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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs von F. Gaßmann in Bürglen (Thurgau) wegen angeblicher Verletzung des Art. 49, Abs. 2 und 3, der Bundesverfassung.

(Vom 10. November 1891.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h

hat in Sachen des Rekurses von F. G a ß m a n n , Aufseher in der Kammgarnspinnerei Bürglen, gegen die Entscheidung der Regierung des Kantons Thurgau vom 5. Juni 1891, betreffend eine Strafverfügung der katholischen Kirchenbehörden wegen unregelmäßigen Besuches des Religionsunterrichtes durch ein im Unterrichtspflichtigen Alter stehendes Kind ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmäßiger SachVerhältnisse:

I.

Des Rekurrenten noch im unterrichtspflichtigen Alter stehende Tochter Emma besuchte vom Beginn des Unterrichtsjahres 1890 (23. April) bis zum 10. Januar 1891 den katholischen Religionsunterricht in Sulgen 22 Male unentschuldigt nicht.

Gestützt auf § 153 der kantonalen Verordnung zur katholischen Kirchenorganisation des Kantons Thurgau wurde der Rekurrent wegen seiner Weigerung, sich deßhalb vor der Kirchenvorsteherschaft seines Wohnortes zu verantworten, von dieser mit einer Geldstrafe gebüßt.

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Vom 10. Januar bis 13. Februar 1891 ließ sich Emma Gaßmann 4 Unterrichtsversäumnisse zu Schulden kommen ; l Religionsstunde, diejenige vom 11. Februar, besuchte sie.

Vater Gaßmann wurde ani 13. Februar, gestützt auf den nämlichen § "153, von der Kirchenvorsteherschaft zu l Tag Gefängniß verurtheilt.

Darauf besuchte Emma Gaßmann den Religionsunterricht wieder; das letzte Mal geschah dies am 25. März 1891.

Am 6. April 1891 sandte der Rekurrent der katholischen Kirchenvorsteherschaft Sulgen eine schriftliche Erklärung folgenden Inhalts ein: ,,Hiemit zeige ich Ihnen an, daß Ich mit meiner Familie von ^der katholischen Kirchengemeinde Sulgen ausgeschlossen sein will, ,,und daß ich keinen Anspruch mehr daran habe."

Während des Unterrichtsjahres hat sich Gaßmann niemals, weder schriftlich noch mündlich, der Kirchenvorsteherschaft gegenüber geäußert, daß er sein Kind nicht mehr in den Religionsunterricht schicken wolle.

II.

Der katholische Kirchearath des Kantons Thurgau bestätigte auf den Rekurs des P. Gaßmann durch Beschluß vom 28. April 1891 die Straf Verfügung der Kirchenvorsteherschaft Sulgen und der thurgauische Regierungsrath wies den dagegen erhobenen Rekurs am 5. Juni a. c. ab.

III.

Mit Schriftsatz vom 9. Juni 1891 hat Herr Fürsprecher Dr.

Sandmeyer in Frauenfeld, Namen» des F. Gaßmann, gegen die Strafverfügung der kantonalen Behörden den staatsrechtlichen Rekurs an den Bundesrath ergriffen.

In der Rekurssehrift an deu Regierungsrath war der Sachverhalt folgendermaßen angegeben worden : Die Tochter des Rekurrenten besuchte ordnungsgemäß den katholischen Religionsunterricht in Sulgen, bis der Vater wahrnahm, daß sie auf dem Wege von und zum Unterricht wieder einbüßte -- infolge des Benehmens ihrer Kameradinnen -- was sie im Unterricht selbst profitirte. Deßhalb schickte sie der Vater nicht mehr. Die Folge war eine von der Kirchenvorsteherschaft aus·B gesprochene Buße von 3 Franken, welche durch den Rechtstrieb einkassirt wurde. Der Rekurrent zahlte um des Friedens willen

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und schickte sein Kind wieder in den Unterricht. Da erschien am 24. März ein Landjäger bei ihm und eröffnete ihm, er sei von der katholischen Kirchenvorsteherschaft zu einem Tag Arrest verurtheilt.

Die Rekursschrift an den Bundesrath enthält folgende rechtliche Erörterungen : Es wird anerkannt, daß die Behörden gemali den kantonalen Bestimmungen vorgegangen sind. Allein diese Bestimmungen sind durch das Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 ipso jure aufgehoben.

Zufolge Artikel 49 der Bundesverfassung darf N i e m a n d , also nicht bloß derjenige nicht, der aus einem kirchlichen Verbände ausdrücklich ausgetreten ist,J zur Theilnahme an einem o religiösen Unterrichte gezwungen werden. Andernfalls hätte es genügt, den Zwang zur Theilnahrne an einer Religionsgenossenschaft in der Verfassung als unzuläßig zu erklären ; denn, daß ein aus der katholischen Kirche Ausgetretener nicht mehr für Reügionsunterrichtsversäuninisse seines Kindes gestraft werden kann, liegt auf der Hand.

Einzig das, sagt die Rekursschrift weiter, ist zuzugeben, daß die katholischen Behörden Solche, die ihre Pflichten als Konfessionsgenossen nicht erfüllen, auch nicht mehr als Konfessionsangehörige anzuerkennen brauchen, indem ihr Verhalten als faktische Austrittserklärung betrachtet werden darf. (Vergi. Blumer-Morel, I, 341 in fine.) Aber Zwangsmaßregeln, um die Erfüllung dieser Pflichten herbeizufuhren, dürfen nicht angewendet werden, so lange Artikel 49 der Bundesverfassung in Kraft besteht.

IV.

Der Regierungsrath des Kantons Thurgau beharrt in seiner Vernehmlassungsschrift vom 26. Juni 1891 darauf, daß Artikel 49 der Bundesverfassung den Inhaber der väterlichen Gewalt nicht ermächtige, sein im Unterrichtspflichtigen Alter stehendes Kind dem gesetzlich vorgeschriebenen Religionsunterrichte beliebig zu entziehen. So lange der Vater nicht für das Kind den Austritt aus der betreffenden Religionsgenossenschaft erklärt, hat er die mit der Zugehörigkeit zu derselben verbundenen, durch die staatlieh genehmigten Kirchengesetze vorgeschriebenen Pflichten zu erfüllen und die Folgen ihrer Nichterfüllung zu tragen.

Blumer-Morel's Bundesstaatsrecht ist vom rekurrentischen Anwalte iri-Üiümlich citirt worden. Die angeführte Stelle besagt, daß man einer Religionsgenossenschaft nicht wohl verwehren könne, ein Mitglied, welches sich von ihren Lehren und Glaubensansichten

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öffentlich losgesagt hat, auch ihrerseits nicht mehr als ihr Mitglied anzuerkennen. Im Rekursfalle liegen die thatsächlichen Verhältnisse ganz anders.

Die Regierung schließt ihre Vernehmlassung unter Verweisung auf die einschlägigen Vorschriften der katholischen Kirchenorgaaisation des Kantons Thurgau und der Verordnung zu derselben.

Veranlaßt durch die Anfrage des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 10. Oktober 1891, aufweichen gesetzlichen Bestimmungen die Mithülfe des Staates zur Durchführung der von kirchlichen Behörden verhängten Strafen beruhe, erklärte sie in einer Zuschrift an das Departement vom 23. Oktober 1891 : ,,Sowohl das Grundgesetz betreffend die Organisation der evangelischen Kirche des Kantons Thurgau vorn 17. Juli 1870 als auch die katholische Kirchenorganisation vom 23. Oktober 1870 enthalten in ihrem § 23 die Bestimmung, daß die Kircbenräthe zum Zwecke der Vollziehung der innerhalb ihrer Kompetenz gefaßten Beschlüsse die staatlichen Vollziehungsorgane in Anspruch nehmen können" j in Erwägung: 1. Der Umstand, daß der Rekurrent ein Deutscher; kein schweizerischer Landesangehöriger ist, übt auf die rechtliche Beurtheilung des Rekursfalles, wie allseitig zugegeben wird, keinen Einfluß aus. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, als deren Folge das in Artikel 49 der schweizerischen Bundesverfassung enthaltene Verbot jeglichen Zwanges zur Theilnahme an einem religiösen Unterrieht erscheint, ist ein individuelles Recht, das die Schweiz auch den in ihrem Gebiete wohnenden Ausländern zu Theil werden läßt und auf das diese sogar einen positiven Anspruch haben, wenn sie, wie z. B. die deutschen Reichsangehörigen, auf Grund internationalen Vertrages in jedem Kantone der Eidgenossenschaft in Bezug auf ihre Person in gleicher Weise zu behandeln sind, wie die Angehörigen der andern Kantone. Freilich -- und auch darüber besteht beim Anwalte des Rekurrenten kein Zweifel -- können sie diesen Anspruch nur unter den von der schweizerischen Gesetzgebung aufgestellten Voraussetzungen erheben und haben sich hinwieder auch den einschlägigen gesetzlichen Verpflichtungen zu unterziehen.

2. Der Rekurrent hat erst am 6. April 1891 der Kirchenvorsteherschaft Sulgen die Erklärung abgegeben, daß er mit seiner Familie sich nicht mehr als Angehörigen der dortigen katholischen Kirchgemeinde betrachtet wissen wolle.

Während des Unterrichtsjahres 1890/91, speziell au deu Tagen, an denen seine Tochter die Religionsunterrichtsstunden versäumte,

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hat er es unterlassen, zu erklären, daß er dieselbe dem katholischen Religionsunterrichte in Sulgen entziehen wolle. Ja, er hat dieselbe, ^uch nachdem er von der Kirchenvorsteherschaft deßhalb zu Strafe verurtheilt worden war, wieder den Unterricht besuchen lassen.

Daraus ergibt sich, daß er für die unentschuldigten Absenzen seines Kindes als Angehöriger der katholischen Kirchgemeinde Sulgen und zu einer Zeit verurtheilt wurde, wo er für sich und sein Kind diese Angehörigkeit nicht bezweifelte, vielmehr thatsächlich anerkannte, ja noch mehr, wo er selbst nicht entschlossen war, sein Kind dem Religionsunterrichte in Sulgen zu entziehen.

Demnach steht fest, daß der Rekurrent die Unterrichtsversäumniß seines Kindes während des Schuljahres 1890/91 nicht mit der Berufung auf die in Artikel. 49 der Bundesverfassung anerkannte Glaubens- und Gewissensfreiheit entschuldigen oder rechtfertigen kann; diese Versäurnniß hat vielmehr ihren Grund lediglich in einem ordnungswidrigen Verhalten des Rekurrenten, sie stellt sich als Verstoß gegen die Schulordnung dar.

3. Der Bundesrath hat durch Beschluß vom 27. September 1887 in der Rekurssache der Elisabeth Python (Bundesbl. 1887, IV, 158 -- 160) die Frage beurtheilt, ob der Inhaber der elterlichen Gewalt, wenn er seine Wahl über den seinem Kinde zu ertheilenden religiösen Unterricht getroffen hat und das Kind an dem gewählten Unterrichte theilnehmen läßt, für unbegründete Abwesenheiten des Kindes Angesichts des Artikel 49 der Bundesverfassung bestraft werden könne, und er hat die Frage bejaht. ,,Denn"- -- so lautete die Erwägung der Behörde -- ,,diese Frage betrifft ausschließlich die Schulordnung, der sich jeder Theilnehmer eines Unterrichts zu unterziehen hat und ohne welche ein Unterricht schlechterdings nicht denkbar ist. Die Rekurrentin kann sieh daher nicht beschweren, wenn sie so lange für Religionsunterrichtsversäumnisse ihrer Tochter bestraft wird, als sie nicht, erklärt, dieselbe dem Unterrichte entziehen Y.U wollen, und dieser Willenserklärung thatsächlich nachlebt.u Nach diesen Ausführungen ist auch im vorliegenden Falle, vom Standpunkte des Bundesrechts aus, gegen die angefochtene Strafverfügung als solche nichts einzuwenden.

Es entsteht nun aber die Frage, ob die ausgesprochene Strafe, die ihre Vollziehung bis jetzt nicht gefunden hat, gegen den
Rekurrenteu noch vollstreckt werden dürfe, nachdem er positiv den Austritt aus der kirchlichen Genossenschaft erklärt hat, deren Angehöriger er zur Zeit seiner Verurtheilung war.

4. Der Bundesrath glaubt, auch diese Frage bejahen zu sollen.

Schon bei Anlaß einer frühern Rekursentscheidung (v. Bundesbl.

1887, IV, 156 und 157, Bundesrathsbeschluß in Sachen Carl Sudler

386 in Rorschaeh) hat der Bundesrath erklärt, daß allerdings eine Verpflichtung zur Theilnahme an einem religiösen Unterrichte gegenüber der einfachen Weigerung des Individuums Angesichts de» Artikel 49 der Bundesverfassung nicht einen Moment aufrecht erhalten oder gar zwangsweise geltend gemacht werden dürfe, daß dagegen der Staat, vorn Standpunkte der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus, gegen Bestimmungen einer kirchlichen Organisation nichts einzuwenden habe, welche nicht zugeben, daß ein Mitglied sich in jedem Augenblicke aller und jeder von ihm eingegangenen Verbindlichkeiten, wie z. B. der Pflicht zur Entrichtung von Kultussteuern, entledigen kann.

Durch die Vollstreckung des gegen den Rekurrenten ergangenen Straferkenntnisses erleidet dieser nicht seiner Glaubensansichten wegen eine Strafe, er wird auch nicht zur Theilnahme an einer Religionsgenossenschaft oder an einem religiösen Unterrichte gezwungen, was Alles durch Artikel 49 der Bundesverfassung untersagt ist, sondern er hat bloß die Folgen seines regelwidrigen Verhaltens als Angehöriger einer Religionsgenossenschaft zu tragen.

Wenn die Bundesbehörde gegen den Urtheilsspruch einer Kantonsbehörde, durch welchen gegen Jemand wegen solchen Verhaltens ein Strafleiden verhängt wurde, nichts einzuwenden hat, so wird sie auch in dem Vollzuge des Spruches keine Verletzung bundesrechtlicher Grundsätze und Bestimmungen erblicken können, beschlossen: 1. Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Beschluß ist der h. Regierung des Kantons Thurgau, sowie dem Rekurrenten mitzutheilen.

B e r n , den 10. November

1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesrathsbeschluß über den Rekurs von F. Gaßmann in Bürglen (Thurgau) wegen angeblicher Verletzung des Art. 49, Abs. 2 und 3, der Bundesverfassung. (Vom 10.

November 1891.)

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1891

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18.11.1891

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