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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung über die eidgenössische Gewährleistung der Partialrevision der Verfassung des Kantons Tessin vom 9. Februar 1891.

(Vom 31. März 1891.)

Tit.

Mit Schreiben vom 23. März 1891 hat uns der Staatsrath des Kantons Tessin das vom Verfassungsrathe dieses Kantons am 9. Februar angenommene Dekret betreffend Revision einiger Bestimmungen der Kantonsverfassung unter Einbegleitung des kantonalen Amtsblattes vom 13. März übermittelt, aus welch letzterm hervorgeht, daß das neue Verfassungsdekret in der Volksabstimmung vom 8. März mit 11,291 gegen 10,764 Stimmen, also mit einer Mehrheit von 527 Stimmen, angenommen worden ist.

Der Staatsrath unterbreitet in Gemäßheit von Art. 5 der Uebergangsbestimmungen das Dekret dem Bundesrathe, damit dasselbe in der nächsten außerordentlichen Session der eidgenössischen Kammern diesen vorgelegt werden könne, zum Behuf der Erlangung der eidgenössischen Gewährleistung, und er erklärt eine möglichst rasche Erledigung der Sache deßhalb für nothwendig, weil auf 1. Januar 1892 die Bestimmung betreffend die Erneuerung der Gemeindebehörden mit Anwendung des Proportionalwahlsystems in Kraft treten solle, vorher aber der Große Rath noch ein Ausführungsgesetz ausarbeiten müsse.

Demzufolge haben wir uns beeilt, die verfassungsrechtlichen Neuerungen, welche das vorliegende Dekret enthält, auf ihre Ueber-

866 einstimmung mit der Bundesverfassung zu prüfen. Wii1 lassen dieselben in der Beilage in deutscher Sprache folgen, damit Sie selbst die Prüfung leichter vornehmen können, wir aber einer längern Auseinandersetzung enthoben seien.

Zu Artikel i und 2.

Es wird für die Wahl des Großen Rathes und des Verfassungsrathes, sowie für diejenige der Gemeinderäthe (Munizipalitäten) das Proportionalsystem, mit dem Rechte des Wählers, für Kandidaten verschiedener Gruppen zu stimmen, eingeführt.

Die vom Gesetze zu bestimmenden Wahlkreise dürfen die Zahl 14 nicht übersteigen. Bisher, uach dem sogenannten Riformino vom 8. Januar 1880, mußten sie mindestens 17 sein.

Für die Gemeinderäthe wird lutegralerneuerung nach je vier Jahren vorgeschrieben, an der Stelle der bisherigen Drittelserneuerung nach je drei Jahren.

Unzweifelhaft ist das Proportionalwahlsystern eine mit dem eidgenössischen Verfassungsrechi,e sehr wohl verträgliche Form der Bestellung der Volksvertretung. Im Uebrigen bleibt zu Artikel l und 2 nichts zu bemerken.

Zu Artikel 3 und 4.

An die Stelle der bisherigen Wahlvorschläge treten direkte Volkswahlen für die Bezirksgerichte, deren Kompetenzen und nähere Organisation zu bestimmen dem Gesetze vorbehiilten wird.

Wir haben darüber vom bundesrechtlichen Standpunkte aus nichts zu bemerken.

Zu Artikel 5.

Dieser Artikel ist eine bloße Wiederholung von Artikel 4 des Verfassungsdekretes vom 20. November 1875 (der Riformetta), in Verbindung mit Artikel 23, Absatz l, zweiter Satz, der Verfassung vom 23. Juni 1830.

Derselbe wird seinen Platz in dem Revisionsdekrete vom 9. Februar 1891 nur aus dem Grunde gefunden haben, weil eine der Anregungen zu der am 5. Oktober 1890 vou der Mehrheit des Volkes beschlossenen Partialrevison sich auf die Wahlart des Staatsrathes bezog. Freilieh wollte jene Anregung nicht eine Bestätigung der bisherigen Verfassung in dem vorn Verfassungsrathe angenommenen und vom Volke neuerdings gutgeheißenen Sinne,

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sondern im Sinne der direkten Volkswahl eine Verfassungsänder u n g herbeiführen.

Wir sehen uns auch hierüber zu keiner Bemerkung veranlaßt, handelt es sich doch, wie gesagt, um die einfache Wiederholung vom Bunde bereits genehmigter Verfassungssätze.

Artikel 6 setzt das Wahlfähigkeitsalter für die Mitglieder des Großen Käthes, des Verfassungsrathes und der Munizipalitäten auf 20 Jahre, dasjenige für die Mitglieder des Staatsrathes, der Gerichtsbehörden und aller andern staatlichen Behörden auf 25 Jahre fest.

In Artikel 5 des Verfassungsdekretes vom 10. Februar 1883 war auch für die Mitglieder der Getneinderäthe (die Munizipalen) das Alter von 25 Jahren vorgeschrieben.

Im Uebrigen ist der Artikel 6 des neuen Dekretes von Artikel 5 des Dekretes von 1883 nicht verschieden.

Die Uebergangsbestimmungen schreiben in Artikel l vor, daß die Gemeinderäthe innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des vorliegenden Verfassungsdekretes vollständig erneuert werden müssen, während sie bis jetzt, auf Grund von Artikel 19, Absatz 2, der Verfassung von 1830, nach dreijähriger Amtsdauer je zu einem Drittel zu erneuern waren.

In Artikel 2 der Uebergangsbestimmungen wird dagegen für die Mitglieder des Großen Käthes und für die Mitglieder und Suppleanten der Bezirksgerichte die Gesammterneuerung erst auf den Zeitpunkt des Ablaufes ihrer gegenwärtigen Amtsdauer (1893 und 1895) vorgesehen; inzwischen sollen Ersatzwahlen nach den bisherigen Vorschriften vorgenommen werden.

Nach Artikel 3 tritt das neue Dekret, vorbehaltlich der Bestimmungen betreffend die Wahlen, mit der Annahme durch das Volk in Kraft.

Artikel 4 enthält die Abrogationsformel und Artikel 5 die Festsetzung der Volksabstimmung auf den 8. März und die Auftragsertheilung an den Staatsrath, in Betreff der Publikation des Resultates und der Einhöhmg der Bundesgarantie das Erforderliche zu thun.

Da wir hier dieses Verfassungswerk nur vom Gesichtspunkte seiner bundesverfassungsmäßigen Garantiefähigkeit aus zu würdigen haben, so finden wir auch in den angeführten Uebergangsbestim-

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mungen nichts, was uns zu Einwendungen oder weiteren Bemerkungen Veranlassung böte.

Wir beantragen demgemäß: Es sei dem vorliegenden Verfassungsdekrete des Kantons Tessin nach unten folgendem Beschlussesentwurfe die nachgesuchte eidgenössische Gewährleistung zu ertheilen.

Genehmigen Sie, Tit., die wiederholte Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

B e r n , den 31. März 1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Dei 1 B u n d e s p r ä s i d e n t :

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

869 (Entwurf.)

ßundesbeschluß betreffend

Gewährleistung des tessinischen Verfassungsdekretes vom 9. Februar 1891.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaft und des Antrages des Bundesrathes vom 31. März 1891, betreffend die am 9. Februar 1891 vom Verfassungsrathe des Kantons Tessin beschlossene Partialrevision der Kantonsverfassung; in E r w ä g u n g , daß diese Revision in der Volksabstimmung vom 8. März 1891 von der absoluten Mehrheit der stimmenden Bürger angenommen worden ist und nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung zuwider wäre; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschließt: 1. Dem Verfassungsdekrete des Kantons Tessin vom 9. Februar 1891 wird die Bundesgarantie ertheilt.

2. Der Bundesrath ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

870 (Uebersetzung.)

Beilage.

Verfassungsrevisionsdekret.

(Vom 9. Februar 1891.)

Der 'Verfassungsrath der R e p u b l i k und des Kantons Tessin beschließt: Art. 1.

Die Wahl dei' Mitglieder des Großen Käthes und des Verftissungsrath.es und der Mitglieder der Gemeinderäthe findet nach dem Proportionalsystem statt, mit der Befugniß des Wählers, für Kandidaten verschiedener Gruppen zu stimmen.

Das Gesetz wird die Anwendung dieses Systems näher bestimmen und für die Großraths- und Verfassuugsrathswählen die Wahlkreise feststellen. Die Wahlkreise dürfen nicht mehr als vierzehn sein.

Art. 2.

Die Mitglieder der Gemeindes-äthe bleiben vier Jahre im Amte und sind immer wiederwählbar.

t Art, 3.

In den Bezirken Bellinzona und Riviera zusammen und ia jedem der übrigen Bezirke besteht ein aus drei Mitgliedern zusammengesetztes Gericht erster Instanz, welches in Zivil- und in Strafsachen zu urtheilen hat. Das Gesetz wird die Zuständigkeit desselben festsetzen. Die Mitglieder des Gerichts werden direkt vom Volke gewählt, in den Gemeindeversammlungen eines jeden Wahlbezirks.

Jeder Wahlbezirk ernennt im Weitern sechs Ersatzmänner.

§ 1. Nöthigenfalls kann das Gesetz unter Beiziehung der Ersatzmänner das Gericht in zwei Sektionen von je drei Mitgliedern theilen, wobei es die Kompetenzen einer jeden Sektion im Einzelnen zu bestimmen hat.

§ 2. Das Gesetz wird die Erfordernisse der Wahlfähigkeit und die Gründe der Entsetzung oder Einstellung im Amte bestimmen.

871 Art. 4.

Die Volkswahlen für die Gerichte der ersten Instanz und die Friedensgerichte können nicht gleichzeitig mit den politischen kantonalen Wahlen vorgenommen werden.

Art. 5.

Die vollziehende Gewalt wird vom Staatsvathe ausgeübt.

Derselbe ist aus fünf, vom Großen Rathe gewählten Mitgliedern zusammengesetzt.

Er bezeichnet aus der Mitte seiner Mitglieder einen Staatssekretär.

Die Mitglieder des Staatsrathes bleiben vier Jahre im Amte und sind immer wiederwählbar.

Art. 6.

Die Mitglieder des Großen Käthes, des Verfassungsrathes und der Gemeinderäthe sind im Alter von vollendeten zwanzig Jahren wählbar; diejenigen des Staatsrathes, des Appellationsgerichts, der Gerichte der -ersten Instanz, der Friedensgerichte und jeder andern verfassungsmäßigen Behörde erlangen die Wahlfähigkeit mit dem zurückgelegten fünfundzwanzigsten Altersjahre.

Uebergangsbestimmungen,

Art. 1.

Alle Gemeinderäthe des Kantons sollen innerhalb eines Jahres nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Verfassungsdekretes vollständig erneuert werden.

Die Erneuerung hat in dem Zeitpunkte stattzufinden, in welchem nach Maßgabe des Reglements die Wahl der zunächst in Austritt kommenden Serie von Gemeinderäthen und Ersatzmännern vorgenommen werden sollte.

Art. 2.

Allfällige Ersatzwahlen in den Großen Rath oder in die erstinstanzlichen Gerichte (für Mitglieder oder Ersatzmänner), welche vor der -- nach Ablauf ihrer gegenwärtigen, durch Verfassung und Gesetz festgestellten, Amtsperiöde vorzunehmenden -- Gesammterneuerung dieser Behörden nöthig werden, geschehen auch nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Verfassungsdekretes in Gemäßheit der bisherigen Vorschriften.

Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. I.

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Art. 3.

Diese Verfassungsrevision tritt, vorbehaltlich der in den beiden vorhergehenden Artikeln bezüglich der Wahlen enthaltenen Bestimmungen, mit ihrer Annahme durch das Volk in Kraft.

Art, 4.

Mit dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Dekretes sind aufgehoben : a. Der Absatz des Art. 19 der Kantonsverfassung vom 23. Juni 1830, welcher bestimmt: ,,Die Mitglieder der Gemeinderäthe bleiben während drei Jahren im Amte, werden je zu einem Drittel erneuert und sind wiederwählbar. a b. Der Artikel 29 der nämlichen Verfassung.

c. Der Artikel 4 des Verfassungsdekretes vom 20. November 1875.

d. Absatz 2 des Verfassungsdekretes vom 8. Januar 1880, welcher festsetzt: ,,Das Gesetz wird die Wahlkreise bestimmen, deren es nicht weniger als siehenzehn geben darf.a e.. Die Artikel 2 -- ausgenommen den § -- und 5 des Verfassungsdekretes vom 10. Februar 1883, und überhaupt jede mit dem gegenwärtigen Dekrete im Widerspruche stehende oder unverträgliche Bestimmung.

Art. 5.

Die Volksabstimmung über das vorliegende Verfassungsdekret hat den nächstkünftigen 8. März stattzufinden, wofür der Staatsrath das Nöthige anordnen wird.

Innerhalb acht Tagen nach der Volksabstimmung wird der Staatsrath in öffentlicher Sitzung deren Resultat verkünden und im Falle der Annahme des Dekretes ohne Aufschub für dasselbe die eidgenössische Garantie verlangen.

B e l l i n z o n a , den 9. Februar 1891.

Für den Verfassungsrath, Der Präsident: Advokat F. Bonzanigo.

Die Mitglied er-Sekretäre:

Àdvokat Cesare Scazziga.

Advokat Pietro Riva.

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08.04.1891

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