691

# S T #

Antwort-Bemerkungen des

Schweizerischen Bundesrathes auf eine Eingabe des tessinischen Staatsrathes an das Bundesgericht, vom 28. 30. September 1891, betreffend den vom Staatsrathe im Jahre 1889 angehobenen Kompetenzkonflikt.

(Vom 21; Oktober 1891.)

An das h. Schweizerische Bundesgericht.

Tit.

Wir berufen uns in dem vom tesainischen Staatsrathe mit Schriftsatz vom 28./30. September 1891 wiederaufgenommenen sogenannten Kompetenzkonflikt zwischen dieser Behörde und uns, betreffend das Recht der Entscheidung über Stimmrechtsbeschwerden bei kantonalen Wahlen und Abstimmungen, vor Allem auf unsere, dem h. Bundesgerichte eingereichten Rechtsschriften vom 7. Juni und 7. September 1889, indem wir an den dortigen Ausführungen und Schlußanträgen festhalten.

Wir betrachten diese Rechtsschriften als Bestandtheile der Akten in dem vom gegenwärtigen tessinischen Staatsrathe wieder aufgenommenen sogenannten Kompetenzkonflikte.

In Hinsicht auf die staatsräthliche Eingabe vom 28./30. September 1891 haben wir folgende Bemerkungen zu machen.

In t h a t s ä c h l i e b e r B e z i e h u n g ist vorerst zu berichtigen, daß keineswegs alle Beschwerden betreffend die tessinischen Großrathswahlen vom 3. März 1889 uns vor diesem Tage eingereicht

692 worden sind, vielmehr ist eine ganze lange Reihe von Protesten und Rekursen gegen den 'Ausschluß von der Wahlurne oder die Verkündung des Wahlresultates erst an diesem Tage selbst, nach der Wahl, oder erst an einem folgenden Tage an uns gerichtet worden. Das zeigt schon ein oberflächlicher Blick in unsere diesfälligen Entscheidungen. Richtig ist nur das, daß wir die erst um diese Zeit eingegangenen Rekurse fast alle aus formellen Gründen von der Hand wiesen, und zwar, wenn sie gegen die Streichung im Stimmregister gerichtet waren, weil die Entscheidung des Regierungskommissärs und des Staatsrathes nicht angerufen worden, und wenn sie gegen den Ausschluß von im Stimmregister eingetragenen Bürgern gerichtet waren, wie in Biasca, oder gegen den Gebrauch markirter Stimmzettel oder gegen die Thätigkeit des Wahlbüreau u. s. w., darum, weil nicht ein Rekurs an den Großen Rath und seine Wahlaktenprüfungskommission vorangegangen war.

In r e c h t l i c h e r B e z i e h u n g wird vom Staatsrath hervorgehoben, daß gegen die von den Wahlbüreaux vorgenommene Proklamirung der Wahlresultate in 18 der 23 tessinischen Wahlkreise keine Beschwerde an den Großen Rath gerichtet und daher das Wahlresultat von diesem einstimmig bestätigt worden sei, gemäß den Anträgen der Wahlaktenprüfungskommission, und daß in 4 ändern Wahlkreisen der Große Rath die eingereichten Beschwerden mit Mehrheit abgewiesen habe, ohne daß dagegen ein Rekurs an den Bundesrath erklärt worden wäre (der Wahlkreis Osogna [Riviera], in welchem ein Rekurs gegen den Beschluß des Großen Rathes an den Bundesrath gerichtet worden ist, wird Übergängen).

Der Staatsrath schließt daraus, daß infolge dessen der Bundesrath nicht berechtigt gewesen sei, über die Gültigkeit der betreffenden kantonalen Wahlen zu entscheiden.

Dem gegenüber ist zunächst wieder thatsächlieh festzustellen, daß mit Bezug auf die Genehmigung der Wahlen des Kreises San Nazaro (Gambarogno) allerdings gegen den Entscheid des Großen Rathes an den Bundesrath rekurrirt worden ist, und zwar am 25. März 1889 von den Munizipalitäten mehrerer Gemeinden des Wahlkreises, wie das deutlich angegeben ist in Fakt. XVIII unseres Entscheides über die dortigen Wahlen (deutsche Ausgabe der Entscheide, S. 146j. Nun haben wir nirgends eine Wahl kassirt, als gerade in den beiden Wahlkreisen Osogna
und San Nazaro; es ist also die staatsrälhliche Behauptung mit Bezug auf diese Wahlkreise thatsächlieh unrichtig, mit Bezug auf die übrigen gegenstandslos.

Allein ganz abgesehen hievon scheint uns, daß die Frage, ob der Bundesrath bei der Beurtheilung der streitigen Wahlen, die ja

693 nach Art. 59, Ziff. 9, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege unzweifelhaft in. seiner Kompetenz liegt, gehörig verfahren sei oder nicht, keinesfalls 'vom Bundesgerichte zu entscheiden sein wird, sondern lediglich den Gegenstand eines Rekurses an die Bundesversammlung bilden könnte; denn, wenn der Bundesrath hierin in der That nicht gehörig vorgegangen sein sollte, so würde ja doch nicht das Bundesgericht dagegen angerufen werden können. Es ist denn auch wirklich von zwei Rekurrenten, zum Theil mit Unterstützung des Staatsrathes selbst, dieser richtige Weg der Beschwerde bei der Bundesversammlung einges|jüagen worden.

Die Kompetenz des Bundesrathes zum Entscheide über das Stimrnrecht der Bürger bei kantonalen Wahlen und Abstimmungen ist unseres Erachtens das Einzige, was vor Ihrem h. Gerichtshofe in Frage liegen kann. Wir betrachten diese Kompetenz als eine nothwendige Konsequenz unseres Rechtes, über die Gültigkeit der Wahlen selbst zu entscheiden (vgl. unsere diesfälligen Rechtsschriften an das Bundesgericht vom Jahre 1889, sowie unsern Entscheid in Sachen Barmet und Geißeler vom 11. September 1891, Erwägung l, im Bundesblatt 1891, 23. September). Eine andere Ansicht'geht dahin, daß die Kompetenz Ihnen zustehe. Theilen Sie die letztere Ansicht, so ist ein Kompetenzkonflikt zwischen Ihrer und unserer Behörde herbeigeführt; theilen Sie aber die unsrige, so fällt für Sie alles Weitere, wie uns scheint, nicht mehr in Betracht.

In Wahrheit ist aber auch mit Bezug auf die 21 übrigen Wahlkreise die Behauptung, daß der Bundesrath nicht über die Frage der Gültigkeit der Wahlen angerufen worden sei, durchaus unrichtig.

Diejenigen, die sich so bitter bei uns darüber beschwerten, daß sie zur Wahl nicht zugelassen wurden, und daß Andere, die nach ihrer Ansicht kein Recht dazu hatten, an derselben Theil nehmen konnten, haben damit sicherlich nicht bloß eine akademische Frage entscheiden lassen wollen, die um so weniger Werth gehabt haben würde, als ja die nächsten Großrathswahlen erst im Jahr 1893 stattfinden und dann bei den Beschwerdestellern ganz andere thatsächliche Verhältnisse vorhanden sein können, als im Jahr 1889.

Nein, um das Resultat der Wahl von 1889 war es ihnen zu thun.

Und, unsere Kompetenz zur Entscheidung der Stimmrechtsrekurse vorausgesetzt, war es sicherlich
unsere Pflicht, nicht lediglich zu erklären, daß diese Zahl Bürger mit Unrecht in das Stimmregister aufgenommen, jene mit Unrecht gestrichen worden sei, sondern auch die Konsequenz davon zu ziehen u n d , wenn die Rechnung zeigte, daß der als gewählt Proklamirte in Wahrheit nicht das

694

absolute Mehr der gültig abgegebenen oder abzugebenden Stimmen erreicht hatte, die Wahl -zu kassiren. Denn nach unserer Ansicht hat jeder Bürger, in Bezug auf den sich ergibt, daß er mit Unrecht von der Wahl ausgeschlossen worden ist, das Recht, zu verlangen, daß bei derselben seine Stimme mitgezählt und so das gegen ihn begangene Unrecht wieder gut gemacht werde; ebenso kauu verlangt werden, daß die Stimme Desjenigen, welcher mit Unrecht zugelassen wurde, abgezogen werde. So wird es unseres Wissens sonst auch überall in der Eidgenossenschaft gehalten.

Wir b e a n t r a g e n Ihnen daher n e u e r d i n g s , die B e g e h r e u des Staats r a t h e s des K a n t o n s Tessfn wegen Inkompetenz abzuweisen.

Als B e l e g e fügen wir diesem Schreiben bei : 1. Gedruckte Sammlung unserer Entscheidungen über die Tessiner Rekurse von 1887 und 1889; 2. Bundesrathsbeschluß vom 11. September 1891 in Rekurssache Bartnet und Geißeler; 3. Bescheinigung der Bundeskanzlei betreffend die Rekurseingaben des Totnmaso Pagnamenta und des Claudio Catturi.

Wir behalten uns für den Fall, daß die thatsächlichen Anbringen dieser Rechtsschrift von der Gegenpartei bestritten werden sollten, vor, Ihnen sämmtliche Aktenstücke, auf die sich unsere Entscheidungen betreffend die tessinischen Rekurse von 1887 und 1889 beziehen, vorzulegen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 21. Oktober 1891.

Im Namen des Schweiz. Buadesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Antwort-Bemerkungen des Schweizerischen Bundesrathes auf eine Eingabe des tessinischen Staatsrathes an das Bundesgericht, vom 28./30. September 1891, betreffend den vom Staatsrathe im Jahre 1889 angehobenen Kompetenzkonflikt. (Vom 21. Oktober 1891.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1891

Année Anno Band

4

Volume Volume Heft

45

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

04.11.1891

Date Data Seite

691-694

Page Pagina Ref. No

10 015 479

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.