die Arbeit in den Fabriken hergeholt werden, aber sie ist in
Art. 64 derselben enthalten, welcher mit dem Obligationenrecht den Dienstvertrag und mit diesem die Regelung des Lohnverhältnisses dem Bunde anheimgab.

Noch bleibt uns die Verkürzung des Maximalarbeitstages der Fabriken zu erörtern übrig. Die Maifeierpetitionen verlangen die

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zehnstündige Arbeitszeit, und es fehlt längst nicht an Gründen, mit welchen dieses Begehren unterstützt werden kann. Aber wir müssen heute noch denjenigen andern Gründen die größere Beweiskraft zuschreiben, welche gegen eine Abänderung des vielberedten Art. 11 der Bundesverfassung geltend gemacht werden. Das Prinzip des Normalarbeitstages hat sich gegen alle Einwendungen und Widerstände siegreich behauptet; jedoch die Festsetzung der Stundenzahl kann nicht unabhängig von mannigfachen Erwägungen der Zweckmäßigkeit stattfinden. Erfreulicherweise hat in vielen Gewerben die Arbeitszeit auf 10 und 9 Stunden verkürzt werden können; daß aber alle Gewerbe gegenwärtig sich unter die Regel einer zehnstündigen Arbeitszeit bringen lassen, ohne daß wir, inmitten des durch die Schutzzollpolitik verschärften Industriekampfes der Nationen, große wirtschaftliche Verluste zu erleiden hätten, ist leider unwahrscheinlich, und man kann sich selbst der Besorgnis nicht entschlagen, daß mit der Ablehnung des zehnstündigen Normalarbeitstages in der Volksabstimmung die Bewegung für den Arbeiterschutz, die in unserem Lande während zwanzig Jahren eine ganze Reihe von Socialgesetzen und eine reiche Ernte socialer Wohlthaten gezeitigt hat, zum Stillstand gebracht würde.

Das alles soll uns nicht davon abhalten, jetzt schon mögliche Einschränkungen der Arbeitszeit vorzunehmen. Wir denken, daß die e i d g e n ö s s i s c h e n S t a a t s W e r k s t ä t t e n für sich den z e h n s t ü n d i g e n A r b e i t s t a g einzuführen in der Lage wären und daß dieses Vorgehen den Wert des Beispiels hätte. Wir halten auch dafür, der S a m s t a g N a c h m i t t a g sollte den F r a u e n , die in F a b r i k e n arbeiten, freigegeben werden, damit sie den Hausgeschäften eher obliegen können -- eine Forderung, die von derjenigen des Verbotes der Frauenarbeit überhaupt grundverschieden ist. Nach beiden Seiten hin bitten wir den Bundesrat eine Untersuchung zu pflegen. Und schließlich erblicken wir in der W i e d e r a u f n a h m e der internationalen Verhandl u n g e n ü b e r d i e A r b e i t e r f r a g e , wozu w i r d i e Behörde einladen, ein Mittel, für die Einschränkung der Arbeitszeit thätig zu sein. Gelänge es uns, über einige wesentliche Punkte der Fabrikgesetzgebung zu Abmachungen der Staaten zu kommen, so würde das Postulat
des zehnstündigen Normalarbeitstages nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenzfähigkeit unserer Industrien angefochten werden. Wie zahlreich aber auch die Hindernisse sein mögen, welche sich der großen Aufgabe entgegenstellen : das berechtigte Interesse der Schweiz wie ihr geschichtlicher Beruf heißen uns an sie neuerdings herantreten.

265 Im Sinne der Ausführungen unseres Berichtes, welcher das mündliche Referat erweitern wird, ersuchen wir Sie, Tit., die folgenden A n t r ä g e genehmigen zu wollen: Die Kommission zur Behandlung der Motionen Comtesse (Lohnzahlung) und Vogelsanger (Vereinsfreiheit) und der Maifeierpetitionen von 1890--93 erklärt, daß sie die Auffassung hat, es seien die Kantone berechtigt, in ihren Gesetzgebungen solche Bestimmungen für alle übrigen Gewerbe zu treffen, wie sie das schweizerische Fabrikgesetz für die ihm unterstellten Gewerbe enthält; sie nimmt mit Genugthuung Notiz davon, daß der Bundesrat sich in seiner Botschaft vom 16. Juni 1894 für die Anstellung eines weitern Adjunkten zu dem Fabrikinspektorat des III. Kreises ausspricht, und sie beantragt, 1. es sei der Bundesrat eingeladen, zu untersuchen, ob nicht mit Bezug auf die Lohnauszahlung in Waren, sofern dabei eine gewinnsüchtige Absicht waltet, sowie mit Bezug auf die Lohnabzüge und die vierzehntägige Lohnzahlung für solche Betriebe, welche mehr als zehn Arbeiter beschäftigen, Bestimmungen, wie die im Fabrikgesetze enthaltenen, zu treffen seien; 2. es sei der Bundesrat eingeladen, zu untersuchen, ob nicht in den Bundeswerkstätten die Arbeitszeit auf zehn Stunden beschränkt werden solle; 3. es sei der Bundesrat eingeladen, zu untersuchen, auf welche Weise es sich bewirken lasse, daß die Frauenarbeit in den Fabriken an Samstagen auf den Vormittag beschränkt werde, und 4. es sei der Bundesrat eingeladen, die Verhandlungen bezüglich einer internationalen Regelung der Arbeiterschutzfragen beförderlich wieder aufzunehmen.

B e r n , den 1. November 1894.

Der B e r i c h t e r s t a t t e r : Theodor Curti.

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Bericht der nationalrätlichen Kommission über die Motionen Comtesse (Lohnzahlung) und Vogelsanger (Vereinsfreiheit) und über die Maifeierpetitionen 1890--93. (Vom 1.

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05.12.1894

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