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Bericht # des

Bundesrathes an die Bundesversammlung über den Rekurs des Advokaten Tommaso Pagnamenta in Bellinzona für sich und Streitgenossen gegen den Bundesrathsbeschluß vom 30. Juni 1891 betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Osogna (Riviera).

(Vom 27. Oktober 1891.)

Tit.

Wir haben unterm 30. Juni d. J. über die Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Osogna (Riviera) den Beschluß gefaßt, welchen Sie in der Ihnen zugestellten Sammlung unserer Entscheidungen liber die Tessiner Rekurse aus den Jahren 1887 und 1889 auf Seite 176 u. ff.

der deutschen Ausgabe, sowie im Bundesblatte für 1891, III. Band, S. 1027 u. ff., in extenso abgedruckt finden.

Mit Eingabe, datirt vom 28. August 1891, hat Herr Advokat Tommaso Pagnamenta in Bellinzona für sich und Streitgenossen gegen unsern Beschluß bei Ihnen Rekurs eingelegt.

Der h. Staatsrath des Kantons Tessin übermittelte uns diese Eingabe zu Ihren Händen mit einem Begleitschreiben vom 9. September 1891, in welchem er erklärt, daß er sich dem Rekurse anschließe.

Indem wir uns beehren, den Rekurs sammt Beilagen Ihnen zuzuleiten, erlauben wir uns, die Behauptungen der Rekursschrift durch einige Bemerkungen zu beleuchten.

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Wir treten dabei auf alles Dasjenige nicht ein, was von dem Rekurrenten vorgebracht wurde, ohne daß es zur Sache gehört.

Auch die Kompetenzfrage werden wir hier, um Wiederholungen zu vermeiden, nicht weiter erörtern; wir verweisen vielmehr diesfalls auf das, was wir sowohl in unsern Ihnen schon früher abgegebenen Berichten über die Angelegenheiten des Kantons Tessin,.

als auch in der gedruckten Sammlung unserer Entscheidungen über die Tessiner Rekurse, speziell auf Seite 102 der deutschen Ausgabe, Erwägung l (Bundesbl. 1891, EI, S. 878 u. ff.), ausgeführt haben. So werden wir uns also btschränken auf die Beantwortung des Rekurses, soweit er die besonderen Umstände des Wahlkreises Osogna (Riviera) betrifft. Und zwar wird es sich empfehlen, zuerst auf die einzelnen Bürger einzugehen, von denen die Rekursschrift .

behauptet, sie seien vom Bundesrathe mit Unrecht als stimmberechtigt erklärt worden, und erst nachher die Frage zu prüfen, wie sich bei richtiger Rechnung das Abstimmungsresultat vom 3. März 1889 im genannten Wahlkreise gestaltet.

Der erste Bürger, dessen Stimmrecht im Rekurse bestritten wird, ist S a e c h i , M a t t e o , in Lodrino.

Die Munizipalität hatte ihn auf ihr Stimmregister genommen.

Ein gewisser Cesare Orelli verlangte dann aber beim Regierungskommissär seine Streichung, weil er keine Kopfsteuer (testatico) bezahle. Der Kommissär wies das Begehren ab, da ja die Munizipalität diesem Bürger die Kopfsteuer erlassen habe. Hiegegen rekurrirte Orelli an den Staatsrath mit der Begründung, daß ein solcher Erlaß unwirksam sei ; der Staatsrath hieß den Rekurs gut und ordnete die Streichung Sacchi's an, weil in dem Steuererlaß, eine öffentliche Unterstützung liege.

Saechi rief nun unsern Schutz für sein Stimmrecht an. Nachdem die Untersuchung unseres Delegirten, Herrn Prof. Dr. A. Schneider, herausgestellt hatte, daß dem Saechi in der That das testatico erlassen worden war und er eine weitere Steuer nicht schuldete,, haben wir jenen Entscheid des Staatsrathes aufgehoben und die Verfügungen des Regierungs-Kommissärs und der Munizipalität wiederhergestellt. Wir fanden nämlich, daß es sich bei Saechi von vorn herein nur um den Rückstand einer Steuer, des testatico^ handeln könnte, während nach Art. 4, litt, e, des tessinischen Gesetzes über die Ausübung der politischen Rechte vom
15. Juli 1880 nur das Ausstehen aller Staats- und Gemeindesteuern von zwei Jahren den Bürger seines Stimmrefhtes beraubt, indem diese luterà lautet: fl chi da due anni non paga le imposte cantonali e comunali."-

679 Wir hielten ferner dafür, daß im vorliegenden Falle die Nichtzahlung des testatico nicht mit Recht als ein Steuerrückstand bezeichnet werden könne, da die Munizipalität eine solche Steuer von Sacchi g a r n i c h t v e r l a n g t h a t t e .

Hierüber beschwert sieh nun der Rekurrent, Indem er außer der unrichtigen, aber unerheblichen Behauptung, daß schon der Regierungskommissär den genannten Sacchi gestrichen habe, Folgendes vorbringt : Das testatico sei die einzige Steuer, welche Sacchi zu bezahlen habe, indem sein mit ihm zusammen lebender Bruder die Herdsteuer für beide bezahle. Der Erlaß dieser Steuer sei aber als ungültig zu betrachten, da nach dem Gesetze vom 7. Dezember 1861 über die Gemeindesteuern, Art. 5, derselbe nur von zwei Dritteln der Stimmen aller Mitglieder der Munizipalität rechtsgültig hätte ausgesprochen werden können, und nun nicht bewiesen sei, daß dieses Requisit im vorliegenden Falle zutreffe, indem die Angabe eines Mitgliedes der Munizipalität von Lodrino, der Erlaß sei gültig geschehen, keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit machen könne.

Wenn auch ein Zweifel darüber bestehen sollte, ob nach der angeführten Bestimmung des Gesetzes vom 15. Juli 1880 schon der Rückstand mit dem testatico allein dazu genüge, einen Bürger von der Stimmurne auszuschließen, so haben sicherlich die Behörden im Zweifel sich eher zu Gunsten als zu Ungunsten des Stimmrechtes des Bürgers auszusprechen.

In Wahrheit ist aber Sacchi auch vom Staatsrathe gar nicht als steuerrückständig betrachtet worden, wie Cesare. Orelli es verlangte; diese Behörde stützte sich nicht auf litt, e, sondern auf litt, d des zitirten Art. 4-, welche lautet: (È eseluso dall'esercizio dei diritti politici:) ,,chi da un anno riceve soccorso dalla cassa comunale, o da qualche stabilimento di pubblica beneficenza."

Diese Begründung halten wir nun aber für entschieden nicht zutreffend. Niemand wird bezweifeln, daß eine Bestimmung zeitweisen Entzuges des Stimmrechtes nicht ausdehnend interpretirt werden darf; bei strikter Interpretation der angeführten litt, d aber wird Niemand den gänzlichen oder theilweisen Verzicht einer Behörde auf die Besteuerung einer Sache oder einer Person als Empfang einer Armenunterstützung, als Almosengenössigkeit erklären.

In manchen Gemeinden des Kantons Tessin, so in Faido, ist auf die
Besteuerung der Geistlichen verzichtet worden ; diese Herren würden sich wohl mit eben so viel Recht als Wärme dafür bedanken, wenn man sie deßwegen als Almosengenössige behandeln wollte.

680 Gegenüber dem Erlasse der Steuer behauptet der Rekurrent, daß derselbe nicht rechtsgültig gewesen sei. Es ist dies ein Standpunkt, den der Staatsrath nicht eingenommen hat, der also wohl auch gegenüber dem bundesräthlichen Entscheide im Grunde gar nicht -eingenommen werden dürfte. Wir tragen aber kein Bedenken, dem R*ekurrenten zu näherer Betrachtung auf denselben zu folgen.

Wir haiton schon das für ganz unrichtig, daß Sacchi für nicht stimmberechtigt erklärt werden mUsse, weil er nicht b e w i e s e n habe, daß der Beschluß des Erlasses seiner Steuer in gültiger Weise gefaßt worden sei. Sicherlich hat der volljährige Schweizerbürger nicht sein Stimmrecht zu beweisen, sobald es irgend einem politischen Gegner gefällt, ihm dasselbe streitig zu machen; die Beweislast trifft vielmehr den Gegner, der die Unfähigkeit eines Bürgers zur Ausübung politischer Rechte behauptet. Und ebenso gewiß hat, wer sich auf eine amtliche Verfügung stützt, nicht erst noch deren Gültigkeit nachzuweisen, sondern derjenige ist beweispflichtig, der ihre Ungültigkeit behauptet. Allein wir gehen noch weiter und sagen : Selbst wenn es wahr wäre, daß der Steuererlaß im vorliegenden Falle nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise stattgefunden hat, und wenn dies bewiesen vorgelegen hätte, könnte dem Bürger Sacchi das Stimmrecht nicht abgesprochen werden. Es ist unseres Erachtens einer der fatalen Irrthümer der tessinischen Wahlpraxis, daß sie glaubt, jeweilen bei der Anfertigung der Stimmregister für eine Wahl den Rechtsbestaad amtlicher Handlungen und Verfügungen in Zweifel ziehen zu sollen, welche, sei es iu Fragen der Besteuerung, sei es der Niederlassung, des Aufenthaltes u. s. w., vor Jahren, vielleicht schon vor Jahrzehnten, getroffen worden sind. Nur blinde Parteileidenschaft kann ein solch unvernünftiges und längst geregelte Verhältnisse wieder in Frage stellendes Verfahren gutheißen. Im Gesetze findet es keine Stutze. Wir halten dem gegenüber au unserem Satze fest, daß Derjenige, von dem keine Steuer gefordert worden ist, auch nicht wegen Steuerrückstandes seines Stimmrechts beraubt werden darf, und zwar auch dann nicht, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, daß die Unterlassung eines Steueranspruches riur auf einem Versehen der Behörde oder einem rechtlich anfechtbaren Beschlüsse derselben beruhte.
Der zweite Bürger, über dessen Zulassung zur Stitnmurne der Rekurrent sich beschwert, ist L e o n i , B o n i f a c i o , in Biasca.

Auf die Angelegenheit dieses Bürgers sind wir in unserer gedruckten Entscheidung näher eingetreten, und wir verweisen vor Allem auf unsere dortigen Ausführungen, Seite 187 der deutschen

681 Ausgabe. Wir legen Ihnen den bezüglichen Entscheid des Staatsrathes, den uns von Leoni eingereichten Protest gegen seinen Ausschluß von der Stimmurne und das Protokoll unseres Delegirten vor.

Die Rekursschrift enthält mit Bezug auf diesen Bürger lediglich allgemeine Bestreitungen, ohne irgend welche thatsächlichen Angaben, und wir finden unsere Argumente durch dieselbe in keinem Punkte widerlegt.

Unsere sonst allseitig zugegebene Annahme, daß Leoni in Biasca domizilirt sei, glaubt der Rekurs damit beseitigen zu köniten, daß er erklärt, sie stütze sich bloß auf die Angabe des Sindaco von Biasca, und dieser Sindaco, Herr Delmuè, sei einer der Kandidaten der liberalen Liste gewesen; die Bundesversammlung werde ihm also sicherlich keinen Glauben schenken. Als ob man nicht mit ganz dem gleichen Rechte sagen könnte, Herr Pagnamenta sei Kandidat der konservativen Liste dieses Wahlkreises und der Staatsrath ausgesprochener Maßen sein Parteigänger gewesen, und ihre Angaben verdienen daher keinen Glauben. Der Bundesrath steht nicht auf einem solchen Standpunkte. Wenn er von einer Behörde, sei es die Regierung eines Kantons, sei es die Munizipalität einer Gemeinde oder der Sindaco, in amtlicher Stellung einen Bericht über ^tatsächliche Verhältnisse einzieht, so betrachtet er die ihm ertheilte Antwort als Wahrheit so lange, bis das Gegentheil ihm klar bewiesen vorliegt. Nun hat laut dem Protokolle unseres Bundesdelegirten der Sindaco von Biasca, von dem Delegirten in offizieller Stellung angefragt, erklärt, daß Leoni seit 2 Jahren sich in Biasca im Dienste von Ferrari, Agosto, Kaufmann, befinde, daß dieser, sein Dienstherr, ganz in der gleichen Lage wie Leoni, zur Wahl zugelassen, Leoni aber, als ob er nicht hier domizilirt wäre, ausgeschlossen worden sei. Was hat nun der Rekurrent dem entgegenzusetzen? Nichts als Hohn in Bezug auf die Unparteilichkeit des Sindaco. Sagt Herr Pagnamenta etwa, daß Leoni anderswo domizilirt sei? Oder daß er gar kein Domizil h a b e ? Nichts von alledem. Wir denken nicht, daß eine solche Beschwerdeführung Bindruck auf die h. Bundesversammlung machen wird.

In zweiter Linie wendet der Rekurrent ein, Leoni sei mit Steuern im Rückstande. Diese Behauptung ist n e u ; Leoni ist weder vom Regierungskommissär noch vom Staatsrathe aus diesem Grunde im Stimmregister gestrichen worden ;
und es kann nun sicherlich der bundesräthliche Entscheid, welcher die durch den Staatsrath vorgenommene Streichung für ungerechtfertigt erklärte, damit nicht ·wieder angefochten werden, daß ein Rekurrent behauptet, es würde auch noch' ein anderer Streichungsgrund vorgelegen haben.

682 Indessen ist das Letztere auch nicht einmal richtig. Es verhält sich nämlich mit diesem Punkte folgendermaßen : Das Protokoll der Untersuchungskommission, welche der tessinische Große Rath zur Prüfung der Rekurse über die Wahlen des Kreises Osogna niedergesetzt hatte, enthält in der Aussage des Leoni folgende Stelle : , ,,Ich zahle die Kopfsteuer in der Gemeinde Biasca" (er weist einen Schein, d.
In der Gemeinde Cerentino habe ich nie irgend welche Steuer bezahlt. Ehe ich nach ßiasca kam, wohnte ich 5 oder 6 Jahre lang in Arbedo, wo ich immer die. Steuern bezahlt und an den Abstimmungen Theil genommen hahe.a Aus der Einvernahme des Sindaco vor der nämlichen Kommission ergibt sich ferner, daß Leoni erst im Jahre 1888, und zwar erst nachträglich, nach Aufstellung des Steuerregisters, unter die Steuerpflichtigen aufgenommen worden ist. Er k a n n also am 3. März 1889 noch nicht seit 2 Jahren mit den Steuern im Rückstande gewesen sein; ja es ist gar nicht bewiesen, daß er überhaupt mit irgend welchen Steuern im Rückstände geblieben ist. Wie vollends, entgegen der vorliegenden Steuerquittung, der Rekurrent zu der Behauptung kommt, daß auch die Steuer vom 13. Januar 1889 nicht bezahlt worden sei. mag er zu verantworten suchen.

Sollte er sagen wollen, daß dieselbe dem Steuerpflichtigen erlassen worden sei -- was zwar augenscheinlich der Wahrheit nicht entsprechen würde -- so könnte nach den obigen Ausführungen auch dies einen Ausschluß Leoiii's von der Stimmurne nicht begründen.

Wir fassen die übrigen vier Bürger, über deren Zulassung zur Stimmurne der Rekurrent sich beschwert, zusammen; es sind sämmtlich nicht tessinische Schweuerbürger, und zwar Ineichen, Schindler, K o p p und Lutiger.

Auch mit Bezug auf sie verweisen wir vor Allem auf unseren Entscheid, S. 188 und 189 der gedruckten Sammlung, deutsche Ausgabe (vergi. Bundesbl. 1891, III, S. 1040), in welcher lediglich mit Bezug auf Lutiger zu korrigiren ist, daß die Karte nicht vom
20. November, sondern vom 20. Januar 1889 datirt, und legen die Aktenstücke, welche hierüber uns vorgelegen haben, ein.

Der Rekurrent behauptet, unser Entscheid widerspreche dein Art. 43 der Bundesverfassung, sowie der bundesrechtlichen Praxis.

683 Letztere habe nämlich schon wiederholt erklärt, daß das Domizil des Schweizerbürgers am Niederlassungsorte erst von dem Momente an gerechnet werden dürfe, in welchem derselbe die Niederlassungsbewilligung besitze. Diese Theorie ist uns neu, und eine solche Praxis existirt nicht, wie denn auch der Rekurrent kein einziges Präjudikat dafür anzuführen im Stande gewesen ist. Sie würde auch in der That seltsam sein; es würde ja, wie wir in unseren Entscheidungen ausgeführt haben, oft lediglich vom Zufall, von der Nachlässigkeit eines Kopisten oder Ausläufers oder dem bösen Willen eines Parteimannes abhangen, ob Jemand früher oder später zur.Ausübung seines politischen Stimmrechtes gelange; ist es doch gerade im Kanton Tessiu vorgekommen, daß Niedergelassene Monate lang auf die Ertheilung der nachgesuchten Niederlassungsbewilligung warten mußten; wie würde da der Willkür, der Parteipolitik, ein weiter Spielraum geöffnet sein ! Uebrigens hat auch der Staatsrath des Kantons Tessin keineswegs überall die von Herrn Pagnamenla aufgestellte Theorie befolgt, sondern auch seinerseits entweder auf den Beginn der faktischen Niederlassung oder auf den Moment der Einreichung des Gesuches um die Niederlassungsbewilliguug abgestellt.

Für die Annahme, daß die Genannten schon seit dem Oktober 1888 in Biasca domizilirt gewesen seien, haben wir u. A. das Argument in's Feld geführt, daß die ihnen gemäß tessinischer Uebung für eine vierjährige Niederlassung ausgestellten Bewilligungen als Endpunkt ihrer Gültigkeit den 31.'Oktober 1892 bezeichnen. Hierauf entgegnet der Rekurreat, dies habe deßwegen keine Bedeutung, weil die Fixirung eines solchen Endpunktes illegal und willkürlich gewesen sei, da ja die Schweizerbürger nicht mehr gehalten seien, alle 4 Jahre ihre Niederlassungsbewilligung zu erneuern ; die Hinzufügung des Endtermins müsse also nothwendiger Weise ein Versehen, nicht des Staatsrathes selbst, aber eines Angestellten desselben gewesen sein, und der Staatsrath .habe lediglich ,,ohne zu prüfen oder zu diskutiren" seine Unterschrift darunter gesetzt.

Wir sind ganz damit einverstanden, daß die Niederlassungsbewilligungen einer Erneuerung nicht mehr bedürfen, und wollen imch nicht untersuchen, wen die Schuld des behaupteten Versehens treffe; bekanntlich haben Versehen von Regierungsangestellten anläßlich der
Wahlen vom 3. März. 1889 eine böse, verhängnißvolle Rolle gespielt. Allein wenn auch jener Endtermin keine Bedeutung mehr hat, ist deßwegen der Schluß, daß die Karte die Niederlassung ihres Trägers seit dem 31. Oktober 1888 anzeige, weniger gerechtfertigt? Wir denken nicht, und auf das allein kommt es an.

Uebrigens bildet dieser Wortlaut der Niederlassungsbewilligung

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keineswegs den einzigen Anhaltspunkt für unsere Annahme; er steht vielmehr in voller Uebereinstimmung nicht nur mit den Angaben der betreffenden Bürger selbst, sondern auch mit dem amtlichen Zeugniß des Sindaco von Biasca. Wenn aber der Rekurrent die Absicht jener Bürger bestreitet, ihren Wohnsitz für die Dauer in Biasca zu nehmen, so scheint uns auch dies ohne Grund zu sein.

Denn gewiß hatten dieselben von Anfang an die gleiche Absicht, die sie nachher durch ihre Gesuche um die Niederlassungsbewilligung kund gegeben habeu, das geht aus ihrev Anstellung bei der Gotthardbahn, aus ihrer ganzen Lebensführung, bei Schindler und Kopp auch aus dem Umstände hervor, daß sie ihre Familien mitbrachten.

Betreffend R ü e g g , Heinrich, wird eine Beschwerde nicht erhoben.

Wenn nun nach dem Gesagten zu den vom Wahlbüreau gezählten 853 Stimmen die 7 von uns als gültig erklärten hinzugerechnet werden, so ergibt sich die Gesammteahl 860 und das absolute Mehr von 431. Es ist, also im Gruude zwecklos, darüber zu streiten, ob Herr Pagnamenta 430 oder 429 Stimmen erhielt; aber wir wollen doch konstatiren, daß wir mit der letztern Zahl keineswegs eine willkürliche Annahme gemacht haben. Diesfalls verhält es sich nämlich so : Die Wahlaktenprüfungskommission des tessinischen Großen Rathes (vide Bulletin der Verhandlungen des Großen Rathes vom Früjahr 1889) erstattete in dessen Sitzung vom 16. März 1889 einen Bericht, nach welchem neben Dr. Sacchi, mit 442 Stimmen, auf Pagnamenta 430, Rossetti 429 und Monighetti 428 Stimmen gefallen waren. Zufolge Rekurses der Munizipalität von Biasca wurde jedoch nur die Wahl von Dr. Sacchi validirt und blieben die drei übrigen Wahlen in suspense. Es wurde sodann eine neue Verifikation der Wahlresultate vorgenommen und dieselbe ergab nach dem Berichte der Minderheit der Wahlaktenprüfungskommission für Pagnamenta 429, für Rossetti 426, für Monighetti 426 Stimmen (Verhandlungsbülletin des Großen Rathes, Seite 253). Die Mehrheit der Kommission erstattete ebenfalls einen eingehenden Bericht, sprach sich aber darin über die Ergebnisse der neuen Zählung der Stimmen gar nicht aus. In der Sitzung des Großen Rathes vom 8. Mai 1889 wurde der angeführte Bericht der Minderheit verlesen und der Referent derselben, Herr A. Borella, gab auch noch ein mündliches Votum in ganz gleichem Sinne ab. Darauf
antwortete der Referent der Mehrheit, Herr Soldati, in längerer Auseinandersetzung, ohne die von der Minderheit gelieferten Zahlen irgendwie anzufechten (s. am angeführten Ort pag. 224 ff.). Der Bundesrath glaubt daher, nicht mit Unrecht diese Zahlen als die richtigen, als das

685 Endergebniß der Untersuchung der Wahlaktenprüfungskommission betrachten zu dürfen.

Wenn dies richtig ist, so ergibt sich klar, daß auch, falls Sie über das Stimmrecht des einen oder ändern der vom Staatsrathe gestrichenen Bürger anderer Ansicht sein sollten als der Bundesrath, ja selbst wenn Sie zwei von den vom Bundesrathe für stimmberechtigt erklärten Bürgern von der Wahlurne zurückweisen sollten, gleichwohl die Wahl des Herrn Pagnamenta und seiner beiden Genossen nicht zu Stande gekommen sein würde. Denn dann würde sich die Zahl der gültigen Stimmen statt auf 860 auf 858, das absolute Mehr also immerhin noch auf 430 belaufen, während Herr Paguamenta nur 429 Stimmen erhalten hat. ' Und wenn wir uns ferner-erinnern, was Alles bei den betreffenden Wahlen gegangen ist und nur aus formellen Gründen vom Bundesrathe nicht in Anschlag gebracht werden konnte, wie sich mit Linien oder Zeichen versehene Stimmzettel vorfanden, wie Stimmberechtigte von der Urne ausgeschlossen wurden, bloß deswegen, weil dieselbe vor der mit ihnen verabredeten Zeit geschlossen worden war, und was für Dinge im Innern des Wahlbüreau während des Wahlaktes selbst vorkamen, so wird man es wahrhaftig nicht bedauern können, welcher Partei man auch angehören mag, daß solche Wahlen kassirt werden. Sind die drei angeblich Gewählten wirklich im Besitze des Vertrauens der Mehrheit ihrer Mitbürger, so kann es ihnen nur erwünscht sein, dies durch einen neuen Wahlakt klar und unzweideutig konstatiren zu lassen ; sind sie es nicht, so sollten -sie, wie dies in jedem ändern Kanton geschähe, viel lieber ihr vermeintliches Mandat in die Hände der Wähler zurückgeben, als es behalten.

Wir beantragen Ihnen die Abweisung des Rekurses.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

B e r n , den.27. Oktober 1891.

Im Nameän des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: ßingier.

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Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über den Rekurs des Advokaten Tommaso Pagnamenta in Bellinzona für sich und Streitgenossen gegen den Bundesrathsbeschluß vom 30. Juni 1891 betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinisch...

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04.11.1891

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