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Bun desratsbeschluß über

den Rekurs des Herrn Advokaten G. Renaud in Neuenburg gegen einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, vom 8. Januar 1894, betreffend Ausübung des Berufes als Rechtsanwalt im Kanton Bern.

(Vom 23. Februar 1894.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t hat

in Sachen des Rekurses des Herrn Advokaten G. R e n a u d in Neuenburg gegen einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, vom 8. Januar 1894, betreffend Ausübung des Berufes als Rechtsanwalt im Kanton Bern, auch Anhörung seiner Departements des Innern und der Justiz und Polizei, auf Grundlage folgender Thatsachen : 1. Herr G. Renaud, Advokat i n . Neuenburg, stellte am 21. November 1893 an das Obergericht des Kantons Bern -- welcher Behörde die Aufsicht über die Ausübung der Advokatur im Gebiete des Kantons zusteht -- das Gesuch, er möchte ermächtigt werden, bei dem demnächst vor dem Gerichte zu St. Immer zur Beurteilung gelaugenden Strafprozesse betreffend eine angebliche Erneute als Verteidiger zu funktionieren. Das Obergericht wies alter dieses Begehren ab, und zwar mit folgender, durch Schreiben vorn 8. Januar dem Gesuchsteller eröffneten, Begründung: Im allgemeinen steht das Recht, Dritte vor den bernischen Gerichten zu vertreten, nur denjenigen zu, welche auf Grund eines Staatsexamens das Patent eines bernischen Fürsprechers erworben oder von einem andern Kanton ein Fähigkeitszeugnis im Sinne des

357 Art. -5 der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung erhalten haben. In dieser Richtung wird eine Bescheinigung des Staatsrates des Kantons Neuenburg vorgelegt, ^us der zu entnehmen ist, daß die Bedingungen für die Aufnahme in den neuenburgiachen Advokatenstand und die Zulassung zur Berufsausübung als Rechtsanwalt im Kanton Neuenburg bis zum 26. Dezember 1884 im Nachweis einer in einem Advokaturbureau des Kantons durchgemachten Lehrzeit und in einer probeweise geführten Verteidigung vor dem Appellatipnshofe bestanden, welch letzterer die "-zur Zulassung oder Zurückweisung des Kandidaten zuständige Behörde war. Ferner ergiebt sich aus der Bescheinigung, daß der Gesuchsteller am 11. April 1876 durch den Appellationshof in den neuenburgischen Advokatenstand aufgenommen und zur Ausübung des Advokatenberufes ermächtigt worden ist. Diese Ermächtigung bildet indessen nicht einen Ausweis der Befähigung im Sinne der oben citierten Verfassungsbestimmung; denn zu einem solchen Ausweise bedarf es notwendigerweise eines Examens.

Was den Art. 264 des Gesetzbuches über das Verfahren in Strafsachen für den Kanton Bern betrifft, welcher dem Angeklagten das Recht der freien Auswahl seines Verteidigers aus der Zahl aller Aktivbürger gewährt, so ist es klar, daß sich diese Bestimmung nur auf die Aktivbürger des Kantons Bern beziehen kann, da jenes Gesetzbuch ja nur für den Kanton Bern gilt und somit die darin enthaltenen allgemeinen Begriffe des öffentlichen Rechts auch nur auf diesen bezogen werden können. Der Art. 60 der Bundesverfassung, welcher vorschreibt, daß sämtliche Kantone verpflichtet seien, alle Schweizerbilrger in der Gesetzgebung sowohl als im gerichtlichen Verfahren den eigenen Bürgern gleich zu halten, ändert an dieser Anschauungsweise nichts; denn ein Bürger des Kantons Bern, der außerhalb dieses- letztern wohnt, könnte ebensowenig einen Angeklagten vor einem bernischen Gerichte verteidigen, indem ihm vermöge seiner Abwesenheit vom Kantonsgebiet die Eigenschaft des Aktivbürgerrechts nicht zukommt.

2. Gegen den obergerichtlichen Abweisungsbeschluß hat Herr G. Renaud durch Eingabe vom 12. Januar laufenden Jahres dieBerufung an den Bundesrat ergriffen.

Die Eingabe richtet sich zunächst gegen den dem Bekurrenten entgegengehaltenen Mangel eines beruflichen Diploms und führt aus, daß in den
vorgelegten Attesten des Staatsrates von Neuenburg vom 1./8. Dezember 1893 über die Aufnahme des Gesuchstellers in den neuenburgischen Advokatenstand gerade der durch Art. 33 der Bundesverfassung und Art. 5 der Übergangsbestimmungen zu derselben geforderte Ausweis der Befähigung des Gesuchstellers Bnndesblatt. 46. Jahrg. Bd. I.

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liege, der ihm unbestreitbar das Recht verleihe, im ganzen Gebiete der schweizerischen Eidgenossenschaft als Verteidiger vor Gericht aufzutreten, sogar gegenüber allfälligen einschränkenden Bestimmungen, die in dem durch Art. 33 vorgesehenen Bundesgesetze aufgestellt werden könnten, einem Gesetze, das übrigens erst noch zu erlassen sei und nicht rückgreifende Kraft haben könne. Der Ausdruck ,,Diplom11 sei absichtlich in den die wissenschaftlichen Berufsarten normierenden Bestimmungen weggelassen worden.

Endlich habe die höhere zuständige Behörde entschieden, daß ein thurgauischer Advokat vor den Schranken der kantonalen waadtländischen Gerichte als Anwalt erscheinen dürfe.

Im weitern richtet sich die Rekurseingabe gegen den vom bernischen Obergericht unter Berufung auf den Art. 264 de» bernischen Strafprozeßgesetzes dem Rekurrenteu entgegengehaltenen Mangel des bernischen Aktivbürgerrechts, welcher Mangel in der Rekurseingabe als ,,défaut de qualité par indigénatu bezeichnet ist.

In dieser Richtung wird geltend gemacht, die Argumentation der Behörde entspreche nicht einer logischen Auffassung der Sache (,,elle n'a pas pour elle la raison") und verstoße gleichzeitig gegen den Art. 60 der Bundesverfassung. Die Einschränkung allgemeiner Begriffe des öffentlichen Rechts im Sinne des Obergerichts dürfe nur in Hinsicht auf Gemeinde- und Kantonalwahlen und -abstimmungen anerkannt werden. Der Aktivbürger könne sein Wahlrecht nur in der Gemeinde oder in dem Kantone ausüben, wo er sein Domizil hat; die Abwesenheit vom Gebiete seines Kantons entziehe ihm aber nicht ipso facto sein Indigenat ; hierzu bedürfe es einer positiven Willensäußerung. Nach den allgemeinen Grundsätzen unseres Staatsrechts sei Aktivbürger ein jeder Schweizer, der nicht bevormundet oder seiner bürgerlichen Rechte beraubt ist. Der Art. 43 der Bundesverfassung bestimme, daß jeder Kantonsbürger Schweizerbürger sei.

Hieran knüpft der Rekurrent den Schluß, der Bundesrat möge den Entscheid des bernischen Obergerichts aufheben und erklären, daß er, der Rekurrent, berechtigt sei, vor den berniachen Gerichten als Anwalt aufzutreten und die Angeklagten von St. Immer vor dem dortigen Gericht zu verteidigen.

3. Das Obergericht des Kantons Bern, durch Vermittlung de» bernischen Regierungsrates zur Vernehmlassung über den Rekurs eingeladen,
hat die Erklärung abgegeben , daß es sich auf die im Schreiben an Herrn Renaud enthaltenen Gründe berufe und sich nicht veranlaßt sehe, ein weiteres beizufügen, da auch die nicht sachlichen Bemerkungen des Herrn Advokaten Renaud einer Antwort nicht bedürfen;

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in E r w ä g u n g : 1. Der Rekuvrent gründet seinen Rekurs zu einem Teil auf Art. 33 der Bundesverfassung, beziehungsweise Art. 5 der Übergangsbestimmungen zu derselben, zum andern Teil bezieht er sich auf den Art. 60 des nämlichen Grundgesetzes; -- ersteres, soweit es die Frage der Anerkennung seiner Legitimation zur neuenburgischen Advokatur als eines Ausweises für, die Ausübung dieser Berufsart in andern Kantonen, speciell im Kanton Bern, betrifft; letzteres, soweit es den Anspruch auf das in Art. 264, Absatz l, des bernischen Strafprozeßgesetzes vorgesehene Recht eines Angeklagten, seinen Verteidiger frei aus der Zahl aller Aktivbürger zu wählen, anbelangt.

In Bezug auf den ersten Punkt muß der Bundesrat sich als zuständig erachten, indem Art. 33 der Bundesverfassung keine Anerkennung von individuellen Rechten enthält, über deren Verletzung nach Art. 175 u. S. des Bundesgesetzes vom 22. März 1893 über die Organisation der Bundesrechtspflege beim Bundesgerichte Beschwerde geführt werden könnte, und Art. 5 der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung seiner Natur nach als eine provisorische Ausführungsbestimraung zu jenem Artikel aufzufassen ist, welche angiebt, was Rechtens ist bis zum Erlaß des in Art. 33 der Bundesverfassung vorgesehenen Bundesgesetzes, mithin den Charakter eines Gesetzes hat, das in die Kategorie der in Art. 189, Absatz 2, des Orgaoisationsgesetzes erwähnten Bundesgesetze gehört.

Anders verhält es sich dagegen mit der Berufung auf dea Art. 60 der Bundesverfassung in Verbindung mit Art. 264 des bernischen Strafprozeßgesetzes, wonach der Rekurrent beansprucht, als Aktivbtlrger vor den bernischen Gerichten auftreten zu können.

Beschwerden, die sich auf den Art. 60 der Bundesverfassung gründen, gehören nach Art. 175 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege in die Zuständigkeit des Bundesgerichtes.

2. Als Ausweis der Befähigung zur Advokatur hat der Rekurrent dem bernischen Obergericht unterbreitet und auch seinem gegenwärtigen Rekurse beigelegt: zwei vom Staatsrat von Neuenburg ausgestellte Attestate, deren eines vom 1. Dezember 1893, das andere vom 8. desselben Monats und Jahres datiert. In jenem bezeugt die Behörde, daß Herr Gustav Renaud von Neuenburg seit 11. April 1876 in dem amtlichen Verzeichnis der Mitglieder des neuenburgischen Advokatenstandes
eingetragen und befugt sei, im Kanton den Advokatenberuf auszuüben. Im letztern wird dieses Zeugnis wiederholt und des weitern erklärt : Bis zum 26. Dezember 1884 haben die Bedingungen für die Aufnahme in den neuen-

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burgischen Advokatenstand und die Zulassung zur Praxis eines Rechtsanwalts im Kanton Neuenburg in einer Lehrzeit (stage) auf einem Advokatenbureau des Kantons und in einer mündlichen Probeverteidigung vor dem Appellationshofe (dem Kantonsgerichte) bestanden; das Kantonsgericht sei die zuständige Behörde für die Zulassung der Kandidaten gewesen; Herr Advokat Gustav Renaud sei am 26. Mai 1888 vom Großen Rate zum Amt des Gerichtspräsidenten von Locle berufen worden und habe in dieser Eigenschaft auch im Kantonsgerichte gesessen ; später sei er vom Großen Rate zum Instruktionsrichter des Kantons Neuenburg gewählt worden und habe die daherigen Funktionen vom 21. November 1883 bis zu seinem Rücktritte, den 21. November 1893, ausgeübt.

3. Es ist nun die Frage zu beantworten, ob der Inhalt dieser Attestate einen Ausweis im Sinne des Art. 5 der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung bilde.

Wie der Bundesrat bereits bei seinem Beschlüsse vom 5. April 1892 in der Rekurssache Häberlin contra Waadt erklärt hat, ist jeder Kanton gehalten, den von einem andern Kanton ausgestellten Fähigkeitsausweis als solchen anzuerkennen und dem Besitzer desselben die Ausübung der in Frage stehenden wissenschaftlichen Berufsart zu gestatten. Der verpflichtete Kanton ist dabei, wie der Bundesrat in den Erwägungen zu dem allegierten Beschlüsse ausführte , nicht zu Einschränkungen 'befugt, die aus Niederlassungsverhältnissen oder aus der Verschiedenheit der Anforderungen an die Patentbewerber abgeleitet sind.

Dagegen hat der Bundesrat in seinem Beschlüsse vom 18. August 1893 in der Rekurssache Bühler contra Bern festgestellt, daß allerdings der von einem Kanton ausgestellte Fähigkeitsausweis sich auf eine in diesem Kantone vorgenommene staatliche Prüfung gründen müsse, so daß z. B. ein von einem wissenschaftlichen Institute erworbenes Diplon nicht einen für andere Kantone verbindlichen Ausweis der Befähigung zur Ausübung der Advokatur bilde.

4. Nach den vorliegenden staatsrätlichen Bescheinigungen ist der Rekurrent nach Erfüllung der vom Kanton Neuenburg aufgestellten Erfordernisse im Jahre 1876 in den neuen burgischen Advokatenstand aufgenommen worden. Diese Erfordernisse (einjährige praktische Übung in einem Advokaturbureau und Probevortrag vor dem neuenburgischen Kantonsgerichte) enthalten selbständige, staatliche
Anforderungen an den Kandidaten, deren Erfüllung nach der neuenburgischen Gesetzgebung seine Befähigung zur Ausübung der Advokatur erweist.

Nach dem unter Ziff. 3 Gesagten ist ein auf derartiger Grundlage entstandener kantonaler Fähigkeitsausweis als solcher im ganzen

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-Gebiete der Eidgenossenschaft anzuerkennen, und steht es keinem Kantone zu, an dem Maße oder der Art der von einem andern Kantone gestellten Anforderungen in der Meinung Kritik zu Üben, daß er den von dem andern Kanton ausgestellten Fähigkeitsausweis für sich als einen nicht verbindlichen erklären könne, beschlossen: 1. Der Rekurs ist, soweit er sieh auf Art. 33 der Bundesverfassung, beziehungsweise auf Art. 5 der Übergangsbestimmungen zu derselben stutzt, begründet.

Demgemäß wird die Verfügung des bernischen Obergerichts vom 8. Januar 1894, soweit durch dieselbe dem Rekurrenten die Bewilligung, vor bernischen Gerichten als Rechtsanwalt aufzutreten, gestützt auf die allegierten Verfassungsstellen verweigert wurde, aufgehoben.

2. Auf den Rekurs wird, soweit er sieh auf Art. 60 der Bundesverfassung bezieht, wegen Inkompetenz des Bundesrates nicht eingetreten.

3. Dieser Beschluß ist den Parteien schriftlich mitzuteilen.

B e r n , den 23. Februar 1894.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

E. Frey.

Der Stellvertreter des eidg. Kanzlers: Schatzmann.

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Bundesratsbeschluß über den Rekurs des Herrn Advokaten G. Renaud in Neuenburg gegen einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, vom 8. Januar 1894, betreffend Ausübung des Berufes als Rechtsanwalt im Kanton Bern. (Vom 23. Februar 1894.)

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28.02.1894

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